Written in Sand - Lexi Ardor - E-Book

Written in Sand E-Book

Lexi Ardor

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Beschreibung

Kann der Ozean den Song deines Lebens schreiben? Leya hatte einen Traum: Als Songwriterin mit ihren Herzenstexten Großes bewirken. Als ihr Wunsch wie eine Seifenblase zerplatzt, flieht sie zu ihrem besten Freund ans Meer. Dort trifft sie auf Nesh, der wie Leya alles hinter sich lassen will. Und dessen Herz sich nach einer neuen Melodie sehnt. Doch was, wenn sich die Narben der Vergangenheit nicht durch eine neue Tonfolge heilen lassen?

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Seitenzahl: 422

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dunkelstern Verlag GbR

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Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.

Lektorat: Nicole Gratzfeld

Korrektorat: Nicole Gratzfeld

Cover:Bleeding Colours Coverdesign

Bildmaterial: Adobe Stock und Firefly

Satz: Bleeding Colours Coverdesign

ISBN: 978-3-98947-088-0

Alle Rechte vorbehalten

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

Never please anybody but yourself.

Denn deine eigene Melodie ist die Schönste.

Written in Sand

by Leya & Nesh

All love is lost - Leya

This morning talks – Nesh

Feelings are like ocean waves – Leya

Illuminated sky – Nesh

A ray of light – Leya

All the little things – Nesh

Changing tides – Leya

Absence of difficulty – Nesh

Depth of a heart – Leya

Heartlines – Nesh

Outrun the past – Leya

The sweetest cure – Nesh

Between the lines – Leya

Stay close – Nesh

Happiness causes the deepest falls – Leya

Secrets of the past – Nesh

Fall into me – Leya

Fading light – Nesh

Between now and then – Nesh

My heart in your hands – Leya

Falling for us – Nesh

Thoughts and heartbeats – Leya

Losing myself – Nesh

The Devil and his friend – Leya

Broken wings – Nesh

Irrational pain of a loving heart - Leya

Broken wings (Acoustic Version) - Nesh

What love feels like – Leya

A place called home – Nesh

Epilog – Nesh

Danksagung

Content Notes

Content Notes

Manche Geschichten in unserem Leben sind laut, andere leise, doch nicht weniger wert, gehört zu werden. Und manchmal verbergen sich zwischen den Zeilen Albträume und Schmerz, die uns versuchen zu verändern. In diesem Buch begegnen dir Themen, die dir möglicherweise Unwohlsein bereiten könnten. Eine detaillierte Liste findest du am Ende des Buches, um Spoiler zu vermeiden. Wir wünschen dir eine schöne Zeit am Meer und hoffen, dass dir Leyas und Neshs Geschichte das geben kann, was du suchst.

Lexi & Nik und der Dunkelstern Verlag

All love is lost - Leya

Sorry, Ley.

Das war alles, was von meinem großen Traum übrig war. Zwei Worte in einer letzten Textnachricht. Zwei Worte, die mir alles genommen hatten, wofür ich gearbeitet hatte.

Wie Säure fraß sich jeder Buchstabe durch mich hindurch. Ließ die Spitze meines Stiftes verharren. Jedes Wort, das ich hätte zu Papier bringen können, starb, bevor ich es greifen konnte. Seit Wochen hatte ich keinen Vers geschrieben, keine Liedzeile verfasst. Weißes Rauschen füllte meine Ohren. Betäubte jedes Gefühl und ließ meine Welt in tonlosen Graustufen ertrinken.

Mein Handy verkündete den Eingang einer Textnachricht.

Ich hatte keine Lust nachzusehen.

Noch eine Nachricht.

Missmutig hob ich den Blick von der unberührten Seite meines Notizbuches, die mich mit ihrem Strahlen zu verhöhnen schien.

Noch eine Nachricht.

Stöhnend schob ich den Stuhl zurück und dehnte meine verspannten Muskeln. Diffuses Licht drang durch den schmalen Spalt zwischen meinen Vorhängen, die ich seit Wochen nicht geöffnet hatte. Der herrliche Frühsommer mit seinen ausgiebigen Sonnenstunden und den unzähligen Schattierungen von frischem Grün schien sich besonders viel Mühe zu geben, mir zu zeigen, wie grau meine Welt war.

Noch eine Nachricht.

Ich öffnete den Chat mit meinem besten Freund ohne darauf zu achten. Es gab ohnehin niemand anderen mit dem ich zur Zeit redete.

Hey Lil. Was machst du?

Lil?

Lass das sofort sein.

Du hast es nicht anders gewollt.

Ich schaffte es gerade so, das letzte Wort zu lesen, da klingelte das Telefon. Ich nahm den Anruf entgegen, ohne zu zögern. Er würde ohnehin nicht aufgeben.

»Vergiss das Arschloch. Du bist großartig und du bist zu so viel mehr bestimmt, als er jemals sein wird. Aber ich bin trotzdem sauer, weil du mich ignoriert hast.«

»Ich wollte gerade antworten. Und du kannst überhaupt nicht wissen, warum ich so lange gebraucht habe.«

Zay lachte. »Wie lange kenne ich dich jetzt? Vierzig Jahre?«

»Du bist erst dreiundzwanzig.« Ein Schmunzeln zupfte an meinem Mundwinkel. Eines der vielen Talente, die mein bester Freund besaß, war es, mich immer aufzumuntern.

»Und trotzdem kenne ich dich so gut, dass es mir vorkommt wie vierzig. Lass mich raten: Du sitzt trübsinnig in deinem völlig dunklen Zimmer, obwohl es laut Wetterbericht gerade herrliche fünfundzwanzig Grad und strahlenden Sonnenschein bei dir sind.«

Ich brummte etwas, was Zustimmung und Verneinung gleichermaßen sein könnte.

Zays Stimme wurde sanfter. Der typisch neckende Tonfall wich und ich konnte förmlich sehen, wie Sorge seine meergrünen Augen verdunkelte. »Was brauchst du?«

Ich lachte bitter. »Ein neues Leben.«

Für einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung. So still, dass ich nicht sicher war, ob das Rauschen in meinen Ohren von meinem eigenen Blut kam oder vom Ozean, den mein bester Freund sicher gerade betrachtete. »Okay.«

»Okay?«

»Du willst ein neues Leben. Du bekommst eines. Komm zu mir.«

»Was? Das geht …«

»Stopp«, unterbrach er mich. »Du willst einen Neuanfang, oder? Und hier kannst du einen haben.«

Das Handy vibrierte. Irritiert nahm ich es vom Ohr und sah eine Nachricht von Zay. Er hatte mir ein Foto seiner Aussicht geschickt. Offenbar stand er auf seinem kleinen Balkon. Der Ozean war eine strahlende Fläche in Blauschattierungen. Kaum eine Welle kräuselte seine Oberfläche. Eine Handvoll Menschen genoss das milde Wetter bei einem Spaziergang.

Noch ein Foto kam an. Diesmal vom Schlafsofa meines besten Freundes.

Das nächste zeigte das Innere seines Kühlschrankes. Er war randvoll. Eigentlich viel zu voll für einen Ein-Personen-Haushalt.

Ich stellte den Lautsprecher an. »Denkst du wirklich, ein voller Kühlschrank lockt mich zu dir?«

»Mmhhh.« Er zog den Laut in die Länge, als müsse er angestrengt über meine Worte nachdenken. »Nein, aber das hier vielleicht.« Das Grinsen in seiner Stimme war nicht zu überhören und dann kam ein weiteres Bild.

Es zeigte meinen Kindheitsfreund, der sein typisches Zay-Lächeln im Gesicht hatte. Eine Mischung aus Schmunzeln und Grinsen. Seit er an die Nordsee gezogen war, kamen immer mehr Sommersprossen auf seinem Gesicht zum Vorschein. Er hatte einen Arm ausgebreitet, wie er es früher immer getan hatte, um mich in eine Umarmung zu ziehen.

