Wunder & so - Falls ich dich vermisse - Mara Andeck - E-Book

Wunder & so - Falls ich dich vermisse E-Book

Mara Andeck

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Beschreibung

Lou und Sam lieben sich, und sie kennen ihre geheimsten Gefühle. Aber der Déjà-vu-Herzfunk, der die beiden verbindet, hat auch dunkle Seiten. Das zeigt sich, als sie zu einem Ball in einem englischen Herrenhaus eingeladen werden. Zwischen Mädchen in Abendkleidern und Jungs im Frack taucht plötzlich ein mysteriöser Mann auf. Lockt die geheimnisvolle Gabe Schatten aus der Vergangenheit an? Lou und Sam wissen, dass sie der Bedrohung auf den Grund gehen müssen. Nur so hat ihre Liebe eine Zukunft ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungSommernachtKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Sommernacht

Über dieses Buch

Lou und Sam lieben sich, und sie kennen ihre geheimsten Gefühle. Aber der Déjà-vu-Herzfunk, der die beiden verbindet, hat auch dunkle Seiten. Das zeigt sich, als sie zu einem Ball in einem englischen Herrenhaus eingeladen werden. Zwischen Mädchen in Abendkleidern und Jungs im Frack taucht plötzlich ein mysteriöser Mann auf. Lockt die geheimnisvolle Gabe Schatten aus der Vergangenheit an? Lou und Sam wissen, dass sie der Bedrohung auf den Grund gehen müssen. Nur so hat ihre Liebe eine Zukunft …

Über die Autorin

Mara Andeck wurde 1967 geboren. Sie hat Journalismus und Biologie studiert, volontierte beim WDR und arbeitet heute als Wissenschaftsjournalistin. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern und ihrem Hund in einem kleinen Dorf bei Stuttgart. Wen küss ich und wenn ja, wie viele? ist ihr erstes Jugendbuch, in dem sie die Erfahrungen mit ihren Teenagertöchtern, ihre Begeisterung für Biologie und ihren Spaß an guten und lustigen Geschichten zusammenbringt. Die Fortsetzung ist bereits in Vorbereitung.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen

unter Verwendung einer Illustration von Eva Schöffmann-Davidov

Umschlagmotiv und Vignetten: Eva Schöffmann-Davidov

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8574-8

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Tobias

Sommernacht

»Wo Sam nur bleibt?« Ich reckte mich auf die Zehenspitzen und sah mich um. Der Ballsaal war wirklich überwältigend schön. Im glitzernden Licht der Kronleuchter drehten sich edel gekleidete Paare auf schimmerndem Parkett im Walzertakt. Die Seidenkleider der Mädchen glänzten in sanften Farben und schwangen bei jedem Tanzschritt mit.

Leider konnte ich Sam nirgends entdecken. Wo war er nur?

»Puh.« Amy wedelte sich mit der Hand Luft zu. »Irgendwer hat hier eindeutig zu viel Eau de Wasweißichwas aufgetragen. Wollen wir draußen warten?«

Die Flügeltüren des Saals waren weit geöffnet, und auf der Terrasse boten weiß behandschuhte Diener Erfrischungen an. Sam würde uns dort bestimmt schneller entdecken als hier im Gewühl, daher nickte ich.

Erleichtert raffte Amy ihren Rock und steuerte auf die Terrasse zu.

Als ich ihr allerdings folgen wollte, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. »Louisa Waldgraf?«

Ich fuhr herum und sah in kalte, eisblaue Augen. Der Mann, dem sie gehörten, war mir unbekannt, doch seine Gesichtszüge waren mir vertraut wie aus einem Albtraum. Sie wirkten kantig und seltsam alterslos.

»Sam wird nicht kommen.« Seine Stimme klang sanft, doch sein Blick war gefühllos und hart. »Dafür kommst du jetzt mit.«

Mir stockte der Atem. Kopfschüttelnd wich ich zurück.

Der Mann lächelte spöttisch. »Das war keine Frage, Louisa.«

Kapitel 1

Man sagt: Viele Menschen treten in dein Leben. Manche gehen einfach weiter. Andere hinterlassen Spuren darin. Ganz besondere berühren dein Herz. Bei Sam war es noch mehr. Er hat mein Herz verzaubert, und zwar für immer.

Geahnt habe ich diesen Zauber von Anfang an. Aber wirklich sicher war ich an einem merkwürdig magischen Mittwochmorgen kurz vor den Sommerferien.

Eigentlich fing dieser Tag ganz normal an. Wie so oft, seit Sam mein Freund war, hatte ich nachts von ihm geträumt. Wie jeden Morgen hatte ich ihn nach dem Aufwachen unendlich vermisst. Und wie fast immer war ich danach viel zu lang im Bett geblieben, um noch weiter an ihn zu denken.

Irgendwann fiel mein Blick auf den Wecker, ich sprang auf und stürzte ins Bad. Das Frühstück ließ ich ausfallen, genau wie das morgendliche Spielen mit Muffin, unserer Hündin, die deswegen echt enttäuscht aussah. Ging aber nicht anders. Als ich die Bushaltestelle erreichte, öffnete der Bus gerade zischend seine Türen. Es hätte wirklich keine Minute später werden dürfen.

Nach dem Einsteigen dann das übliche Chaos: Winzige Wichte rammten mir riesige Ranzen in den Magen, rempelnde Rüpel verströmten Achselschweißmief, aus Ohrstöpseln obercooler Oberstufenschülerinnen schepperte mir metallische Musik entgegen. Energisch bahnte ich mir einen Weg durch diesen Hexenkessel, um zu Amy zu kommen, die weiter hinten einen ruhigen Stehplatz ergattert hatte. Und damit meine Tasche nicht irgendwo hängen blieb, presste ich sie an mich. Vorsorglich umschloss ich dabei mit der Hand die kleine weiße Eule aus Plüsch, die seitlich dranhing, denn Sam hatte sie mir zum Abschied geschenkt, und ich wollte sie auf gar keinen Fall verlieren.

