Wunder sind nichts für Weichlinge - Christiane Barth - E-Book

Wunder sind nichts für Weichlinge E-Book

Christiane Barth

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Beschreibung

Corina gelangt nach ihrer psychischen und physischen Bruchlandung zur Reha in den Schwarzwald. Mit ihr suchen zahlreiche weitere „Insassen“ der Klinik nach Wegen aus dem Burnout. In der gemeinsamen Therapie weben sie sich als eingeschworene, nadelschwingende „Strick-Combo“ zusammen und halten auch noch nach dem Zwangsurlaub zusammen. Ausgerechnet ein Schamane wird für Corina der Wegweiser in ein besseres Leben ohne Druck und festgezurrte Lebenspläne. Dieser Erkenntnis geht Corina erst ein halbes Jahr später in einem Sporthotel im österreichischen verschlafenen Nest Neufelden nach, wo sie eigentlich nur ganz für sich sein und sich dem „Kurs in Wundern“, einem spirituellen Lehrwerk, widmen will. Doch die Dinge entwickeln, wie auch zuvor bei der Gruppentherapie, schnell eine Eigendynamik, die niemand vorhersieht. Corina hat sich auf eine Woche einsamen Teichurlaub in Gesellschaft von quakenden Fröschen eingestellt, da taucht Mahesh auf. Er ist nicht der, der er zu sein scheint, und wieder mal muss Corina ihr System neu justieren. Wieder muss sie ihre Vorstellungen davon, wie die Dinge zu sein haben, über den Haufen werfen.

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, März 2020

Autorin: Christiane Barth

Cover Motiv: Armin Barth, www.arminbarth.com

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Heike Funke

Sprache: Deutsch

ISBN: 978-3-95716-320-2

ISBN E-Book: 978-3-95716-301-1

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder auf anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Christiane Barth

Wunder sind nichts für Weichlinge

Die Geschichte basiert auf realen Erlebnissen, nimmt sich jedoch die Freiheit, ein wenig mit der Fiktion zu spielen. Orts- und Personennamen wurden geändert.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Am Teich

Die Strick-Combo

Golfen und die Flugbahn der Gedanken

Kairos, Chronos und das Knie

Out of Order

Irgendwas ist immer – oder doch nicht?

Die Erlösung und der Ironman

Bella Ciao

Der Frosch und das Jetzt

Zuschauer oder Leinwand?

Das Seerosen-Prinzip

Das Leben ist doch kein Olympiawettkampf

Dirty Devil und die große Liebe

Knasturlaub

Guru statt Golf

Der Erzengel und die Hui-Hui-Maschine

Zerstückelung

Ekstase in der Glücksgemeinde

Gott und der Super-GAU

Eine Performance mit Pepp

Wieder ’ne Schraube locker

Therapie mit Föhn

Nachwort: Der Kurs in Wundern – das Buch

Über die Autorin

Am Teich

Ich liege am Teich und schaue in die Weite. Zum Glück passiert gerade nichts. Hier irgendwo im österreichischen Nirgendwo habe ich meine Ruhe. Da ist einfach nichts. Nichts jagt mich von meiner bequemen Gartenliege herunter, niemand ruft mich an, denn hier schaltet das Handy auf „kein Empfang“. Auch ich bin endlich nicht mehr auf Sendung. Wie gut das tut, endlich mal nur ich zu sein. Ich schaue versonnen den Libellen zu, wie sie sich um ein Teichrosenblatt streiten. Als ob es nicht genug davon gäbe. So ähnlich aber geht es uns Menschen auch. Wir kämpfen unermüdlich um die besten Geschäfte, Schnäppchen und um den besten Platz am Pool oder meinetwegen im Universum – dabei ist doch genug für alle da.

Soll ich jetzt ein Buch lesen oder eine Meditation anhören? Diese Art von Entscheidungen beschäftigen mich jetzt. Und damit kann ich mich glücklich schätzen. Ein Pferd grast nicht weit von meinem Platz entfernt in der Sonne. Man hört das zufriedene Mahlen der großen Zähne, hin und wieder einen Schritt nach vorne, den die Hufe träge machen, um einen noch saftigeren Grashalm zu erwischen. Mit dem Schweif verscheucht das Pferd ein paar lästige Bremsen. Ein vorwitziger Schmetterling mischt sich jetzt in die Szenerie, die sich vor meinen Augen offenbart wie eines jener Poster, die gerne in Massagesalons zur Einstimmung auf die erhoffte Entspannung großformatig an der Wand plakatiert werden. Der Teich liegt auf einer kleinen Anhöhe, umsäumt von weit ausgedehnten, hügeligen Wiesen und angrenzenden Wäldern, aus denen hin und wieder Ross und Reiter angetrabt kommen. Die Pferde des Hofes, den ich zu meinem Urlaubsziel auserkoren habe, nutzen all die satten Wiesen ringsum zum Weiden, eingezäunt ist hier nichts. Wohin sollten die Pferde auch flüchten? Und warum auch? Ähnlich geht es mir. Ein Zustand, an den ich mich erst wieder gewöhnen muss. Fast meine ich, mich an der Gartenliege festhalten zu müssen, um nicht davonzuspringen, mit einem weiten Satz hinaus aus einem Traum, der doch zu schön scheint, um wahr zu sein.

