Wunden - Peggy Rohde - E-Book

Wunden E-Book

Peggy Rohde

4,9

Beschreibung

Er ist kein Mörder. Er beschützt Familien. Kein Flittchen wird jemals wieder den Vater seiner Familie entreißen. Jo ist Journalistin und auf der Suche nach dem Mörder ihrer Schwester. Eine grausame Mordserie erschüttert seit Monaten Hamburg. Vier junge Frauen. Verstümmelt und getötet von einem Psychopathen. Bald bemerkt Jo, dass die Morde einem bestimmten Muster zu folgen scheinen. Doch während sie der Bestie gefährlich nahe kommt, reißt die Mordserie nicht ab. Angetrieben von einem unstillbaren Verlangen, alles Schöne auszulöschen, hat der Killer sein nächstes Opfer längst ins Visier genommen. Er tötet weiter und hinterlässt dabei tiefe Wunden.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

1

Der Welt völlig entglitten sah er nur sie. Er hörte ihr Stöhnen nicht. Der nackte Fußboden, die kahlen Wände, alles um sie herum verschwand in Dunkelheit, im Nichts.

Es gab nur noch sie und ihn und das Ritual. Vor Vorfreude erregt zitterte das Skalpell in seinen Händen.

Er atmete tief ein. Er musste sich beruhigen. Saubere, präzise Schnitte waren nur mit einer ruhigen Hand möglich. Und es mussten gerade Schnitte sein. Sie mussten perfekt sein. Er hatte alles geplant, alles immer und immer wieder im Geiste durchlebt und nun war es soweit und er konnte und durfte nicht versagen. Sich nicht enttäuschen. Nein, die Zeit der Enttäuschungen war vorbei. Er würde stolz auf sich sein. Stolz auf sein Werk. Zum ersten Mal in seinem Leben. Und eines Tages, wenn er bereit dazu war, dann würde die Welt davon erfahren. Er würde sie wissen lassen wozu er fähig war. Das er ganz und gar nicht der Versager war, für den sie ihn alle hielten. Seine Mutter, seine Arbeitskollegen, die Nachbarn, die Freunde in der Schule, die er nie hatte. Sie alle würden staunen. Sie würden sich wundern, was alles in ihm steckte.

Er blickte auf sie herab. Wie sie da lag. Ihre Hände und Füße in Ketten gefesselt, an denen sie verzweifelt zerrte. Sie gab die Hoffnung nicht auf sie könnte sie zerreißen. Sie würde es nicht können. Zu stabil waren die Ketten. Er hatte es ausgiebig getestet als er sie zwischen seinem Auto und einem Haken in der Hauswand spannte und mit Vollgas losfuhr. Die Ketten waren nicht zerrissen. Der Haken hatte sich irgendwann aus der Wand gelöst, aber die Ketten hielten. Sollte er es ihr erzählen, damit sie aufhörte an ihnen zu zerren, aufgab, sich ihm ergab? Nein, ihr Kampf gehörte zum Ritual. Ohne war es nur halb so erregend.

Fast nackt lag sie vor ihm auf der Pritsche. Ihre gebräunte Haut glänzte im Angstschweiß. Er hatte sie bis auf ihren Slip und BH ausgezogen. Hatte ihre Kleider zerschnitten und entfernt. Die Unterwäsche ließ er ihr. Vollkommene Nacktheit war ihm ein Gräuel. Beschämte ihn.

Jungfräulich weiß war ihre Unterwäsche und das freute ihn. Er freute sich darauf, wie gleich dass Weiß in blutrote Farbe getränkt würde. Wäre ihre Unterwäsche farbig gewesen, nicht auszudenken. Schwarz, blau oder noch schlimmer rot. Es wäre aus gewesen. Alles umsonst. Er hätte sie gehen lassen müssen. Doch konnte er das? Würde sie ihn nicht bei der nächsten Gelegenheit verraten? Nein, er hätte sie dennoch töten müssen, aber mit weniger Freude. Ohne das Ritual. Alles wäre umsonst gewesen. Seine wochenlangen Beschattungen, die minutiöse Planung ihrer Entführung, alles umsonst. Er wäre doch der Versager gewesen.

Wochenlang war er mit Hamburgs Bussen durch sein Revier gefahren. Stundenlang saß er nachts an seinen freien Tagen und nach Feierabend im Bus und beobachtete Frauen. Auf der Suche nach der Einen. Nach der Richtigen. Oft hatte er sie gefunden geglaubt, doch ebenso oft musste er sie wieder aufgeben. Die erste, die seine Aufmerksamkeit erregte, war eine zierliche, Anfang 20jährige mit brünetten, langen Haaren. Sie stieg jeden Abend gegen Mitternacht in den Bus. Schnell fand er heraus, dass sie in einer Kneipe arbeitete und zum Feierabend nach Hause fuhr. Sie verschwand in einem vierstöckigen Haus. Kaum war sie im Hausflur verschwunden, ging im oberen Stockwerk das Licht an. Dort musste sie wohnen. Er begann sie zu beschatten. Ihre Gewohnheiten, ihre Lebensumstände, ihre Nachbarschaft.