Ich hatte ihn ewig nicht gesehen. Wir waren beide so damit beschäftigt gewesen, unsere Wege zu festigen, und diese hatten uns in verschiedene Richtungen geführt. Oder in Zays Fall in zig Richtungen in kürzester Zeit. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich seine Umarmungen vermisste. Wie sehr es mir fehlte, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen.

Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. Nutzte meinen Moment der Unachtsamkeit und stahl sich an meinem Schutzwall vorbei. Keine hatte es geschafft, seit mein Leben in Grau zerflossen war. Ich hatte sie aufgehalten und niemandem gezeigt, wie zerbrochen ich im Inneren war. Doch nun stand ich hier. In meinem dunklen Zimmer und salzige Bäche strömten Wasserfällen gleich meine Wangen hinab. Ein Schluchzen schüttelte meinen Körper.

»Lil …« Zays Stimme schien so unendlich weit entfernt zu sein. Als könnte ich plötzlich jeden Kilometer hören, der uns voneinander trennte. »Du kommst hierher. Pack deine Sachen und schwing deinen süßen Hintern in Dolly, verstanden?« Seine Worte ließen keinen Zweifel daran, dass er mich zur Not holen kommen würde und dennoch klang seine Stimme wie ein zarter Windhauch.

Und während die Stücke meines Herzens, die ich so sorgsam zusammengehalten hatte, mir eines nach dem anderen entglitten und das Ausmaß der Zerstörung offenbarten, flüsterte ich: »Okay.«

***

Die zweite Reisetasche fand ihren Weg in Dolly, meinen alten VW-Bus. Benannt nach der einzig wahren Dolly Parton, einer herausragenden Songwriterin, deren Talent so viele Nummer-Eins-Hits erdacht hatte. Nummer-Eins-Hits, mit denen andere erfolgreich waren.

Ein trockenes Lachen löste sich aus meiner Kehle. Die Ironie dieser Namenswahl, ohne zu wissen, wie mein Leben verlaufen würde, fühlte sich an, als würde sich das gesamte Universum einen Scherz auf meine Kosten erlauben.

»Was ist so lustig, Schätzchen?« Meine Mutter kam hinter mir aus der Haustür und hielt mir meinen Gitarrenkoffer entgegen.

Ich zögerte. Nur einen Moment. Unschlüssig, ob ich das Instrument mitnehmen sollte. Immerhin schwiegen die Saiten im Einklang mit meinem leeren Notizbuch. Die Musik hatte mich mit ihm verlassen. Hatte ein Loch hinterlassen, das nichts anderes füllen konnte, und doch fand ich keine Melodie, keinen Takt, den meine Finger gedankenverloren trommelten, keine Note, die der Anfang einer ersten Zeile war.

Lediglich der skeptische Blick meiner Mutter brachte mich dazu, das Instrument neben die Reisetaschen zu stellen. Als hätte ich mich an dem alten abgegriffenen Leder des Koffergriffes verbrannt, zog ich die Finger zurück.

»Ich kann noch gar nicht glauben, dass du morgen schon so weit weg sein wirst.«

Ein Potpourri aus Gefühlen leuchtete in ihrem Gesicht. Ich wusste, dass meine Mutter sehr viel mehr in den letzten Wochen gesehen hatte, als ich offenbaren wollte. Und ich wusste, dass sie die Hoffnung hegte, die Zeit bei Zay könnte mir zurückgeben, was vielleicht für immer zerbrochen war. Doch das bedeutete nicht, dass der Gedanke, mich auf einer abgelegenen Insel vor der deutschen Küste zu wissen, sie nicht traurig machte.

Ich konnte selbst noch nicht fassen, dass ich das tat. Ich würde wirklich zu Zay ziehen. Am Meer wohnen.

Ich umarmte meine Mutter. Lockerte den Griff um meine eisernen Mauern ein wenig. Sie hatte keinen emotionslosen Abschied verdient, auch wenn der kurze Moment mich Kraft für mehrere Tage kostete. Die Gefühle in meiner Brust waren ein Monster, dem mit jedem Tag mehr Klauen und Zähne wuchsen, und wenn ich es nicht eingesperrt hielt, schlug es seine Krallen in mich und zerriss, was noch übrig war.

»Ich schreibe dir ganz oft, versprochen.«

Sie nickte und schluckte angestrengt. Wollte ebenso wie ich keine Tränen vergießen.

»Gib Papa nochmal einen Kuss von mir, ja?« Von ihm hatte ich mich bereits verabschiedet, bevor er zur Arbeit aufgebrochen war.

»Natürlich. Und jetzt fahr. Du verpasst noch deine Fähre und musst irgendwo am Straßenrand schlafen.« Sie küsste mich auf die Wange und schob mich dann energisch Richtung Fahrertür.

Ich schmunzelte und verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass die Fähren mehrmals täglich übersetzten, und ich selbst mit fünf Stunden Stau noch eine erwischen würde. Stattdessen drückte ich sie noch einmal, bevor ich einstieg und die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Völlige Stille umfing mich im Inneren, die ich schnellstmöglich mit dem Dröhnen des Motors füllte.

Eine Stunde hielt ich durch, dann kaufte ich mir an einem Rasthof etwas zu trinken und wählte Zays Nummer. Es war später Vormittag, was bedeutete, dass die Chancen, dass er wach war, gutstanden und er die Bar erst in einigen Stunden öffnen musste, also hatte er Zeit. Hoffte ich zumindest. Er nahm beim zweiten Klingeln ab.

»Was ist passiert? Hattest du einen Unfall?«

»Nichts und nein.« Ich stieg wieder in Dolly ein, und noch während ich versuchte, die Freisprecheinrichtung einzustellen, kam ich mir kindisch vor. Alleine, den Grund für meinen Anruf auszusprechen, klang lächerlich.

»Bekommst du kalte Füße?« Ich hörte das Schmunzeln in seiner Stimme, während im Hintergrund das Brummen einer Kaffeemaschine einsetzte.

»Nein … Es ist … still.«

Einen Moment hörte ich nur das monotone Geräusch auf der anderen Seite, dann murmelte Zay: »Verstehe. Gib mir eine Minute.«

Ich fuhr los und hörte, wie mein Freund gedämpft mit jemandem sprach. Mein schlechtes Gewissen ihn mit Belanglosigkeiten zu belästigen wuchs.

»So, dein imaginärer Beifahrer steht zur Verfügung.«

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören, wenn ich gewusst hätte, dass du Besuch hast …«

Er lachte. »Entspann dich, Lil. Ich habe keinen Besuch. Hab nur Anweisungen erteilt.«

»Hast du jemanden eingestellt?«

»Sowas in der Art. Er ist eher eine britische Version von Lumiere, wobei er manchmal leichte Tendenzen von Herrn von Unruh hat. Er ist quasi Inventar.«

»Okaaaay.« Ich zog das Wort in die Länge und war mir sicher, dass Zay meine gerunzelte Stirn aus den Silben heraushören konnte.

»Er war schon hier, als ich die Bar übernommen habe.«

»Das hast du noch nie erwähnt.«

»Stimmt.«

Eine Pause folgte. So kurz, dass sie ein langer Atemzug hätte sein können, doch ich kannte meinen Gesprächspartner so gut, dass mich der Moment der Stille stutzig machte.

»Ich sag ja, er ist wie ein Teil des Inventars. Da habe ich es wohl einfach vergessen.«

Zay war schon immer ein schlechter Lügner gewesen, aber diese Ausrede war sogar für ihn eine miserable Leistung. Dennoch ließ ich das Thema fallen. Er hatte sicher seine Gründe dafür, diese Person unerwähnt gelassen zu haben, sonst würde er mir nicht ausweichen.

»Verstehe. Also, imaginärer Beifahrer, da du aufgrund deiner Situation nicht in der Lage bist, Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst mit mir zu spielen, hoffe ich, du hast etwas Spannendes zu erzählen.«

»Lust auf ein akustisches Cocktail-Tasting?«

»Hast du neue?« Seit mein bester Freund weggezogen war, um in den besten Bars der Welt das Mixen zu lernen, hatten wir die Tradition, dass er mir seine neuen Rezepte vorlas und ich versuchte, die verschiedenen Aromen im Kopf zu einem Getränk zu verbinden.

