Wovon wir träumten - Julie Otsuka - E-Book

Wovon wir träumten E-Book

Julie Otsuka

4,5

Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem PEN / Faulkner Award 2012, dem Prix Femina Etranger 2012 und dem Albatros-Literaturpreis 2014. "Auf dem Schiff waren die meisten von uns Jungfrauen." So beginnt die berührende Geschichte einer Gruppe junger Frauen, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Picture Brides von Japan nach Kalifornien reisen, um japanische Einwanderer zu heiraten. Bis zu ihrer Ankunft kennen die Frauen ihre zukünftigen Männer nur von den strahlenden Fotos der Heiratsvermittler, und auch sonst haben sie äußerst vage Vorstellungen von Amerika, was auf der Schiffsüberfahrt zu wilden Spekulationen führt: Sind die Amerikaner wirklich behaart wie Tiere und zwei Köpfe größer? Was passiert in der Hochzeitsnacht? Wartet jenseits des Ozeans die große Liebe? Aus ungewöhnlicher, eindringlicher Wir-Perspektive schildert der Roman die unterschiedlichen Schicksale der Frauen: wie sie in San Fransisco ankommen (und in vielen Fällen die Männer von den Fotos nicht wiedererkennen), wie sie ihre ersten Nächte als junge Ehefrauen erleben, Knochenarbeit leisten auf den Feldern oder in den Haushalten weißer Frauen (und von deren Ehe-männern verführt werden), wie sie mit der fremden Sprache und Kultur ringen, Kinder zur Welt bringen (die später ihre Herkunft verleugnen) - und wie sie nach Pearl Harbor erneut zu Außenseitern werden. Julie Otsuka hat ein elegantes kleines Meisterwerk geschaffen, das in ebenso poetischen wie präzisen Worten eine wahre Geschichte erzählt. 'Wovon wir träumten' verzauberte bereits die Leser in den USA und in England, stürmte dort die Bestsellerlisten, wurde von der Presse hymnisch gefeiert, mit dem PEN / Faulkner Award ausgezeichnet und für zwei weitere große Literaturpreise nominiert; die Übersetzungsrechte sind inzwischen in zahlreiche Länder verkauft.

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Julie Otsuka

Wovon wirträumten

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Katja Scholtz

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unterhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem TitelThe Buddha in the Attic bei Alfred A. Knopf /Random House Inc., New York, und in Kanada beiRandom House of Canada Limited, Toronto.Copyright © 2011 by Julie Otsuka, Inc.

© 2012 by mareverlag, HamburgCovergestaltung: mareverlag, HamburgTypografie (Hardcover): Farnschläder & Mahlstedt, HamburgAbbildung: © Victoria Kalimima - Fotolia.comDatenkonvertierung eBook: bookwire ISBN eBook: 978-3-86648-301-9 ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-179-4

www.mare.de

Für Andy

Sie haben einen solchen Namen hinterlassen,

dass man noch heute von ihnen erzählt und sie lobt.

Aber andere haben keinen Ruhm und sind umgekommen,

als wären sie nie gewesen. Und als sie noch lebten, war es,

als lebten sie nicht, und ebenso ihre Kinder nach ihnen.

Sirach 44, 8–9

Scheune ist abgebrannt –

jetzt

seh’ ich den Mond.

Mizuta Masahide

Japanerinnen, kommt!

Auf dem Schiff waren die meisten von uns Jungfrauen. Wir hatten langes schwarzes Haar und flache, breite Füße, und wir waren nicht sehr groß. Einige von uns hatten als junge Mädchen nichts als Reisbrei gegessen und hatten leicht krumme Beine, und einige von uns waren erst vierzehn Jahre alt und selbst noch junge Mädchen. Einige von uns kamen aus der Stadt und trugen modische Stadtkleider, doch überwiegend kamen wir vom Land, und auf dem Schiff trugen wir dieselben alten Kimonos, die wir seit Jahren getragen hatten – zerschlissene Kleider von unseren Schwestern, die vielfach geflickt und gefärbt worden waren. Einige von uns kamen aus den Bergen und hatten noch nie das Meer gesehen, außer auf Bildern, und einige von uns waren Fischerstöchter, die ihr ganzes Leben in Meeresnähe verbracht hatten. Vielleicht hatten wir einen Bruder oder Vater ans Meer verloren, oder einen Verlobten; oder jemand, den wir liebten, war eines unglücklichen Morgens ins Meer gesprungen und einfach fortgeschwommen, und nun war es auch für uns an der Zeit, aufzubrechen.