Sie war Single, traf sich nie mit Freunden außerhalb ihrer Arbeitszeiten und ihre Nachbarschaft bestand aus greisen Rentnern, die hinter ihren Gardinen saßen und das Geschehen auf der Straße beobachteten. Er musste vorsichtig vorgehen. Sie durften ihn nicht entdecken. Er würde auffallen, wenn er zu oft vor ihrem Haus zu sehen war. Alte Leute waren neugierig und sponnen schnell abenteuerliche Geschichten zusammen, die ihren grauen Alltag bunter färbten. Er beschloss in die Kneipe zu gehen, in der sie arbeitete. So konnte er, als harmloser Gast, mehr über sie erfahren. Seine Schüchternheit ließ diesen Plan fast scheitern. Er saß schon fast eine Stunde an der Theke und hatte sein drittes Bier bestellt, obwohl er Bier gar nicht gern mochte. Doch er traute sich nicht, sie anzusprechen. Warum sollte sie sich mit einem so unscheinbaren, leicht korpulenten Mann mit roten Haaren und Sommersprossen unterhalten, der so überhaupt nichts ausstrahlte, außer Unsicherheit und bei einigen Menschen sogar Dummheit. Dabei war er nicht dumm. Er hatte nur Prüfungsängste, weshalb er nur mit Mühe und Not den Hauptschulabschluss geschafft hatte. Und das auch nur, weil seine Lehrer alle Augen zugedrückt hatten. Er wusste den Stoff immer in- und auswendig, der in den Klassenarbeiten gefragt wurde. Aber die Angst etwas Falsches zu Antworten lähmte ihn und ließ ihn nur stumm auf das weiße Papier starren, bis es zu spät war. Bis die Arbeiten abgegeben werden mussten und er nur ein weißes Blatt Papier abgeben konnte. Lediglich sein Name stand darauf geschrieben. Die Lehrer hatten irgendwann die Idee, die Prüfungen mündlich unter vier Augen abzuhalten. Nur der Lehrer und er. Das funktionierte. Nicht perfekt. Auch dann war die Nervosität ein Hemmer. Aber es reichte um ihn in allen Fächern mit einer vier auszustatten und durch den Abschluss zu schleusen. Er war ihnen nicht dankbar für ihre Hilfe. Er hasste ihr Mitleid. Er hasste sie alle.

2

Umringt von unzähligen Zeitungsartikeln und Computerausdrucken saß Jo an dem viel zu kleinen Schreibtisch in ihrem Hotelzimmer. Sie recherchierte seit vier Tagen fast ohne Pause, um alles über den Serienmörder zu erfahren, der in Hamburg eine blutige Spur hinterließ.

Übermüdet starrte sie auf den Monitor und konnte sich nicht konzentrieren. In die Vergangenheit versunken schaute sie auf das Standby-Bild ihres Laptops. Das Bild, das sie und Alisa zeigte. Sie und ihre geliebte Schwester, wie sie fröhlich in die Kamera lächelten.

Zwei Frauen, die sich so ähnelten, dass sie Zwillinge sein könnten und nicht Schwestern mit zwei Jahren Altersunterschied. Die großen, grünen Augen. Die schmalen Lippen. Die hohen Wangenknochen. Die zierlichen Nasen. Die goldenen, langen Locken. Sie sahen sich so ähnlich, dass nur ihre Eltern und enge Bekannte sie auf den ersten Blick auseinander halten konnten. Als Teenager hatte Alisa mal versucht, sich mit einer roten Tönung optisch von Jo abzugrenzen. War dann aber froh, als die Farbe raus gewaschen und das Gold zurückgekehrt war.

Sie wusste noch genau, wann dieses Bild aufgenommen wurde. Sie hatte ihre Schwester vor ein paar Wochen hier in Hamburg besucht. Sie waren in den Tierpark Hagenbeck gegangen und hatten vor den Eisbären dieses Selfie gemacht. Man konnte die Eisbären im Hintergrund deutlich erkennen.

Jedes Mal, wenn sie sich trafen, machten sie Bilder zur Erinnerung. Eines Tages wollten sie daraus ein Fotobuch erstellen. Doch sie hatten noch nicht genug Bilder. Sie wollten noch warten. Das hatte noch Zeit. Und nun war diese Zeit vorbei. Nun saß sie vor dem letzen Bild ihrer Schwester.

Ihre Schwester war tot.

Jo fühlte sich so einsam, als säße sie in einem Vakuum, alleine mit ihrem Schmerz und die Welt um sie herum fand ohne sie statt. Die Welt um sie herum war nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Würde es nie wieder sein.

Bilder ihrer Kindheit tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Wie sie und ihre Schwester durch den elterlichen Garten tobten. Einmal sprangen sie durch die Erdbeerbeete, ohne zu bemerken, dass die reifen Früchte ihre weißen Hosen mit saftigen, roten Flecken beschmutzten. Das anschließende Donnerwetter ihrer Mutter hatten sie damals verdient. Heute entlockte es Jo ein Lächeln. Auch der anschließende Hausarrest war eine schöne Erinnerung. Die Tage in ihrem Zimmer waren niemals langweilig. Sie stellten sich vor, sie seien Prinzessinnen und von einer bösen Königin gefangen gehalten und warteten nun auf die Prinzen, die erst gegen Drachen kämpfen mussten und sie dann retteten. Sie hatten viele Ideen, um ihre Stubenarreste zu verschönern. Es mangelte ihnen nie an Fantasie.

Es war eine unbeschwerte Kindheit. Außerhalb der großen Städte auf dem behüteten Land. Es gab dort viele Kinder, mit denen sie sich täglich zum Spielen trafen, doch ihre beste Freundin war und blieb ihre Schwester. Alisa war zwei Jahre älter, aber sie waren doch Zwillinge. Äußerlich, wie innerlich. Mit ihr teilte sie alles. Es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen. Auch später, als sie erwachsen wurden und unterschiedliche, berufliche Wege einschlugen, blieb das Band zwischen ihnen bestehen.

Jo bewegte die Computermaus und das schmerzhaft fröhliche Bild verschwand. Jetzt war es wichtig, aus den gesammelten Informationen logische Schlüsse zu ziehen. Sie brauchte einen Ausdruck des Hamburger Stadtplans, dann könnte sie die Orte markieren und miteinander verbinden. In der Hoffnung so den Ursprung des Bösen zu finden.