Immerhin kann ich jetzt wieder Entscheidungen treffen, das ist doch ein gutes Zeichen. Vor wenigen Monaten noch wurde ich lediglich vor vollendete Tatsachen gestellt. Die anderen entschieden, ich hatte mich mit dem Resultat abzufinden. Punkt. Was ich nicht gerne tat. Daher zog ich es vor, im Burnout den toten Mann zu spielen. Das hatten wir als Kinder öfter getan. Dabei bin ich doch eine Frau. Wohlgemerkt. Manchmal muss man diese naturgegebene Sache in der Tat extra betonen. Bei dem Stress, den wir Frauen uns antun, um uns die Sporen zu verdienen und in die Geschäftsriege der Männer aufzusteigen! Aber ich mache hier schließlich nicht Urlaub, um Problemen ordentlich Energie zu verleihen und ihnen einen Schub zu geben. Ich bin hier, um zu entspannen. Die Teichoberfläche kräuselt sich ein wenig, weil ein Wasserläufer gerade übermütig wird. Die Sonne wärmt mich, auch Ende August kann ich hier in Oberösterreich noch halb nackt am Teich liegen. Ich fühle mich wie im Paradies. Dabei sind keine engagierten und zu jedem Spaß todesmutig entschlossenen Animateure in Sichtweite, die mich zum Kennenlernspiel oder zum Münz-Zielwurf von meiner kontemplativen Ruhe wegscheuchen wollen. Ich liege hier ganz alleine, relaxt und ohne Federballschläger, Kreuzworträtsel oder eine freundlich gemeinte Ansprache. Und ich halte es gut mit mir aus. Dieses Golf- und Reithotel an der Peripherie einer völlig unbekannten Marktgemeinde im Mühlviertel nahe Linz ist nicht gerade der Ort, den die virtuellen Reiseanbieter als sensationelles Reiseziel oder saisonweise als Schnäppchen führen. Auch mich hat es nur durch sehr viele Zufälle hierher verschlagen.

Nachdem ich von der Reha im Schwarzwald zurück war, suchte ich nach Alternativen. Wozu? Für alles. Für mein Leben ohne Burnout, meine Therapieversuche wegen Burnout und meine zaghaften Gehversuche, wieder ein Teil der Gesellschaft zu sein. Im Schwarzwald war ich zum Glück nicht die einzige, die sich bei „Terraintraining“, gruppendynamischem Kaffeetrinken – wahlweise im Café Schwarzwaldstube oder im Café Panorama –, Rückenschule, Funktionsgymnastik oder bei Qigong von einem stressigen Berufsalltag, der sich zur abenteuerlichen psychischen und physischen Talfahrt entwickelte, erholen sollte. Wir, das heißt auch all die anderen, die mit mir angereist waren, saßen im selben Boot. Wir waren kurz nach Weihnachten und kurz vor Silvester in einer etwas heruntergekommenen, aber mit Anstand geführten Rehabilitationseinrichtung für psychosomatische Beschwerden gestrandet. Und wir fanden uns schnell. In der sicheren Obhut eines 1898 erbauten Waldsanatoriums im Schwarzwald-Jugendstil, in dem heute affektive Störungen, neurotische Störungen, Belastungs- und somatoforme Störungen sowie andere Verhaltensauffälligkeiten therapiert werden – die alle exakt mit Buchstaben und Ziffern klassifiziert und schubladisiert sind, weil selbst die Ärzte und Psychologen den Überblick verloren zu haben scheinen –, sind wir schlicht zur Stricktherapie übergegangen. Das war einfach naheliegend. Jeden Tag trafen wir uns vorm Therapiewasserbecken, das wir liebevoll und übermütig Schwimmbad nannten, quatschten uns unsere Lebensgeschichten vom Leib – und die anderen strickten warme Socken, nur ich nicht. Ich habe noch nie im Leben so viele Stricknadeln auf einmal rauf und runter klappern sehen. Ich kann das nicht. Und weigerte mich, es zu lernen. Dafür traf ich einen Schamanen, der mich hingegen umso mehr interessierte und der eine andere Verknüpfung in meinem Innern herstellte – ganz ohne Stricknadeln. Denn in dem verlassenen Nest, in dem wir die nächsten sechs bis acht Wochen zusammen zu verbringen gedachten (schließlich war dies von der Deutschen Rentenversicherung so veranlasst und verlässlich gebucht), gab es ein Meditationshaus, das mich magisch anzog. Ich spürte, dass sich dort eine entscheidende Erkenntnis verbarg, die mir in meinem Lebenspuzzle fehlte. Als sei dies ein elementares, kleines Teil in der Mitte des Bildes, das eine Schlüsselfunktion einnahm und dessen Fehlen die Wirkung der gesamten Ansicht zunichtemachte. Nach einer anstrengenden Woche mit psychologischen Einzelgesprächen, die mein Innerstes nach außen kehrten wie einen Pullover, den man links wäscht, hatte ich das Bedürfnis, den Kopf in den Sand zu stecken, nichts zu hören, zu sehen oder zu sagen. Einfach abzuschalten. So traf ich auf das Meditationshaus Waldesruh. Ein anderer Name hätte mich übrigens sehr verwundert. Dort sollte es eine Lesung geben mit Galsan Tschunn, eines in der Westmongolei geborenen Schamanen und Stammesoberhauptes, das seinen Stamm verlassen hatte, um verlorene Seelen wieder in Ordnung zu bringen und ihnen Orientierung zu geben. Wie mir. Er hat außerdem zahlreiche Bücher veröffentlicht, verbringt seine Zeit abwechselnd als Nomade im Altaigebirge der Nordwestmongolei und auf Lesereisen im Ausland. Und dieses Ausland war nun das schöne Santosbach im Schwarzwald, in dem wir gerade kollektiv beim Stricken unseren Problemen zu entfliehen gedachten. Ich entsagte an einem schönen Freitagabend der Gruppe – und ging stattdessen zum Schamanen. Und das ist der wahre Grund, warum ich nun gemütlich am Teich liege und den Libellen beim Kampf um die Seerosenblätter zuschaue.

