Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann? - Ulrike Bartholomäus - E-Book

Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann? E-Book

Ulrike Bartholomäus

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Beschreibung

Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule ist ein Massenphänomen: Junge Erwachsene, ob mit Einser-Abitur oder weniger glanzvollen Abschlüssen, sind nach der Schule blockiert. Statt mit wehenden Fahnen ins Leben zu starten, fühlen sie sich unfähig zur Entscheidung - für die richtige Ausbildung, den richtigen Beruf. Es wird gelitten, gestritten und viel gechillt. Ulrike Bartholomäus erzählt anschaulich und mitunter nicht ohne Komik von den Dramen, die sich in den Familien abspielen. Die Wissenschaftsjournalistin recherchiert bei Pädagogen, Ärzten und Wissenschaftlern, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Sie hat zahlreiche junge Menschen, die länger für ihre Orientierungsphase gebraucht haben, begleitet. Sie haben für dieses Buch auch Gespräche mit Gleichaltrigen geführt. Die Autorin liefert damit das Porträt einer Generation zwischen Gap year, Sinnsuche, langwieriger Studienfachfindung, Verweigerung und Aufbruch ins Unbekannte. Eine lebensnotwendige Lektüre für alle Eltern, die nichts sehnlicher wünschen, als ihr Kind in die Selbständigkeit zu entlassen.

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Inhalt

Cover & Impressum

Einleitung

Teil 1 // Die große Orientierungslosigkeit

Viel zu jung

Das Chaos der Gefühle

Der Coolnessfaktor

Der digitale Lifestyle

Unendliche Möglichkeiten

Tatenlosigkeit der Kinder

Nicht jede Entscheidung ist die richtige

Teil 2 // Die zweite Pubertät

Oder: Die Reifung des Gehirns braucht bis Mitte zwanzig Befunde aus Neurowissenschaft und Psychologie

Im Schneckentempo

Spätzünder Vernunft

Übergang

Die große Frage

Die iGeneration

Teil 3 // Ausweg: Was Eltern tun können – und was sie lieber lassen sollten

Reifung braucht Zeit

Auf dem Prüfstand

Runter vom Radar

Raus aus der Familiendynamik

Reality-Check

Mit dem Latein am Ende

Ausblick

Literatur

Dank

Teil 1 // Die große Orientierungslosigkeit

Viel zu jung

Verkürzte Schulzeiten und ihre Folgen

Auf dem Papier sehen viele Ideen erst einmal brillant aus. So mag der Gedanke, die Schulzeit in Deutschland um ein Jahr zu verkürzen, weil die Wirtschaft nach jüngeren, dynamischen Absolventen verlangte, vielleicht theoretisch richtig gewesen sein. Doch was passierte, als aus 13 plötzlich 12 Schuljahre wurden, überraschte auch die, die das Turbo-Abitur erfunden hatten: gestresste Kinder, gestresste Eltern. Nach zwei sowohl für die Jugendlichen als auch für ihre Familien erschöpfenden Jahren Oberstufe strömen 18-jährige, manchmal 17-jährige Abiturienten ins Leben. Sie haben zwar 500 Follower auf Instagram und Snapchat, dafür aber keinen Schimmer, wie sie selbstständig ein Zimmer in der Universitätsstadt mieten, ein Konto eröffnen oder einen Studienkredit aufnehmen können. Ein Rekord bei »World of Warcraft« oder dauerhaftes Seriengucken bereitet nicht auf den Alltag vor. Theorie und Praxis, das zeigt sich hier ganz deutlich, klaffen meilenweit auseinander. Dafür kann diese Generation Papa bei seinen Marketingaktivitäten in Sachen Social Media tatkräftig unter die Arme greifen.

Nun ist jung nicht immer gleich jung. Der eine ist mit 18 Jahren so weit, auf eigenen Füßen zu stehen und sich selbst ein Auslandsstudium zu organisieren. Wer immer schon wusste, dass er Medizin studieren möchte, und die Schule mit einem Einser-Abi abschließt, hat auch kein Problem mit der Orientierung. Die 18-jährige Mona aus Berlin, die für ihr Leben gern backt und kunstvolle Torten herstellt, hat ebenfalls einen ganz klaren Plan vor Augen: Ausbildung zur Konditorin, Gesellenprüfung, Meisterschule, Ladeneröffnung.