Das Erste, was wir auf dem Schiff machten – bevor wir beschlossen, wen wir mochten und wen nicht, bevor wir einander erzählten, von welcher Insel wir kamen und warum wir weggingen, bevor wir uns bemühten, die Namen der anderen zu lernen –, war, die Fotos unserer Ehemänner zu vergleichen. Es waren gut aussehende junge Männer mit dunklen Augen und vollem Haar und glatter, makelloser Haut. Ihre Kinnpartien waren ausgeprägt. Ihre Haltung: gut. Ihre Nasen waren gerade und lang. Sie sahen aus wie unsere Brüder und Väter zu Hause, nur besser angezogen, in grauen Gehröcken und feinen westlichen Dreiteilern. Einige von ihnen standen auf Gehwegen, vor A-Rahmen-Holzhäusern mit weißen Lattenzäunen und frisch gemähten Vorgärten, und einige posierten in Einfahrten, an ihren Ford Modell T gelehnt. Einige saßen in Studios auf steifen Stühlen mit hoher Lehne, die Hände sauber gefaltet, den Blick direkt in die Kamera gerichtet, als seien sie bereit, die Weltherrschaft zu übernehmen. Ein jeder von ihnen hatte versprochen, da zu sein, auf uns zu warten, in San Francisco, wenn wir in den Hafen einliefen.

Auf dem Schiff fragten wir uns oft: Würden sie uns gefallen? Würden wir sie lieben? Würden wir sie von den Fotos erkennen, wenn wir sie zum ersten Mal auf der Pier erblickten?

Auf dem Schiff schliefen wir ganz unten, auf dem Zwischendeck, wo es schmutzig und dunkel war. Unsere Betten waren enge, übereinandergeschraubte Metallgestelle, und unsere Matratzen waren hart und dünn und voller Flecken von anderen Reisen, anderen Leben. Unsere Kopfkissen waren mit getrockneten Weizenhülsen gefüllt. Im Durchgang zwischen den Kojen lagen überall Essensreste, und die Böden waren nass und glitschig. Es gab ein Bullauge, und abends, sobald die Kabinentür geschlossen war, füllte sich die Dunkelheit mit Flüstern. Wird es wehtun? Körper wälzten sich in den Laken. Das Meer hob und senkte sich. Die Luft war schwül und stickig. Nachts träumten wir von unseren Ehemännern. Wir träumten von neuen Holzsandalen und von endlosen Stoffrollen mit Indigoseide und davon, eines Tages in einem Haus mit Kamin zu wohnen. Wir träumten, wir seien anmutig und groß. Wir träumten, wir seien zurück in den Reisfeldern, denen wir so dringend hatten entkommen wollen. Die Reisfeldträume waren jedes Mal Albträume. Wir träumten von unseren älteren, hübscheren Schwestern, die von unseren Vätern an Geishas verkauft worden waren, sodass wir anderen etwas zu essen hatten, und wenn wir aufwachten, schnappten wir nach Luft. Eine Sekunde lang dachte ich, ich wäre sie.

