Wüstenzauber (Band 2) - Marliese Arold - E-Book

Wüstenzauber (Band 2) E-Book

Marliese Arold

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Beschreibung

Leseabenteuer aus 1001 Nacht!

Dein Spiegel-Bestseller-Autorin Marliese Arold ("Magic Girls") erzählt die wunderbare Geschichte um die abenteuerlustige und mutige Kaufmannstochter Samira weiter!

Im Kampf gegen den mächtigen Zauberer Malik hat Samira ihre Stärke bewiesen und dazu noch loyale Freunde gewonnen. Doch ihr Vater bleibt weiterhin verschwunden. Gemeinsam mit dem Dschinn Abdul und Said setzt sie ihre Suche fort. Dabei muss sie im Umgang mit ihrer Magie noch einiges lernen. Wird sie ihren Vater je wieder in die Arme schließen können?

  • Die Fortsetzung desfantastischen Lese-Abenteuers von Dein Spiegel-Bestseller-Autorin Marliese Arold
  • Schwerpunktthemen: selbstbewusst für sich einstehen, unverzichtbare Freundschaft und gemeinsam stark sein
  • Das spannende Finale der Reihefür Kinder ab 8 Jahren
  • Für Fans von "Magic Girls" und "Ostwind"
  • Cover mit Folienprägung veredelt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 357

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Wüstenzauber

Samira und der magische Teppich

Marliese Arold

Band 2

Impressum

Alle in diesem Buch veröffentlichten Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlags gewerblich genutzt werden. Eine Vervielfältigung oder Verbreitung der Inhalte des Buchs ist untersagt und wird zivil- und strafrechtlich verfolgt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni­schen Systemen.

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an

Edition Michael Fischer GmbH Kistlerhofstr. 70 81379 München [email protected]

Bei der Verwendung im Unterricht ist auf dieses Buch hinzuweisen.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“)zu gewinnen, ist untersagt.

EIN E-BOOK DER EDITION MICHAEL FISCHER

1. Auflage 2025

© 2025 Edition Michael Fischer GmbH

Text: Marliese Arold

Cover: Cäcilie Roscher

Layout: Anna Fiedler

Satz: Cäcilie Roscher

Herstellung: Marlene Weber

Produktmanagement und Lektorat: Melanie Haitzer

Bildnachweis: Sämtliche Illustrationen stammen von Shutterstock: Wüstenlandschaft Cover: © muratart; Mädchen mit Pferd Silhouette: © majivecka; Teppich: © Pukskup; Ornamente (auch Kapitelvignette): © Anna Pogulyaeva und © clasikka; Trennendes Element im Innenteil: © Anna Pogulyaeva; Wüstenlandschaft Innenteil: © Aluna; Falke: © Shchasny; Ornament Pattern (Vor- und Nachsatz): © ReVelStockArt; Illustrationen Leseprobe: © Kristina Kister

ISBN: 978-3-7459-3132-7

www.emf-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Ein neues Pferd und eine alte Bekannte

Überraschung in der Nacht

In der Herberge Zur Grünen Schildkröte

Die Stadt der dunklen Erinnerungen

Gefahr in der Taverne

Der rätselhafte Detektiv

Auf der Suche nach dem Räuberversteck

Im Labyrinth der Felsenhöhle

Mardschan und die Räuber

Samira, die stellvertretende Räuberhauptfrau

Expedition zu einem verzauberten Kloster

Verfallene Mauern und lebendige Magie

Die Reise mit dem fliegenden Teppich

Einleitung

Ist es ein Märchen oder wahr?

Es scheint Samira sonderbar,

dass Tarik noch verschwunden ist.

Seit Wochen schon wird er vermisst.

Sie wünscht den Vater sich zurück,

das wär ihr allergrößtes Glück!

Die Suche führt in ferne Weite,

doch Said ist stets an ihrer Seite.

Es gilt, der Angst zu widerstehen,

und der Gefahr ins Aug‘ zu sehen.

Vielleicht wird Tarik dann befreit,

wenn man dem Schicksal trotzt zu zweit.