Der Regelfall sieht heute jedoch ganz anders aus. Waren früher 18-Jährige schrittweise daran gereift, dass sie Verantwortung in der Familie übernehmen mussten, sind die meisten jungen Leute heute weitaus kindlicher als vor zwanzig Jahren. Sie wachsen behütet im Schatten ihrer Helikopter-Eltern auf. Während ihrer Kindheit räumen ihre Eltern, lebendigen Bulldozern gleich, alle Hürden und Unebenheiten aus dem Weg. »Eine Fünf in Mathe?«, schreit Mama hysterisch, als ihr Töchterchen Lilly, 15, die vermasselte Arbeit hinlegt. »Da gehe ich morgen in die Sprechstunde und beschwere mich. Das muss mindestens eine Vier-minus werden, sonst schalte ich den Anwalt ein.« Lilly nickt. Sie kennt das schon von Englisch, das mit der Beschwerde hat letztes Jahr schon super geklappt. Pauls Vater macht das auch so.

Lillys Mathe-Note, Hockeytraining, Geburtstagsparty, Friseurtermin, Geschenk für Oma, Nachhilfe in Englisch, Dankeskarte für die Konfirmation: Mama und Papa haben alles im Blick. Mama meist mehr als Papa. Auch wenn sie arbeitet, scheint sie einer Drohne gleich das Tun ihrer Tochter 24 Stunden am Tag zu überwachen. Sie kontrolliert alles, weiß alles, fragt alles; fährt überall mit hin. »Ich habe dir einen neuen Termin beim Kieferorthopäden gemacht, Schatz. Soll ich dich nach der Schule hinfahren?« Oder: »Oma hat Geburtstag, ich habe dir ein Geschenk für sie mitgebracht. Dieses Jahr schenkst du ihr eine Kinokarte.«

Ihre Eltern wissen immer, wo Lilly ist, können sie jederzeit am Handy erreichen oder per Ortungs-App all ihre Schritte nachvollziehen – selbst wenn Mama nicht versteht, wie das technisch funktioniert. Mama träumt von einer Software, mit der sie Lillys Smartphone aus der Ferne sperren kann, wenn die sie wegdrückt, was in letzter Zeit immer öfter vorkommt. Ihre amerikanische Freundin Wendy aus Orlando hat so etwas auf das Smartphone ihres Sohns gespielt. Seitdem geht der immer ran, wenn Mama-Drohne Wendy in seinem Display aufleuchtet.

Die Kinder werden beobachtet, überwacht und kontrolliert. Sie wissen nicht, wie es ist, ein paar Stunden unbehelligt von Erwachsenen ihr eigenes Leben zu leben. Unangenehme Telefonate müssen sie nicht selber führen, nicht selber mit anderen Menschen ihre Angelegenheiten verhandeln. Doch genau dieses Unbeobachtetsein, das Übernehmen von kleinen Häppchen an Verantwortung für das eigene Leben führt zur Reifung: die Busfahrkarte selber zu kaufen, die vergessene Winterjacke in der Musikschule abzuholen, sich selbstständig bei der Freundin zu entschuldigen, wenn man sie verletzt hat, ohne dass Mama die Mutter der Freundin anruft und alle Probleme abräumt. (»Das hat sie nicht so gemeint.«) Mama und Papa agieren als Bulldozer, die ein Problem abräumen, bevor es entsteht.

 

Neulich besorgten mein Mann und ich Putzzeug für unsere Tochter, die vor einem Monat ausgezogen ist. In ihrem Hausstand fehlten noch Wäscheständer, Eimer, Spülmaschinensalz & Co. Schon planten wir, wann wir es ihr am besten in die neue Wohnung bringen könnten. Dann zögerten wir: Wir hatten das Starter-Equipment besorgt und bezahlt. Wäre es da nicht zumutbar, dass sie es zu Hause abholt? Die Erledigungsreflexe sitzen tief. Die Rundum-sorglos-Software müssen wir erst schrittweise löschen.

Dinge selbst richtig zu entscheiden ist ein klassischer Übungsprozess. Aus kleinen Entscheidungen werden immer größere. Zuerst entscheidet ein Kind – sagen wir, es ist sieben oder acht – nach der Schule beim Bäcker, ob es mit einem Euro ein paar seiner Lieblingslakritzen oder beispielsweise ein Franzbrötchen kaufen möchte. Für diesen Vorgang braucht es ein bisschen Zeit. Also denkt es beim Bäcker konzentriert nach, zum Beispiel so:

 

Kind steht vor dem Tresen und schaut gebannt auf die Theke.