Ich finde Dich.

Rissen, Othmarschen, Altona, Hafencity. Es war zum Verzweifeln. Die Fundorte zogen sich alle an der Elbe entlang. In einer Linie. Aber so konnte sie keine Rückschlüsse auf einen Wohnort ziehen. Wären die Fundorte in einem Kreis oder in einer anderen Fläche, deren Zentrum die Hölle markierte, so wäre es leichter. Doch das war hier nicht der Fall. Sie hatte so darauf gehofft. Wollte wie ein Ermittler vorgehen und den Täter einkreisen.

Umdenken. Ich muss umdenken.

Was bedeutete diese Linie. Es war bekannt, dass Täter meist an vertrauten Orten zuschlugen. Zumindest beim ersten Mal. Sie wählten Orte, in denen sie sich auskannten, sich sicher fühlten. Somit fühlte der Täter sich an der Elbe sicher. Aber die Elbe teilt Hamburg in zwei Teile. Er konnte von überall her kommen. Jeder Hamburger kennt den Elbstrand, verbringt dort sonnige Tage in der Illusion am Strand zu sein. Ostsee- oder Nordseeersatz gaukelte man sich dort vor und genoss das Gefühl der Freiheit. Eine Freiheit, die nun starke Risse bekommen hatte. Von der eine grausame Gefahr ausging.

Ihr Blick blieb auf Othmarschen hängen. Was hatte sie da gewollt? Warum war ihre Schwester dort zu so später Stunde alleine unterwegs? War sie verabredet und lief ihrem Peiniger in die Falle? Wurde sie woanders getötet und dort hin verschleppt? Waren die Fundorte am Ende gar nicht die Tatorte? Das würde eine neue Chance ergeben, den Täter, seinen Wohnort, doch einkreisen zu können. So viele Fragen blieben unbeantwortet. Die Zeitungen gaben nur wenige Informationen her. Kein Täterwissen preisgeben um die Personen auszusortieren, die aus unterschiedlichsten, pathologischen Gründen falsche Geständnisse oder Zeugenaussagen abgaben. Das ist eine große Maxime bei polizeilichen Ermittlungen und in diesem Fall, in ihrem Fall, zum Verzweifeln. Sie wusste von unzähligen Recherchen, die Polizei in Hamburg leistete gute Arbeit und die Soko Elbstrand würde alles in ihrer Macht stehende tun, diesen Fall aufzuklären. Diese Fälle. Es hatte neben ihrer Schwester noch drei andere Frauen gegeben. Noch drei anderen Frauen das Leben gekostet. Ein Serienmörder hielt seit Monaten ganz Hamburg in Atem, ganz Deutschland mittlerweile. Alle Medien berichteten darüber. Sie hatte alles gesammelt, was auch nur im Entferntesten damit zu tun hatte. Doch die Medien waren eine zu schwache Quelle. Sie musste tiefer vordringen in die Ermittlungen. Sie brauchte Insiderwissen. Doch wie? Selbst wenn sie ihren Presseausweis dafür einsetzen sollte, so würde sie das nicht weiter bringen. Das Gegenteil würde eher der Fall sein. Die Presse erfuhr am wenigsten. Nur ausgesiebte Informationen. Und davon hatte sie bereits genug gesammelt.

Auch ihre früheren Kontakte, aus der Zeit als Gerichtsreporterin, hatten ihr nicht mehr Informationen gebracht, als sie aus den Medien erfuhr.

Sollte sie als Zeugin auftreten? Würde sie in einem Verhör mehr erfahren? Nein. Auch das war eine dumme Idee. Sie würden sie stundenlang befragen, ihr aber nichts verraten. Außerdem wollte sie die Ermittlungen nicht mit falschen Informationen gefährden. Sich am Ende sogar selber belasten, wenn heraus kam, dass ihre Geschichte erfunden war. Eine Tatverdächtige würde noch weniger erfahren als die Presse. Sie würde sich nur selber aus dem Verkehr ziehen und könnte ihre eigenen Ermittlungen nicht fortführen. Was also tun? Wie herankommen an Informationen? Wie sollte sie es schaffen, dass sie mit der Polizei zusammen arbeiten konnte?

Gar nicht!

Jedenfalls nicht legal.

Sie war eine Angehörige eines der Opfer. Da war es wohl legitim ein paar Fragen beantwortet zu bekommen.

Abrupt sprang sie vom Stuhl auf, dass dieser mit einem lauten Scheppern zu Boden fiel. Sie rannte in den Flur, zog ihre Jacke an, schnappte ihre Handtasche und ihre Schlüssel und verließ fast fluchtartig das Hotelzimmer.

Sie hatte keinen Plan. Nur unbändige Wut im Bauch.

Reges Treiben herrschte im Polizeipräsidium und der Beamte am Empfangsschalter telefonierte angespannt. Man konnte es ihm anhören, wie er darum kämpfte höflich zu bleiben.

„Nein, es tut mir leid. Weitere Informationen bekommen Sie morgen Vormittag bei der nächsten Pressekonferenz. Ich kann Ihnen zu den laufenden Ermittlungen keine Auskunft geben. Geben Sie es auf. Von mir erfahren Sie nichts. Dafür ist die Pressekonferenz angesetzt. Ja, um 9 Uhr morgen Vormittag.“

Mit einem lauten Knall landete der Hörer auf der Gabel. Er blickte auf und begrüßte Jo.

