Wüstenschwalben - Anka Leiko - E-Book

Wüstenschwalben E-Book

Anka Leiko

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Beschreibung

Sein Leben lang wog Kaleb sich in einem der verbliebenen Menschenzentren in Sicherheit. Durch eine magische Glaskuppel vor der tödlichen Außenwelt geschützt. Bis er sich eines Tages mit der Höchststrafe für Rechtsbrecher konfrontiert sieht – doch für welches Vergehen? Gezwungen, sich gemeinsam mit anderen Ausgestoßenen auf eine gefährliche Reise durch das Ödland zu begeben, tritt er jenen Wesen gegenüber, vor denen er von Kindesbeinen an gewarnt wurde. Um in den Schutz der Gesellschaft zurückzukehren und nicht bis in alle Ewigkeit von den Dämonen der Wüste gejagt zu werden, muss er seine Unschuld beweisen, an der er selbst mehr und mehr zweifelt. Der Kampf ums Überleben offenbart ihm schon bald die wahren Gesichter seiner Mitstreiter und die hässliche Wahrheit über seine bisher heile Welt.

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


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William Shakespeare

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 1

Hochschulzentrum

Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen.

Kaleb blinzelte noch einmal hinauf zum Himmel zu den schillernden Pünktchen. So stellte er sie sich vor, die Sterne, die er von Gemälden längst verstorbener Künstler und Dichtungen bereits vergessener Schriftsteller kannte. Die Steine in der Kuppel über ihm funkelten sanft bei Nacht und erstrahlten bei Tag wie kein anderes Material. Wahrscheinlich nannte man sie deshalb Kristalle. Irgendwo hinter ihnen mussten die richtigen Sterne am dunklen Nachtzelt glimmen.

Seit Kaleb sich erinnern konnte, erzählte man sich Geschichten über die Kristallmuster in der schützenden Glasdecke über ihm. Es seien geheime Symbole, nicht entschlüsselte Schriften. Vielleicht verrieten sie einem etwas über diejenigen, die sie erschaffen hatten, über die, die die Welt so geformt hatten, wie man sie heute kannte.

Jemand taumelte gegen Kalebs Schulter und riss ihn aus seinen Gedanken. Er torkelte einen Schritt zur Seite, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, und sah dem anderen Studenten nach, wie er mit ein paar Freunden kichernd hinter der Hausmauer verschwand. Kaleb ließ seinen Versuch, die von der Kuppel blockierten Sterne zu erspähen, ruhen und blickte zum Eingang des Gebäudes hinüber. Zeit, nach Hause zu gehen. Doch jemand fehlte noch.

Von einer Brise kühlen Oktoberwinds begleitet stieg Kaleb die drei Stufen zur Veranda hoch und drängte sich durch eine Gruppe hektisch durcheinander plappernder Menschen, um durch die offen stehende Türe ins Innere des Verbindungshauses zu schlüpfen. Im Flur angekommen überwältigte ihn die gleiche Übelkeit, die ihn vor einigen Minuten zur Flucht an die frische Luft genötigt hatte. Während er sich eine Hand auf den Bauch presste, begrüßte er mit einem Kopfnicken einen Kommilitonen, der genauso durch die Räumlichkeiten schwankte wie er selbst. Hätte Kaleb bis jetzt nicht vorgehabt, seinen Mitbewohner zu suchen und den Heimweg anzutreten, wäre ihm diese Idee spätestens in diesem Moment gekommen, als er zur Seite in den großen Spiegel gegenüber dem Garderobenständer blickte. Sein Spiegelbild bestand darauf, dass die Party jetzt vorüber war. Zumindest für ihn.

Beim Betreten des Wintergartens mit den zierlichen weißen Tischchen und Stühlen stolperte er fast über einen jungen Mann, der samt Gitarre am Boden lag und irgendetwas vor sich hin klimperte. Er zog noch mal an seinem Zigarettenstummel, als handelte es sich um den letzten Glimmstängel der Welt, und steckte ihn dann zwischen die Saiten seines Instruments. Wahrscheinlich gehörte die Gitarre nicht mal ihm, sondern einem der Jungs, die hier wohnten. Wie viel Geld ihre Familien besitzen mussten …

Auf einem Tisch qualmte ein grauer Sud vor sich hin, der Kaleb in der Lunge kratzte, als er durch die Rauchwand schlurfte. Sofort nahm er die Musik und das Stimmengewirr nur noch wie durch eine dicke Schicht Schaumgummi wahr. Seine Speiseröhre begann zu brennen, als hätte er vorhin keinen Tequila, sondern Säure auf ex gekippt.

Immer wieder musste er sich von seinen Professoren anhören, wie schädlich die Rauchschalen früher gewesen seien – genauso wie die Zigaretten, die der Gitarrentyp aus einer frischen Schachtel fummelte, und die vielen Getränke, die hier herumstanden. Und wie viel Fortschritt ihnen die Forschung gebracht habe. Aufbereitung, Reinheit, Detoxifikation, bla, bla, bla – es handelte sich nicht gerade um Kalebs Fachgebiet. Gut, der Qualm mochte für ihn wegen des Fortschritts kein Gesundheitsrisiko mehr darstellen, aber ekelhaft war er dennoch. Kaleb hielt nichts vom Inhalieren. Zu seinem Pech genossen es aber die meisten anderen Partygänger, gerade weil das Zeug rasch wirkte – und fast schon idiotensicher in der Anwendung war. Gitarrentyp musste nur daliegen und konnte ohne einen einzigen weiteren Handgriff high werden.

Auf der Fensterbank saßen zwei Studentinnen und grinsten sich an, während eine einen elektrischen Rasierer neben dem Ohr der anderen vorbeiführte. Die Typveränderung würde sie morgen bereuen. Ein Student in Badehose schlenderte mit einem Tablett an ihnen vorbei. Gab es hier etwa auch einen Pool?

Sofort griffen ein paar Hände nach den mit rosaroten Tabletten gefüllten Shotgläsern, sodass der Typ wieder kehrtmachte und in die Küche verschwand. Ah, ja, die vielversprechende Jugend von morgen. Beinahe hätte Kaleb laut vor sich hin gelacht. Es war doch ironisch, wie viel Betonung auf ihrer Studien-, Berufs-, Partner-, Familien- und Wohnortwahl und jedes andere Wort, hinter das man -wahl setzen konnte, lag. Und dann stand man hier in diesem Zirkus aus jungen Menschen, die alles versuchten, um auch nur für drei Sekunden den Druck auf ihren Schultern zu betäuben.