»Klar. Die Meisterschaft ist bald und bei den Gewinnern des letzten Jahres muss ich mir echt was einfallen lassen, um eine Chance zu haben. Ich habe überlegt, nach Köln zu fahren und die drei Gewinner-Drinks zu probieren.«

»Klingt nach einer tollen Idee und die Meisterschaft gewinnst du mit links. Ich bin ganz Ohr.«

Die nächsten Stunden philosophierten wir über Zutaten, verschiedene Geschmacksnuancen und ausgefallene Kompositionen.

Zays Begeisterung und Leichtigkeit ließ mich meinen Schmerz zwar nicht vergessen, aber mit ihm fühlte es sich weniger schwer an, das Monster in Ketten zu halten.

Das letzte Stück des Weges mit der Fähre und über die Insel würde ich allein schaffen müssen. Zay musste die Bar öffnen, und auch wenn er angeboten hatte, mich auf seinen In-Ears zu lassen, sodass ich dem Treiben lauschen konnte, hatte ich abgelehnt. Ich wollte nicht schuld daran sein, dass seine Gäste ihn für unaufmerksam hielten und womöglich nicht wiederkamen. Dennoch war ich dankbar gewesen, dass er noch solange Zeit gehabt hatte, bis Dolly und ich an Deck der kleinen Fähre gehalten hatten. Das Übersetzen von Land auf ein Schiff hatte meine Nervosität so sehr angefacht, dass ich ohne seine Stimme im Ohr vermutlich einfach von der Rampe gefahren wäre.

Die Insel tauchte bereits am Horizont auf und je größer sie wurde, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich das hier wirklich tat. Ich, das Mädchen, das bereits mit zehn Jahren gewusst hatte, wohin es in ihrem Leben gehen wollte, hatte einfach ihre Sachen gepackt und würde bei ihrem besten Freund auf der Couch schlafen. Ohne Arbeitsplatz, ohne nennenswerte Ersparnisse, ohne Zukunft.

Panik raubte mir den Atem. Der Innenraum von Dolly schien mit einem Mal nicht mehr größer als ein Gitarrenkoffer. Ich stieg aus und stellte mich an die Reling der kleinen Fähre. Der salzige Atem des Ozeans füllte meine Lunge mit Sauerstoff und beruhigte meine Nerven. Die unbeschreibliche Mischung aus prickelnder Wärme und Meeresrauschen besänftigte mein wild schlagendes Herz.

Es war richtig. Dieser Ort fühlte sich bereits jetzt richtig an. Hier würde die Vergangenheit keine Sonnenaufgänge grau färben und keine Erinnerung könnte meine Gedanken in Finsternis ertränken.

Wir legten an und gemeinsam mit einer Handvoll anderer Autos fuhr ich vom Schiff. Zay hatte mir genau beschrieben, wo ich Dolly abstellen sollte. Es gab in der Nähe des JellyFish einen Parkplatz, den auch die vielen Surfenden für ihre Vans nutzten. Allerdings würde ich von dort aus einige hundert Meter zu Fuß gehen müssen.

Der Parkplatz war beinahe leer, als ich ankam. Die Surfsession hatte noch nicht begonnen und für viele der Strandgänger war es am späten Nachmittag bereits wieder zu kühl. Völlige Stille umfing mich. Wie erstarrt stand ich neben Dolly, nicht fähig, mich zu bewegen. Die Sonne war noch nicht untergegangen, und dennoch konnte ich bereits die Mondsichel hoch über mir erkennen und der Abendstern flankierte ihre Seite.

Mein Handy riss mich aus meinem Staunen. Eine Nachricht von Zay.

Deine Stunde ist um. Schon da?

Ich schmunzelte. Die Stunde war gerade einmal seit einer Minute vergangen.

Bin auf dem Parkplatz. Wo genau muss ich hin?

Warte dort.

Ich wollte ihm gerade schreiben, dass er sich unterstehen sollte, mich abzuholen und die Bar allein zu lassen, da erschien eine weitere Nachricht.

Das kannst du dir sparen. Bin fast da.

Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Selbst wenn er rennen würde, käme er nicht so schnell über die Dünen. Dennoch schickte ich ihm ein Herz zurück und lehnte mich an die Seitenwand von Dolly. Erneut zogen die beiden Himmelkörper meinen Blick auf sich. Hier würden bei Nacht sicher unzählige Sterne leuchten, die in den stets erleuchteten Metropolen von künstlichem Licht übertüncht wurden.

Don’t let the fake ones take away your light.

Da war sie. Die erste Songzeile seit Wochen. Keine Melodie, nichts weiter. Doch es war eine Zeile. Ein Anfang nach Tagen voller Stille und Zweifeln. Mit zitternden Fingern zog ich meinen Rucksack vom Beifahrersitz und riss das Notizbuch heraus. Klappernde Geräusche kündeten davon, dass mehrere Dinge dabei zu Boden fielen. Es war mir egal. Ich setzte den Stift auf das Papier…

Sorry, Ley.

Meine Finger zitterten. Der Stift entglitt ihnen. Die Seite blieb leer. Eine Träne, geboren aus Verzweiflung, entkam meinem Augenwinkel, und als ich Schritte hinter mir hörte, wischte ich sie schnell weg. Versteckte das Notizbuch in meinem Rucksack und drehte mich um.

Die Haare meines besten Freundes waren etwas länger geworden, aber zerzaust wie immer. Sein schiefes Leya-Grinsen, das er nur für mich reserviert hatte, zierte seine Lippen, und noch bevor ich mit meiner Musterung fertig war, lag ich in seinen Armen.

»Hey, Lil.«

»Hey.«

Für eine gefühlte Ewigkeit standen wir so da und genossen die Nähe des anderen. Es war so unendlich lang her, dass ich beinahe vergessen hatte, wie es sich anfühlte. Zay war mein Rettungsboot. Und egal, wie weit die Wellen uns voneinander trennten, wenn ich hilflos auf offener See trieb, war er da. Immer.

»Willst du dein neues Zuhause sehen?« Obwohl er die Frage zum Aufbruch stellte, lockerte er seine Umarmung erst, als ich nickte.

Ohne meine Widerworte zu beachten, schnappte er sich meine beiden Reisetaschen. Den Gitarrenkoffer ließ er nach kurzem Zögern im Wagen. Und ich war ihm dankbar dafür.

Unser Weg führte über einen schmalen Pfad, der sich zwischen Gräsern und Gestrüpp eine Düne emporwand. Oben angekommen eröffnete sich ein atemberaubendes Panorama.

Der Ozean lag wie eine nachtfarbene Decke in sanften Wellen zu unseren Füßen. Die Sonne entzündete seine Oberfläche in orangerotem Feuer und der Sand schimmerte in zartem Cremeweiß. Ich konnte beinahe spüren, wie sich die feinen Körnchen unter meinen nackten Füßen anfühlen würden.

Mein Blick fand Zay, der mit einem wissenden Lächeln neben mir stand. »Ist auch nach mehreren Monaten hier noch so überwältigend, mit dieser Aussicht schlafen zu gehen und aufzuwachen.«

Ich nickte und gemeinsam folgten wie dem Pfad abwärts zu einer schmalen Holztreppe, die in einem niedrigen Gebäude mündete. Stimmen und Musik drangen zu uns und mehrere warmweiße Lichterketten spendeten gemütliches Licht. Ich erhaschte einen Blick auf die Bar und die voll besetzte Terrasse, bevor Zay mich am Ärmel schnappte und durch eine rustikale Tür aus dunklem Holz bugsierte. Stufen führten in das Obergeschoss und zu zwei Türen. Wir steuerten die linke an und standen beinahe sofort im Wohnzimmer meines besten Freundes.