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“

Jo zeigte dem Beamten ihren Ausweis. „Mein Name ist Josephine Brandt. Ich bin die Schwester von Alisa Brandt und würde gerne mit dem ermittelnden Kommissar sprechen.“

„Ich werde sehen was ich für Sie tun kann. Einen Augenblick. Bitte setzen Sie sich so lange, ich informiere Sie dann, sobald Kommissar Heffner Zeit für Sie hat.“

„Dankeschön.“

Jo ging zu der gegenüberliegenden Sitzecke, doch sie konnte sich nicht setzen. Dafür war sie zu nervös. Zu aufgeregt. Wie sollte sie den Kommissar dazu bringen ihr ein paar Details zu erzählen? Mit den Waffen einer Frau? Weiblichem Charme? Mit ihrem Presseausweis drohen? Sie könnte eine böse Story über die Kaltherzigkeit der Polizei in Hamburg schreiben. Wie die Angehörigen der Opfer im Stich gelassen wurden. Das war eine Möglichkeit als Druckmittel. Aber nur als allerletztes Druckmittel. Sie wollte den Kommissar nicht frühzeitig gegen sich aufbringen.

Sie stand vor der großen Fensterfront des Präsidiums und war in ihre Gedanken vertieft. Eine Bewegung in der Spiegelung holte sie in die Gegenwart zurück. Zuerst sah sie nur einen groß gewachsenen Mann unscharf im Fenster. Wie bei einem Fernseher, dem zuerst die Schärfe fehlte, erkannte sie mit jedem Schritt, den Mann der auf sie zukam, es war Kommissar Heffner. Seine kurzen, fast schwarzen Haare und seine dunklen Augen, die sie bei ihrer ersten Begegnung, als sie ihre Schwester identifizieren musste, sehr mitfühlend ansahen. Dann wurde sein Gesicht immer deutlicher. Die gleichmäßigen Züge, im Kontrast zu den vollen Lippen. Bis er direkt hinter ihr stand uns sie ihre beiden Gesichter nebeneinander deutlich in der Fensterscheibe sehen konnte. Er legte seine Hand auf ihre Schulter um vorsichtig auf sich aufmerksam zu machen. Jo lächelte ihn in der Spiegelung an und drehte sich dann zu ihm um.

„Kommissar Heffner.“

„Guten Tag Frau Brandt. Was kann ich für sie tun?“

„Ich habe ein paar Fragen zu meiner Schwester. Könnten wir bitte an einen ruhigeren Ort gehen?“

„Natürlich, bitte folgen Sie mir.“

Der Raum den sie betraten wurde vermutlich als Konferenzzimmer genutzt. Ein großer Tisch mit mindestens 15 Stühlen füllte die Mitte des Raumes. Ein weiterer, schmaler Tisch stand an der linken Wand, auf dem Platz war für ein reichhaltiges Buffet oder unzählige Akten. Rechts daneben in der Ecke gluckste ein Wasserspender leise vor sich hin.

„Bitte setzen Sie sich, ich hole schnell die Akte und bin dann für Sie da.“

Sie konnte sich immer noch nicht setzen. In ihrer inneren Unruhe ging sie zu dem Wasserspender und füllte einen Becher um ihn in einem Zug zu leeren. Die Worte ihrer Mutter hallten durch ihren Kopf. „Du musst regelmäßig trinken Kind. Sonst trocknest Du aus und Dein Gehirn gleich mit.“ Ihr Kopf musste funktionieren, also füllte sie ihren Becher erneut, als der Kommissar zurückkam und sie bat, sich zu ihm an den Tisch zu setzen.

„Was kann ich für Sie tun, Frau Brandt?“

Hoffentlich viel!

„Ich würde gerne wissen, wie weit Sie mit den Ermittlungen sind. Gibt es schon einen Verdächtigen? Werden Sie bald jemanden verhaften können?“

„Zu den laufenden Ermittlungen kann ich Ihnen natürlich nicht viel sagen. Nur so viel. Wir arbeiten mit Hochdruck an diesem Fall, diesen vier Fällen. Es gibt leider nur wenige Spuren und die meisten werden noch ausgewertet. Ebenso steht es mit den eingegangenen Zeugenaussagen, auch die werden noch ausgewertet und verfolgt.“

„Sie sagen, es gibt nur wenige Spuren, also ist der Täter vorsichtig. Ist unter den gefunden Spuren denn wenigstens eine DNS-Spur?“

„Leider nein. Zumindest bis jetzt noch nicht.“

„Meine Schwester. Sie wurde in Othmarschen gefunden. Wurde sie auch dort getötet?“

„Warum wollen Sie sich mit Details belasten?“

„Weil ich es muss. Ich muss es wissen um vielleicht zu verstehen was ihr geschehen ist und warum. Warum sie so unvorsichtig sein konnte, nachts alleine am Elbstrand zu sein. Was wollte sie dort? Sie war immer sehr vorsichtig. Das macht alles keinen Sinn!“

„Ich fühle mit Ihnen. Aber ich kann Ihnen dazu leider nichts sagen. Sie müssen sich gedulden. Wenn alles vorbei ist, wenn wir den oder die Täter haben, dann werden Sie alles erfahren. Das verspreche ich Ihnen.“

„Wann wird das sein? Wie lange muss ich noch warten? Wissen Sie eigentlich, wie es ist einen geliebten Menschen auf so brutale Weise zu verlieren und nicht zu wissen warum? Haben Sie eine ungefähre Ahnung davon, was für eine Qual das ist?“

„Nein, natürlich nicht. Ich kann es nur erahnen. Aber ich muss mich da leider an meine Vorschriften halten. Es tut mir leid.“

Mitfühlend blickte er sie an. Sie hielt seinem Blick für ein paar Sekunden stand, doch dann musste sie ihn senken. Tränen wären sonst geflossen und das wollte sie nicht.

Nicht?

Oder sollte sie? Würde sein Mitleid vielleicht sein Herz erweichen?

Doch es ging nicht. Es fiel ihr schon immer schwer vor anderen Menschen zu weinen. Schwäche zu zeigen. Sie war stark. Und das war sie auch jetzt. Selbst wenn ihr die Tränen vielleicht helfen würden. Sie konnte nicht.