Kaleb schnaubte. Und wie ironisch, dass es Wahl hieß. Aber er war ja schon still! Trotz der gelegentlichen Nörgelei wusste er selbst nicht einmal, was konkret er ändern würde. Irgendein System musste es ja geben und die Generationen vor Kalebs Zeit hatten bestimmt nicht ohne Grund genau dieses errichtet. Die Senate wussten schon, was sie taten.

Er würde bestimmt das Richtige für sich finden, das ihn zu einem wertvollen Mitglied machte – das würde auch wieder etwas von dem Druck nehmen. Bis dahin durfte er sich nur nicht verrückt machen lassen.

Jemand hielt Kaleb ein Glas mit giftgrünem Likör unter die Nase, das er kopfschüttelnd ablehnte und die Zähne aufeinanderbiss. Genug war genug. Die Flüssigkeit fing vor seinen Augen zu tanzen an, bis sie mit ihrer Umgebung zu einem einzigen Wasserfarbenfiasko wie aus dem Malunterricht in der Grundschule verschwommen war.

Kaleb hatte nicht mal das Gesicht desjenigen gesehen, der ihm das hochprozentige Mundwasser angeboten hatte, da huschte der Fremde auch schon weiter und kippte es sich selbst in den Rachen.

Kalebs Spiegelbild in der Glastüre torkelte von links nach rechts, als er dieser näher kam. Der schwere, holzige Geruch waberte mittlerweile durch das halbe Haus und verwandelte Kalebs Finger in ungeschickte, geschwollene Würste, die den Türknauf nicht zu fassen bekamen. Nein, sie waren nicht wirklich dicker. Er blinzelte. Verdammt, wäre er doch nur zu Hause geblieben! Er hätte da sowieso noch diese eine Hausarbeit zu schreiben, die er seit Monaten vor sich herschob. Quantitative Datenanalyse – oder kurz Kotz! genannt. Und je mehr ihn sein schlechtes Gewissen plagte, desto länger ignorierte er die Arbeit.

Durch das Glas erkannte er eine Wand aus Büchern, deren Rücken genau wie er selbst hin und her schwankten.

Scheiß Rauch …, dachte er und legte die Hand auf die Türklinke, die er gar nicht herunterdrücken musste, da die Türe ohnehin nur angelehnt war. Nach kurzem Zögern warf er einen letzten Blick in die Heimbücherei, bevor er die Türe zuzog. Keine Ahnung warum er das tat. Vielleicht packte ihn gerade ein gewisser Beschützerinstinkt, was die hohen Regale und die kostbaren Bücher im Angesicht einer Horde besoffener Studenten anging. Hier war sein Mitbewohner schon mal nicht.

Als Kaleb wieder Richtung Flur steuerte, lud ihn ein zitronengelbes Sofa schon fast zum Hinsetzen ein. Fast. Eine Studentin mit Zuckerwattehaaren und Metallstäbchen in den Lippen thronte mit dem zufriedensten Gesichtsausdruck, den er je gesehen hatte, in der Mitte. Zu ihrer Linken ein weiterer Typ in Badehose, zu ihrer Rechten eine an einer Flasche nippende junge Frau. Die Hände der mittleren wanderten simultan auf den Oberschenkeln der anderen auf und ab.

Kaleb spürte den Schweiß auf seiner Stirn stehen, als er das Badezimmer fand, neben dem sich eine weitere Studentin an die Wand gelehnt ein Nickerchen gönnte. Als wäre er plötzlich etliche Meter gewachsen, brachte er es nur in Ultrazeitlupe und mit wackeligen Beinen zustande, über sie hinwegzusteigen. Seinen Sinn für Distanzen konnte er heute definitiv vergessen.

Vor dem Spiegel, dem er sich gar nicht stellen wollte, stützte er Kopf und Arme ein paar Minuten auf den kühlen Marmor rund um das Waschbecken. Zumindest glaubte er, dass es sich um Minuten handelte. Egal.

Er zog sich hoch, drehte am Hahn herum und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Versuchung, gleich einen Schluck davon zu nehmen, überwältigte ihn beinahe, doch er hatte keinen Bock auf eine Magenverstimmung. Das erleichterte seinen Widerstand. Wie die meisten Häuser war dieses an die Wasserversorgung mit zweitklassiger Abwasserbehandlung angeschlossen. Für die Reinigung ausreichend, Trinkwasser aber musste in Behältern abgefüllt gekauft werden.

Gleich darauf streifte Kaleb wieder durch den Flur. Wäre er doch wirklich zu Hause geblieben. Dann könnte er jetzt schon längst schlafen!

Schallendes Gelächter drang aus dem Wohnzimmer und mischte sich zur Musik, die in Kalebs Magen pulsierte. Nicht gerade vorteilhaft in seinem Zustand.

Als müsste er zwei Betonklötze mit sich ziehen, setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er in dem geräumigen Zimmer mit Ledersofa, wandgroßem Flatscreen und Esstisch mit massenhaft Flaschen, Dosen, Pappbechern und Snacks angekommen war.

»Hey, Kaleb!«, rief ein junger Mann zu ihm herüber, der Mühe hatte, den klaren Inhalt einer Glasflasche in seinen Becher zu kippen, ohne dabei eine Sauerei anzurichten.

Kaleb glaubte, ihn aus seinen Vorlesungen zu kennen. Auf jeden Fall hatte er ihn schon ein paarmal gemeinsam mit seinem Mitbewohner in der Bar nicht weit von hier getroffen. »Hi, weißt du, wo Liam ist?« Kaleb konnte kaum seine eigene Stimme hören.

»Nein, kein Plan, Mann.« Der andere Student zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Kaleb winkte ab, was den Vorteil hatte, dass er nicht noch mal Gebrauch von seiner wie in Watte gepackten Zunge machen musste, und torkelte beinahe in jemanden, der leider nicht Liam hieß.

»Kali, Kali, Kali«, säuselte Ben und legte einen seiner dicken Arme um Kalebs Hals. »Na, hast Schiss, dass Liam mit jemandem durchgebrannt ist und dich allein zurücklässt?«

Bens Freunde gaben ein grunzendes Lachen von sich. Es war ein ekelhaftes Geräusch.

»Witzig.« Kaleb war sich nicht einmal sicher, ob die anderen ihn gehört hatten. Allein in Bens Anwesenheit stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Wie einem Hund, der nur die Spur eines verhassten Artgenossen in die Nase bekommen musste, um sich für eine Rauferei zu wappnen.

»Ich glaub, dein Liebster macht heute noch Gymnastik – leider ohne dich«, sagte einer der Typen, die Kaleb nicht beim Namen kannte, und leerte seinen Becherinhalt, als wäre es Wasser. Hoffentlich war es das.