Ich erkannte es von den vielen Fotos, die er mir gesendet hatte. Sanfte Cremetöne und Boho-Vibes empfingen uns und Zay stellte meine Taschen neben der Couch ab. »Ich muss wieder runter. Wenn etwas ist, ich habe mein Telefon dabei. Mach es dir gemütlich und ruh dich aus.« Er zog mich in eine kurze, aber feste Umarmung. »Schön, dass du hier bist, Lil.«

Ich lächelte. »Danke, dass du mich gezwungen hast.«

Lachend wandte er sich um und verließ die Wohnung. Schnell schlüpfte ich in bequeme Sachen und sank zwischen die kuscheligen Sofakissen. Der Gedanke, die Aussicht vom Balkon aus sehen zu wollen, verfing sich im beruhigenden Rauschen der Wellen und verklang in einnehmender Stille.

This morning talks – Nesh

Wenn die Sonne das Meer in ein Farbenspiel aus Orangetönen tauchte und die Stille des heraufziehenden Morgens nichts als Wellenrauschen an meine Ohren spülte, fühlte sich das Atmen frei an. Die Unruhe, die mich jede Nacht begleitete, seit ich vor zwei Jahren die Entscheidung traf, dass meine Vergangenheit nicht länger eine Rolle in meiner Gegenwart spielen sollte, verflüchtigte sich. Der Wind, dessen Salzgeruch beinahe berauschend meine Sinne flutete, nahm ihre Schwere mit sich. Verwehte sie über den flüsternden Wogen.

Ich zog das linke Knie an und lehnte den Kopf an die hölzerne Wandverkleidung meines Schlafzimmers. Der lauwarme Luftstrom kroch unter den Saum meiner Pyjamahose, streichelte meinen nackten Oberkörper und ich schloss seufzend die Augen.

Dass ich dieses Zuhause gefunden hatte, grenzte an ein Wunder. Ebenso wie Zays Bereitschaft, mich weiterhin über der Strandbar The JellyFish wohnen zu lassen, als er diese vor zehn Monaten von Meira übernommen hatte. Ein Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Ich hatte nie zuvor Menschen wie Meira und Zay getroffen. Aufgeschlossen, empathisch und mit einer Energie, dass die Herausforderungen eines jeden Tages nicht groß genug sein konnten, um wirkliche Schwierigkeiten darstellen zu können, wirkten die beiden wie gleiche Seelen in unterschiedlich gealterten Körpern. Der dunkelblonde Barkeeper hatte sein zukünftiges Ich in der siebzigjährigen Weltenbummlerin gefunden.

Der Schrei einer Möwe ließ mich blinzeln, bevor mein Blick zu meinem Smartphone huschte. 7:00 Uhr. Ich erhob mich und ging in die angrenzende Wohnküche. Die Vorhänge folgten einer klanglosen Melodie, als ich die Fenster öffnete. Ich zog sie nicht zu, auch die in meinem Schlafzimmer waren lediglich Dekoration. Der Gedanke an dunkle, stickige und geschlossene Räume versetzte meinem Puls einen Adrenalinstoß.

Ehe meine Hände zu beben begannen, griff ich nach einer Tasse auf dem dunkel gemaserten Regalbrett über der steinernen Spüle. Ein Blitzen in meinem Augenwinkel ließ mich zusammenzucken. Der Deckel des Wasserkochers fiel klappernd zu Boden.

»Fuck!« Ein Sonnenstrahl hatte sich im Fensterglas verfangen. Ich ballte die Fäuste.

Ein- und ausatmen. Gegenwart. Hier und jetzt.

Die Flutwelle an Geräuschen, die sich in meinen Gedanken brach, ebbte ab. Als ich den Wasserkocher einschaltete und die Teedose in Form von Big Ben öffnete, hatte die Anspannung sich davongestohlen.

»You’ve got to be kiddin’ me.« Ich fuhr mir durch die vom Schlaf zerzausten Haare, während ich die rote Blechbüchse auf den Kopf drehte. Mein Earl Grey war leer. Kopfschüttelnd wartete ich auf das leise Klick, doch das heiße Wasser in dem bauchigen Kessel würde an diesem Morgen erneut kalt werden. Manchmal verfluchte ich mich für das britische Klischee und ärgerte mich, dass ich nicht einfach auf Kaffee oder eine andere Sorte Tee ausweichen konnte.

Gähnend wandte ich mich der Wohnungstür zu. Die Lieferung, die ich gestern mit Zay verräumt hatte, fiel mir wieder ein. Zumindest Schwarztee war dabei gewesen, wenn auch vermutlich eher ein Ceylon.

Barfuß stieg ich die schmale Treppe hinab, die in einen kleinen Flur mündete, an dessen Ende die weiß gestrichene Tür in die Bar führte. Die Holzdielen knarrten und die Sonne tauchte den Gastraum in goldenes Licht. Eine Mischung aus typischem Beachflair und alten antikwirkenden Möbeln empfing mich. Meiras Lieblingsstücke hatte Zay lediglich aufbereitet und neu platziert, wenngleich sich The JellyFish ansonsten sehr verändert hatte, moderner geworden war. Doch die Wärme und Gemütlichkeit nahmen mich gefangen, wann immer ich die Strandbar betrat. Das Rumoren der Kaffeemaschine ließ mich die Stirn runzeln.

»Bist du aus dem Bett gefallen, oder …« Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken, denn nicht mein Freund lehnte mit Shorts und einem oversized T-Shirt bekleidet zwischen Theke und dampfender Maschine, sondern eine Frau etwa Anfang zwanzig. Erschrocken wirbelte sie herum.

»Verdammt, was… wir haben geschlossen und was ist das bitte für ein Aufzug? Gehst du so auch in den Supermarkt?« Sie deutete auf meine nackte Brust und hob abschätzig eine Braue.

Ich verschränkte die Arme. »Ich weiß, dass die Bar geschlossen hat, die Frage ist also, was machst du hier?«

Sie umfasste den gefüllten Becher, schüttete Hafermilch hinzu und ließ mich dabei nicht aus den Augen. »Entschuldige, wie war nochmal dein Name?«

Ich trat an ihr vorbei und schob eine Tasse unter den Heißwasseraufbereiter. »Nesh, und du bist?« Sie zuckte kaum merklich zusammen, als ich mich vorlehnte, um nach der Teedose, die über ihrem Kopf stand, zu greifen. Ihr Atem streifte meine Haut und sie sah zu mir hoch. Unser Größenunterschied betrug ca. 8 Inches.

»Empört über deine morgendliche Getränkewahl.« Sie rümpfte die Nase und ich sah grinsend zu, wie sich das heiße Wasser mit bernsteinfarbenen Schwaden füllte. Ich griff nach einer der kleinen Sanduhren, deren goldbestäubtes Inneres nach drei Minuten vollständig die Seite gewechselt haben würde, dann nahm ich die Hafermilch, die sie noch nicht zurück in den Kühlschrank gestellt hatte, und platzierte sie neben einem Zuckerstreuer.

»Ist das ein Ritual?« Sie blies in ihre Kaffeetasse und musterte erst das Tee-Ensemble und dann mich.

»Vielleicht.« Mein Grinsen wurde zu einem Schmunzeln.

»Bist du ein Gast?«

»Eher ein Freund.« Ich lehnte mich an den Tresen. Mein Gegenüber hatte faszinierende olivgrüne Augen, alles an ihr wirkte feingliedrig und auf merkwürdige Art zerbrechlich und kraftvoll zugleich.

»Zay hat mir noch nie von dir erzählt.« Ein erhellender Ausdruck trat auf ihre Züge. »Oh… bist du –«

Ich hob abwehrend die Hände. »Nein, einfach ein Freund.«

»Lil, dichtest du mir wieder aufregende Bettgeschichten an, die nie stattgefunden haben?«

Wir fuhren zusammen, als Zay breit grinsend das The JellyFish betrat. Über seiner Schulter hing ein bemalter Jutebeutel. Ich wusste, dass er sowohl mit Männern als auch mit Frauen Beziehungen gehabt hatte, aber seit ich ihn kannte, waren es unbedeutsame Bekanntschaften gewesen. Er zwinkerte mir zu und legte den Stoffbeutel auf einen der Tische am Fenster.