Während unserer ersten Tage auf dem Schiff waren wir seekrank und konnten das Essen nicht bei uns behalten und mussten wiederholte Spaziergänge zur Reling machen. Einigen von uns war so schwindelig, dass sie nicht laufen konnten; in dumpfer Benommenheit lagen wir in unseren Kojen und wussten kaum noch unsere Namen, ganz zu schweigen von denen unserer neuen Ehemänner. Einmal noch bitte, ich bin Mrs. Wer? Einige von uns krümmten sich und beteten laut zu Kannon, der Göttin der Gnade – Wo bist du? –, während andere von uns eher im Stillen grün wurden. Und oft wurden wir mitten in der Nacht durch eine gewaltige Dünung aus dem Schlaf gerissen, und für einen kurzen Augenblick wussten wir nicht, wo wir waren oder warum unsere Betten nicht aufhörten, sich zu bewegen, und warum uns das Herz bis zum Hals schlug. Ein Erdbeben, war normalerweise der erste Gedanke, der uns in den Sinn kam. Dann streckten wir den Arm nach unseren Müttern aus, in deren Armen wir bis zum Morgen unserer Abreise geschlafen hatten. Ob sie jetzt schliefen? Ob sie träumten? Ob sie Tag und Nacht an uns dachten? Ob sie auf der Straße immer noch drei Schritte hinter unseren Vätern gingen, schwer bepackt, während unsere Väter überhaupt nichts trugen? Ob sie insgeheim neidisch auf uns waren, weil wir weggingen? Habe ich dir nicht alles gegeben? Ob sie daran dachten, unsere alten Kimonos auszulüften? Ob sie daran dachten, die Katzen zu füttern? Ob sie uns auch wirklich alles gesagt hatten, was wir wissen mussten? Halte deine Teetasse mit beiden Händen, bleib aus der Sonne, sprich nie mehr, als du musst.

Die meisten von uns auf dem Schiff waren wohlerzogen und überzeugt, dass sie gute Ehefrauen sein würden. Wir konnten kochen und nähen. Wir konnten Tee servieren und Blumen arrangieren und stundenlang still auf unseren flachen, breiten Füßen sitzen, ohne je etwas von uns zu geben, das von Belang war. Ein Mädchen muss sich einem Zimmer anpassen: Es muss anwesend sein, ohne den Anschein zu erwecken, dass es existiert. Wir wussten uns auf Beerdigungen zu benehmen und konnten kurze, melancholische Gedichte über das Verstreichen des Herbstes schreiben, die genau siebzehn Silben lang waren. Wir konnten Unkraut jäten und Kleinholz hacken und Wasser holen, und eine von uns – die Tochter des Reismüllers – konnte mit einem achtzig Pfund schweren Reissack auf dem Rücken zwei Meilen zu Fuß in die Stadt laufen, ohne dass sie auch nur ein einziges Mal ins Schwitzen kam. Es kommt nur auf die richtige Atmung an. Die meisten von uns hatten gute Manieren und waren überaus höflich, außer wenn sie wütend wurden und fluchten wie die Bierkutscher. Die meisten von uns redeten vornehmlich wie echte Damen, mit hoher Stimme, und gaben vor, weit weniger zu wissen, als es in Wahrheit der Fall war; und wenn wir an den Deckarbeitern vorbeiliefen, achteten wir darauf, kleine Tippelschritte zu machen, die Zehen ordentlich nach innen gerichtet. Denn wie oft hatten unsere Mütter uns eingeschärft: Lauf wie die Stadt, nicht wie der Bauernhof!