„Ich verspreche Ihnen auch, mit niemandem darüber zu reden. Ich bin fremd hier in Hamburg, ich kenne hier niemanden, dem ich etwas erzählen könnte. Nichts, was Sie mir anvertrauen verlässt diesen Raum. Ich bitte Sie. Sagen Sie mir was mit meiner Schwester geschehen ist und ob sie dort, wo man sie fand getötet wurde. Bitte beziehen Sie mich in die Ermittlungen mit ein.“

„Es tut mir leid.“

Kopfschüttelnd blickte er sie an und schwieg. Sie konnte seinem Blick entnehmen, dass es ihm wirklich Leid tat, nicht mehr für sie tun zu können.

Die Melodie von Law & Order durchbrach die Stille. Kommissar Heffner griff in die Innentasche seines Sakkos und holte ein Handy hervor.

„Bitte entschuldigen Sie mich kurz.“, sagte er knapp zu Jo, während er eiligen Schrittes den Raum verließ.

Nun war sie alleine. Alleine mit der Akte, die verführerisch vor ihr auf dem Tisch lag. Sollte sie einen Blick riskieren? Nur einen kleinen Blick?

Nein. Dafür wird die Zeit zu knapp sein. Ich weiß was viel besseres.

Nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür. Kommissar Heffner betrat erneut den Raum.

Jo stand von ihrem Stuhl auf und reichte dem Kommissar die Hand.

„Ich möchte Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen. Ich werde jetzt gehen. Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen. Ich melde mich bei Ihnen, sobald wir einen Durchbruch erlangt haben.“

Kommissar Heffner sah sie verwirrt an. Wunderte sich offensichtlich über ihren überstürzten Aufbruch. Jo ignorierte es, sie hatte jetzt wichtigeres zu tun und verabschiedete sich.

„Danke.“

Sie war inzwischen im zweiten Schreibwarengeschäft angekommen. Das Regal mit den Pappordnern war übersichtlich gefüllt. Rote Ordner, blaue Ordner, grüne Ordner, alle Farben waren vertreten. Nur das ausgewaschene Blau der Akte des Kommissars war wieder nicht dabei.

Verdammt!

„Entschuldigen Sie, sind das alle Pappordner, die Sie haben?“ fragte sie erwartungsvoll die Verkäuferin, die jung und desinteressiert hinter der Kasse stand. Sie würde bestimmt keine Hilfe sein, aber Jo musste es versuchen.

„Wenn Sie mehr wollen, dann müssen Sie ins Internet gehen.“ kam die gelangweilte Auskunft zwischen zwei Kaugummiblasen.

„Haben Sie vielleicht noch eine größere Filiale in Hamburg? Mit mehr Auswahl?“

„Klar. In der Mönckebergstraße.“

„Und wo ist diese Straße?“

„Na am Hauptbahnhof.“ kam die knappe, verständnislose Antwort.

„Vielen Dank.“

Eiligen Schrittes verließ Jo das Geschäft. Den Kopfschüttelnden Blick der Verkäuferin im Rücken, machte sie sich auf den Weg zum Hauptbahnhof in die Mönckebergstraße. Das war ihr nächstes Ziel. Das war ihr nächster Plan.

Der Kommissar war keine große Hilfe gewesen. Sie hatte es nicht anders erwartet, aber dennoch gehofft.

Als sein Handy klingelte und er für das Gespräch kurz den Raum verließ, kam ihr die zündende Idee. Äußerst illegal und sie würde mit Sicherheit eine Menge Ärger bekommen, aber das war ihr egal. Sie musste es riskieren.

3

Er saß bereits seit einer Stunde an der Bar und wieder starrte er nur vor sich hin. Ins Leere. Kein Wort kam ihm über seine Lippen. Und je länger er dort so saß, desto größer wurde sein Hass auf diese wunderschöne Frau. Sie war Schuld an seiner Hemmung. Ihre Schönheit blendete ihn. Blendete viele Menschen. Wer traute sich schon, eine so schöne Frau anzusprechen. Warum sollte sie sich dazu herablassen, mit weniger schönen Menschen auch nur Blickkontakt aufzunehmen. Er hasste sie. Sie musste vernichtet werden. Alle schönen Menschen, vor allem die Frauen, mussten vernichtet werden. Schon seine Mutter sagte ihm immer wieder: „Hüte Dich vor schönen Frauen. Sie wollen nur Dein Geld. Sie können keine Liebe geben. Und kommt ein besserer, reicherer Mann daher, dann sind sie weg.“

So wie es ihr ergangen war. So wie eine schöne Frau ihren Mann, seinen Vater genommen hat. Ihn der Familie entriss. Eine glückliche Familie zerstörte. Diese Frau hinter der Theke wird keine Familie zerstören. Dafür würde er sorgen.

Doch wie? Er traute sich ja kaum, sie anzusehen.

Plötzlich stellte sie einen Schnaps vor ihm hin.

“Du siehst aus, als hättest du einen schlechten Tag gehabt und einen Schnaps nötig. Der geht aufs Haus.”

Verdutzt sah er sie an. War das Mitgefühl? War das Mitleid? Ihr Mitleid brauchte er nicht. Er wollte schon aufstehen und gehen. Doch dann nahm er lieber die Chance war, dadurch ihre Aufmerksamkeit auf seiner Seite zu haben.