»Ja, mit deiner Freundin«, gab Kaleb zurück. Das war nicht sehr originell. Doch das waren ihre Witze über ihn und Liam auch nicht gerade.

»Uh!«, machte der Rest der Möchtegerngang im Chor, nur um dann wieder loszugackern.

Am liebsten hätte Kaleb in diesem Moment über seine eigene Bemerkung den Kopf geschüttelt, doch er hätte ja nicht nichts antworten können.

Ben und ein paar der anderen kannte Kaleb von seiner Zeit als Studienanfänger. Damals kurz nach ihrem Umzug in die Stadt hatten er und Liam sich durch Fächer wie Soziologie und Publizistik probiert. Nach ein paar begonnenen und wieder abgebrochenen Studienrichtungen nahm Liam schließlich einen Vollzeitjob als Barkeeper an und Kaleb versuchte es mit Psychologie. Liam fand schnell Anschluss – das tat er immer bei Persönlichkeiten wie Ben – doch den anderen schien irgendetwas an Liams und Kalebs Freundschaft nicht zu gefallen. Man musste auch kein Genie sein, um zu merken, dass Kaleb und Ben gänzlich andere Arten von Beziehungen pflegten.

Was hatten Ben und seine Nacheiferer gemein, außer irgendwo aufzutauchen, sich auf die Brust zu trommeln und andere auszulachen? Klar, Liam kam mit ihnen aus, er kam mit fast jedem aus, doch genau wie Kaleb nannte er nur wenige Freunde. Die beiden kannten sich jetzt schon länger als ihr halbes Leben. Ohne ihn hätte Kaleb sich wahrscheinlich niemals getraut, von zu Hause auszuziehen, seine Studiengänge zu wechseln, mit denen er unzufrieden gewesen war, und gelernt, sich manchmal selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Liam verpasste Kaleb den oft nötigen Tritt in den Hintern, während Kaleb den Ruhepol für Liam darstellte.

»Komm, mach dich mal locker.« Ben verlagerte etwas mehr Gewicht auf Kalebs Schultern und Nacken, was das Dröhnen in seinem Schädel nur noch intensivierte.

»Lass gut sein«, knurrte Kaleb und schüttelte den größeren Mann ab, der gekünstelt schockiert zurückwich. Kalebs Magen war jetzt nur noch ein einziger schmerzender Knoten, der drohte, seinen Inhalt schlagartig loswerden zu wollen.

»Oh, sorry, ich bin ja auch ein Schwein«, gab Ben mit einem verschmitzten Lächeln und hochgehobenen Händen zurück. »Bin ich dir etwa … zu nahe gekommen?«

Kaleb biss die Zähne aufeinander. Dieses Arschloch machte tatsächlich auch noch Witze darüber … Zusätzlich zum Alkohol schoss Kaleb nun die blanke Wut durch die Adern. Die Hitze rauschte seine Beine entlang, hoch in sein Gesicht, durch seine Arme, bis er seine Hände unwillkürlich zu Fäusten ballte. Er hasste es, wenn seine Wangen glühten, und er hasste es, dass diese Hohlköpfe seine Gesichtsröte für Verlegenheit halten könnten. Dabei war ihm gar nichts peinlich. Egal wie viel Spott er noch abbekommen würde.

Es hatte da diese Studentin gegeben, eine von Kalebs Kommilitoninnen, die er und Liam oft nach dem Unterricht getroffen hatten. Sie kam auch manchmal in der Bücherei der Universität vorbei, in der Kaleb ein paar Stunden die Woche arbeitete, einfach nur zum Plaudern. Er konnte sie gut leiden. Doch genau das schien das Problem zu sein. Er mochte sie als Freundin. Es dauerte nicht lange, da erhielt er regelmäßig einen leichten Stoß mit dem Ellbogen von Liam oder einem seiner Kumpels, gefolgt von einem Zwinkern, einem Tipp, wie er die Sache mit Nadja am besten weiter angehe, oder einer dringlichen Erinnerung, es nicht zu versauen. Selbst als er nach mehrmaligen Annäherungsversuchen ihrerseits und großem Unbehagen seinerseits seine Gefühle – oder deren Fehlen – mit ihr besprach, hörten die ungewollten Ratschläge nicht auf. Als Nadja eine Grenze überschritt und er ihr klarmachte, dass er wirklich nicht so empfand, wie sie es sich offenbar wünschte, begannen schließlich die dummen Sprüche. Kaleb wusste nicht, ob jemand sein Gespräch mit Nadja mitgehört oder ob sie als Antwort auf die Zurückweisung Gerüchte in Umlauf gebracht hatte. Klar war nur, dass sein Privatleben eine Zeit lang Schwerpunkt der Diskussionen seiner Freunde und deren Freunde und deren Freunde bildete. Liam sparte sich irgendwann die Kommentare, die anderen waren da leider nicht so gnädig.

Kaleb müsse blockiert, eine Jungfrau sein, wisse nicht, was ein Flirt sei. Ob er denn blind sei, ob er wisse, was ihm da entgehe. Er müsse schüchtern sein, er sabotiere sich wohl selbst, er müsse asexuell sein, der Social Justice Warrior traue sich wohl nicht, jemanden zu daten. Erst als Liam der Geduldsfaden gerissen war und er Kaleb verteidigt hatte, hatten die Witze aufgehört.

Das tat Liam immer, wenn er selbst mit Sprücheklopfen fertig war. Er verstand es zwar als seine Pflicht, Kaleb zu necken, doch wehe ein anderer übertrieb es mit den Sticheleien gegen seinen besten Freund!

Kaleb entschied sich, den Mund zu halten, um sinnlose Debatten oder weitere potenzielle Blamagen zu vereiteln. Er hatte sich daran gewöhnt, dass andere auf Dinge, die sie nicht verstanden, besonders auf eine Weise reagierten – mit Missachtung und Hohn.

»Achtung, Ben, gleich gibt’s eine Standpauke«, sagte einer der Studenten und holte Kaleb wieder ins Hier und Jetzt zurück. Noch während die Gruppe lachte, strömten andere Partygänger ins Zimmer und begrüßten Ben und seine Kumpels.

Kaleb wandte sich kopfschüttelnd ab und steuerte auf das einladende Sofa zu, auf dem er zwischen einem Dutzend Kissen versank.

Bescheuerte Party, bescheuerter Liam, ich sollte ohne ihn gehen, dachte er und schob seine Fingerspitzen in seine Hosentasche, um sein Handy herauszufischen. Sein Magen signalisierte ihm abermals mit einem Gluckern, dass er mit den konsumierten Getränken von heute nicht ganz einverstanden war.