Auf dem Schiff krochen wir abends zueinander in die Kojen und blieben stundenlang auf, um den unbekannten Kontinent zu besprechen, der vor uns lag. Angeblich aßen die Menschen dort nichts als Fleisch, und sie waren überall behaart (wir waren überwiegend Buddhistinnen und aßen kein Fleisch, und Haare hatten wir nur an den richtigen Stellen). Die Bäume waren gigantisch. Die Prärien unermesslich weit. Die Frauen waren laut und groß – einen Kopf größer, so hatten wir gehört, als die größten Männer bei uns. Die Sprache war zehnmal schwerer als unsere, und die Sitten waren unfassbar seltsam. Bücher las man von hinten nach vorn, und im Bad benutzte man Seife. Die Nase putzte man sich mit schmutzigen Stofftüchern, die anschließend zurück in die Tasche gestopft, später erneut herausgeholt und wieder und wieder benutzt wurden. Das Gegenteil von Weiß war nicht Rot, sondern Schwarz. Was würde aus uns werden, fragten wir uns, in einem so fremden Land? Wir stellten uns vor, wie wir – ein ungewöhnlich kleines Volk, ausgerüstet mit nichts als unseren Reisehandbüchern – ein Land der Riesen betreten würden. Würde man uns auslachen? Bespucken? Oder, schlimmer noch, würde man uns überhaupt nicht ernst nehmen? Aber selbst die Zögerlichsten unter uns mussten zugeben, dass es besser war, einen Unbekannten in Amerika zu heiraten, als mit einem Bauern aus dem Dorf alt zu werden. Denn in Amerika mussten die Frauen nicht auf dem Feld arbeiten, und es gab genug Reis und Feuerholz für alle. Und wo immer man hinkam, hielten die Männer die Tür auf und tippten sich an ihre Hüte und riefen: »Ladies first« und »Nach Ihnen«.

Einige von uns auf dem Schiff kamen aus Kyoto und waren zierlich und hübsch und hatten ihr gesamtes Leben in abgedunkelten Hinterhofzimmern gewohnt. Einige von uns kamen aus Nara und beteten dreimal täglich zu ihren Vorfahren und schworen, dass sie immer noch die Tempelglocken läuten hören konnten. Einige von uns waren Bauerntöchter aus Yamaguchi, mit kräftigen Handgelenken und breiten Schultern, die nie nach neun ins Bett gegangen waren. Einige von uns kamen aus einem kleinen Bergdorf in Yamanashi und hatten erst kürzlich ihren ersten Zug gesehen. Einige von uns kamen aus Tokio und hatten schon alles gesehen und sprachen ein wunderschönes Japanisch und mischten sich kaum unter die anderen. Viele von uns kamen aus Kagoshima und sprachen einen breiten Süddialekt, den diejenigen aus Tokio vorgaben nicht zu verstehen. Einige von uns kamen aus Hokkaido, wo es verschneit und kalt war, und träumten noch jahrelang von dieser weißen Landschaft. Einige von uns kamen aus Hiroshima, das später in die Luft fliegen sollte, und hatten Glück, überhaupt auf dem Schiff gelandet zu sein, auch wenn sie es damals natürlich noch nicht wussten. Die Jüngste von uns war zwölf, sie kam vom Ostufer des Biwa-Sees und hatte noch nicht einmal ihre Regel. Meine Eltern haben mich für die Verlobungsmitgift verheiratet. Die Älteste von uns war siebenunddreißig, sie kam aus Niigata und hatte sich ihr gesamtes bisheriges Leben um ihren kranken Vater gekümmert, dessen Tod sie jetzt froh und traurig zugleich machte. Ich wusste, dass ich erst heiraten kann, wenn er stirbt. Eine von uns kam aus Kumamoto, wo es keine heiratsfähigen Männer mehr gab – alle heiratsfähigen Männer waren im Jahr zuvor in die Mandschurei gegangen, um dort Arbeit zu suchen –, und schätzte sich glücklich, überhaupt irgendeinen Ehemann gefunden zu haben. Ich habe einen Blick auf sein Foto geworfen und dem Heiratsvermittler gesagt: »Der geht.« Eine von uns kam aus einem Seidenweberdorf in Fukushima und hatte ihren ersten Mann an die Grippe verloren und den zweiten an eine jüngere und hübschere Frau, die auf der anderen Seite des Berges wohnte, und jetzt war sie auf dem Weg nach Amerika, um den dritten zu heiraten. Er ist gesund, er trinkt nicht, er spielt nicht, mehr musste ich nicht wissen. Eine von uns war eine ehemalige Tänzerin aus Nagoya, die sich sehr schön kleidete und durchsichtige weiße Haut hatte und alles über Männer wusste, was es zu wissen gab, und sie war es, der wir jeden Abend unsere Fragen stellten. Wie lang dauert es? Mit Licht an oder im Dunkeln? Beine hoch oder runter? Augen auf oder zu? Was, wenn ich nicht atmen kann? Was, wenn ich Durst bekomme? Was, wenn er zu schwer ist? Was, wenn er zu groß ist? Was, wenn er mich überhaupt nicht will? »Männer sind eigentlich ziemlich einfach«, sagte sie. Und dann begann sie zu erzählen.