»Du hättest mich vorwarnen können«, raunte sie Zay zu, der neben sie getreten war und einen Arm um sie legte.

»Weshalb? Nesh ist weder furchteinflößend, noch daran interessiert, deinen Kaffeekonsum am Morgen zu überbieten.«

Ich zog den Teebeutel aus der dampfenden Tasse, fügte genau einen Löffel Zucker und doppelt so viel Hafermilch hinzu.

»Und dass ich beinah einen Herzinfarkt erleide, weil ein halbnackter Kerl in deiner Bar steht, ist dir vollkommen egal?« Sie lehnte ihren Kopf an Zays Schulter. »Ich dachte, du magst mich.« Für die Zeit eines Wimpernschlags fand ihr Blick den meinen.

»Du weißt, dass ich dich liebhabe. Also bin ich extra aufgestanden und habe alles fürs Frühstück besorgt. Ich will vor meinem ersten Kaffee keine Liebeserklärungen mehr abgeben müssen.« Er stellte einen Becher unter den gurgelnden Vollautomaten und das Mahlwerk erwachte rumorend zum Leben. »Aber wenn ihr mir eine machen möchtet, bin ich ganz Ohr.«

Lachend trat ich an meinem Freund vorbei und inspizierte den Inhalt der Tüte. Das Klappern von Tellern und Besteck erklang und Leya deckte mir gegenüber den Tisch. Abwartend hielt sie mir ein Gedeck entgegen.

»Oder isst du nichts, weil du morgens gerne auf alles Gute verzichtest?«

»Müsste das nicht eher für dich gelten? Kaffee betäubt die Zunge für guten Geschmack.«

Zay seufzte hörbar und seine Freundin ließ sich an der gegenüberliegenden Tischseite nieder. Sie nahm ein noch warmes Brötchen und legte ihm, ganz selbstverständlich, ein Croissant auf den Teller.

»Ihr kennt euch gut.« Es war eine Feststellung, die sie mit einer erhobenen Augenbraue beantwortete.

»Seit dem Kindergarten unzertrennlich.« Zay reichte mir zwei Scheiben goldbraunen Toast, ehe er sich stöhnend auf den Stuhl fallen ließ. Seinen Kaffee hatte bereits zur Hälfte geleert. Ich bestrich mein geröstetes Weißbrot mit Butter und platzierte einen Klecks Orangenmarmelade in der Mitte. Mein Gegenüber öffnete den Mund, beobachtete mich jedoch weiterhin schweigend.

»Ich hoffe, dass ihr eure Koffein-Differenzen beilegen könnt, jetzt, wo wir gemeinsam auf dem schönsten Fleckchen Erde wohnen.« Mein Freund biss grinsend in sein Gebäckstück und ich hob meine Tasse.

»Willkommen, Kindergartenfreundin.«

Leise klirrend stieß ihr Becher gegen den meinen. »Leya«, sagte sie und lächelte. Dass ihr Name eine Melodie haben würde, hatte ich geahnt. Dass er die Opening Line eines Songs war, überraschte mich.

***

Nach dem Frühstück verschwand ich nach oben, um zu duschen und mir etwas anzuziehen. Das Wasser brauchte einen Moment, um warm zu werden, doch kurz darauf flutete der Duft von Zitruspflanzen und Sandelholz meine Sinne.

Anschließend stieg ich in weite dunkle Cargoshorts und griff nach einem weißen Shirt, nahm die Kette mit dem silbernen Münzanhänger und den ebenfalls silbernen pfeilförmigen Ohrring von meinem Nachttisch. Ich fuhr mir durch die feuchten Haare und betrat erneut die Treppe, die in den Gastraum führte. Bis die Strandbar um 15 Uhr öffnete, waren noch ein paar Stunden Zeit. Wenngleich Zay nicht wollte, dass ich für ihn arbeitete, konnte er nicht verhindern, dass ich ihm hin und wieder unter die Arme griff.

Ich entdeckte meinen Freund, der die Kissen der Loungemöbel von Sand befreite, und durchquerte den Innenraum, um ihm auf der, von der Sonne aufgewärmten, Terrasse mit Meerblick behilflich zu sein.

»Hätte ich dir Bescheid sagen sollen?« Er stellte einen der Sonnenschirme in den hölzernen Fuß. Ich legte das Polster zurück und widmete mich dem nächsten.

»Weshalb? Es ist deine Bar und dein Zuhause.«

»Und wie nennst du einen Ort, an dem du seit fast zwei Jahren lebst?« Zay hob wissend eine Braue.

Ich sah an ihm vorbei. Möwen flogen kreischend ihre Kreise. Sanfte Wellen küssten den Strand, zogen sich zurück und begannen ihr Spiel von vorn. Das Meer erstreckte sich glitzernd bis zum Horizont, verschmolz mit ihm in einer rauschenden Umarmung.

Zuhause. Ein Wort, das so viel schwerer wog, als Zay es sich vorstellen konnte. Und trotzdem war ich seiner Bedeutung nie näher gewesen.

»Lil hatte eine schwere Zeit. Es ist kompliziert, vielleicht erzählt sie es dir irgendwann selbst, aber ich musste sie herholen. Auch wenn wir nicht verwandt sind, fühlt es sich manchmal so an, als wäre sie meine kleine Schwester.« Mein Freund blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

Der Sonnenschirm öffnete sich mit einem leisen Knacken und augenblicklich verfing sich der Wind in dem beigen Stoff.

»Sie bedeutet dir viel.«

»Ja, also solltest du in Erwägung ziehen, deinen britischen Charme spielen zu lassen … ich sehe alles.« Zay stieß mit der Faust gegen meinen Oberarm und der gespielte Ernst in seiner Miene entlockte mir ein Grinsen.

»So? Dann sei so gut und schenk deine Aufmerksamkeit doch einem alten Tattergreis, der wirklich Hilfe gebrauchen könnte, Zayan.«

Wir wandten uns um. Vor der letzten Sitzgruppe stand Edgar. Er war der nächste Nachbar des The Jellyfish und so alt und rau wie die See selbst. Seinen breitkrempigen Hut schmückte heute eine kleine gelbe Blüte. Jedes Mal, wenn wir ihn sahen, war es ein anderes Gewächs, aber immer dieselbe ausgeblichene Kopfbedeckung sowie passende Hosenträger. Seine dunkelblauen Augen musterten uns wachsam und er hob belustigt eine der buschigen weißen Brauen.

Wir gingen ihm entgegen und Zay bot Edgar seinen Arm an, um ihm die leichte Steigung hinaufzuhelfen. »Du solltest mir diesen Tattergreis dringend einmal vorstellen, Edgar. Ständig sprichst du von ihm, aber gesehen haben wir ihn nie.«

Ich folgte den beiden. Während Edgar schnaubend lachte, wandte er sich an mich: »Hat das viele Schütteln der hübschen bunten Getränke da oben etwas durcheinandergebracht?«

Seit ich den alten Mann kannte, sprach er die Bezeichnung Cocktail nicht aus, sondern betitelte die Kreationen, die Zay zauberte, bei jedem Besuch anders.

»Ich glaube, er versucht, charmant zu sein«, entgegnete ich, als Edgar an dem ersten Zweiertisch der ausladenden Fensterfront Platz nahm – wie jedes Mal.

»Das sollte er dir überlassen«, sagte er und wies mit dem Zeigefinger auf mich, »hörst du, Zayan? Überlass den Charme denjenigen, die etwas davon verstehen.«

Gespielt empört machte sich mein Freund daran, Edgar seinen doppelten Espresso zuzubereiten, und der einzige Besucher, der sich nie an die Öffnungszeiten hielt, klopfte auf den Stuhl neben seinem.

»Kannst du meinen alten Knochen etwas Gesellschaft leisten, Nico?«

Schmunzelnd ließ ich mich nieder. Edgar kannte meinen Namen, aber auch ihn hatte er nie ausgesprochen, sondern irgendwann begonnen, mich Nico zu nennen. Vielleicht weil er ebenso lang war und mit N anfing. Niemand wusste es und der alte Mann erklärte sich nicht.