Als ich den feinen, weichen Flausch an meinen Fingern fühlte, dachte ich an den Moment zurück, als Sam sie mir geschenkt hatte. Und ich ihm seine, die genauso aussah, nur aus hellgrauem Plüsch. Wir hatten in der letzten Nacht an Bord des Schiffes Eulen getauscht, so wie andere Ringe. Unter glitzerndem Sternenhimmel, über dem funkelnden Meer. Ich wurde ganz wehmütig, als ich mich daran erinnerte. Und ich zählte die Stunden bis zu unserem Wiedersehen. Sechsundachtzig waren es noch. Dreieinhalb Tage. Wenig im Vergleich zu den sechs Wochen ohne Sam, die schon hinter mir lagen. Trotzdem viel zu viel. Im Moment kamen sie mir wie tausend Jahre vor.

Ich hatte Amy schon fast erreicht, uns trennte nur noch ein Knirps mit einem riesigen grünen Ranzen, da wurde mir auf einmal ein bisschen schwindelig. Aber nicht so, als würde ich umkippen, eher, als wäre ich plötzlich schwerelos wie eine Seifenblase und könnte schweben. Die ganze Situation fühlte sich plötzlich so seltsam vertraut an, als hätte ich mich eben schon einmal durch diesen vollen Bus gedrängelt. Aber das Gefühl war so schnell weg, wie es gekommen war, und nun stellte sich eine andere merkwürdige Empfindung ein: Ich spürte Sam plötzlich, und zwar so deutlich, als wäre er ganz nah. Was er definitiv nicht war, ich wusste genau, dass er sich ungefähr achthundert Kilometer von mir entfernt in einem englischen Internat befand.

Das alles wäre eigentlich schon seltsam genug gewesen, doch jetzt nahm ich noch etwas anderes wahr: Ich war plötzlich unglaublich traurig. Ich spürte einen richtigen Stich im Herzen und musste nach Luft schnappen vor Schmerz.

Das war nicht das normale Vermissen von eben. Es war sehr viel mehr, etwas Ähnliches hatte ich bis jetzt erst ein Mal gefühlt. Da allerdings hatte ich einen wirklich guten Grund gehabt.

Es war passiert, als ich nach unserer Schiffsreise auf dem Flughafen von Nizza Sams Hand loslassen musste, damit er in seinen und ich in meinen Flieger steigen konnte. Wir waren damals erst seit ein paar Tagen ein Paar, und wir vermissten uns schon, bevor wir auseinandergehen mussten, war ja klar. Ungefähr tausend Mal schworen wir, uns so bald wie möglich wiederzusehen, und wir waren auch sicher, dass wir das irgendwie hinkriegen würden, selbst wenn wir dafür die Welt aus den Angeln heben mussten. »Solange mein Herz schlägt, werde ich immer versuchen, in deine Nähe zu kommen«, hatte Sam mir versprochen.

Trotzdem konnten wir uns auf dem Flughafen einfach nicht loslassen. Selbst im entscheidenden Moment nicht. Wir hielten uns fest an den Händen, bis unsere Arme ganz lang waren. Bis wir wie eine lebende Straßensperre den Weg blockierten. Bis seine Finger beim nächsten Schritt aus meinen glitten, und mein Herz fast brach. Nicht nur, weil ich Sam so vermisste. Auch, weil es ihm in diesem Moment total schlecht ging, und ich das spürte. Wir hatten ja diese geheimnisvolle Verbindung zueinander, die wir Herzflüstern nannten, und wenn wir uns nah waren, fühlten wir, wie es dem anderen gerade ging. Deswegen wusste ich, wie traurig Sam in diesem Moment war. Und da war es dann plötzlich passiert. Es war, als hätten wir gegenseitig unseren Kummer gespürt, und als würde er sich dadurch verdoppeln. Und dann vervierfachen. Verachtfachen. Versechzehnfachen. Alles im Bruchteil einer Sekunde, und immer so weiter, bis der Abschiedsschmerz ein paar furchtbare Sekunden lang so unendlich wehtat, dass er kaum auszuhalten war.

Genau wie eben, nur, dass es heute gar keinen Grund dafür gab. Hey, wir würden uns in dreieinhalb Tagen sehen. Da musste man jetzt nicht schwächeln, da konnte man eigentlich schon mal anfangen, sich zu freuen. Aber das bekam ich gerade überhaupt nicht hin, und ich spürte, dass es Sam genauso ging.

»Was ist los?« Aufmerksam musterte Amy mein Gesicht. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»So ähnlich«, sagte ich, noch immer um Fassung ringend.

»Erzähl«, forderte sie mich auf.

Ich schüttelte den Kopf. Im Bus gab es zu viele neugierige Ohren für so ein Gespräch. Und was ich zu erzählen hatte, war nicht nur privat, es klang außerdem auch noch ziemlich verrückt. Zumindest für Außenstehende.

»Lieber draußen«, sagte ich deswegen kurz.

Amy warf mir einen weiteren prüfenden Blick zu, dann griff sie in ihre Tasche, zog einen roten Apfel heraus und gab ihn mir.

»Iss den erst mal«, sagte sie. »Du bist ja ganz blass. Bestimmt hast du mal wieder nichts gefrühstückt.«

Womit sie ja recht hatte. Dankbar nahm ich den Apfel und biss hinein.