Ein blonder Schopf wanderte durchs Wohnzimmer und ließ Kaleb die Augen zusammenkneifen.

»Liam!« Er winkte ihn zu sich. »Ich hab dich gesucht.«

Der Angesprochene war ebenfalls nicht mehr fähig, eine gerade Linie zu laufen. Also torkelte er zu seinem Freund und ließ sich neben ihn auf das weiche Sofa plumpsen.

»Weit bist du aber nicht gekommen.« Liam grinste ihn schief an. Er strich sich das fast schulterlange Haar aus der verschwitzten Stirn und fügte noch rasch hinzu: »Sorry, hab die Zeit vergessen. Was ist los?«

»Mir ist übel, ich will nach Hause und ach ja, Ben ist ein Arschloch«, nuschelte Kaleb. Oh wow, wo war seine Wut geblieben? Diese Worte hatten in seinem Kopf gerade noch viel bestimmter geklungen, doch jetzt machte er eher den Eindruck eines kleinen Kindes, das seine Zubettgehzeit überschritten hatte und deshalb zu quengeln begann.

Mittlerweile fiel es ihm schwer, die Augen offen zu halten. In seinem Rachen breitete sich ein saurer Geschmack aus.

Liam setzte gerade zu einer Antwort an, da ertönte ein glockenhelles Klingeln, das die Aufmerksamkeit aller erhaschte. Das Signal. Einmal. Zweimal. Ob es weitere Male ertönte, konnte man in dem plötzlichen Trubel nicht ausmachen.

Die anderen Studenten erhoben ihre Becher und grölten, als hätte gerade ihre Lieblingssportmannschaft ein Spiel gewonnen. Als gäbe es einen Grund zum Feiern. Nicht dass sie einen bräuchten.

Kaleb ließ seinen Kopf zurückfallen und blickte durch das Dachfenster erneut in den Himmel. Auch jetzt funkelten ihm die Kristalle von dort oben entgegen. Irgendjemand würde die riesige Kuppel nun von außen betrachten, würde unter dem schutzlosen Himmelszelt stehen. Als Strafe für was auch immer. Das Signal teilte der Bevölkerung jede einzelne Verbannung mit. Jede Verbannung in die Wüste. Das war ein ziemlich harmloser Name für das, was man sich über das weite, unbewohnte Gebiet erzählte. Nun ja, ganz unbewohnt war es ja nicht.

Zwischen schimmernden Punkten vernahm Kaleb eine Bewegung. Außerhalb der Kuppel schwang sich etwas durch die Luft, das die Anmut eines Wesens besaß, das den Großteil seiner Zeit in schwindelerregenden Höhen verbrachte.

Schwalben, dachte Kaleb. Seit er fünf Jahre alt war, bezeichnete er so die Wesen dort draußen, die er manchmal über die Kuppel hinwegfliegen sah. Es fiel ihm leichter, sie sich als Vögel vorzustellen.

Die Kristalle verschwammen zu einem einzigen unscharfen Funkeln. Kaleb zwang seine Augenlider nach oben und drehte den schweren Kopf zur Seite. Liam erging es nicht anders. Er döste bereits vor sich hin. Trotzdem musste Kaleb schmunzeln. Ohne seinen Freund wäre er wohl schon zum Einsiedler geworden, der sich wie ein Achtzigjähriger über die heutige Jugend beschwerte. Solange Liam dabei war – und ihn nicht komplett sich selbst überließ – war jede Party nur noch halb so ätzend.

Als wäre er mit der Ledercouch verschmolzen, fiel es Kaleb unheimlich schwer, auf die Beine zu kommen, um sich und Liam endlich in ihre eigene Wohnung zu verfrachten. Er sehnte sich nach seinem Bett, nach Ruhe.

Irgendwann blinzelte er und riss die Augen auf. Wann war er weg gedöst? Wie viel Zeit war vergangen?

Kaleb wurde schlagartig bewusst, dass sich die Stimmung gänzlich verändert hatte. Er konnte keine Musik mehr vernehmen, dafür ein unverständliches Gemurmel am Eingang zum Wohnzimmer. Er blinzelte noch mal. Bildete er es sich ein oder hatte eine blauhaarige Frau gerade in seine und Liams Richtung gezeigt? Mit wem sprach sie da?

Kaleb richtete sich langsam auf und hielt sich gleichzeitig den Kopf, in dem sein Puls gegen die Schädeldecke hämmerte. Als säße er auf einem Karussell, brachte die sich rotierende Umgebung ihn zum Würgen. Er hielt es hier drinnen unmöglich länger aus.

Bevor er sich erheben konnte, betraten zwei Männer das Wohnzimmer und richteten ihre Blicke direkt auf ihn. Seltsam, sie sahen überhaupt nicht aus wie die anderen Studenten, die sich tatsächlich allesamt aus dem Wohnzimmer verzogen hatten.

Hatten die Nachbarn die Polizei gerufen und sich über die Lautstärke beschwert? Nein, die waren bestimmt selbst hier zugange.

Der Schwindel, der ihn beim Aufstehen ergriff, zwang Kaleb sofort wieder zurück auf das Sofa. Sein Mund verkrampfte sich, wie er es immer kurz vorm Erbrechen tat. Kaleb schluckte. Er versuchte, die Fassung zu bewahren und die beiden Männer zu mustern, die auf ihn zusteuerten. Etwas stimmte hier nicht. Er schluckte nochmals.

Kaleb kippte zurück auf die Ansammlung von Kissen, während alles um ihn herum schwarz wurde. Nur die steinernen Mienen der beiden Fremden brannten sich ihm ins Gedächtnis, verfolgten ihn bis in seine Ohnmacht. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Kapitel 2

?

Heiß. Körnig. Kalebs Finger gruben sich in etwas, das ihn an Sand erinnerte.