Verkäuferin: »Was möchtest du denn heute?«

Kind denkt nach. Verkäuferin wartet.

Kind: »Nehme ich die Lakritze, eine Zimtschnecke oder ein Franzbrötchen, hmm …«

Verkäuferin guckt das Kind aufmunternd an.

Kind: »Eine Zimtschnecke, bitte.«

Verkäuferin: »Danke schön. Und 20 Cent zurück.«

Ende des Gesprächs.

 

Heute meint man, diese Situation habe sich vor gefühlt hundert Jahren zugetragen. Denn inzwischen werden viele Grundschulkinder mit einem strategisch »günstig« vor der Schuleinfahrt geparkten Auto abgeholt und nach Hause chauffiert. Mama oder Papa gehen beim Bäcker sodann in Manndeckung. Das Drehbuch des Dialogs liest sich nun wie folgt:

 

Mama, kurz bevor sie drankommen: »Was möchtest du denn, Schatz?«

Kind zögert. Es denkt, es sei noch nicht dran: »Hmm.«

Mama: »Möchtest du eine Zimtschnecke, ein Franzbrötchen oder von den Lakritzen auf der Theke?«

Kind: »Franzbrötchen mag ich nicht.«

Mama: »Seit wann magst du keine Franzbrötchen? Letzte Woche hast du doch … Wir sind gleich dran. Schau mal, Schatz, die Frau zahlt jetzt gleich. Also, was möchtest du?«

Kind: »Ich meine heute. Heute mag ich kein Franzbrötchen.«

Mama guckt streng.

Kind resigniert: »Lieber eine Zimtschnecke.«

Mama im Erklärmodus: »Das ist doch toll. Die isst du gerne. Die hast du Montag doch auch genommen.«

Mama bestellt eine Zimtschnecke, ein Vollkornbrot und fünf Kürbiskernbrötchen.

Verkäufer: »Macht elf Euro achtzig, bitte.«

Mama zahlt.

Mama: »Möchtest du die Zimtschnecke auf die Hand oder ins Auto mitnehmen?«

Kind: »Hmm.«

Mama: »Die Zimtschnecke in eine kleine Tüte, bitte. Danke. Sag auf Wiedersehen.«

Kind: »Wiedersehen.«

Mama und Kind ab zum Auto. Mama drückt dem Kind aufmunternd und energisch die Papiertüte in die Hand: »Das ist deine, die kannst du selber tragen.«

 

Dies gibt eine erste Ahnung davon, warum 18-Jährige heute unreif sind. Variationen des Zimtschneckendialogs ziehen sich durch die gesamte Kindheit. Überall sind Erwachsene dabei. Die Kinder unternehmen, erleben und entscheiden fast nichts mehr selbstständig oder mit anderen Kindern. Ob man lieber Fußball spielen möchte oder Tennis, Gitarre oder Klavier, ob man sich mit Paul verabreden will oder mit Erik, immer sind Mama oder Papa involviert. Sie beraten, bequatschen, erklären, meinen und wollen.

Paul mögen sie lieber als Erik, weil sie Eriks Eltern, höflich formuliert, nicht so schätzen. Fußball findet Papa besser als Tennis, denn das hat er selber gern gespielt, sogar ziemlich erfolgreich als linker Verteidiger beim TuS Haste in Osnabrück. Bis er sich nach drei Verletzungen (wo gehobelt wird, da fallen Späne) das Sprunggelenk final ruiniert hat. Ihm stand gefühlt eine große Karriere bevor, von der er auch noch eine Zeit lang bei den alten Herren träumte. Bis es nicht mehr ging. Also muss jetzt sein Sohn ran Richtung Liga.

Das Kind möchte nicht in den Religionsunterricht, die Eltern finden Ethik aber ungünstig. Also doch katholische Religion. Das Kind möchte ab einem gewissen Alter nur noch Turnschuhe anziehen, doch Mama weiß es besser. »Nicht immer Sneaker, nimm doch mal die schicken Lederschuhe.« Das gab es früher auch. Da hatten wir alle ein Paar »gute Halbschuhe«. Die waren alle gleich hässlich.

Wie soll ein Kind, ein Jugendlicher, ein junger Erwachsener lernen, Entscheidungen zu treffen, wenn immer zwei, die es gut meinen und (selbstverständlich) besser wissen, mit am Tisch sitzen? Kinder lernen nun mal aus Erfahrungen, und es gehört dazu, auch einmal falsche Entscheidungen zu treffen und daraus zu lernen.