Wenig später sank Amy draußen auf die Bank an der Bushaltestelle und starrte mich an. »Krass. Meinst du, das waren echt Sams Gefühle? Oder wünschst du dir das nur so sehr, dass es dir so vorkam?«

»Das glaube ich nicht.« Ich setzte mich neben sie. »Erst war da kurz dieser Déjà-vu-Schwindel, und dann hab ich Sam ganz deutlich gespürt. Und ich wusste, wie es ihm gerade ging. Also alles ganz genau wie damals auf dem Schiff. Es war sogar irgendwie, als hätte er mich auch gespürt.«

Wie gut, dass ich meiner besten Freundin alles erzählen konnte, ohne dass sie mich für bekloppt hielt. Gut aber auch, dass Amy wie immer skeptisch blieb. »Nicht ganz wie damals«, sagte sie. »Früher konntest du seine Gefühle nur spüren, wenn er ganz nah war.«

Ich nickte. »Je näher, desto besser.«

Sie runzelte die Stirn. »Betrachten wir das mal analytisch. Eigentlich gibt es ja nur drei Möglichkeiten.« Sie richtete sich auf, ihre blauen Augen blitzten. Wenn Amy etwas analysieren konnte, war sie in ihrem Element.

»Welche drei?«, wollte ich wissen.

Amy strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. Dann hob sie den Daumen. »Erstens: Sam ist hier irgendwo in der Nähe, und deswegen spürst du ihn.«

Eher unwahrscheinlich. Das wüsste ich, das hätte er mir gesagt. Trotzdem richtete ich mich unwillkürlich auf und sah mich um. Leider konnte ich nirgends auch nur ein Haar von ihm entdecken. Genau genommen war weit und breit niemand mehr, es hatte bereits geklingelt, und alle waren im Schulhaus verschwunden. Nur ein paar Spatzen stritten sich vor der Bushaltestelle um ein Stück Brot.

Jetzt hielt Amy den Zeigefinger hoch. »Zweitens: Vielleicht hast du plötzlich eine Art Fernleitung zu Sam und kannst ihn spüren, obwohl er in England ist.«

Hmmm. Möglich. Aber auch eher unwahrscheinlich. Dann hätte ich ihn doch bestimmt schon längst gespürt, unser Abschied lag schließlich viele Wochen zurück. »Und drittens?«, wollte ich wissen.

Amy zuckte mit den Schultern. »Drittens, du irrst dich und bist einfach nur völlig ausgehungert und übermüdet.«

Also, das hielt ich für absolut unwahrscheinlich. Ja, klar, ich war definitiv müde, und Hunger hatte ich auch. Aber trotzdem war ich ganz sicher, mich nicht getäuscht zu haben. »Ich nehme Möglichkeit eins. Er ist hier irgendwo«, entschied ich deswegen.

Amy zuckte mit den Schultern. »Das Leben ist kein Wunschkonzert. Ich halte zwei oder drei für wahrscheinlicher. Aber das lässt sich leicht klären, ruf Sam doch mal an.«

Was ich natürlich sofort versuchte. Leider ging er nicht dran.

»Hmmm«, brummte Amy. »Fragen über Fragen. Und jetzt können wir sie nicht beantworten. Aber eins steht fest.«

»Und das wäre?«, wollte ich wissen.

Sie dachte kurz nach. »Also, das mit diesen Déjà-vus und dem Herzflüstern ist irgendwie komplizierter als gedacht. Bisher fand ich das total romantisch und süß. Aber die Sache hat echt auch Schattenseiten. Als ich eben dein Gesicht gesehen hab, puh. Du warst richtig gelbgrün. Das muss verflixt unangenehm gewesen sein.«

»Jep«, sagte ich. »War es. Aber es war auch schnell wieder vorbei. Also halb so schlimm.« Was nicht ganz stimmte, mir ging die Sache nach, aber irgendwie wollte ich das nicht zugeben. Ich hatte die enge und fast magische Verbindung zu Sam bis eben nämlich auch ungeheuer romantisch gefunden, aber jetzt nahm sie wirklich neue Dimensionen an. Es war schön und besonders, ihm gefühlsmäßig nah zu sein, wenn wir zusammen waren. Aber so im Alltag plötzlich von fremden Gefühlen quasi überrollt zu werden, war eine andere Nummer. Damit musste ich erst mal selbst klarkommen.

Zum Glück verstand Amy mich ohne Worte. Sie lächelte mich lieb an. »Am besten, wir gehen jetzt rein, und du rufst Sam später noch mal an.« Sie erhob sich. »Mehr können wir gerade sowieso nicht tun.«

Ich schüttelte den Kopf. »Geh schon mal vor. Ich brauch noch ein bisschen Zeit für mich. Okay?«

Amy mustere mich, dann nickte sie. »Ich sag, dir sei im Bus schlecht geworden, und du müsstest noch ein paar Schritte gehen.«

Ich umarmte sie zum Abschied und beschloss, genau das zu tun, also spazieren zu gehen. Das Flussufer war nur ein paar Schritte entfernt, und da konnte ich immer gut nachdenken.

Viel Zeit dazu blieb mir allerdings nicht. Als ich das Flussufer gerade erreicht hatte, klingelte mein Handy. Sams Nummer erschien auf dem Display.

»Wo bist du?«, fragte ich statt einer Begrüßung und merkte, wie sehr ich gegen alle Vernunft hoffte, er würde gleich irgendwo aus dem Ufergebüsch springen.

»Im Park vorm Internat«, sagte er. »Hab gerade gefrühstückt, jetzt geh ich zum Unterricht. Ich hab gesehen, dass du angerufen hast. Alles okay?«

Im ersten Moment war ich enttäuscht, weil Sam eindeutig nicht in der Nähe war. Aber schon im zweiten spürte ich nur noch das warme Gefühl, das sich immer einstellte, wenn ich seine tiefe Stimme hörte.