Der Schamane erzählte leise vom kargen Leben in der Mongolei. Es waren poetische Geschichten, die er aufgeschrieben hatte, nicht in seiner Muttersprache, sondern in Deutsch. Die Grammatik klemmte und kniff an jeder Stelle, die richtigen Wörter fielen ihm nicht immer ein; dennoch durchdrang seine Botschaft den ganzen Seminarraum dieses Meditationshauses, von dessen Existenz ich bis vor zwei Wochen noch nichts gewusst habe. Doch ziemlich schnell kann sich das Leben ändern. Galsan Tschunn erzählte von der Einfachheit eines mongolischen Nomadenlebens, von einem Jungen, der in einem Jurtendorf lebt und dessen Tage mit Schafehüten ausgefüllt sind. Von Mensch und Tier im Kampf mit den Naturgewalten, denen sie auf brutale Weise ausgesetzt sind. Vom Tod, der als etwas Selbstverständliches gilt, weil er alltäglich ist. Die Botschaft, die ich empfing, war so schlicht wie klar: Leben und Sterben sind untrennbar miteinander verbunden, verbringe deine Tage in Dankbarkeit und Einfachheit, sei in Resonanz mit der Natur und nimm, was dir gegeben ist. Jeden Augenblick.

Eine Libelle umschwirrt mich aufgeregt. Es scheint ihr nicht zu behagen, dass ich tatenlos an ihrem Teich herumliege. Sie versucht wohl, mich, diesen Störenfried der gottgegebenen Ordnung, zu irritieren. Ich verscheuche sie, nicht, weil sie mich allzu sehr nerven würde, sondern um sie zu necken. Ihre blau schimmernden Flügel flattern hyperaktiv in einem schnellen Rhythmus und bilden einen angenehmen Kontrast zum dunklen Algengrün des naturbelassenen Wassers. Aus einer Ecke quakt ein Frosch. Sehen kann ich ihn nicht, zu üppig breiten sich die Teichrosen aus und überbieten sich in ihrer Freude am Dasein. Das muss es sein, was Galsan Tschunn gemeint hat. Nicht darüber grübeln, was gestern war oder was morgen sein wird. Ging es mir jemals derart gut? Ich glaube schon, nur habe ich das vielleicht nie so intensiv erlebt wie jetzt. Seit 15 Jahren schon besuche ich nun fleißig und ebenso hyperaktiv wie die Libelle die unterschiedlichsten Seminare zur Bewusstseinsbildung, für die Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsnavigation, für eine bessere Kommunikation mit dem Kosmos, für die gezielte Lenkung heilungsunterstützender Energiefrequenzen, zur konstruktiven Problembewältigung und für anti-ego-zentriertes Eintauchen in die Quantenphysik, lese Berge von Büchern, um mir Wissen darüber einzuprügeln, wie man richtig lebt – und nun liege ich einfach an diesem Teich und bin glücklich. Geht’s noch?