Manchmal lagen wir in der schwankenden, feuchten Dunkelheit des Schiffsraums stundenlang wach, erfüllt von Sehnsucht und Angst, und fragten uns, wie wir das drei weitere Wochen lang aushalten sollten.

Auf dem Schiff hatten wir alles, was wir für unser neues Leben brauchen würden, in Koffern bei uns: weiße Seidenkimonos für die Hochzeitsnacht, bunte Baumwollkimonos für jeden Tag, einfache Baumwollkimonos für wenn wir älter wurden, Kalligrafiepinsel, dicke schwarze Tintenstäbchen, hauchdünne Reispapierblätter, auf denen wir lange Briefe nach Hause schreiben würden, winzige Messingbuddhas, Fuchsgottstatuen aus Elfenbein, Puppen, mit denen wir geschlafen hatten, seit wir fünf waren, Tüten mit braunem Zucker, um jemanden um den Finger zu wickeln, Leinendecken in leuchtenden Farben, Papierfächer, Bücher mit englischen Redewendungen, geblümte Seidenschärpen, glatte schwarze Steine aus dem Fluss, der hinter unserem Haus entlangfloss, die Locke eines Jungen, den wir einst berührt und geliebt und dem wir versprochen hatten zu schreiben, obwohl wir wussten, dass wir es niemals tun würden, Silberspiegel, Geschenke von unseren Müttern, deren Worte wir noch deutlich im Ohr hatten. Du wirst sehen: Frauen sind schwach, aber Mütter sind stark.

Auf dem Schiff beklagten wir uns über alles. Bettwanzen. Läuse. Schlaflosigkeit. Das unaufhörliche dumpfe Rattern des Motors, das sich bis in unsere Träume bohrte. Wir beklagten uns über den Gestank von den Latrinen – riesige, klaffende Löcher, die sich ins Meer öffneten – und unseren eigenen, stetig zunehmenden Geruch, der jeden Tag stechender zu werden schien. Wir beklagten uns über Kazukos Überheblichkeit, Chiyos Räuspern und darüber, dass Fusayo unablässig den »Teapicker’s Song« summte, der uns alle langsam in den Wahnsinn trieb. Wir beklagten uns über das Verschwinden unserer Haarnadeln – wer von uns war der Dieb? – und darüber, dass die Mädchen aus der ersten Klasse unter ihren violetten Sonnenschirmen aus Seide noch kein einziges Mal gegrüßt hatten, wenn sie oben an Deck an uns vorbeigegangen waren. Was glauben die bloß, wer sie sind? Wir beklagten uns über die Hitze. Die Kälte. Die kratzigen Wolldecken. Wir beklagten uns über unsere eigenen Klagen. Tief im Innern jedoch waren die meisten von uns eigentlich sehr glücklich, denn bald würden wir in Amerika sein, mit unseren neuen Ehemännern, die uns in den vergangenen Monaten oft geschrieben hatten. Ich habe ein schönes Haus gekauft. Du kannst im Garten Tulpen pflanzen. Osterglocken. Was immer Du willst. Ich besitze eine Farm. Ich führe ein Hotel. Ich bin der Vorsitzende einer großen Bank. Ich habe Japan vor mehreren Jahren verlassen, um meine eigene Firma zu gründen, und kann gut für Dich sorgen. Ich bin 1,79 groß und leide weder unter Aussatz noch unter einer Lungenkrankheit, und es gibt auch keine Fälle von Geistesgestörtheit in meiner Familie. Ich stamme aus Okayama. Aus Hyogo. Aus Miyagi. Aus Shizuoka. Ich bin in einem Dorf in Deiner Nähe groß geworden und habe Dich vor vielen Jahren einmal auf dem Markt gesehen. Ich schicke Dir das Geld für die Überfahrt, sobald ich kann.