»Alles okay«, sagte ich. »Außer … na ja, du weißt ja.«

Ich unterbrach mich, weil ich ihm das Herz nicht noch schwerer machen wollte. Dass ich ihn vermisste, wusste er, und dass er selbst traurig war, hatte ich eben im Bus deutlich gefühlt.

»Ja, ich weiß«, sagte er leise. »Ich hab dich eben gespürt. Da war …«

»Ein Déjà-vu?«, fragte ich aufgeregt. »Vor ungefähr zehn Minuten?«

»Ja!« Sam klang erstaunt. »Woher weißt du das?«

»Ich hab dich auch gefühlt«, sagte ich. »Du warst traurig.«

»Und du erst!«, stellte er fest.

»Ich hab dich vermisst«, gab ich zu.

»Und ich dich.«

Als mir klar wurde, was das bedeutete, wurden meine Knie ganz wackelig. Zum Glück war da eine niedrige Ufermauer, auf die ich mich setzen konnte. »Krass, wir haben uns gespürt«, stieß ich hervor. »Über eine Distanz von achthundert Kilometern hinweg.«

»Ja, wirklich«, meinte Sam. Er klang genauso verwirrt wie ich.

»So was gibt’s doch gar nicht«, murmelte ich.

»Tat es dir auch so weh?«, fragte Sam leise.

»Es war schrecklich«, gab ich zu. »Aber trotzdem …«

Ich brach ab, denn was ich sagen wollte, klang irgendwie komisch.

»Trotzdem waren das wir, und es gehörte irgendwie zu uns«, vervollständigte Sam meinen Satz. Und genau das hatte ich auch gedacht. Ich lächelte und dachte, wie schön es wäre, wenn er genau jetzt spüren könnte, was ich fühlte. Aber im Moment hatten wir leider keinen geheimnisvollen Draht zueinander.

Und dann kam mir eine Idee. »Hey, wenn wir wüssten, warum uns das ausgerechnet in diesem Moment passiert ist, könnten wir so was vielleicht wiederholen. Und ein bisschen steuern. Also, ich meine, vielleicht kriegen wird das dann besser hin.«

»Wie meinst du das?«, wollte Sam wissen.

»Wir könnten doch mal an was Schönes denken und dann in Verbindung treten«, überlegte ich laut. »Vielleicht schaukelt sich dann das gute Gefühl zwischen uns auch so hoch wie eben unsere Trauer, und wir werden total happy!«

»Das wäre wundervoll. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sam hatte jetzt deutlich hörbar ein Lächeln in der Stimme. Oh Mann, diese Stimme!

»Ist dir eben kurz vor diesem Moment irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, wollte ich wissen.

Er dachte kurz nach. »Eigentlich war alles wie immer.«

Ich seufzte. »Bei mir auch. Ich war im Bus. Es war eng, ich hab mich durch lauter aufgedrehte Kids geschlängelt, und ich hatte deine Eule in der Hand. Dann war da Amy und …«

»Du hattest meine Eule in der Hand?«, unterbrach mich Sam.

»Ja. Sie hing seitlich an meiner Tasche, und ich wollte nicht, dass sie sich im Gedränge irgendwo verhakt.«

»Hey, Lou.« Sam klang auf einmal ganz aufgeregt. »Ich wollte eben aus dem Speisesaal raus. Aber da waren Kids aus der Unterstufe, die reindrückten. Totales Gedränge. In der Jackentasche hatte ich deine kleine Eule, und als ich mir einen Weg durch die Zwerge gebahnt habe, hatte ich sie in der Hand. Einfach weil, ach, egal, das mach ich manchmal, wenn ich an dich denke. Und, bing, warst du da.«

»Die Eulen?«, fragte ich. »Sind das etwa Zaubereulen? Vom Souvenirshop? Nee, oder?«

»Eher unwahrscheinlich«, stimmte Sam mir zu. »Das sind garantiert einfach nur Plüscheulen. Ist aber schon ein seltsamer Zufall, dass wir sie gerade beide in der Hand hatten, oder?«

Jep, das war es. Ich dachte fieberhaft nach. Sam wohl auch, denn eine Weile blieb es ganz still in der Leitung.

»Bist du noch dran?«, fragte ich irgendwann.

»Ja«, gab er zurück. »Ich überleg gerade. Du, wir standen doch beide in diesem Moment mitten in einer Horde Kids.«

»Stimmt. Fünft- oder Sechstklässler waren das bei mir. Mit riesigen Ranzen. Der von dem Jungen direkt vor mir war …«

»Grün«, behauptete Sam.

Ich schluckte. »Er war wirklich grün. Woher …?«

Er unterbrach mich. »Vor mir war auch so ein Zwerg mit knallgrünem Ranzen.«

»Krass.«

Wieder schwiegen wir beide.

»Lou?«, fragte Sam nach einer Weile.

»Ja?« Meine Stimme versagte, und ich räusperte mich, bevor ich weitersprach. »Denkst du auch, was ich denke? Also, ich meine, vielleicht waren es nicht die Eulen, vielleicht war es einfach die Tatsache, dass wir sie beide gleichzeitig in der Hand gehalten haben.«

»Wäre möglich«, räumte Sam ein. »Welche Hand war es denn bei dir?«

»Die rechte.«

»Bei mir auch.«

Ich spann den Faden weiter. »Wir hatten beide die Eulen in der rechten Hand, haben beide auf einen grünen Schulranzen gestarrt, und um uns herum waren Gedränge und Kinderstimmen.«

»Wir haben also dasselbe gesehen. Gehört. Und gefühlt«, meinte Sam. Und dann klang er auf einmal richtig aufgeregt. »Hey, was siehst du jetzt?«

»Wasser. Ich sitze am Fluss.«

»Wasser ist gut.« Ich hörte schnelle Schritte. »Warte kurz, ich geh rüber zum Ententeich.«

»Ja, mach das. Enten sind auch gut. Hier paddeln gerade welche rum.« Ich grinste. »Dann sehen wir das Gleiche, und falls sie schnattern, hören wir sogar ähnliche Geräusche. Wenn wir dann wieder die Eulen in die rechte Hand nehmen, macht es bestimmt noch mal bing, und die Verbindung ist da.«

Ich hörte immer noch Sams Schritte. Dann wurde es still. »Ich bin jetzt am Teich«, verkündete er.