Ich denke an Galsan Tschunn, den Mongolen mit den grauen Haaren, der lila Kutte und der Brille, und daran, wie er uns Zuhörern im Meditationshaus Waldesruh riet, ehrfürchtig zu leben angesichts der Schöpfung. Und wie er sagte: „Die Welt ist ein gemeinsames fortlaufendes Werk.“ Also hat jeder seinen Beitrag zu leisten. Und niemand hat die ganze Arbeit alleine. Das ist doch tröstlich. Irgendwie habe ich das früher nicht ganz richtig verstanden.

Ich bin heute nicht mehr die, die ich vor einem Jahr war, als ich in Santosbach in bislang wildfremden Menschen Leidens- und Lebensgenossen und Weggefährten erkannte. Ich bin nicht mehr die, die ich vor fünfzehn Minuten war, als ich – mit Handtuch und Bademantel ausgerüstet – den Hotelbewohnern bei der Nachmittagsjause entschlossen den Rücken kehrte und mich an „meinen“ Teich zurückzog. Denn außer mir scheint niemand diesen Teich zu würdigen. So kann ich mich meinen Erinnerungen hingeben, die die Gegenwart fluten, genau wie das milde Wasser des Teiches jetzt über die Stufen der von der Sonne verblichenen Holztreppe schwappt, nachdem ich mich entschlossen habe, ein paar Runden zu schwimmen. Ich muss mich beim Einsteigen ins Becken am Treppengeländer festhalten, denn die Wände der Teicheinfassung sind glitschig; Algen und Moos haben sich mit der Zeit an den Beton geschmiegt wie Patina ans alte Leder. War eine verrückte Idee, einfach abzuhauen von zu Hause, alleine diesen Urlaub anzutreten und niemandem zu sagen, wo ich bin. War eine noch verrücktere Idee, nur ein einziges Buch mitzunehmen: Ein Kurs in Wundern. So bleibt mir hier in dieser verlassenen Gegend, die nicht gerade als Hochburg für Touristen gilt, nichts weiter übrig, als in einem komplizierten, zwei Kilo schweren Buch zu lesen, dessen teils sehr kryptische Texte mehr Fragen als Antworten in den Raum stellen. Doch ich habe mich ganz bewusst auf dieses stille und überdies geheime Abenteuer eingelassen. Wenn der Kurs in Wundern tatsächlich etwas enthält, das wir Menschen wissen sollen, dann wird er es mir auch enthüllen, jetzt, wo ich mich ganz darauf einlassen möchte auf diese besondere Art spiritueller Psychotherapie.

Das über 1000 Seiten umfassende Werk, das die US-amerikanische Psychologin Helen Schucman (1909 bis 1981) nach dem Diktat einer inneren Stimme niedergeschrieben haben soll, zählt seit seiner Erstauflage 1976 in Amerika wohl zu den meistverkauften christlich-spirituellen Büchern der letzten Jahrzehnte. Weltweit wurden seither über 1,7 Millionen Exemplare in mittlerweile 14 Sprachen verkauft. Diese innere Stimme übrigens soll Jesus gewesen sein. Und ich muss sagen, dass mich das nicht schlecht fasziniert. Doch warum sollte sich Jesus nach 2000 Jahren erneut zu Wort melden? Vielleicht, weil er damals einfach nicht alles sagen konnte, was er wusste, weil er gekreuzigt wurde, bevor er mit seinem Aramäisch am Ende war? Oder vielleicht auch, weil wir Menschen heute offener sind für seine Worte, für spirituelle Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten? Natürlich weiß ich das nicht, aber ich möchte die Botschaft des Werkes erfahren. Ich möchte sie begreifen und ihre Essenz erkennen. Während ich darüber sinniere, wie ich in dieses Gedankengut eintauchen kann, schwimme ich auf den Frosch zu – jetzt habe ich ihn entdeckt. Die Wellen, die meine Schwimmzüge verursachen, scheinen ihn jedoch zu irritieren. Er starrt mich mit seinen grün-schwarzen Augen an und tut empört. Wie ich es wagen kann, in sein Territorium einzudringen! Ich entschuldige mich höflich bei ihm, nähere mich ihm jedoch weiter, verlangsame aber meine Bewegungen. Auge in Auge mit dem perfekt getarnten Wasserfrosch wird mir eines klar: Auch dieser Moment ist einzigartig und ein kleines Wunder.