Auf dem Schiff bewahrten wir die Bilder unserer Ehemänner in winzigen ovalen Medaillons auf, die an langen Ketten um unsere Hälse hingen. Wir bewahrten sie in Seidentäschchen auf, in alten Teedosen und roten Lacketuis und in den dicken braunen Umschlägen aus Amerika, in denen sie uns ursprünglich zugesandt worden waren. Wir bewahrten sie in den Ärmeln unserer Kimonos auf, wo wir oft nach ihnen fühlten, um sicherzugehen, dass sie noch da waren. Wir bewahrten sie flach gedrückt zwischen den Seiten von Japanerinnen, kommt! und Leitfaden für Amerika-Reisende und Zehn Arten, einen Mann glücklich zu machen und alten, zerlesenen Ausgaben buddhistischer Sutras auf, und eine von uns, die Christin war und Fleisch aß und zu einem anderen Gott mit längeren Haaren betete, bewahrte ihres zwischen den Seiten einer King-James-Bibel auf. Und wenn wir sie fragten, welchen Mann sie lieber mochte – den Mann auf dem Foto oder den Herrn Jesus Christus –, lächelte sie geheimnisvoll und erwiderte: »Ihn, natürlich.«

Einige von uns auf dem Schiff hatten Geheimnisse und schworen sich, sie im Leben nicht ihren Ehemännern anzuvertrauen. Vielleicht war der wahre Grund für unsere Reise nach Amerika ein lange verschollener Vater, der die Familie vor Jahren verlassen hatte und den wir wiederfinden wollten. Er ging nach Wyoming, um im Bergwerk zu arbeiten, und wir haben nie wieder von ihm gehört. Oder vielleicht ließen wir eine kleine Tochter zurück, deren Vater jemand war, an dessen Gesicht wir uns kaum noch erinnern konnten – ein Märchenerzähler auf Wanderschaft, der eine Woche im Dorf verbracht hatte, oder ein buddhistischer Wanderpriester, der eines Spätabends auf seinem Weg zum Fuji bei uns eingekehrt war. Und auch wenn wir wussten, dass unsere Eltern sich gut um sie kümmern würden – Wenn du hier im Dorf bleibst, hatten sie uns gewarnt, wirst du niemals heiraten –, fühlten wir uns trotzdem schuldig, dass wir unser Leben über das unserer Tochter gestellt hatten, und auf dem Schiff weinten wir jede Nacht um sie, mehrere Nächte hintereinander, bis wir eines Morgens aufwachten, uns die Tränen wegwischten und sagten: »Genug jetzt«, und anfingen, an andere Dinge zu denken. Welchen Kimono wir bei unserer Ankunft anziehen würden. Wie wir das Haar tragen würden. Was wir sagen würden, wenn wir ihm zum ersten Mal begegneten. Denn jetzt waren wir auf dem Schiff, die Vergangenheit lag hinter uns, und es gab kein Zurück.

Auf dem Schiff hatten wir keine Ahnung, dass wir bis zu unserem Tod jede Nacht von unserer Tochter träumen würden und dass sie in unseren Träumen immer drei Jahre alt sein würde und genau so, wie wir sie zuletzt gesehen hatten: eine winzige Person in einem dunkelroten Kimono, die an einem Pfützenrand hockt, vollständig versunken in den Anblick einer schwimmenden toten Biene.