“Danke.”, war alles was er sagen konnte und nahm den Schnaps um ihn in einem Zug zu leeren, so wie er es bei den anderen Männern an der Theke beobachtet hatte. Kaum füllte die kalte Flüssigkeit seinen Mund, bereute er seinen Mut. Brennend floss das kalte Nass seine Kehle herunter. Er wagte es kaum zu schlucken, aus Angst er würde es gleich wieder erbrechen. Doch er kniff die Augen zusammen und schluckte es tapfer hinunter. Das anschließende Schütteln seines Körpers konnte er nicht unterdrücken. Ängstlich schaute er sie an. Nun würde sie ihn bestimmt auslachen. Darüber lachen, was für eine Memme er doch war. Und die Männer an der Theke würden mitlachen. Der Schweiß brach ihm aus. Doch sie lächelte nur und zwinkerte ihm kurz zu. Als würde sie die Reaktion seines Körpers auf den Schnaps verstehen. Sie hatte Verständnis? Mitgefühl? Oder war es doch wieder nur Mitleid? Er war sich nicht sicher. Ihr Blick war nicht der Gleiche, den ihm sonst die Menschen zuwarfen. Wenn sie ihn mitleidig ansahen, weil er wieder etwas fallen ließ oder einen anderen Fehler beging. Nein, sie sah ihn anders an. Er war verwirrt.

Lächelnd stellte sie ihm einen zweiten Schnaps vor seine zitternden Hände.

“Der ist von den Jungs da drüben. Ich wollte es ihnen ausreden, aber sie meinten, Du könntest es brauchen und der zweite ist nicht so schlimm wie der erste.”

Er blickte rüber zu den Männern am anderen Ende der Theke. Sie lächelten ihn aufmunternd an und hoben ihre kurzen Gläser zu einem Toast. Ohne zu überlegen hob auch er sein Glas und prostete ihnen zu. Dann schloss er die Augen und schluckte den Inhalt erneut in einem Zug herunter. Doch diesmal spürte er kaum ein Brennen, seine Kehle war noch betäubt vom ersten Schnaps. Viel leichter glitt der zweite hinab. Er lächelte still vor sich hin. Fühlte sich warm und wohlig.

Er kannte das Ritual in den Kneipen. Hatte es oft genug im Fernsehen gesehen. Er wusste, dass die Männer nun im Gegenzug einen Schnaps von ihm erwarteten. Fragend schaute die Bedienung ihn an. Er nickte nur und sie verstand. Sie schenkte frische Gläser voll mit dem wärmenden Getränk und verteilte es an die Männer und ihn.

Kaum hatte er sein Glas vor sich stehen erhob er es zum Anstoß in der Luft und leerte den Inhalt. Mittlerweile schmeckte es ihm sogar. Er fühlte sich gut. So leicht. So unbeschwert. Das gefiel ihm. Er wollte mehr davon. Wollte, dass es nicht aufhörte. Also bestellte er noch eine Runde. Ganz einfach. Er musste ihr nur zunicken und sie schenkte eine erneute Runde Gläser voll.

Als sie sein Glas vor ihm hinstellte sagte sie ganz leise zu ihm “Nicht so schnell. Das Zeug ist gefährlich.” Etwas lauter fügte sie dann hinzu “Ich bin übrigens Mona und wie heißt du?”

“Bubi” rutschte es aus ihm heraus. Erschrocken sah er sie an. Niemals wollte er seinen wirklichen Namen preisgeben. Er hatte sich schöne Namen überlegt, wie er sich nennen wollte, wenn es sein musste. Pierre, Andre, Jean-Paul, lauter französische, wohlklingende Namen. Und nun war ihm sein dämlicher Spitzname rausgerutscht. Seine Mutter nannte ihn schon seit seiner Kindheit so und mit ihr alle Nachbarn und die wenigen Bekannten, die sie hatten. Er hasste diesen kindlichen Namen, der ihn nie erwachsen erscheinen ließ und seinen wahren Namen im Laufe der Jahre verdrängt hatte. Das musste der Alkohol gewesen sein. Schluss damit beschloss er. Er fühlte sich leicht und wohl und so sollte es bleiben. Mehr wollte er nicht riskieren. Er musste die Kontrolle behalten.

Verwirrt und fragend sah sie ihn an. Konnte seinen erschrockenen Blick nicht einordnen. Doch er wollte sich nicht erklären. Er schwieg und hielt, durch den Alkohol ermutigt, ihrem Blick stand.

“Du erinnerst mich an meinen Bruder”

Nun blickte er verwirrt und fragend. Sie blieb ihm jedoch keine Antwort schuldig.

“Du hast die gleichen nachdenklichen Augen wie er. Mein Bruder ist seit einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt. Seitdem kümmere ich mich um ihn. Unsere Eltern sind bei dem Unfall leider ums Leben gekommen, er hat nur noch mich und ich nur noch ihn. Wir sind füreinander da. Deshalb arbeite ich auch abends in dieser Kneipe, damit ich tagsüber Zeit für ihn habe.”

“Oh Gott. Das ist ja furchtbar.”, war das einzige was er schockiert über die Lippen brachte. Und er meinte es auch so. Traurig und mitfühlend sah er sie an und sie schenkte ihm dafür ein zauberhaftes Lächeln.

Ihm wurde heiß und kalt zugleich. So hat ihn noch nie eine Frau angelächelt. Seine Mutter manchmal, aber noch nie eine Frau. Frauen lächelten ihn nur mitleidig oder verspottend an. Warum tat sie das? Warum erzählte sie ihm von ihrem Bruder?

Nun wurde ihm klar, warum sie sich in ihrer Freizeit nicht mit Freunden traf. Sie war sich nicht zu gut für andere Menschen, sie hatte schlichtweg keine Zeit. All ihre Freizeit galt ihrem Bruder und seiner Pflege. Sie war ein guter Mensch. Sie hatte Mitgefühl, sie hatte Herz, sie war nicht schlecht. Sie war schön und nicht schlecht.

Er musste weg hier. Er musste sie aufgeben. Sie durfte nicht sein Opfer sein.