Inzwischen bin ich alt genug, das Leben von seiner humorvollen Seite zu betrachten. Immerhin entbehren die Katastrophen, wenn man sie im Rückblick betrachtet, nicht einer gewissen Komik. Und mit 45 Jahren sieht man auch nicht mehr alles ganz so ernst. Die Zeit, die bleibt, wird immer kürzer, die zurückliegende immer länger. Und die Dinge sind einem ständigen Wandel unterworfen. So zumindest ist das in meinem Kopf gespeichert. In Der Kurs in Wundern aber steht, dass die Wirklichkeit unveränderlich ist. „Wunder zeigen nur, dass das, was du zwischen die Wirklichkeit und dein Gewahrsein stelltest, unwirklich ist und sie in keiner Weise stört.“ Die Wirklichkeit ist also jenseits meiner Wahrnehmung, meines Verstandes. Dies anzuerkennen, ist eine große Erleichterung und nimmt dem Alltag seine Schwere. Ich grüße den Frosch und gehe zum Abendessen. In diesem Hotel, das eigentlich ein 700 Jahre alter Gutshof ist, den die neuen Besitzer vor 30 Jahren mühevoll restauriert und in ein Golf- und Reithotel verwandelt haben, gibt es keine befrackten Garçons, die wichtig und dienstbeflissen ständig in die Aura der Gäste eindringen und nach deren Wünschen gieren, damit sie etwas zu tun haben und auf ein exorbitantes Trinkgeld hoffen können. Hier geht es leger zu. Das ist mir gerade recht. Ich trage in meinem Beruf als Journalistin und PR-Referentin häufig eine betont gut gelaunte und toughe Fassade zur Schau, die mir Tür und Tor zu den begehrten Informationen öffnen soll, woraus ich dann Presseartikel und PR-Berichte schmiede. Jetzt aber habe ich gerade nicht die geringste Lust, auch noch im Urlaub einen falschen Charakter wie schlecht gewähltes Rouge aufzulegen. Ich möchte mich geben, wie ich bin, auch wenn ich schlechte Laune habe, und nicht so, wie es von mir in einer bestimmten Rolle erwartet wird. Da ist sie wieder, diese falsch verstandene Wirklichkeit, diese Lücke zwischen Wahrnehmung und Realität, durch die man so leicht, wenn man nicht auf sich aufpasst und die Gegenwärtigkeit verliert, tief abstürzen kann.

Die Strick-Combo

Sind wir nicht alle, die wir noch vor einem halben Jahr im tief verschneiten Schwarzwald unseren körperlichen und psychischen Absturz auskurierten, Opfer unserer Irrtümer geworden? Sind wir nicht wie die Esel einer Karotte, die über dessen Kopf an einem Stock baumelt, hinterhergejagt, wenn wir nach einem inneren Diktat, das uns ständig zuflüsterte „Du musst“, blind gehorchten? Wenn wir ständig weiterschufteten und in einer Routine gefangen waren, aus der es keinen Ausweg zu geben schien?

So wie Werner beispielsweise, der als Leiter der organisatorischen Abteilung einer großen Universitätsklinik in Hamburg viele Bälle in der Luft halten musste, nicht nur die Ansprüche der Angestellten und Vorgesetzten zu befriedigen hatte, sondern vor allem seine eigenen. Inzwischen sind wir in einen regen E-Mail-Kontakt getreten und ich bin auf dem Laufenden, wie Werner die Erfahrungen dieser Reha umgesetzt hat. Zuletzt schrieb er mir: „Irgendwie bin ich gedanklich momentan doch eher ein halbes Jahr zurück. Ich vermisse die relaxte Stimmung und das sorglose Leben dort. Ich komme zwar gut zurecht, aber es war einfach völlig unbeschwert – und es hat mich persönlich weitergebracht. Nicht zuletzt durch die vielen netten Gespräche.“ Die E-Mails kursieren aber nicht nur zwischen Werner und mir, sondern auch zwischen allen anderen unserer Strick-Clique. Es ist ein beständiges Updaten unserer Situation, unserer Stimmungslagen und unserer Fähigkeit, mit dem Leben wieder zurechtzukommen.