Jonas, 13, hat keine Lust, mit auf das Reiterwochenende seiner Schwester Lisa, 12, zu fahren. Es heißt, sie übernachten in einem ehemaligen Schloss in Mecklenburg-Vorpommern, das zu einer Jugendherberge ausgebaut wurde. Sechserzimmer mit Stockbetten, damit kann Jonas nichts anfangen. »Ich will lieber bei Oma bleiben.« – »Na gut«, sagt seine Mutter, die keine Lust auf Theater hat. »Wenn Oma damit einverstanden ist.« – »Ist sie, ich habe sie schon gefragt.« Jonas bleibt zu Hause.

Als seine Eltern mit Lisa von dem Wochenende wiederkommen, erzählen sie begeistert von dem riesigen Schloss, der coolen Gruppe, dem Lagerfeuer, an dem sie Würstchen gegrillt haben, und der Kutschfahrt, die Eltern und Geschwister unternahmen, die den mehrstündigen Ausritt auf einem Pony nicht mitmachen wollten. Lisas, Mamas und Papas Augen leuchten noch wochenlang. Da hatte er leider etwas verpasst. Verdammt. Fehlentscheidung. Beim nächsten Trip wird sich Jonas gut überlegen, ob er leichtfertig absagt.

Es ist wie beim Skifahren. Wenn die Kinder ganz klein sind, nimmt man sie im Lift und bei der Abfahrt zwischen die Beine und hält sie fest. Doch ab dem Alter von rund vier Jahren lässt man sie selber fahren, und siehe da, sie können es. Sie fallen ganz sicher hin, sogar oft. Aber je öfter sie den Abhang hinunterjagen, desto besser lernen sie es. Je öfter sie fallen, desto eher registriert ihr motorisches System, warum sie fallen, und schon nach ein paar Abfahrten fahren sie plötzlich vollkommen sicher. Was passiert, wenn man sie immer nur zwischen den Beinen fahren lässt und festhält, kann sich wohl jeder lebhaft vorstellen: Die Kinder lernen es nicht, egal wie gut es Mama oder Papa meinen. Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. So oder ähnlich ist es auch im Leben.

In der Schule läuft es so, wie die Gymnasiallehrerin Lena Heiliger aus Bonn erzählt. Früher hätte ein Kind eine Fünf oder eine Sechs bekommen, wenn es eine Arbeit versemmelt hatte. Heute beschwerten sich die Eltern über schlechte Noten und drohten mit dem Anwalt. Im Zweifelsfall würde geklagt. Das sei keine Ausnahme, sondern komme öfter vor. Diese Kinder würden nicht mehr lernen, für die Konsequenzen ihres Tuns geradezustehen. Sie lernten, wenn sie nicht genug für die Klausur arbeiten, kümmern sich Papa oder Mama darum. Nicht sie seien verantwortlich, sondern der Lehrer. Der hätte es ihnen besser erklären müssen.

Und plötzlich, mit 18 Jahren, sollen die behüteten Kleinen dann erwachsen sein; ihre berufliche Zukunft gestalten, ausziehen, eine Wohnung suchen, mit ihrem Geld auskommen, Krisen mit dem neuen Freund durchstehen, Freunde in einer neuen Stadt finden, ein Bankkonto für das Online-Banking eröffnen und einen Job finden. Sie sollen mit dem Mitbewohner fertigwerden, der in der WG keine Miete zahlt, mit ihren Gefühlen klarkommen, wenn der neue Freund sie betrügt.

Volljährig, aber nicht voll im Film

Volljährig ist man über Nacht. Aber die Konsequenzen zu verstehen, dauert viel länger. Wie reif jemand wirklich ist, hängt von seiner Biografie ab. Es gilt, im Einzelfall zu schauen, welche Verantwortung ein Jugendlicher mit 18 Jahren übernehmen kann, welche Kompetenzen er oder sie erworben und wie sich die Persönlichkeit entwickelt hat.

Dies haben Rechtsexperten schon lange erkannt. Das Jugendstrafrecht, das für Jugendliche von 14 bis 17 Jahren gilt, können Jugendrichter auch über das siebzehnte Lebensjahr hinaus anwenden, nämlich auf »Heranwachsende«. So nennt das Recht 18- bis 20-Jährige. Zwar sind junge Menschen mit 18, 19 und 20 Jahren voll strafmündig. Der Richter entscheidet jedoch im Einzelfall, ob ein Heranwachsender in seiner geistigen und moralischen Entwicklung noch unreif ist. Zeichen von Unreife können dabei Leichtsinn, Nachahmungstrieb, planloses, impulsives, situationsbedingtes Handeln, Geltungsbedürfnis oder Unbekümmertheit sein. Typische Anzeichen von jugendlichem Handeln, die wir alle kennen.