»Kannst du dich irgendwohin setzen?«

»Da ist eine Mauer.«

»Perfekt! Setz dich drauf«, bat ich ihn.

Tja, und da saßen wir nun. Er in England, ich hier. Wir starrten beide auf ein paar Enten, die in grünem Wasser rumpaddelten, hofften, dass sie quaken würden, hielten unsere Flauscheulen in der rechten Hand und warteten auf ein Wunder. Hätte mir das vor Kurzem jemand erzählt, hätte ich ihn für verrückt gehalten. Aber so war es.

»Spürt du was?«, flüsterte Sam.

»Nö«, wisperte ich. »Du?«

»Auch nicht.« Er seufzte. »Schade.«

»Warte. Nicht aufgeben«, bat ich. »Vielleicht brauchen wir noch ein ganz starkes Gefühl. Ein positives natürlich.«

»Kein Problem. Ich hätte da ein paar«, meinte Sam. »Einen ganzen Berg sogar. Alle haben übrigens was mit dir zu tun.«

»Okay.« Ich lächelte. »Dann nehmen wir eins davon. Küssen wir uns doch einfach. In Gedanken.«

»Ich wüsste nichts, was ich lieber täte«, sagte der wundervollste Junge der Welt mit ganz leiser Stimme.

Also stellte ich ihn mir vor. Seine grauen Augen, ganz nah. Seine dunklen Haare, die immer ein bisschen zerzaust waren, und die ich gern noch ein bisschen mehr verwuschelte, bevor ich ihn küsste. Einfach, weil ich dann beim Küssen sein Lächeln an meinen Lippen spüren konnte. Das schönste Gefühl, das ich kannte.

»Hey, Lou, da bist du ja«, sagte Sam plötzlich ganz sanft. »Ich kann dich fühlen.«

»Ich dich auch«, flüsterte ich, und spürte in meinem Herzen, wie schnell seins gerade schlug. Und dass es das in diesem Moment nur für mich tat. Es war, als würde ich ihn wirklich küssen. Alles um mich löste sich auf, die Zeit blieb stehen.

Kapitel 2

Ich wäre jetzt am liebsten da,

wo meine Gedanken gerade sind.

Drei Tage später sauste ich mit einer Geschwindigkeit von einhundertsechzig Stundenkilometern auf das Ziel meiner Träume zu. Ich saß neben Amy im Zug, wir fuhren gerade unter dem Ärmelkanal durch, und in knapp zwei Stunden würden wir in London sein, wo abends auch Sam eintreffen wollte. Endlich! Ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Und ihn näher kennenzulernen, denn irgendwie war das zwischen uns ja ziemlich verrückt. Wir kannten uns und kannten uns gleichzeitig nicht. Wir waren uns innerlich so nah, als wären wir schon ewig zusammen, aber wenn man alle Zeit zusammenrechnete, die wir miteinander verbracht hatten, kamen wir nur auf wenige Tage.

Am liebsten hätte ich jetzt schon per Herzflüstern Kontakt zu ihm aufgenommen, aber das ging nicht. Wir hatten zwar inzwischen festgestellt, dass wir manchmal gezielt in Verbindung treten konnten, und wir hatten das gestern sogar zwei Mal geschafft. Aber es funktionierte nur, wenn wir gleichzeitig ähnliche Dinge sahen, hörten, rochen oder fühlten, möglichst viel musste gleich sein, und selbst wenn wir das schafften, klappte es nicht immer.

Was gerade um mich herum ablief, war allerdings ziemlich einmalig, ein ähnliches Chaos konnte Sam unmöglich künstlich erschaffen. Angenommen, er würde gerade ebenfalls in einem Zug durch einen schwarzen Tunnel brausen, in einer U-Bahn zum Beispiel, würde ihn da garantiert keine Geräusch- und Geruchskulisse umgeben wie mich hier.

Das lag daran, dass Amy und ich nicht allein reisten. In dem futuristisch gestylten Großraumwagen des Zugs, der gerade unter dem Meer durchbrauste, saßen auch meine Mum, mein Dad, meine Großeltern, Amys Mum und Amys kleiner Bruder Freddy. Zwei Familien. Wir waren also zu acht. Und das war, na ja, ich sag’s mal so: Cleo hatte es wirklich gut gemeint, als sie nicht nur unsere Galatea-Clique, sondern auch unsere Familien zu einer Überraschungswoche nach England eingeladen hatte. Als Dank für die Unterstützung damals bei dieser Erpressungssache auf dem Schiff. Aber so viel Dank wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen. Sie hätte die Sache ruhig eine Nummer kleiner aufziehen können. Nur mit den Drillingen, Sam, Amy und mir.

Nichts gegen Familie, ich mag sowohl Amys als auch meine sehr. Aber so geballt wie jetzt und hier waren unsere Lieben schon auch ein bisschen strapaziös. Mum und Dad saßen auf der anderen Seite des Ganges, also quasi neben mir, und waren dauernd damit beschäftigt, mich vermeintlich zartes Pflänzchen zu hegen und zu pflegen. Die beiden sind richtige Energiebündel, sie können einfach nicht still sitzen und abschalten, und in ihrer Gärtnerei müssen sie das ja auch nicht. Da ist es gut, wenn sie wie emsige Bienen unermüdlich von Blume zu Blume summen. Hier im Zug war das aber echt anstrengend. Zumindest für mich. Ich wollte in Ruhe über Sam und das Herzflüstern nachdenken, aber dauernd war was, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.