Die Strick-Clique hat sich förmlich durch dieses tägliche, völlig relaxte Ritual der Handarbeit ineinander verstrickt. Ein schönes Bild: Waren wir zuvor verstrickt in unsere Probleme, strickten wir in Santosbach jeden Abend am Kreuzungspunkt zwischen Café, Schwimmbad und vielen zig Meter langen Fluren, die Speisesaal und Wohntrakt miteinander verbanden, an unseren Beziehungen. Es waren nicht die Socken, Schals oder Stulpen, die das eigentlich bedeutende Ergebnis dieser abendlichen Runden waren, in denen jeder in Wolle und Nadeln versunken, aber dennoch mit einer aufmerksamen Wachheit am locker dahinplätschernden Gespräch teilnahm. Es war ein Sicherungsseil mit dicken Karabinern, das wir uns da zusammenstrickten und das uns über diese acht Wochen hinaus mit einer Zeit der Unbekümmertheit verbinden sollte. Immerhin brachten wir alle unsere Geschichten mit: Nicht nur Burnout und Depression, sondern auch Diabetes, Herzinfarkt oder der Krebs saßen mit in der gemütlichen Runde, auf ausgeleierten alten Sofas in unserem „Hotel Zur lockeren Schraube“, wie wir das mehr schlecht als recht instand gehaltene, alte und unübersichtliche Gebäudekonglomerat zu nennen pflegten. Ja, wir konnten wieder über unsere Schwächen lachen. Zusammen gelang uns dies. Doch in den allerersten Stunden nach unserem Ankommen an einem eiskalten und unwirtlichen Dezembertag, den man eigentlich lieber zu Hause im kuscheligen Wohnzimmer in der Obhut seiner Familie verbringen möchte, war uns alles andere als zum Lachen. Die Zimmer karg, ohne Wärme und spartanisch in pflegeleichtem Einheitsgrau, das mich spontan an ein Altersheim erinnerte. Sie waren mit je einem Teller und einer Tasse ausgestattet. Wer sich Tee kochen wollte, hatte einige Stockwerke ins Dachgeschoss zu steigen; dort nämlich befand sich im Aufenthaltsraum, in dem übrigens auch ein alter Fernseher stand, ein Wasserkocher. Die Wege waren weit: Von meiner Kemenate bis zum Speisesaal war ich immerhin zehn Minuten lang unterwegs (und ich bin eine trainierte Läuferin). Doch im Laufe der Wochen sollte ich die Erfahrung machen, dass Luxus nicht aus dicken Teppichen, Flachbildfernsehern oder bequemem Service besteht, sondern aus Menschen, die einen verstehen, die zuhören und die Erfahrungen mit uns teilen. Mich eingeschlossen. Auch ich hatte in dieser Zeit ausreichend Gelegenheit, mir endlich mal selbst ein offenes Ohr zu schenken und Verständnis für mich zu entwickeln. Ja – überhaupt war es die Zeit, die wir uns widmeten ohne dieses innere Diktat „Du musst“, ohne Zwänge und ohne die Verpflichtung, aus dem Leben etwas Sinnvolles zu machen. Immerhin waren wir vorerst gescheitert, daher vorübergehend den Pflichten entbunden und in einer angenehmen Zwischenwelt gelandet, die von uns nicht mehr abverlangte als eine gewisse Offenheit den Psychologen gegenüber und ein gut geführtes Kliniktagebuch, in dem die Therapeuten mit penibler Akkuratesse unsere Anwesenheit beim Yoga, Malen oder Singen bezeugten. Unsere Tage waren zwar angefüllt mit Terminen: Wir hetzten von der Turnhalle ins Ärztezimmer, vom Nordic Walking unter Tannenbäumen, Tannenbäumen und nochmals Tannenbäumen in den Speisesaal und von der Entspannungstherapie in die Wassergymnastik. Doch es waren Termine, bei denen wir unsere Leistungsfähigkeit wieder auf Vordermann bringen sollten. Niemand verlangte von uns, voll leistungsfähig zu sein. Insofern konnten wir diese mit Sport und Gesprächen angefüllten Tage ziemlich entspannt und ohne Druck durchleben. Und vor allem: Wir lernten wieder zu spielen. Mit dem Ball, mit dem Leben überhaupt. An manchen Abenden ging nach dem Essen rasch die Kunde um, man treffe sich um halb acht zum Wasserball. Das klingt schlicht, fürwahr. Doch für Menschen, die ihre letzten Jahre damit zugebracht haben, gegen Krankheiten und Einsamkeit zu kämpfen, Familien zu ernähren und in einer Gesellschaft, die die Menschen mit Informationen bombardiert und sie zu immer irrsinnigerer Schnelligkeit zwingt, nicht den Verstand zu verlieren, war das schon was. Beim Wasserball, wobei wir keine Regeln aufstellten oder Schiedsrichter benötigten, spielten wir uns nur gegenseitig den Ball zu. Mal mehr, mal weniger heftig, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Spielen wir uns aber in unserer Gesellschaft und in unserem Wertesystem ebenso relaxt den Ball zu – oder versuchen wir vielmehr, den Ball festzuhalten und ihn uns einzuverleiben? Dann aber ist es bald kein Spiel mehr, das vom freudvollen Umgang mit anderen lebt.