Ein neues Pferd und eine alte Bekannte

Samira verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Es war anstrengend, zu stehen und Said zuzusehen, wie er die graue Stute begutachtete. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, und der Geruch nach Pferden und Heu auf dem Tiermarkt war besonders stark.

Schließlich trat Said zurück und schüttelte den Kopf. „Nein, dieses Pferd ist auch nichts für mich.“

Samira unterdrückte ein Stöhnen. Schon seit dem frühen Morgen liefen sie auf dem Tiermarkt herum, weil Said ein Reittier kaufen wollte. Die Auswahl an Pferden, Maultieren und Kamelen war riesig, aber bisher hatte Said noch kein passendes Tier gefunden.

„Können wir mal eine Pause machen und etwas trinken?“, bat Samira. Sie hatte Durst und sehnte sich nach einem Becher mit süßem Tee.

„In Ordnung“, antwortete Said. Auch er sah angestrengt aus. Sein schwarzes Haar unter der Kopfbedeckung war verschwitzt und kringelte sich im Nacken. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist, ein Pferd zu finden.“

Sie verließen die langen Reihen mit den vielen Tieren. Wie immer hielt Samira automatisch Ausschau nach ihrer geliebten Stute Aida und dem Maultier Yara. Die Tiere waren seit einigen Wochen verschwunden, genau wie Samiras Vater Tarik, ein wohlhabender Kaufmann. Er war zu einem Geschäftstermin aufgebrochen und nicht zurückgekehrt.

Samira machte sich große Sorgen um ihren Vater. Er hätte sie niemals freiwillig alleingelassen! Und noch etwas war merkwürdig an der Sache. Normalerweise ritt Tarik nur auf seinem schwarzen Hengst Rayan. Dieser war aber im Stall der Herberge zurückgeblieben, genau wie die Stute Aida und das Maultier. Weil Tarik nicht zurückkam, hatte der Wirt der Herberge Zum Sanften Abendwind die Tiere als Bezahlung einbehalten, um sie weiterzuverkaufen. Samira hatte er davongejagt. Das dreizehnjährige Mädchen hatte sich allein und mit wenig Geld durchschlagen müssen. Mit viel Glück war es Samira gelungen, wenigstens den Hengst zurückzubekommen, und seitdem hatte Rayan sie treu und zuverlässig durch einige Abenteuer getragen.

Unterwegs hatte Samira den Flaschengeist Abdul getroffen. Er war ein echter Dschinn, besaß Zauberkräfte und hatte Samira mehrfach aus der Patsche geholfen. Schließlich hatte Samira Said kennengelernt, einen fünfzehnjährigen Jungen, der mit einer weißen Kamelstute namens Leika unterwegs war. Wie sich herausgestellt hatte, war das Kamel in Wirklichkeit eine verzauberte Prinzessin gewesen. Samira und Said hatten viele Anstrengungen und Gefahren hinter sich bringen müssen, um der Prinzessin wieder zu ihrer wahren Gestalt zu verhelfen. Samira hatte dabei ihre eigenen magischen Fähigkeiten entdeckt, die ihr jedoch noch ziemlich unheimlich waren. Prinzessin Leika hatte ihnen beim Abschied als Dank mehrere kostbare Ringe geschenkt. Von dem Gold wollte sich Said nun ein neues Reittier kaufen, weil ihm das weiße Kamel ja nicht mehr zur Verfügung stand. Er hatte Samira versprochen, ihr bei der weiteren Suche nach ihrem Vater zu helfen.

„Ich kann mich einfach nicht entscheiden“, seufzte Said, als er und Samira am Tisch einer Garküche lehnten und sich Tee einschenken ließen. „Ein Pferd kauft man schließlich nicht alle Tage, das muss gut überlegt sein.“

„Es wären schon zwei oder drei Tiere infrage gekommen“, meinte Samira, die sich mit Pferden gut auskannte. Sie hatte einen Blick dafür, ob ein Tier gesund und leistungsfähig war. Auf Tiermärkten gab es immer wieder Händler, die einem einen alten Gaul andrehen wollten. Dann brauchte man nur dem Pferd ins Maul zu schauen. Am Zustand der Zähne ließ sich erkennen, ob ein Tier jung, im mittleren Alter oder schon eher am Ende seines Lebens war. Auch Said war nicht unerfahren, was Pferde anging, aber bisher hatte keines der angebotenen Tiere seine Erwartungen erfüllen können.