»Wollt ihr noch Wasser?«, fragte Mum Amy und mich. »Es ist wichtig, dass ihr genug trinkt.«

Wollten wir nicht. Sie hatte das nämlich vor einer Viertelstunde schon mal gefragt. Und vor einer halben. Wir gluckerten fast bei jeder Bewegung. Mum musste anscheinend immer was gießen.

»Lou, ist dir kalt?«, fragte Dad kurz darauf. »Die Klimaanlage kühlt doch sehr stark.«

Zum Glück tat sie das. Draußen herrschten geradezu tropische Temperaturen, hier drin war es dagegen sehr angenehm.

Jetzt war Mum wieder dran. »Möchtest du vielleicht einen Kaugummi?«, wollte sie wissen. »Gegen den Druck in den Ohren? Oder einen Traubenzucker? Für den Kreislauf?«

Aber mir war weder zu kalt noch zu warm noch hatte ich zu viel Sonne noch brauchte ich Dünger. »Mir geht’s wirklich gut«, sagte ich sanft zu den beiden. »Und ich bin auch schon ziemlich groß. Fast erwachsen.«

Eine Weile blieb es neben mir still, dann lenkten meine Eltern ihre Aufmerksamkeit auf Freddy, der vor ihnen saß und definitiv ziemlich klein war. Was genau genommen auch nicht viel besser war. Freddy wollte nämlich nicht nur Kaugummi haben, er wollte es sich auch in die Haare kleben. Aber dann wollte er es da plötzlich doch nicht mehr und brüllte, bis Amys Mum das Zeug mit ihrer Nagelschere herausgeschnitten hatte.

Momo und Opa auf den beiden Sitzen vor mir konnte ich zwar weder hören noch sehen, aber dafür riechen. Einer von ihnen aß eindeutig irgendwas mit Knoblauch, und der andere ein Leberwurstbrot. Sie hatten sich Brote eingepackt, weil das Essen in Zügen immer so fad ist, dass es nicht mal nach was riecht. Auf die Idee, dass das einen Grund haben könnte, kamen die beiden gar nicht.

Die Einzige in unserer Reisegruppe, die ich weder hörte noch roch, war Amy. Sie saß ganz still neben mir, geradezu leblos, und war richtig grün um die Nase. War es der Trubel? Oder der Knoblauch-Leberwurst-Duftmix, der sie quälte?

Ich stupste sie an. »Alles okay?«

»Ich find es unheimlich, dass über uns so viel Salzwasser ist«, piepste sie kläglich. »Und Meeresboden. Schmodder. Fische. Quallen. Muscheln. Ist das nicht ein schrecklicher Gedanke?« Normalerweise war Amy in allen Lebenslagen mein Fels in der Brandung, sie ließ sich durch nichts leicht aus der Ruhe bringen. Aber im Moment war dieser Fels offenbar untergegangen. Und das sogar buchstäblich, denn wir befanden uns gerade fünfundsiebzig Meter unter dem Meeresgrund. Und damit kam Amy offenbar überhaupt nicht klar.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »In zwanzig Minuten sind wir durch den Tunnel durch«, versuchte ich sie zu beruhigen.

Doch das tröstete Amy überhaupt nicht. Sie seufzte meeresgrundtief und starrte das Fenster an, obwohl es da nichts zu sehen gab außer ihrem eigenen, sehr blassen Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte.

»Denk am besten gar nicht an das Wasser über dir!«, schlug ich vor. »Stell dir was richtig Schönes vor.«

Amy verdrehte die Augen.

»Sorry«, sagte ich zerknirscht. »Das war blöd. Man kann ja nicht absichtlich NICHT an was denken. Dazu gibt es sogar psychologische Studien. Wenn ich jetzt zum Beispiel sage: Denk nicht an einen weißen Bären, dann denkst du sofort …«

»… an einen weißen Bären«, ergänzte Amy.

»Genau«, bestätigte ich. Und dachte insgeheim: Und wer an weiße Bären denkt, denkt nicht mehr ans Meer.

»Hey, Amy«, fuhr ich fort. »Wusstest du, dass Eisbären wegen des Klimawandels jetzt bei der Nahrungssuche manchmal auf Braunbären treffen? Weil sich die Lebensräume der beiden Bärensorten überschneiden? Und dass die sich dann ab und zu sogar paaren?« Ich wollte Amy unbedingt bei dem Bärenthema festhalten. »Die Nachkommen nennt man übrigens Cappuccino-Bären.«

Es klappte! Amys Mundwinkel rutschten ein bisschen nach oben. »Und wenn sich Eisbären in Schwarzbären verlieben?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme klang schon fester.

»Dann haben die Babys Punkte und heißen Stracciatellabär«, behauptete ich. »Nee, Spaß. Aber das mit den Cappuccino-Bären stimmt echt.«

Ich hatte es geschafft, Amy lächelte. Doch dann verdüsterte sich ihr Gesicht erneut, und ich konnte förmlich zusehen, wie sie gedanklich wieder im Meer versank.

»Noch achtzehn Minuten«, sagte ich rasch.

»Du bist lieb. Aber es nützt nichts.« Amy versuchte noch einmal ein Lächeln, doch diesmal misslang es. »Ich glaub, ich hör ein bisschen Musik. Vielleicht lenkt mich das ab.«

Ich nickte. »Das hilft bestimmt.«

Mit zitternden Fingern steckte sie ihre Kopfhörer in die Ohren, dann schloss sie die Augen und ließ mich mit dem Familienchaos allein.