Ein tolles Beispiel für außergewöhnlichen Einsatz war Bettina, die sich nach einer Brustkrebserkrankung gerade von ihrer Chemo- und Strahlentherapie erholte. Sie scheute nicht davor zurück, sich mit ganzem Körpereinsatz in die Fluten unseres bescheidenen Bassins zu werfen, nur um diesen ramponierten, quietschbunten Wasserball zu erwischen. Gelang ihr das nicht, sah man von ihr für wenige Sekunden nicht viel mehr als ein paar Luftblasen auftauchen. Ich schaffte es anfangs noch nicht, mich derart einzubringen, ins Spiel, in die Gemeinschaft. Ich spielte mit, tauchte aber nicht ein. Ich beobachtete mehr. Dies sollte auch Bettina später einmal zu mir sagen, nachdem ich ihr auf ihre Frage hin erzählte, dass ich meine Brötchen als Journalistin verdiene.

„Das passt zu dir“, meinte sie knapp.

„Wieso?“, wollte ich wissen.

„Du beobachtest.“

Okay, ich beobachtete also. Beim Wasserball und beim Stricken. Einen Vorteil hatte ich dadurch: Ich kann mich heute gut daran erinnern, was damals geschah …

Golfen und die Flugbahn der Gedanken

Es gibt Zucchinicremesuppe, Hähnchenbrust mit feiner Steinpilzsoße und zum Nachtisch Käsekuchen im Glas. Es ging mir schon mal schlechter. Mit am Tisch sitzt ein Ehepaar aus Thüringen, das mir mit Vehemenz die exakten Koordinaten seiner Anfahrtsroute servieren will. Dass ich wortkarg bleibe, scheint sie nicht zu stören. Zwischen zwei Löffeln Zucchinicremesuppe mit einer Haube Schlagsahne gebe ich undeutlich zu verstehen, dass ich aus Heidelberg stamme und den Weg nach Oberösterreich irgendwie gefunden habe. Mehr nicht. Doch mit der Präzision von Golfspielern drängen sie mir die Sehenswürdigkeiten ihres Weges auf. Ich erhalte ungefragt Informationen über die Vorzüge Passaus in der Qualität eines Westentaschenreiseführers. Ja, auch ich bin durch Passau gefahren. Ja, auch ich fand die Stadt, die ich im Morgengrauen passierte, als sich die aufgehende Sonne in den drei Flüssen Donau, Inn und Ilz spiegelte, malerisch schön. Und nein, ich stand nicht auf der A6 im Stau. Wie ich bereits erwähnte: Ich fuhr am frühen Morgen los. Aber es bringt nichts. Die beiden mitteilungsfreudigen Frührentner, die im Golfpark Böhmerwald ihr Handicap verbessern wollen, drängen mir immer noch ungefragt ihre Geschichte auf und lassen sich auch von dem köstlichen Cheesecake im Glas nicht in ihrem Redefluss bremsen. Was hatte ich gerade heute im Kurs in Wundern im Kapitel „Die unveränderliche Wirklichkeit“ gelesen? „Erscheinungen täuschen, doch können sie verändert werden. Die Wirklichkeit ist unveränderlich. Sie täuscht überhaupt nicht, und wenn es dir nicht gelingt, über Erscheinungen hinauszusehen, wirst du getäuscht.“

Ich täusche diesem Thüringer redseligen Ehepaar (offenbar haben sie, wenn sie unter sich sind, wenig zu sagen) vor, Interesse an ihrer Geschichte zu haben. Denn ich nicke stets freundlich mit dem Kopf. Und sie täuschen mir vor, Interesse an mir zu haben. Dabei wollen sie nur rechtzeitig Kontakte knüpfen, da sie davon ausgehen, ich sei morgen auf dem 18-Loch-Meisterschaftsplatz dabei und entferne zusammen mit ihnen Pitchmarken. Sie halten sich schon mal am Vorabend des ersten Trainingstages an die Etikette und pflegen höfliche Konversation. Die Wirklichkeit aber sieht so aus, dass ich – als wohl einzige der Besucher*innen in der gemütlichen Gaststube – gar nicht zum Golfen hier bin. Das ist ihr Irrtum. Wir Menschen täuschen uns doch ständig, wenn wir unterwegs sind, mit anderen reden und irgendwelchen Zielen nachstreben. War die Wirklichkeit nicht vielmehr diese allumfassende Ruhe, die ich heute Mittag am Teich erlebt habe, als ich einem Frosch in die Augen blickte und die Welt für einen Moment stillzustehen schien? Ohne jegliche Konzepte oder archivierte Vorstellungen, die immer abrufbereit sind und dann aktiv werden, sobald irgendjemand das entsprechende Icon auf unserer Festplatte anklickt? Diese Thüringer haben eine bestimmte Vorstellung von mir, die mit mir in Wahrheit nichts zu tun hat. Ich bin in ihrem Kopf. Dort haben sie ein Programm laufen, vielleicht das Sportsfreunde-Programm oder das „Mit dieser netten jungen Frau aus Heidelberg können wir vielleicht noch viel Spaß haben“-Programm. Welches, das weiß ich nicht, denn alle Gedanken, die ich mir über deren Programme mache, sind meine Vorstellungen und haben wiederum mit den Thüringern rein gar nichts zu tun. Wir, die wir zusammen am Tisch bei einem köstlichen Dessert sitzen, produzieren Erscheinungen, aber wir sind keine Erscheinungen. Das ist ein großer Unterschied.