Seltsam, wann war er denn nach San Moniqua gekommen? Und wie? Dort am Rande des Hochschulzentrums, an der Kuppelwand entlang verlief der einzige Strand, den er je besucht hatte. Früher hatte dieser an ein Meer gegrenzt. Tabitha, Kalebs jüngere Schwester, brannte schon seit ihrer Kindheit für die alten Sagen um die Weltmeere. Ständig hatten ihre Eltern ihr vor dem Schlafengehen Geschichten über Piraten, Meerjungfrauen und andere Meeresbewohner vorlesen müssen. Später dann, als sie alt genug war, um selbst zu recherchieren, verlagerte sich ihr Fokus auf verschiedene Arten von Gewässern, die früher angeblich den Großteil der Erdoberfläche ausgemacht hatten. Es blieb natürlich nur eine Frage der Zeit, bis sie Kaleb damals in seiner lausigen Studentenwohnung besuchen kam und ihn dazu drängte, mit ihr nach San Moniqua zu fahren. So entstand eine kleine Tradition zwischen den beiden. Sie würde ankommen und ihn über alle möglichen Studienrichtungen sowie Neuigkeiten auf dem Campus ausquetschen, dann würden sie eine Kleinigkeit essen und sich auf zum Strand machen. Dort spazierten sie oft kilometerweit durch den feinen Sand, betrachteten die Kuppel und Tabitha erzählte ihm, welche Tiere früher in den Weltmeeren gelebt hatten.

So sehr, wie sie sich für das Thema begeisterte, war Kaleb sich sicher, dass sie nach ihrem Abschluss in das Hochschulzentrum ziehen würde. Nur stellte sich die Frage, inwiefern ein Studium über ausgestorbene Tierarten, die in mittlerweile kaum mehr existenten Habitaten gelebt hatten, eine vielversprechende Ausbildung sein sollte. Wahrscheinlich würde sie ein anderes Hauptfach wählen müssen. Schließlich musste ja jeder seinen Beitrag leisten. Und das bedeutete, in irgendeiner Art und Weise wertvoll zu sein. Für die Gesellschaft. Für das System.

Trotzdem breitete sich ein Lächeln auf Kalebs Gesicht aus, wenn er daran dachte, wieder mehr Zeit mit seiner Schwester verbringen zu können. Vielleicht würden er und Liam sogar ihre Wohngemeinschaft erweitern und sich zusammen mit Tabitha nach einer größeren Bleibe umsehen. Liam würde sich an mehreren Mitbewohnern sowieso nicht stören. Er hatte nur aus Rücksicht auf Kaleb auf eine größere WG verzichtet. Er machte vielleicht den ein oder anderen Scherz darüber, doch er verstand und respektierte Kalebs Bedürfnis nach einem ungestörten Rückzugsort. Aber diese Pläne würden noch warten müssen. Erst vor ein paar Jahren hatte man das Mindestalter, um die Schule abschließen zu dürfen, auf einundzwanzig angehoben. Im Moment gab es sogar Überlegungen, es um ein weiteres Jahr zu erhöhen. Tabitha musste also auf jeden Fall noch eine Zeit lang zur Schule gehen, bevor sie studieren durfte.

Kalebs Versuch, die Augen zu öffnen, scheiterte kläglich, während die Sonne erbarmungslos auf ihn herunter stach. Blind raffte er sich in eine sitzende Position auf und hielt sich sofort den Magen. Die Übelkeit schlich sich zurück in seinen Körper, wühlte durch seine Gedärme. Ein stechender Schmerz zog sich von seiner Schädeldecke über seine Stirn und Schläfen, sammelte sich hinter den Augen.

Ihm entkam ein gequälter Laut, als er es endlich auf seine wackeligen Beine schaffte. Erneut öffnete er die Augenlider und gewöhnte sich allmählich an den elfenbeinfarbenen Sand, der das Sonnenlicht reflektierte.

Langsam sickerten Erinnerungsfetzen von letzter Nacht in sein Gedächtnis. Die Party. Der Keller mit dem Billardtisch, an dem er eine gefühlte Ewigkeit beschäftigt gewesen war. Der Frust über Liam, den er deshalb aus den Augen verloren hatte. Die Rauchschale. Ben. Das Dachfenster. Die seltsamen Männer.

Kaleb schlurfte ein paar Schritte nach vorne, hielt jedoch sofort inne, als er beinahe in ein Hindernis gelaufen wäre. Nur zaghaft realisierte er, dass er gerade auf eine Wand voller Kristalle starrte. Leuchtende Steine in Mustern angelegt.

Mit sandigen Fingern rieb er sich die Schläfe. Das Verbindungshaus, in dem die Fete stattgefunden hatte, befand sich gleich neben der Universität, also in der Mitte der Stadt. Es machte keinen Sinn, dass er am Rand des Zentrums stand. Dafür hätte er bestimmt zwei Stunden Fußmarsch zurücklegen müssen – oder mehr, wenn man seinen alkoholisierten Zustand bedachte.

Kaleb durchforstete seine verschwommenen Erinnerungen. Nichts. Keine Erklärung, wie er hierhergekommen war. Überhaupt kein Hinweis darauf, was er und Liam nach der Party gemacht hatten.

Er schielte durch die Steine, durch das Kuppelglas hindurch, entdeckte ein paar Sträucher und morsche Bäume. Sein Atem stockte. Weiter hinten verlief eine Straße, daneben standen Gebäude, Wohnhäuser, ein Lebensmittelladen. Kaleb riss den Kopf herum und starrte in die karge Weite.

Die falsche Seite!, war sein einziger Gedanke.

Mit heruntergeklapptem Kiefer wandte er sich dem Himmel zu – und bereute es sofort. Mit einer Hand über den geblendeten Augen fluchte er vor sich hin. Er hatte den blanken Himmel gesehen. Den babyblauen, nackten, ungeschützten Himmel. Keine Kuppel, keine Kristalle, nichts. Und noch wichtiger: keine Zivilisation, kein Schutz, keine Kommunikationsmöglichkeit nach innen.

Ich bin auf der falschen Seite!

Wie ein verschrecktes Tier drehte er sich einmal in alle Richtungen und wollte gerade auf die Kuppelwand zu hechten, als ihn ein Rufen erstarren ließ.

»Kaleb, halt!« Ein paar Meter neben ihm klopfte Liam sich gerade den Sand von der Hose. Kaleb hatte ihn bis jetzt gar nicht bemerkt. »Fass ja nichts an.«

»Aber wir …« Kaleb konnte den Satz nicht beenden. Stattdessen richtete er seinen Blick wieder auf die gläserne Wand vor seiner Nase. Im Grunde bestand sie gar nicht aus Glas. Deshalb hatte Liam ihn davor gewarnt, sie zu berühren. Man wusste nicht genau, woraus die Flügelwesen die Kuppeln geschaffen hatten. Sie wirkten so transparent, so hauchdünn, dass sie an Glas erinnerten, jedoch weitaus beständiger waren. Kein Kraftaufwand, kein Akt der Gewalt war bisher erfolgreich gewesen, die Gefängnisse zu durchbrechen, obwohl es Studien gab, die die Durchlässigkeit von beispielsweise Wind oder Wasser belegten. Kaleb kannte niemanden, der die Kuppel auch nur mit dem kleinen Finger berührt hatte. Er wusste nicht, was dies für einen potenziellen Schaden nach sich ziehen würde. Und jetzt, nachdem er dank Liam wieder bei klarem Verstand war, wollte er es auch nicht herausfinden.