Zay stellte grinsend die Tasse und einen Teller mit einer Handvoll Keksen zwischen uns, deutete auf sein Handy und verschwand. Ich beobachte Edgar dabei, wie er gemächlich einen der Gebäcktaler entzweibrach und mit der einen Hälfte seinen Espresso umrührte.

»Er arbeitet zu viel. Als ich in seinem Alter war, habe ich das Leben voll ausgekostet. Aber er scheint es zu genießen, wenn dieses hübsche Schatzkästchen vor Besuchern nur so wimmelt.«

Eine weitere Eigenart unseres ältesten Stammgastes war die Bezeichnung des Schatzkästchens, wie er die Strandbar liebevoll nannte. Vielleicht lag es an der englischen Aussprache, um die er herumzujonglieren versuchte. Ich verschränkte meine Hände miteinander.

»Zay liebt seinen Job.«

»Und du? Wofür schlägt dein Herz, mein Junge?« Edgar blickte mich an und für eine Weile erklangen lediglich das Rauschen der Wellen und das eigentümliche Lied der Möwen. Gedankenverloren drehte ich eines der Windlichter, die auf jedem der Tische platziert worden war, zwischen meinen Fingern.

»Du hast es verloren, nicht wahr? Das, was du einst geliebt hast.« Die Stimme meines Gegenübers klang so sanft, als wollte sie den freien Fall, in dem ich mich befand, mildern. Nicht wissend, dass es absolut vergeblich sein würde.

Ein leises Räuspern ersparte mir die Antwort. Ich hob den Blick und begegnete faszinierend grünen Augen. Leya trat lächelnd auf uns zu.

»Entschuldige, ich will nicht stören, aber ich glaube, Zay braucht dich im Lager.« Sie sah mich an, ehe sie Edgar begrüßte, der interessiert zwischen uns hin- und herblickte.

Ich erhob mich, überließ Leya meinen Platz und wollte mich von dem alten Mann verabschieden, doch er winkte mich zu sich. Als ich mich zu ihm hinabbeugte, flüsterte er: »Manchmal muss etwas gehen, damit etwas Neues seinen Weg in unser Herz finden kann.«

Dann drückte er meine Schulter und widmete sich Zays bester Freundin. Ich verließ den Gastraum und wusste nicht, ob es Erleichterung oder Verblüffung war, die höhere Wellen in meinem Inneren schlug.

Feelings are like ocean waves – Leya

Der alte Mann, der bei Nesh gesessen hatte, erinnerte mich an Carl Fredericksen aus dem Film ›Oben‹. Vielleicht lag es an seinem breiten Hut oder an seinen tiefen Falten, die die Geschichte seines Lebens auf sein Gesicht zeichneten. Sicher waren viele davon Sorgenfalten, einige hatte Zorn geprägt, doch die deutlichsten waren die Lachfalten um seine Augen und an den Mundwinkeln.

»Dich kenne ich noch nicht.« Es war eine Feststellung und dennoch hörte ich die unausgesprochene Aufforderung, seine Neugier zu befriedigen, indem ich mich vorstellte.

»Ich bin Leya. Eine Freundin von Zay.«

»Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Edgar.« Schwungvoller, als ich es von ihm erwartet hätte, zog er den Hut und pflückte die zarte gelbe Blüte von der Krempe. Er reichte sie mir und platzierte die Kopfbedeckung wieder auf seinem grauen Haarkranz.

Ich schmunzelte und betrachtete einen Moment, wie die Blütenblätter das Licht der Sonne einfingen und beinahe golden wirkten. »Die ist wunderschön.«

Edgar brummte zustimmend und nahm einen Schluck von seinem Espresso. »Ein japanisches Goldröschen. Eine der letzten Blüten, bevor ihre erste Blütezeit endet. Doch ich gedenke, mich um Marie gut zu kümmern, dann belohnt sie meine alten Augen dieses Jahr vielleicht noch einmal mit ihrem Glanz.«

Ich strich meine Haare auf einer Seite nach hinten und steckte den filigranen Zweig hinter meinem Ohr fest. »Marie?«

Er nickte. »Meine Frau war der Meinung, dass unsere Pflanzen besser wachsen würden, wenn wir ihnen Namen geben, damit alle persönlich angesprochen werden können. Es war beinahe so, als hätte sie gewusst, dass ich nicht so einsam sein würde, sollte sie dieses Leben vor mir verlassen müssen.«

Trauer schnürte mir die Kehle zu und erschwerte mir das Schlucken. Doch Edgar tätschelte meine Hand und lächelte. »Kein Grund für ein langes Gesicht, Liebes. Meine Elis und ich hatten das Glück, uns bereits im zarten Alter von siebzehn Jahren zu finden. Wir hatten ein wundervolles Leben.«

»Sie fehlt Ihnen sicher.«

Er trank bedächtig seinen Espresso aus. »Jeden Tag. Aber genug von einem alten Mann, was bringt dich hierher?«

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange.

Doch Zay rettete mich davor, antworten zu müssen. Er legte die Hand auf Edgars Schulter und blickte in die leere Tasse. »Kann ich dir noch etwas bringen?«

»Du weißt doch, Zayan – alte Menschen mögen Routine.«

Zay verkniff sich mehr oder weniger gekonnt ein Grinsen. »Natürlich. Bin gleich zurück.«

Erneut fanden tiefblaue Augen meine und ich hatte das Gefühl, alle Emotionen der Welt würden darin zu einem Ozean verschwimmen. Er hatte sie alle kennengelernt. Da war ich sicher. Edgar kannte Schmerz und Trauer, Verlust und Wut, aber er kannte ihre Verwandten nicht minder gut. Er hatte Freude und Liebe an seiner Seite gehabt, war von Hoffnung und Mut begleitet worden. Ich hoffte, auch solch ausdrucksstarke Augen zu haben, wenn ich alt war.

Von Leben und Arbeit gezeichnete Finger legten sich auf meine. »Die Antwort fällt dir nicht leicht. Aber wenn ich mir einen bescheidenen Ratschlag erlauben darf …«

Er wartete mein Nicken ab, bevor er weitersprach.

»In deinem Alter habe ich mit vielem gehadert, doch je älter ich wurde, desto mehr habe ich verstanden, weshalb meine Elis nie ihr Lachen verloren hat. Sie hat geglaubt, dass alles im Leben einen Sinn hat. Dass schlimme Dinge geschehen müssen, damit wir genau den Pfad finden, für den wir bestimmt sind.«

Die Worte hallten in mir nach und noch bevor ich sie ganz verstanden hatte, kam Zay zurück. »Einmal das Übliche.« Er legte eine kleine Tüte vor Edgar auf den Tisch und ich nahm den schwachen Duft von Nüssen und Schokolade wahr.

»Ich danke dir, Zayan. Dann mache ich mich wohl auf den Rückweg, bevor die Sonne zu heiß wird.« Er tippte sich an den Hut und zwinkerte mir zu, bevor er sich von Zay auf die Füße helfen ließ.

Ich erhob mich ebenfalls und sah den beiden nach, während mein bester Freund dem alten Mann die Stufen hinab begleitete.

»Er kommt jeden Morgen her.«

»Shit.« Ich zuckte zusammen und wandte mich um.

Nesh hatte sich vollkommen lautlos hinter mich gestellt.

Ein tiefes Lachen entwich seiner Kehle. »Sorry, didn‘t wanna scare you.«

Diese Eigenart war mir bereits gestern an ihm aufgefallen. Wenn er nervös war oder aufgeregt, verfiel er immer in seine Erstsprache. Unwillkürlich fragte ich mich, welche seine Gedanken und Träume wohl wählten.