Erscheinungen können also verändert werden. Soll ich es vielleicht mal versuchen?

„Sind Sie hier, um Handicap 36 zu erreichen, oder trainieren Sie noch für die Platzreife?“, fragt mich da der Thüringer.

„Weder, noch“, gebe ich recht trocken zur Antwort, „ich bin Hoteltesterin und ermittle gerade undercover, aber bitte nicht weitersagen!“

Die beiden lassen die letzten Käsekuchenreste zurück ins Glas fallen und blicken mich schockiert an. Sie täuschen sich gerade wieder und ich habe deren Täuschung von vorhin verändert. Über Erscheinungen hinauszusehen ist das Ziel. Wir werden getäuscht und täuschen, solange uns dies nicht gelingt. So war das doch, oder?

Prompt bin ich uninteressant geworden. Als Hoteltesterin, die verdeckt arbeitet, bin ich unwichtig. Ich habe gerade eine wichtige Golfregel gebrochen: Die Beeinflussung des Balls, wenn er seine Laufbahn eingeschlagen hat, ist verboten. Ein Spieler darf weder die Lage des eigenen Balls noch den Ball seiner Mitspieler manipulieren. Die Flugbahn aber der Gedanken, die in den Thüringern vorgehen, habe ich gerade vorsätzlich gesteuert. Doch sie wissen es nicht: Sie halten ihren mentalen Output und die Richtungsänderung ihrer Gedankenkaskaden, die ich gerade mit einem einzigen gelogenen Satz vorgenommen habe, für die Wahrheit. Und sie tauchen tief darin ein, in ihrer Täuschung. Das ist der eigentliche Witz.

Kairos, Chronos und das Knie

Die Uhren in Santosbach tickten anders. Zeit war für uns zwar immer noch ein Instrument, um unsere zahlreichen Therapietermine einzuhalten und rechtzeitig im Speisesaal einzutreffen, damit wir nicht das Nachsehen hatten und uns die letzten Schnitzel vor der Nase weggeschnappt wurden. Dennoch hatten wir ein anderes Gefühl von Zeit. War es da ein Wunder, dass ich ausgerechnet in dieser Kur zur Wiederherstellung meiner Arbeitskraft mit den beiden konträren Begriffen von Zeit in Berührung kam? Kairos und Chronos, so erfuhr ich bei einem Vortrag des Gemeindepfarrers, der in regelmäßigen Abständen die Patienten mit Beiträgen aus Theologie oder Philosophie bei Laune hielt, sind zwei verschiedene Auffassungen von Zeit, die unser Erleben ganz unterschiedlich prägen.

Ich saß neben Thomas, ein Mitpatient und Kirchenmusiker aus Leipzig, der zu viel Kirchenmusik gemacht hatte und irgendwann zusammenbrach. Er studierte mit seinem Chor nicht nur Musical über Musical ein, sondern war auch noch für das Finanzwesen seines Kirchenbezirks zuständig. Er hatte den Zusammenbruch zwar kommen sehen, aber trotzdem weitergemacht. Zu guter Letzt zog er sich einen langwierigen und schmerzhaften Kapselriss am Kniegelenk zu, als er sein Keyboard für einen Auftritt in Halle an der Saale ins Auto lud und die Anhängekupplung übersah. Daher konnte er sich die ganzen acht Kurwochen hindurch nur am Stock fortbewegen, was ihm den Anschein gab, ein alter Mann zu sein. Doch Thomas war erst 51 Jahre alt. Und machte bereits zum zweiten Mal die Erfahrung eines kompletten Systemstillstandes, nämlich Burnout. Durch seine Nähe zu theologischen Inhalten wusste er bereits, was es mit Kairos und Chronos auf sich hat. Letzteres nennt man die Zeit, für die man Uhren braucht. Sie ist nützlich, um Termine abzustimmen, den Beginn einer Fernsehsendung nicht zu verpassen oder den Bus zu erwischen. Sie ist ein Wert, der für jeden gleiche Bedeutung hat. Kairos aber ist völlig subjektiv, eine gefühlte Zeit, eine Zeit, die tief empfunden wird und nicht einfach gemessen.