Mit zusammengekniffenen Augen stapfte Liam näher. Er hatte einen seiner Schuhe verloren und fluchte jedes Mal, wenn sein nur mit einem Socken bekleideter Fuß auf dem glühenden Sand aufsetzte. Seit wann war es im Oktober so heiß?

Kaleb spürte die schiere Panik immer noch in seinem Inneren wüten. Sie drückte seinen Brustkorb zusammen und erschwerte ihm das Atmen. Er musste denken. Doch das war bei der Hitze fast unmöglich. Hier draußen hatte es etliche Grade mehr als im Zentrum.

Weit und breit nur Wüste. Hin und wieder ragten ein paar Büschel trockenes Gras aus dem Sand. Direkt an der Kuppelwand schlängelte sich irgendein dorniges Gestrüpp empor, das Kaleb nicht benennen konnte.

Vielleicht gab es dahinter ein Schlupfloch, einen Tunnel. Nein, das wusste er doch, die Glaswand verlief tief in den Boden hinein. Genau genommen befand sich die Stadt, in der er wohnte, in einer Kugel. Kein Weg hinein und für die meisten kein Weg hinaus. Nur der Senat besaß die nötige Technologie, um die Kuppeln zu durchdringen. Wobei Technologie bewusst schwammig klang, denn kein Zivilist wusste, ob es sich um ein Werkzeug, eine Waffe, ein chemisches Mittel oder sonst was handelte. Es könnte auch ein verdammter Zauberspruch sein!

Was zum Teufel hatte sich Kaleb zuschulden kommen lassen, um die Ehre dieses One-Way-Tickets zu erhalten?

»Sieh mal, da.« Liam zeigte auf irgendetwas in der Ferne. Kalebs trockener Mund spielte nicht mehr nach seinen Regeln. Noch nie zuvor hatte er sich so sehr gewünscht, am vergangenen Abend auf Alkohol verzichtet zu haben.

Als er keine Antwort hervorbrachte, griff Liam nach dem Ärmel seines T-Shirts und zog ihn mit sich. Weg von der Kuppel, weg von der Welt, die er kannte.

Kalebs Hals schnürte sich enger, je weiter er sich in die karge Wüstenlandschaft vorwagte. Kaleb, Liam, ihre Klassenkameraden und die Kinder aus ihrer Straße, sie alle waren mit den Geschichten über die Wesen aufgewachsen. Doch niemand wusste genau, wozu sie fähig waren. In den Schulbüchern gab es ja noch nicht einmal realitätsnahe Abbildungen von ihnen.

Liam steuerte auf eine kleine beigefarbene Ruine zu, deren Eingang ein buntes, löchriges Tuch verdeckte. Davor erkannte Kaleb eine Feuerstelle, über der ein gusseiserner Kessel hing, und ein paar hölzerne Hocker, die schief im Sand steckten.

Beiden jungen Männern perlte bereits der Schweiß von der Stirn, als sie über den nachgiebigen Untergrund eilten – eher ungeschickt stapften. Noch immer schmerzte das grelle Licht in Kalebs Augen. Er blinzelte hinüber zu Liam, dem es mit seinen hellen und viel lichtempfindlicheren Iriden nicht besser ergehen konnte.

Endlich erreichten sie die Unterkunft aus Stein. Erst jetzt ließ Liam Kalebs Ärmel los, auf dem seine Finger ein paar Schweißflecken zurückließen. Kaleb beugte sich über den Kessel und geriet in Versuchung, das Wasser darin mit bloßen Händen herauszuschöpfen. Doch er wusste nicht, ob es sicher war, es zu trinken. Hatte es jemand vorbereitet? Wie lange stand es schon in dem Kessel? War es verunreinigt? Womöglich eine Falle?

Kaleb fuhr sich mit den Händen über das kurzrasierte Haar. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er wollte nur in den Schatten, er brauchte Wasser, er musste sich beruhigen und herausfinden, was geschehen war.

Liam fasste nach dem in satten Farben schillernden Vorhang, um einen Blick in das Häuschen zu werfen, zuckte jedoch erschrocken zusammen. Kaleb tat es ihm gleich, als eine Hand aus dem Inneren der Ruine nach dem Stoff griff und ihn mit einem Ruck zur Seite zog.

»Fuck, du hast mich erschreckt!«, stieß Liam mit seinem angehaltenen Atem aus.

Im Eingang der Ruine stand eine junge Frau, die die beiden Neuankömmlinge eingehend musterte. Hinter ihr im Raum, der eine Art Badezimmer darstellte, saß am Rand der Wanne eine weitere Fremde. Sie war gerade dabei, sich eine von Laufmaschen und Löchern ruinierte Strumpfhose über die zerkratzten Beine zu ziehen. In ihrem cremefarbenen Strickkleid steckten vereinzelt trockene Blätter. Neben dem Becken, das natürlich an keine Leitungen angeschlossen war, standen zwei graue Kübel randvoll mit Wasser gefüllt.

»Alles in Ordnung?« Kaleb trat instinktiv einen Schritt näher.

Doch die Frau im Türrahmen versperrte ihm die Sicht. »Alles gut. Wir brauchen noch eine Minute.« Die Worte kamen abgehackt und emotionslos aus ihrem Mund.

Kaleb konnte ihrem Blick, ihren beinahe schwarzen Augen, die ihn erbarmungslos niederstarrten, nicht lange standhalten. Bevor er die Lider senkte, ließ die Fremde den Vorhang wieder in seine ursprüngliche Position fallen.

Sobald sie visuell von den beiden Frauen getrennt waren, wandte Liam sich an Kaleb und zog eine Augenbraue hoch. Das machte er immer, wenn er sich über etwas wunderte.

Kaleb zuckte nur mit den Achseln und deutete seinem Freund, still zu sein. Natürlich wollte er am liebsten dort hineinstürmen und die beiden mit Fragen bombardieren, da sie vielleicht mehr als er und Liam wussten. Doch sie würden sich noch einen Moment gedulden müssen.