»Schon gut. Wie kann man so groß sein und sich so leise bewegen wie eine Katze?«

Erneut erklang sein Lachen und der Basston sandte einen wohligen Schauer über meine Rücken. »Ich bin eben … wie sagt man das? Lichtfüßig?«

Jetzt war ich an der Reihe zu kichern. »Leichtfüßig.«

»But light is ›Licht‹. Oder?«

»Ja schon, aber wir haben verschiedene Wörter für ›leicht‹ und ›Licht‹.«

Er nahm Edgars Tasse vom Tisch, die Zay hatte stehen lassen, und ich folgte ihm ins Innere der Bar. »Eure Sprache hat so viele Wörter.«

»Und trotzdem werden die meisten Lieder in deiner geschrieben.« Noch während ich den Gedanken aussprach, hätte ich mich dafür ohrfeigen können. Ich wollte nicht, dass er das Thema Musik vertiefte. Wollte nicht über leere Notizbuchseiten nachdenken oder …

Sorry, Ley.

»Soll ich dich herumführen?«

Blinzelnd verscheuchte ich die Erinnerung und sah erneut in Neshs Augen. Eine tiefe Falte hatten sich dazwischen gebildet, als habe er gesehen, dass meine Gedanken dabei waren mich in Dunkelheit zu stürzen und zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine Iriden nicht dieselbe Farbe hatten. Das linke war von einem warmen Walnussbraun, das im dämmrigen Schatten der Strandbar beinahe so dunkel wirkte wie seine Haare. Doch das rechte besaß diese Farbnuance nur zur Hälfte, die andere war olivgrün und durchzogen von hellbraunen Sprenkeln. Der lange Ohrring in seinem linken Ohr schien ein optisches Gleichgewicht herstellen zu wollen, indem er die Besonderheit der rechten Gesichtshälfte durch Extravaganz ausglich.

In your eyes I can see the world and get lost in one of our own.

Mit einem schiefen Grinsen legte mein Gegenüber den Kopf zur Seite. Hitze schoss mir in die Wangen. Statt seine Frage zu beantworten, mit der er mich aus meinem Gedankenstrudel befreit hatte, starrte ich ihn an, als hätte ich noch nie einen Menschen gesehen. Die Songzeile in meinem Kopf verflüchtigte sich wie der morgendliche Nebel über dem Ozean.

»Entschuldige, aber du hast wirklich faszinierende Augen, und ja, das wäre toll.«

Er kommentierte meine kratzige Stimme nicht weiter, sondern trat zur Seite und wies mit dem Arm in Richtung Strandterrasse. »Dann willkommen zu ihrer persönlichen Tour an Bord des The JellyFish. Sie sehen hier unseren Außenbereich. Wundervoll für die Gäste, die Hölle für Arbeitende. I still have sand in my shoes from the day I arrived here.«

Palettenmöbel in Shabby-Weiß und ausladende beigefarbene Sonnenschirme verliehen dem Außenbereich einen einladenden Boho-Vibe. Etliche Lichterketten waren um ihre Metallstreben geschlungen und jeden Tisch zierte ein kleines elektrisches Windlicht.

Ich grinste. »Weshalb lässt du sie dann nicht einfach weg?«

Er kniff die Augenbrauen zusammen, als hätte ich vorgeschlagen, nackt zu bedienen. Worüber manche Gäste sicher erfreut wären. »Ich kann sie nicht jedes Mal an- und ausziehen und ich würde niemals diese schrecklichen Krokodilschuhe tragen.«

Die Vorstellung, wie bunt gemusterte Crocs zu seinen lässigen Hosen und den stylischen Shirts aussehen würden, ließ mich innerlich auflachen. »Das ist auch ein modischer Affront, den ich dir nicht verzeihen würde. Aber du könntest einfach gar keine tragen.«

Jetzt wanderte eine Augenbraue so weit nach oben, dass sie unter seinen wilden Locken verschwand, die ihm in die Stirn hingen. »Du meinst, ich soll hier drin barfuß gehen? Wo alle Menschen herumlaufen? Don‘t be weird.«

Ich sah nach unten auf die polierten dunklen Holzplanken und kickte spontan meine Sandalen in die Ecke. »Also ich finde, das Leben braucht manchmal mehr weirdness.«

Ein Schmunzeln zupfte an seinem Mundwinkel, das er versuchte zu verstecken, indem er die Wange zwischen die Zähne zog. Er brummte nur als Antwort und drehte mich an den Oberarmen um, sodass ich auf den Tresen hinter uns blickte. Seine Finger lagen warm auf meiner nackten Haut und ich spürte, wie er näherkam, als er sich nach vorne beugte. »Die Kaffeemaschine kennst du ja bereits.«

Ich schluckte und er drehte mich noch ein Stück weiter, bevor er die Hände sinken ließ. »Das Herz des JellyFish.«

Der Hauptraum der Bar war in mehrere Ebenen unterteilt und jetzt verstand ich, weshalb er für den Start der Führung den Schiffsvergleich gewählt hatte. Der Teil, der sich zur Terrasse hin öffnete, war ähnlich luftig eingerichtet. Möbel, die aussahen, als wären sie aus Treibholz gebaut worden, verliehen allem einen rustikalen Charme. Die hintere Wand war durch mehrere Fenster unterbrochen, die an großgeratene Bullaugen erinnerten. Dahinter konnte ich einen weiteren Raum erahnen, der von sanftem warmem Licht erfüllt war.

»Zay hat mir immer nur Bilder von der Aussicht nach draußen oder der Bar geschickt.« Ich trat auf den Durchgang zum hinteren Bereich zu und wurde von der Atmosphäre gefangen genommen. Die gedrungene Decke konnte einen Glauben lassen, man befände sich in der Kajüte eines alten Piratenschiffs. Eine antike Landkarte war an die Wand gezeichnet und wurde vom Relief eines gigantischen Kompasses eingenommen. Die Glühbirnen baumelten an dicken Tauen von der Decke und der Blick durch die Fenster war atemberaubend. Als würde man aus einer Parallelwelt durch den vorderen Gastraum auf den Ozean blicken. »Ich liebe es.«

Nesh lachte leise. »Me too.«

»Hier seid ihr. Da begleite ich einmal unseren ältesten Nichtgast ein Stück den Strand entlang und schon entführst du meine beste Freundin?« Zay stand im Durchgang und stemmte gespielt verärgert die Hände in die Seiten.

Nesh verschränkte die Arme vor der Brust und gab einen abfälligen Laut von sich. »Please, wenn ich sie hätte entführen wollen, wären wir längst untergetaucht.«

»Zunächst mal hättest du an meinem schwarzen Gürtel vorbeikommen müssen, um mich irgendwohin zu bringen.« Ich betrachtete betont gelangweilt meine Fingernägel, während die Augen meines Tourguides erst groß und dann skeptisch zusammengekniffen wurden.

»Du hast keinen … Oder?«

Ich zuckte mit einer Schulter und versuchte mich an einem geheimnisvollen Lächeln. »Wer weiß … Besser, du findest es nicht heraus, Inseljunge. Danke für die Führung.«

Zay hatte sichtlich Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen, und verriet meinen Bluff damit endgültig. »Dein Gesichtsausdruck gerade war pures Gold wert. Ich hätte ihn fotografieren sollen.«

»Haha. Sie war damn serious. Und ich würde ihr zutrauen, dass sie sowas kann. Sie ist tough.«

»Danke für das Kompliment.«

Wir folgten Zay nach vorne, und während mein Freund die Bar vorbereitete, machte sich Nesh daran, die Tische im Außenbereich von Sand zu befreien.