Um mich ebenfalls abzulenken, zog ich nun auch mein Handy aus der Tasche. Cool, obwohl wir tief in der Erde steckten, kam ich ins Internet. Eigentlich ein guter Zeitpunkt, um mehr über das Herzflüstern herauszufinden. Denn so langsam fand ich das doch ziemlich kompliziert. Mal war es da, mal weg. Mal konnten Sam und ich von fern in Verbindung treten, mal nicht einmal dann, wenn wir uns ganz nah waren. Mal war mir vorher schwindelig, und ich fühlte mich, als würde ich schweben. Mal wusste ich nur einfach plötzlich, was in Sam gerade vorging, ohne jegliches Schwebegefühl. Und manchmal tat unsere geheimnisvolle Verbindung sogar richtig weh, so wie kürzlich im Bus.

Die Déjà-vus, die diesen Momenten oft, aber nicht immer vorausgingen, hatte ich schon mehrfach gegoogelt. Aber da kam ich nicht weiter. Es gab ungefähr dreißig verschiedene Erklärungen, keine passte so richtig, und keine war bis jetzt bewiesen. Diesmal wollte ich mein Glück mit anderen Suchwörtern versuchen. Wie konnte man so was denn noch nennen? Herzfunk vielleicht? Leider war das eine Sackgasse. Als ich das Wort eingab, kam ich zu einer Aufklärungssendung für Kinder im Radio. Ich versuchte es stattdessen mit Telepathie. War das nicht was Ähnliches wie Gefühlsübertragung? Nein, leider nicht. Als ich die Ergebnisse überflog, stellte ich fest, dass es da um Gedankenübertragung ging, und dazu waren Sam und ich definitiv nicht in der Lage. Ich wusste nie, was er dachte, wir konnten nur unsere Gefühle teilen. Das ging eher in Richtung Empathie, also Mitfühlen, allerdings sogar von fern. Wie hieß das denn bloß? Vielleicht Fernempathie? Teleempathie? Tele bedeutete ja auch in Wörtern wie Telefon und Telegramm so etwas wie Fernübertragung. Ich tippte das Wort ein, erst in deutscher, dann in englischer Schreibweise, und war überrascht, dass es tatsächlich Einträge dazu gab. Nicht viele, knapp zweihundert, aber immerhin.

Rasch klickte ich mich durch die Seiten, war dann aber erst mal enttäuscht. Bei den meisten handelte es sich um Beiträge in esoterischen Foren, darin wurden vor allem Fragen zu diesem Thema gestellt und Vermutungen geäußert, Antworten gab es keine.

Nach kurzer Zeit entdeckte ich dann allerdings eine Homepage, die echt interessant war. Sie stammte von einem psychologischen Forschungsinstitut in Croydon bei London und wirkte wissenschaftlich und seriös. Die Leute arbeiteten mit der Londoner Uni zusammen, es gab die Seite nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Französisch und Deutsch. Was Wissenschaftliches war genau, was ich suchte. Auch wenn sich die Verbindung zwischen Sam und mir magisch anfühlte, glaubte ich nicht an Zauberei. Denn erstens fühlt sich Liebe ja wohl immer irgendwie magisch an. Zweitens konnten weder Sam noch ich zaubern, was schade war, aber nicht zu übersehen. Und drittens hatte die Menschheit ja schon immer Dinge für magisch gehalten, die einfach noch nicht näher erforscht waren. So was in der Art vermutete ich auch bei uns, und die Homepage sagte etwas Ähnliches: Teleempathie ist möglicherweise eine ganz normale Sinnesleistung, die im Tierreich gar nicht so selten ist, stand da. Viele Wildtiere spüren zum Beispiel, wenn sie beobachtet werden. Und man weiß, dass viele Hunde die Rückkehr ihrer Besitzer vorausahnen können. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass auch Menschen über teleempathische Fähigkeiten verfügen. Manche wissen beispielsweise Sekunden, bevor ein Telefon klingelt, wer gleich am Apparat sein wird, andere spüren den Tod geliebter Menschen über Hunderte von Kilometern hinweg.

Hmmm, das traf es zwar noch nicht ganz, aber es ging schon mal in die richtige Richtung. Aufmerksam las ich weiter.

Wir vom Psychological Science Institut Croydon (PSI) haben Experimente gemacht, die beweisen, dass Liebespaare sich emotional so nah sein können, dass ein Partner nachts dasselbe träumt wie der andere. Und es gibt sogar dokumentierte Fälle von Gefühlsübertragung zwischen Paaren.

Oha. Das war interessant. Und als ich die nächsten Zeilen überflog, wurde es noch besser: Willst du wissen, ob du selbst teleempathische Fähigkeiten hast? Unser Test ist anonym, kostenlos und dauert nur ein paar Minuten.

Jep. Genau das wollte ich! Ohne zu zögern, klickte ich auf Start, und schon ging es los: Bitte gib einen Usernamen ein, gern auch ein Pseudonym. Da musste ich nicht viel nachdenken, ich nannte mich Isa statt Lou, das tu ich in solchen Fällen immer.

Und weiter ging’s. Alter: fünfzehn. Geschlecht: weiblich. Schulabschluss: (noch) keiner. Geburtsort: Dixon. Wohnort: Zur Auswahl standen nur britische Verwaltungsbezirke, deswegen wählte ich London, da war ich ja gleich.

Frage eins: Kam dir schon einmal jemand bekannt vor, den du eigentlich gar nicht kennen konntest?

Und ob. Ich klickte auf den entsprechenden Button.

Nächste Frage: Hast du schon einmal etwas über einen Menschen gewusst, dass du eigentlich nicht wissen konntest?