Er zahlte und verließ die Kneipe und schwor sich, dort nie wieder aufzutauchen. Sie nie wieder zu sehen. Seitdem sah er sie nur noch in seinen Träumen. Nachts wie auch tagsüber träumte er von ihr. Sah ihre braunen Augen, die ihn mitfühlend ansahen. Ihre vollen Lippen, wie sie ihn liebevoll anlächelten. Wie ihre Nase sich dabei kräuselte, was ihre Sommersprossen betonte. Er stellte sich vor, wieder in die Kneipe zu gehen. Wieder mit ihr zu reden. Über ihren Bruder, über seine Mutter, ihre Träume, seine Träume. Und manchmal war er sogar so mutig sich vorzustellen, sie beide würden ein Paar werden. Er sah dann Bilder in seinem Geiste, wie sie Hand in Hand am Elbstrand spazieren gingen. Gemeinsam ins Kino gingen oder in ein Restaurant. Wie sie sich küssten. Ihre zarten Lippen auf seinen. Er konnte es manchmal fast spüren.

Es waren schöne Träume. Doch es waren nur Träume. Schwere Melancholie blieb jedes Mal zurück.

4

Jo öffnete die Augen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff wo sie war. Bis die Erkenntnis ihr ins Herz schnitt. Noch benebelt vom Schlaf, der nur schwer über sie kam, dauerte es jedes Mal einen Moment, bis sie sich erinnerte. Sie war in Hamburg in einem Hotelzimmer und auf der Suche nach dem Mörder ihrer Schwester. Ihre Schwester war nicht mehr bei ihr. Sie war tot. Für immer fort. Endgültig.

So war es jedes Mal seit ihre Schwester getötet wurde. Jedes Aufwachen war ein erneuter Schmerz.

Dann kam die Erinnerung an die Träume der vergangenen Nacht. Es waren nur einzelne Bilder, aber sie quälten sie nicht weniger. Bilder ihrer toten Schwester. Wie sie da lag, mit dem weißen Laken bis unters Kinn bedeckt. Nur ihr Gesicht, schlafend, engelsgleich, aber dennoch das grausamste, was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Damals in der Gerichtsmedizin war sie dankbar, dass ihre Eltern das nicht mehr miterleben mussten. Sie fühlte sich zwar noch einsamer, als sie es ohnehin schon war, seit ihre Eltern gestorben waren, aber sie war dankbar, dass ihnen das erspart blieb.

Heiße Tränen rannen bei der Erinnerung über ihre Schläfen. Lautlose Tränen, die in der Einsamkeit ihren Weg ins Freie fanden.

Jo schaltete die Nachttischlampe an und zwang sich aus dem Bett. Sie ging am Schreibtisch vorbei und öffnete die schweren Vorhänge. Das grelle Sonnenlicht ließ sie für einen kurzen Moment erblinden. Dann gewöhnten sich die Augen an das gleißende Licht und sie blickte aus dem Fenster.

Sie beobachtete das rege Treiben auf der Straße. Wie die Menschen, von der Wärme und der herrlichen Sonne beschwingt ihren täglichen Geschäften nachgingen.

Solch ein Mensch war sie vor ein paar Tagen auch noch gewesen.

Werde ich je wieder so sein können?

Jo drehte sich vom Fenster weg. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, auf dem die fertige Kopie der Ermittlungsakte „Elbstrand“ sie anlächelte. Seit drei Tagen war sie damit fertig. Seit drei Tagen wartete sie darauf, den Kommissar noch einmal aufsuchen zu können. Am liebsten wäre sie gleich am nächsten Tag ins Präsidium gegangen. Doch mit welcher Begründung? Sie war doch gerade erst abgespeist worden mit nichts. Es würde immer noch nichts geben und sie wäre vermutlich nicht einmal zum Kommissar vorgedrungen. Sie musste ein paar Tage verstreichen lassen. So schwer es ihr auch fiel.

Jos Handy spielte die fröhliche Melodie Maen Street von Mando Diao.

Ich muss den Klingelton ändern.

„Josephine Brandt.“

„Hallo Frau Brandt. Kommissar Heffner hier. Ich wollte Sie darüber informieren, dass wir die Wohnung ihrer Schwester jetzt frei gegeben haben. Sie könne sich also gerne die Schlüssel abholen.“

„Ich bin in einer halben Stunde da.“

Ohne sich zu verabschieden beendete Jo das Gespräch. Weit entfernt hatte sie den Kommissar noch etwas sagen hören, aber das war jetzt nicht wichtig. Was auch immer er ihr sagen wollte, dass konnte warten. Sie musste jetzt schnell ins Kommissariat, den Schlüssel zur Wohnung ihrer Schwester holen.

Vierzig Minuten später eilte sie durch die hohen Glastüren des Präsidiums auf den Beamten zu, der wieder damit beschäftigt war neugierige Fragen am Telefon abzuwehren. Er erkannte Jo sofort und nickte ihr kurz zu während er seinen Zeigefinger hob. Eine Minute. Das war das Zeichen, eine Minute zu warten. Doch meist waren es mehr, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Sie hatte selber oft genug den Finger gehoben um die angekündigte Minute dann auf zehn oder mehr zu dehnen. Ungeduldig blickte sie auf die Uhr. Es war elf Uhr und sieben Minuten. Sie würde bis zehn nach Elf warten, danach würde sie einfach an ihm vorbei, weiter ins Gebäude gehen. Sie würde das Büro von Kommissar Heffner auch alleine finden.

Elf Uhr und acht Minuten.

Ohne es zu bemerken klopften ihre Finger ungeduldig auf dem Tresen. Erst als der Beamte sie leicht mürrisch anblickte wurde es ihr bewusst und sie nahm schnell die Hände herunter.