Die Risikobereitschaft von Teenagern hat in der Evolution einen bestimmten Sinn, denn wer nicht risikobereit ist, wird seine angestammte, sichere Welt nicht verlassen, um das Unbekannte zu erkunden. Die hormonbedingte Unfähigkeit im Teenageralter, die Konsequenzen des eigenen Handelns abzusehen, hat System (siehe Teil II). Das Strafrecht fußt auf der Erkenntnis, dass nicht alle Heranwachsenden mit 18, 19 oder 20 Jahren voll schuldfähig sind.

Nicht nur im Strafrecht gibt es Überlegungen, eigene Regeln für Anfang 20-Jährige einzuführen. Im Frühjahr 2018 brandete eine Debatte über jugendliche Hartz-IV-Empfänger auf, die sich nicht pünktlich bei der Bundesagentur für Arbeit melden. Dies macht etwa die Hälfte aller Versäumnisse aus. Bei jeglichen Versäumnissen folgt in der Regel eine Kürzung der Bezüge bis hin zur Streichung des Wohngelds. So sollten nach Ansicht von Andrea Nahles, SPD, die Strafen erst ab dem 25. Lebensjahr gelten. Sie will damit verhindern, dass junge Leute aus ihrer Wohnung fliegen, weil sie einen Termin verbummelt haben. In dem Fall seien sie noch schwerer in den Jobmarkt zu vermitteln.

Auch Wissenschaftler sind sich inzwischen einig: Erst mit circa Mitte zwanzig reifen bestimmte Hirnregionen, die für Handlungsplanung und strategisches Denken zuständig sind. Reifung braucht eben Zeit. Zeit für die Nervenzellen im Gehirn, um sich neu zu vernetzen und zu wachsen; Zeit für die Persönlichkeit, um sich zu entwickeln; Zeit für die Jugendlichen, Erfahrungen zu sammeln – Zeit mit Erwachsenen, aber vor allem ohne sie.

Unerwachsene Erwachsene

Eine wichtige Veränderung in der Gesellschaft, die sich massiv auf das Verständnis der heute 18-Jährigen auswirkt, ist die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern. Aus einem autoritären Verhältnis ist ein großenteils freundschaftliches geworden. Mama shoppt die gleichen UGGS wie ihre Tochter, der 20-jährige Sohn geht mit Papa am Wochenende zum Konzert. Der macht seit neuestem auf Daddy Cool mit Hoodie und hängenden Teenie-Hosen, begrüßt seinen Spross mit einem lässigen »Was geht?« und benimmt sich wie der beste Kumpel seines Sohns. Gefühlt ist er damit im Multimillionen-Kapuzenpulli-Business tätig, dabei hat er gerade mal sein Reihenhaus zur Hälfte abbezahlt. Unerwachsene Erwachsene sind jedoch kein Vorbild.

Was früher undenkbar war, ist heute selbstverständlich. Der Freund der Tochter, die Freundin des Sohns darf über Nacht bleiben. Um seine Beziehung zu leben, muss kaum ein Jugendlicher mehr in eine eigene Wohnung ziehen.

Gleichzeitig haben sich die Schritte ins Erwachsenenleben aufgeweicht und teilweise bis in das vierte Lebensjahrzehnt verschoben. Biografien folgen nicht mehr dem Schema F: Ausziehen, Ausbildung oder Studium, Beruf, Heirat, Kinder, Hauskauf. Das streben viele nicht mehr an, und wenn, dann erst irgendwann. Später. 40 Prozent aller Akademikerinnen sind kinderlos. Die anderen 60 Prozent sind aufgrund ihrer Doppelbelastung viele Jahre ziemlich erschöpft. Diesen stressigen Alltag lehnen die jungen Menschen heute ab. Sie fordern eine Work-Life-Balance ein, die es ihnen ermöglicht, Zeit für eine Familie und sich selbst zu haben. Insofern haben Heranwachsende recht damit, es langsam angehen zu lassen. Dass sie so früh mit der Schule fertig und ins Leben gespült werden, läuft konträr zur sonstigen Entwicklung in der Gesellschaft.