Auf dem Schiff aßen wir jeden Tag das Gleiche, und wir atmeten jeden Tag die gleiche abgestandene Luft. Wir sangen die gleichen Lieder und lachten über die gleichen Witze, und morgens, wenn es draußen mild war, krochen wir aus dem engen Schiffsinneren und spazierten in unseren Holzsandalen und leichten Sommerkimonos über das Deck und blieben dann und wann stehen, um auf das immergleiche, endlos blaue Meer zu schauen. Manchmal landete ein Fliegender Fisch auf unseren Füßen, zappelnd und außer Atem, und eine von uns – normalerweise war es eine von den Fischerstöchtern – hob ihn auf und warf ihn zurück ins Wasser. Oder eine Delfinschule tauchte aus dem Nichts auf und sprang stundenlang neben dem Schiff her. An einem ruhigen, windstillen Morgen, das Meer war flach wie Glas und der Himmel von einem strahlenden Blau, erhob sich plötzlich die glatte schwarze Flanke eines Wals aus dem Wasser und verschwand, und einen Augenblick lang vergaßen wir zu atmen. Es war, als sähe man Buddha in die Augen.

Auf dem Schiff standen wir oft stundenlang an Deck, die Haare im Wind, und beobachteten die anderen vorbeigehenden Passagiere. Wir sahen turbantragende Sikhs aus dem Punjab, die aus ihrer Heimat nach Panama flohen. Wir sahen reiche weiße Russen, die vor der Revolution flohen. Wir sahen chinesische Arbeiter aus Hongkong, die auf den peruanischen Baumwollfeldern arbeiten wollten. Wir sahen King Lee Uwanowich und seine berühmte Zigeunerkapelle, die eine riesige Rinderfarm in Mexiko besaß und dem Hörensagen nach die reichste Zigeunerkapelle der Welt war. Wir sahen ein Trio von sonnenverbrannten deutschen Touristen und einen attraktiven spanischen Priester und einen großen, rotgesichtigen Engländer namens Charles, der jeden Nachmittag um Viertel nach drei an der Reling erschien und strammen Schrittes ein paar Mal das Deck auf und ab lief. Charles reiste erster Klasse und hatte dunkelgrüne Augen und eine kantige, spitze Nase, sprach perfekt Japanisch und war für viele von uns der erste Weiße, dem sie jemals begegnet waren. Er war Professor für Fremdsprachen an der Universität von Osaka, hatte eine japanische Frau und ein Kind, war oft in Amerika gewesen und beantwortete unsere Fragen mit engelsgleicher Geduld. Stimmte es, dass Amerikaner einen starken animalischen Geruch hatten? (Charles lachte und sagte: »Na ja, rieche ich denn?«, und ließ uns für ein kurzes Schnuppern näher kommen.) Und wie behaart genau waren sie? (»Ungefähr so behaart wie ich«, erwiderte Charles, und dann krempelte er seine Ärmel hoch, um uns seine Arme zu zeigen, die mit dunklen braunen Haaren bedeckt waren, sodass wir schauderten.) Und hatten sie wirklich Haare auf der Brust? (Charles errötete und sagte, er könne uns seine Brust nicht zeigen, und wir erröteten und erklärten, dass wir ihn darum auch nicht gebeten hatten.) Und gab es immer noch wilde Indianerstämme, die durch die Prärien zogen? (Charles erklärte uns, dass man alle Indianer fortgeschafft hatte, und wir atmeten erleichtert auf.) Und stimmte es, dass die Frauen in Amerika nicht vor ihren Männern knien oder beim Lachen die Hand vor den Mund halten mussten? (Charles starrte auf ein vorbeifahrendes Schiff am Horizont und seufzte und sagte: »Bedauerlicherweise, ja.«) Und tanzten die Frauen und Männer dort wirklich die ganze Nacht lang Wange an Wange? (Nur samstags, erklärte Charles.) Und waren die Tanzschritte sehr kompliziert? (Charles sagte, sie seien leicht, und gab uns am folgenden Abend eine mondbeschienene Foxtrottstunde an Deck. Langsam, langsam, schnell, schnell