Langsam machte sich die erste Erschöpfung bemerkbar. Kaleb war sowieso geschlaucht von letzter Nacht, hinzu kam noch die Übelkeit, die Hitze, das Adrenalin. Er blickte in die Ferne zur Glaskuppel, unter der die menschliche Zivilisation wie konserviert aussah. Wie ein Biotop, das man unter eine schützende Glocke gestellt hatte. Auf der anderen Seite des Zentrums mussten die Wohnzentren anschließen. Über den Globus verteilt besaßen die meisten Lebensräume eine einheitliche Form. An ein Hauptzentrum, also an die größte Kuppel, in der sich die wichtigsten Gebäude wie Schulen, Universitäten, Verwaltungsbezirke, Museen, Märkte und vieles mehr befanden, schlossen kleinere Glaskuppeln an, deren Sinn und Zweck es war, so viele Menschen wie möglich zu beherbergen. Die Stadt, in der Kaleb und Liam studierten, nannte man deshalb Hochschulzentrum, da sie über mehrere solcher Einrichtungen und mitunter die größte Universität mit dem vielfältigsten Studienangebot verfügte. Die Ansammlung von Zentren, also dem Hauptzentrum und den Wohnzentren – meistens vier davon – bezeichnete man als Penta. Die verschiedenen Pentas verbanden enge Tunnel, in denen Hochgeschwindigkeitszüge eine Reise- und Transportmöglichkeit zwischen den Städten bildeten. Manche dieser so genannten Highways verliefen sogar unterirdisch.

Es war also für alles gesorgt. Die Flügelwesen, die den Lebensraum für die Menschen neu formatiert hatten, waren dabei mit größter Sorgfalt vorgegangen.

Kaleb ließ sich auf einen der hölzernen Hocker sinken. Noch nie war er hier draußen in der Wüste gewesen. Wie hätte er das auch anstellen sollen? Man gelangte nicht einfach durch Zufall hierher. Schon wieder schnürte seine Kehle sich zu. Statt sich frei zu fühlen, erdrückte ihn die blanke Angst vor dem weiten Land, den Wesen, die wahrscheinlich schon auf sie warteten. Irgendetwas war hier verdammt schiefgelaufen. In die Wüste wurde man verbannt, wenn man gegen die Regeln verstieß, seinen Mitmenschen schadete. Was also hatten er und Liam hier verloren?

Nach nur wenigen Minuten kam die Frau mit den dunklen Augen aus der Ruine und legte einen Stapel zusammengelegter Stoffe auf den Hocker neben Kaleb. »Ich bin Safiya. Die Kleine drinnen heißt Olivia. Ich hab sie neben einem der Dornbüsche gefunden«, erklärte sie ohne Aufforderung. »Diese Idioten werfen uns jetzt wohl auch schon einfach im Gestrüpp ab.«

Mit Idioten meinte sie wahrscheinlich die Executive. Die Soldaten, die die Befehle des Senats ausführten.

Kaleb stellte sich und Liam vor, ehe sein Blick auf Olivia fiel, die in diesem Moment zur Gruppe stieß. Sie war jetzt in ein knöchellanges Kleid gehüllt, dazu passend schlang sie sich gerade einen Kapuzenschal aus fließendem Stoff um den Hals. Safiyas schwarze Hose und ärmelloses Oberteil bestanden aus dem gleichen federleichten Material. Als sie Kalebs Blick bemerkte, tippte sie auf den Stapel. »Ihr zieht euch auch besser um.« Damit schnappte sie sich ein paar Utensilien neben der Feuerstelle und begann, Wasser in Thermosflaschen zu füllen.

»Moment mal«, protestierte Liam. »Du hast da eine Kleinigkeit ausgelassen. Warum sind wir hier?«

Kaleb hatte schon damit begonnen, sich sein T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Er riss sich nicht gerne die Klamotten vor anderen vom Leib, jedoch lag der Fokus gerade alles andere als auf ihm.

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Safiya mit tiefer Stimme. »Sag du es mir. Du kennst dich selbst am besten.«

»Nein, ich meine, was ist mit mir und Kaleb passiert? Wir gehören nicht hierher!«

»Aber natürlich, niemand tut das.« Ein schiefes Lächeln flatterte über Safiyas Gesicht, die gerade den Verschluss der letzten Flasche zudrehte. Da sie das Wasser für trinkbar hielt, konnte Kaleb nun nicht länger widerstehen und nahm ein paar großzügige Schlucke aus dem Kessel. Anschließend schüttelte er die Hände trocken und zog den Rest seines neuen Outfits an, das sich angenehm kühl an seinen Körper legte. Eine taupefarbene Leinenhose, ein dazu passendes Hemd und genau wie Safiya und Olivia einen Kapuzenschal. Als er die weiche Kapuze über den Kopf zog, merkte er sofort, wie effizient sie die Sonne abschirmte. Was war das bloß für ein Material? Hoffentlich würde es das Schlimmste an Sonnenbränden verhindern oder den Vorgang zumindest etwas hinausschieben. Kaleb blickte zwischen Olivia und Liam hin und her. Er konnte gar nicht sagen, ob Olivias blasse Haut einen natürlichen rosastichigen Ton besaß oder ob sie bereits zu lange den grässlichen Strahlen ausgeliefert gewesen war.

Liam würde ebenfalls aufpassen müssen. Sein heller sandiger Teint war nicht ideal, um den ganzen Tag unter freiem Himmel herumzulaufen. Zumindest nicht bei diesem Wetter. Safiya mit ihrem nussbraunen und er selbst mit seinem dunklen, olivfarbenen Teint besaßen hier einen klaren Vorteil den anderen gegenüber.

Es war schwer zu sagen, wie viel Sonne ein jeder von ihnen tatsächlich vertrug, da die Kuppel die Strahlen filterte und somit abschwächte.

»Ach und du willst wissen, ob wir es verdient haben, hier zu sein?« Liam, der augenscheinlich nicht einmal daran dachte, sich umzuziehen, wurde nun ungeduldig.

Kaleb hörte es in seiner Stimme. Innerlich verdrehte er die Augen. Er hatte echt keine Lust auf Liams Diskussionsfreudigkeit – aka eine der nervigsten Dinge, die er in seinem Leben je hatte erleben dürfen.

»Nein, ich urteile nicht«, gab Safiya nüchtern zurück. Sie packte gerade Proviant in pergamentartiges Papier. Ein paar Brotscheiben, in Blätter gewickelter Käse, Weintrauben und irgendwelche Wurzeln, die Kaleb nicht kannte.

»Hier, nimm die.« Kaleb reichte seinem Freund ein Paar Ledersandalen und hoffte, ihn dadurch etwas ablenken zu können. Er kannte das kaum wahrnehmbare Kratzen in Liams Stimme, das ein ungenießbares Hin und Her einleitete.

»Warum sollten wir tun, was sie sagt? Ich kenne sie nicht mal! Wer hat sie zur Oberbefehlshaberin gekürt?« Liam hielt die Sandalen unschlüssig in der Hand und erwartete wohl eine Reaktion seitens Kaleb, die jedoch ausblieb.