Irgendwie verloren stand ich vor dem Tresen. »Kann ich bei etwas helfen?«

Zay nickte zu dem kleinen Berg Kissen, die auf einer Bank lagen. »Du kannst die Sitzkissen verteilen, wenn du möchtest.«

Gleichzeitig mit Nesh nahm ich einen Stapel der verschiedenfarbigen Polster und bestückte die Stühle damit. Wir waren schnell fertig, und während er noch einen letzten Schirm aufspannte, setzte ich mich zu Zay an die Bar. »Ich sollte mir wirklich schnell eine Arbeit suchen. Mein Erspartes wird nicht lange ausreichen.«

Mein bester Freund sah mich eindringlich an. »Zu tun haben wir genug.«

»Ich kann doch nicht deine Couch belagern und dich dann auch noch um dein hart verdientes Geld bringen.«

Er stellte ein Glas Wasser vor mir ab. »Du würdest es mir nicht stehlen, sondern dafür arbeiten. Letztes Jahr zur Hochsaison hatten wir eine Aushilfe, aber dieses Jahr habe ich niemanden finden können, und Nesh und ich werden bald an unsere Grenzen stoßen, wenn es nächsten Monat richtig voll wird abends.«

»Bist du sicher?« Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, mich auf dem auszuruhen, was Zay sich hier aufgebaut hatte. Es fühlte sich an, als würde ich seinen Traum ausnutzen, weil mir meiner genommen worden war.

»Ich bin sicher. Wir könnten wirklich Hilfe gebrauchen und wenn es dir unangenehm ist, dass ich dir Gehalt zahle, dann nimm deine Ersparnisse für alles, was du dir kaufen möchtest, und für deine Arbeit bekommst du Kost und Logis.«

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange und dachte darüber nach. So formuliert klang es weit weniger schlimm. Ich könnte das Leben hier genießen lernen und durch meine Arbeit etwas zurückgeben. »Okay.«

»Großartig.« Mit einem breiten Grinsen hob er ebenfalls ein Glas Wasser an und stieß es leise klirrend gegen meines. »Willkommen an Bord, Lil.«

Grinsend trank ich ebenfalls einen Schluck und stellte fest, dass es kein Wasser war. Es schmeckte wie eine Art Cocktail, aber erfrischender.

»Was ist das?«

»Schmeckt es?« Gespannt wartete er mein Urteil ab.

»Ja, es ist köstlich. Aromatisch und frisch.«

Stolz richtete er sich gerade auf. »Ist eine Art alkoholfreier Gin Tonic. Ich habe mit verschiedenen Gewürzen und Kräutern herumexperimentiert, um einen Sirup herzustellen, den man mit Tonic aufgießen kann. Ich habe nur noch keinen Namen für ihn.«

»Es ist absolut großartig. Ich fürchte, du musst über den Sommer sehr viel von diesem Sirup herstellen.«

Nesh gesellte sich zu uns. »Ready?«

Zay nickte und griff nach dem Schlüsselbund, der in einer Schublade hinter dem Tresen verstaut war. Er hielt ihn mir entgegen. »Also ich finde, unsere neustes Crewmitglied sollte heute die Ehre haben, die Tür aufzuschließen, was meinst du?« Er blickte zu seinem Freund, der mir ein ehrliches Lächeln schenkte.

»Absolut. Willkommen an Bord. Genau pünktlich zum Dienstagsritual.«

Bevor ich der Verwunderung auf meiner Miene Worte verleihen konnte, drückte Zay mir den Schlüssel in die Hand und nickte Richtung Tür. »Das erfährst du morgen, und bevor du denkst, hier gleich herumwirbeln zu dürfen: Heute ist dein Beobachte-deinen-neuen-Arbeitsplatz-Tag. Nichts anfassen, nur zusehen und entspannt den ersten Abend im Jellyfisch genießen.«

»Aye Captain.«

Ich öffnete die Tür an der Seite der Bar, die direkt auf den Steg hinausführte, der von den Dünen auf den Strand reichte. Ein Zettel fiel mir ins Auge: Donnerstag wegen Stadtfest geschlossen. Wir sehen uns dort.

»Was ist das für ein Fest, weswegen am Donnerstag geschlossen ist?«, fragte ich, als ich mich zurück an die Bar setzte.

Zay sah mich an, als hätte er keine Ahnung, wovon ich sprach. »Was für …«

Nesh lachte leise, während er akribisch eine Tasse Tee zubereitete. »Das Stadtfest, Kumpel. Das ist diese Woche.«

»Ohhh, das Fest. Das ist jedes Jahr und beinahe die ganze Stadt ist dort. Im ersten Jahr haben wir das JellyFish an dem Abend geöffnet und es kamen zwei Gäste. Seitdem gehen wir einfach selbst hin und genießen es mal, nicht für die Party verantwortlich zu sein. Deshalb haben wir ausnahmsweise heute geöffnet und unseren freien Tag verlegt.« Er stellte weitere Flaschen in den kleinen Kühlschrank unter der Theke und sah mich aus der Hocke heraus streng an. »Wir alle gehen dahin. Sieh es als Betriebsausflug, neues Crewmitglied.«

Offenbar hatte mein bester Freund es sich zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht, mich davon abzuhalten, mir hier ein ähnliches Schneckenhaus zu suchen wie bei meinen Eltern. Ich war nur noch nicht sicher, wie ich das finden sollte.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Gäste eintrafen, auch wenn der Nachmittag laut meinem persönlichen Supervisor Nesh meist ruhig blieb. Das JellyFish besaß keine eigene Küche, daher gab es lediglich Snacks, die von einer Bäckerei in der Stadt vorbereitet und geliefert wurden: eine kleine, aber feine Auswahl an Kuchen und rustikalen Sandwiches aus dunklem Brot.

Eine Weile beobachtete ich die Jungs dabei, wie sie Getränke zubereiteten, und Nesh Bestellungen an die Tische brachte. Er schien für den Job geboren zu sein. Jeder Gast, egal ob männlich oder weiblich, erwiderte sein Lächeln, und die wenigen Gesprächsfetzen, die ich mitbekam, wirkten so vertraut, als würde er jeden Besucher persönlich kennen.

Als die Sonne bereits so tief stand, dass sie unter den Sonnenschirm hindurchspähte wie ein neugieriges Kind, wurden die ersten Cocktails bestellt und Zay verlor sich in seiner ganz eigenen Welt. Ich hatte ihn erst einmal zuvor beim Mixen gesehen und da war er bereits gut gewesen, doch das war nichts im Vergleich zu der Showeinlage, die er seinen Gästen nun bot.

Er warf Flaschen, Gläser und sogar Eiswürfel durch die Luft und fing sie mit einer Selbstsicherheit, als wüsste er zu jedem Zeitpunkt, wo sich die Dinge befanden, ohne sie anzusehen. Als wäre alles mit unsichtbaren Fäden an seine Hände gebunden und er müsste ihnen lediglich folgen, damit seine Finger ihr Ziel fanden. Die meisten der Gäste konnten selbst während ihrer Tischgespräche kaum die Blicke von dem Schauspiel abwenden. Mich eingeschlossen.

Nesh reichte ihm immer wieder ein neues Glas oder einen anderen Alkohol, ohne dass mein bester Freund ihn fragen musste. Sie waren synchron wie zwei Tänzer. Jeder wusste, welche Schritte der jeweils andere setzen würde, und reagierte darauf.

Einem Impuls folgend holte ich mein Handy hervor und filmte eine kurze Sequenz, die ich in meiner Instagram Story hochlud. Versehen nur mit einem einzigen Hashtag, #proudbestfriend. und darunter schrieb ich Visit The JellyFish.

Zay markieren konnte ich nicht, da er keinen Account hatte. Ich hatte selbst darüber nachgedacht, meinen zu löschen. Ich benutzte das Konto ohnehin kaum noch und beeilte mich, die App nach dem Posten wieder zu schließen. Meinen persönlichen Feed wollte ich nicht sehen. Zu sehr erinnerte mich seine gähnende Leere an die Fotos, die dort einmal gewesen waren. Und die neusten Postings meiner ehemaligen Mitstudierenden wollte ich erst recht nicht anschauen. Wollte nicht wissen, wohin ihre Karrieren sie führten oder woran sie gerade arbeiteten.

Eine eingehende Nachricht riss mich aus meinen Gedanken. Sie war von meiner Mutter.

Wie geht es meinem großen Mädchen?

Ich lächelte und beschloss spontan, sie anzurufen. Kaum erhob ich mich von meinem Platz, schossen Zays Augen zu mir. Ich bedeutete ihm mit einem Fingerzeig, dass ich kurz telefonieren würde und lief nach draußen auf die Terrasse.