Elf Uhr und neun Minuten.

Ihr Blick blieb auf der Uhr hängen. Sie zählte die Sekunden bis sie aufhören konnte zu warten und loslaufen würde.

Elf Uhr und zehn Minuten.

Sie atmete tief durch und drückte auf die Gabel des Telefons.

„Hey! Was soll das denn?“

Der Beamte war von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte Jos Handgelenk gepackt und hielt es nun fest in seinem Griff.

„Sind Sie verrückt geworden?“

„Möglich. Aber wären Sie das nicht auch, wenn Ihre Schwester bestialisch getötet worden wäre und Sie nun endlich die Wohnungsschlüssel Ihrer geliebten Schwester erhalten können und das einzige was Sie davon abhält ist ein Beamter, der lieber Höflichkeiten mit der Presse austauscht, anstatt sich um die Nöte der Hinterbliebenen zu kümmern?“

Abrupt ließ er ihr Handgelenk los und sank beschämt auf seinen Stuhl zurück.

„Bitte verzeihen Sie. Die Reporter machen mich noch wahnsinnig. Das Telefon klingelt ununterbrochen.“

Wie zur Bestätigung seiner Worte klingelte das Telefon. Erschrocken blickte Jo ihn an. Voller Angst, er würde das Gespräch annehmen, bevor er sie zu Kommissar Heffner durchließ. Doch er hob den Hörer nur einmal kurz an um ihn dann wieder auf die Gabel fallen zu lassen, während er sie beruhigend anlächelte. Dann nahm er den Hörer ans Ohr und bestellte Kommissar Heffner zu sich um Jo zu empfangen.

Erleichtert sagte sie „Danke!“ und lächelte nun ihrerseits.

Nur wenige Minuten später sah sie den Kommissar auf sich zukommen.

„Guten Tag Frau Brandt.“

„Guten Tag Kommissar Heffner.“

Mit einer Handbewegung wies er sie an, ihm zu folgen. Jo presste ihre Handtasche mit der Kopie der Akte fest an ihren Körper und hoffte, die Gelegenheit zu bekommen, sie gegen das Original austauschen zu können.

Diesmal führte er sie nicht in den Konferenzraum. Es war ein weitaus kleinerer Raum. An beiden Wänden mit hohen Regalen ausgestattet, die gefüllt waren mit Büchern unseres Rechtssystems und unzähligen Akten. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch auf dem sich ebenfalls etliche Akten stapelten. Und da lag sie, die Akte Elbstrand. Eilig zugeschlagen, so dass der Inhalt seitlich ein wenig heraus ragte. Sie schien gerade sein Büro betreten zu haben.

Kommissar Heffner zeigte auf einen Stuhl ihm gegenüber.

„Bitte setzen sie sich.“.

Langsam sank Jo auf den Stuhl, den Blick auf der Akte Elbstrand und die Handtasche wie einen Rettungsanker umklammernd.

„Ich habe die Papiere soweit vorbereitet, Sie brauchen nur noch zu unterschreiben und dann gebe ich ihnen die Schlüssel zur Wohnung Ihrer Schwester. Wundern Sie sich nicht, es könnte ein wenig Unordnung herrschen. Die Polizeiarbeit geht leider nicht ohne Spuren von statten. Der Laptop Ihrer Schwester ist noch im Kriminaltechnischen Labor zur Auswertung, aber sonst dürfte nichts fehlen.“

„Danke. Gibt es sonst etwas Neues? Sind Sie mit den Ermittlungen weiter gekommen?“

„Frau Brandt. Sie wissen doch, ich darf Ihnen dazu nichts sagen. Sie müssen sich gedulden.“

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht bedrängen.“

Nun klingel schon!

Sie betete innerlich, sein Handy möge wieder klingeln, damit er den Raum verlassen und sie die Akten tauschen konnte.

Sie nahm das Formular zur Schlüsselübergabe entgegen und las es. Ganz langsam glitten ihre Augen über die Zeilen ohne auch nur ein Wort zu erfassen. Sie musste Zeit schinden. Doch es half nichts, die Melodie von Law & Order wollte einfach nicht ertönen. Sie unterschrieb den Erhalt der Schlüssel und verließ das Büro ohne die Akte.

5

Jo stand vor der verschlossenen Wohnungstür, den Schlüssel in der Hand, unfähig ihn zu benutzen. Sie würde gleich Alisas Wohnung betreten. Ihren Duft riechen, ihre Nähe spüren, aber sie würde sie nicht freudig empfangen. Nie wieder. Sie war tot. Sie war gegangen. Nein, das war sie nicht. Sie wurde ihr genommen. Brutal genommen. Wer auch immer das war, er würde büßen. Bitter büßen. Wieder kroch diese unbändige Wut in ihr hoch. Die Wut auf den Mörder, der ihr die Schwester nahm. Die Wut auf die Polizei, die sie alleine ließ. Wut auf ihre Schwester. Wie konnte Alisa sie alleine lassen? Wie konnte sie so leichtsinnig sein und ihr Leben riskieren?

Mit einem Rutsch glitt der Schlüssel ins Schloss und nach zweimaligem Schließen öffnete sich die Tür mit leisem Knarren.

Jo machte einen Schritt nach vorne. In die Wohnung ihrer Schwester. Das war jetzt wichtig. Einen Schritt nach dem anderen machen. Nichts überstürzen. Überlegt vorgehen.

Sie schloss die Tür hinter sich und schaltete das Flurlicht ein. Der Duft, der sie empfing überwältigte sie einen Augenblick. Es roch nur dezent nach dem Parfüm ihrer Schwester, aber für Jo so überwältigend, als hätte Alisa eben erst die Wohnung verlassen und nicht schon vor einigen Tagen zum letzten Mal.