Oh ja, seit ich Sam kannte, passierte das dauernd.

Frage drei: Sind solche Episoden manchmal mit Schwindelgefühlen und Déjà-vu-Erlebnissen verbunden?

Hey, das passte. Eindeutig Ja.

Weiter zu Frage vier. Zu wie vielen Personen kannst du teleempathische Verbindungen aufbauen? Antwort A, eine Person, Antwort B, zwei bis zehn Personen, Antwort C, mehr als zehn. Ich wählte Antwort A. Das Herzflüstern konnte ich bis jetzt nur zu Sam aufbauen, und das reichte mir auch. So viel Nähe zu anderen könnte echt unangenehm sein.

Fünfte Frage: Tritt dieses Phänomen in deiner Familie gehäuft auf? Haben also noch weitere Familienmitglieder solche Fähigkeiten?

Puh. Ich seufzte, als ich diese Frage las. Es gab vier Antwortmöglichkeiten: A, Eltern und Großeltern. B, Geschwister. C, Kinder und Enkel. D, das weiß ich nicht.

Ich wählte Letzteres und war insgeheim froh, meine Antwort nicht näher erklären zu müssen. Ich tu das nämlich nicht gern. Vermutlich, weil mich immer alle trösten, wenn ich irgendwo erwähne, dass meine Eltern rein biologisch betrachtet gar nicht meine Eltern sind. Dabei weiß ich, seit ich denken kann, dass Mum und Dad mich kurz nach meiner Geburt adoptiert haben, weil meine leiblichen Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Und ich weiß auch, dass meine zweiten Eltern mich lieben wir ihr eigenes Kind. Genau wie ich sie. Kein Grund also für Beileidsbekundungen, alles okay bei uns. Aber erklär das mal jemandem, der ganz feuchte Augen hat, weil er dich für ein armes, einsames Waisenkind hält. Ich war deswegen froh, das Thema mit einem Klick abhaken zu können.

Tja, zu früh gefreut. Kaum hatte ich Antwort D angekreuzt, öffnete sich ein Fenster, und ein lustig gezeichnetes Comic-Männchen, das einen weißen Arztkittel trug und eine Frisur wie Albert Einstein hatte, begrüßte mich mit einer Sprechblase: Hey, Isa, stand da. Ich bin Doktor Psi, dein automatisierter Begleiter durch diesen Psychotest. Kann ich dir helfen? Wenn du mir sagst, warum du diese Frage nicht beantworten kannst, finde ich bestimmt eine Lösung.

Unter diesem Männchen ploppten unterschiedliche Antworten auf, die ich ankreuzen konnte. Ich wählte: Ich kenne meine leibliche Familie nicht. Ich bin adoptiert.

Der Comic-Doktor runzelte seine zerfurchte Stirn. In seiner Sprechblase stand nun: Du hast gewählt: Ich kenne meine leibliche Familie nicht. Bitte teile mir deswegen alle Details mit, die du über diese Herkunftsfamilie weißt. Kennst du die Namen deiner Eltern? Ihre Nationalität? Berufe? Hobbys? Vorlieben? Jede Information kann hilfreich sein.

Ich wusste nichts dergleichen. Und ich kapierte auch echt nicht, warum irgendetwas davon hier hilfreich sein sollte. Also schrieb ich einfach nur Nein unter das alles.

Besitzt du vielleicht etwas von deinen Eltern? Hast du etwas geerbt? Haben Sie dir etwas mit auf deinen Lebensweg mitgegeben? Alles kann hier wichtig sein.

Wieder tippte ich einfach nur Nein ein.

Zum Glück war das Programm mit dieser Eingabe zufrieden. Kein Problem, Isa, stand jetzt in der Sprechblase des weißhaarigen Männchens. Ich leite dich weiter zur nächsten Frage. Bis bald! Doktor Psi winkte mir zum Abschied zu, dann schloss sich das Fenster automatisch, und die nächste Frage erschien.

Jetzt ging es um Sam. Im Test wurde er als mein Empathiepartner bezeichnet. Was für ein bescheuertes Wort, aber egal, darum ging es jetzt nicht. Ich gab die richtigen Daten ein. Alter: sechzehn. Geschlecht: männlich. Wohnort: London.

So weit war alles okay. Weiter: Datum, Uhrzeit, Adresse, nähere Umstände des ersten Empathiekontakts.

Das war leicht. Ich dachte zurück an den Harry-Potter-Shop am Londoner Flughafen, da hatte ich Sam und unsere verbindenden Déjà-vus in den Pfingstferien erstmals kennengelernt. Das war vor sechseinhalb Wochen gewesen, in der Mittagszeit.

Sofort erschien die nächste Frage. Welche Art von Beziehung besteht zwischen dir und deinem Empathiepartner? Die Antwortmöglichkeiten lauteten: Ehe, Liebe, Freundschaft, Verwandtschaft, entfernte Bekanntschaft, brieflicher beziehungsweise telefonischer Kontakt.

Autsch. Wollte ich das beantworten? Irgendwie nicht. Aber es musste sich um eine der letzten Fragen des Tests handeln und es wäre schade, jetzt zu kneifen. Also klickte ich Liebe an, obwohl sich in mir alles dagegen sträubte. Nicht wegen meiner Gefühle zu Sam, sondern weil mir das echt zu privat war. Zum Glück war der Test anonym, und in ein paar Minuten gab es Isa nicht mehr. Dann war ich wieder Lou, würde das Ergebnis lesen, alle Daten löschen und diese Seite schließen. Ein gutes Gefühl.

Nächste Frage. Wann und wo wirst du deinen Empathiepartner das nächste Mal sehen? Datum, Uhrzeit, Adresse, nähere Umstände.