Als Antwort fixierte Safiya ihn mit einem warnenden Blick. »Warum werden Menschen hierhergeschickt? Hast du das nicht in der Schule gelernt?«

Liam biss die Zähne aufeinander, sodass sein Kiefer zuckte. »Das kann nicht stimmen. Wir-«

»Wir haben alle etwas falsch gemacht«, unterbrach Safiya ihn. »Wir sind hier alle gleich.«

Noch bevor Liam erneut den Mund aufmachen konnte, mischte sich Olivia ein. »Du meinst, das hier ist kein Irrtum, du hast wirklich … ein Verbrechen begangen?« Sie sah zurück zum Badehaus, als dämmerte ihr erst jetzt, dass sie die letzten Minuten alleine mit einer möglichen Verbrecherin verbracht hatte.

»Überraschung.« Safiya zog etwas aus dem Stapel verschiedener Stoffe, das sich als Jutebeutel entpuppte. »Wie du.«

»Nein, ich … Nein«, stotterte Olivia, bevor sie innehielt. Genau wie Kaleb durchforstete sie wahrscheinlich gerade ihre Erinnerungen nach einem Fehltritt, nach einer dummen Aktion oder einem Ausrutscher, der Schuld an dem heutigen Erwachen in der Wüste sein konnte.

Liam positionierte sich neben Kaleb. »Ich will wissen, was ihr beiden angestellt habt. Sofort.«

»Hey, das könnte ich euch auch fragen.« Olivia verschränkte die Arme, doch ihre Haltung wirkte alles andere als resolut. Kaleb und sie schauten sich einen Moment in die Augen, bevor ihr Blick zu Boden flatterte.

»Ehrlich gesagt …«, begann Kaleb zögerlich und merkte, dass er neben Safiya der Einzige war, dessen Stimme nicht aufgebracht und vorwurfsvoll klang. »Ich weiß nicht, was wir falsch gemacht haben könnten. Aber … die Party gestern. Wirklich erinnern kann ich mich nicht.«

»Boa, Kay!« Liam stöhnte und fasste sich an die Stirn, als hätte sein Freund ihn gerade unwiderruflich blamiert. »Wir waren einfach besoffen. Es ist alles okay. Das muss ein Missverständnis sein.«

Kaleb schluckte schwer. Einen Filmriss zu haben, war das eine. In einem Gebiet aufzuwachen, in das die Verbrecher einer Gesellschaft verbannt wurden, um zu leiden, und noch dazu keine Erinnerung zu haben, was am Vorabend genau passiert war, war schon ein anderes Kaliber. Womöglich hatten sie nach der Party etwas angestellt. Hatte er etwas beschädigt, etwas gestohlen? Hatte er jemanden verletzt? Er versuchte, sich an Delikte zu erinnern, die mit einem Ausschluss bestraft worden waren. Meist hörte man von Hochverrat und Anschlägen auf den Senat, Besitz und Verbreitung von Waffen und vage Bezeichnungen wie friedensgefährdende Handlungen. Gerade Letzteres konnte von Fall zu Fall unterschiedlich ausgelegt und erweitert werden.

Unweigerlich hielt Kaleb den Atem an, so lange, bis seine Lungen nach Luft brüllten. Was wenn er jemandem wehgetan hatte? Auf solche Vergehen standen die höchsten Strafen. Schadete man einem anderen Menschen, besonders jemandem, der als unentbehrlich für die Gesellschaft galt, kehrte man nie wieder in die Menschenzentren zurück. Und die Verbannung in die Wüste war dann nicht das einzige Problem …

Der zickige Schlagabtausch zwischen Liam und Olivia holte Kaleb in die Realität zurück.

»Über dich weiß ich genauso wenig«, sagte Liam gerade. »Hast du Sofia schon gekannt, bevor du heute hier aufgewacht bist?«

»Mit A«, korrigierte Safiya ihn und blickte stolz auf die vier gepackten Jutebeutel zu ihren Füßen.

»Was?«

»Safiya, nicht Sofia. Aber egal, du kannst mich Saf nennen. Das sind nicht so viele Buchstaben auf einmal für dich.« Sie zwinkerte Liam zu, der etwas murmelte, das nicht einmal Kaleb verstand. Dann griff sie sich einen Beutel und warf ihn ohne Vorwarnung in Kalebs Richtung. »Auf geht’s!«

»Was? Wohin?«, fragte er mit aufgerissenen Augen. Bevor Kaleb sich den Beutel über die Schulter hing, packte er noch eine zweite Hose plus Hemd ein. Entweder würde er es brauchen oder Liam würde zur Vernunft kommen und sich umziehen wollen.

»Weg von hier, bevor der Sturm kommt.«

Sturm? Welcher Sturm? Woher sollte sie von einem Sturm wissen, wenn lediglich ein paar Wolkenfetzen am Himmel hingen und kaum ein Lüftchen wehte?

Olivia bekam ebenfalls einen Beutel zugeworfen. Anschließend marschierte Safiya los, ohne sich auch nur ein weiteres Mal umzudrehen.

»Du kennst dich hier aus?«, fragte Kaleb, bevor sie außer Hörweite lief.

»Na ja, so gut sich eben jemand auskennt, der schon mal hier war«, rief Safiya.

Kaleb, Liam und Olivia tauschten erstaunte Blicke aus. Sie sollten sich von ihrer einzigen Unterkunft entfernen? Weiter in die Wüste hinein? Hinter jemandem her, der ganz klar irgendetwas verbrochen hatte – zum zweiten Mal?

Olivia schien die in Safiya gefundene Führung noch einmal zu überdenken, fällte ihre Entscheidung und hastete Safiya hinterher. Der Stoff ihres mintgrünen Kleides schlenkerte um ihre Beine und der gleichfarbige, mit Mustern bestickte Schal kontrastierte mit ihrem rotblonden Haar.

Liam schüttelte den Kopf, als er bemerkte, wie Kaleb den beiden Frauen hinterher sah. Sie wurden in der Ferne immer kleiner.

So gut sich eben jemand auskennt, der schon mal hier war, wiederholte Kaleb Safiyas Worte in Gedanken.

Sie war ihre einzige Chance, auch nur einen Tag zu überleben, sich durchzuschlagen und herauszufinden, warum sie hier gelandet waren.

Kalebs Beine fühlten sich an wie in Zement gegossen. Er blinzelte zurück zur Kuppel, die ihm mit ihren Kristallen entgegen strahlte, als wollte sie ihn