Samira schloss die Finger um ihren Becher. Der Tee war noch sehr heiß und drohte, ihr die Lippen zu verbrennen. Auch Said hielt seinen Becher fest und starrte vor sich hin. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

„Du denkst an Leika“, stellte Samira fest. „Vermisst du sie?“

Wieder seufzte Said, diesmal noch tiefer als zuvor. Als er sich Samira zuwandte, stand ein unergründlicher Ausdruck in seinen braunen Augen.

„O ja“, sagte er leise. „Wir waren schließlich lange zusammen.“

Samira fühlte einen Stich in der Brust, obwohl sie wusste, dass Said sein weißes Kamel sehr geliebt hatte. Er hatte es in einem schrecklichen Zustand gefunden und sorgfältig gesund gepflegt, ohne zu ahnen, dass Leika eine Prinzessin war. Samira schloss kurz die Augen und versuchte, sich das Aussehen des wunderschönen Mädchens ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie glücklich sie gestrahlt hatte, als sie endlich erlöst worden war! Und wie anmutig ihre Figur und ihr Gesicht gewirkt hatten – eben wie bei einer echten Prinzessin. Samira konnte verstehen, dass sich Said ungern von ihr getrennt hatte. Aber Leika wollte endlich in ihr Königreich und zu ihrer Familie zurückkehren, denn dort war sie schmerzlich vermisst worden. Leika hatte Said und Samira eingeladen, sie zu besuchen, aber das musste warten, bis die beiden Samiras Vater wiedergefunden hatten.

„Ich wünschte, Leika hätte uns begleitet“, sagte Said und nahm einen Schluck Tee, der inzwischen weit genug abgekühlt war, dass man ihn trinken konnte.

Wieder spürte Samira einen kleinen Hauch Eifersucht und ärgerte sich darüber. Said war ihr Freund und Begleiter, mehr nicht. Sie halfen einander in Not und kämpften gemeinsam gegen Gefahren. Und wenn sich Said in die Prinzessin verguckt hatte, dann war das ganz allein seine Sache und hatte nichts mit Samira zu tun. Punkt.

„Ob sie wohl schon daheim ist?“, überlegte Samira laut. Ihre Stimme klang ein wenig belegt.

„Bestimmt“, erwiderte Said. „Und sicher gab es ein großes Fest anlässlich ihrer Rückkehr.“ Er seufzte ein drittes Mal. „Ach, könnte ich nur auch dabei sein!“

Vor Samiras geistigem Auge erschien ein reichhaltig geschmückter Festsaal. Fackeln brannten an den Wänden. Sie konnte fast die Musik hören, die hohen Töne der Flöten und das metallische Klingen der Zimbeln. Der Tisch war reichhaltig mit allerlei Köstlichkeiten gedeckt, das goldene Geschirr funkelte. Prinzessin Leika trug ein wunderbares türkisblaues Kleid, das die Farbe ihrer Augen betonte. Sie sah noch schöner aus als nach ihrer Verwandlung. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, und ein herzerwärmendes Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie Said erblickte. Er trug edle Gewänder und sah wie ein echter Prinz aus. Leika streckte ihre Arme aus, um ihn zum Tanz aufzufordern, und Said kam glücklich ihrem Wunsch nach. Schwungvoll drehten sich die beiden im Kreis, schneller und immer schneller.

Samira musste sich kurz an der Tischkante festklammern, weil ihr auf einmal schwindelig wurde.

„Was ist los?“ Said fasste nach ihrem Arm und hielt sie fest. „Ist dir übel?“

„Die Hitze“, keuchte Samira. „Es geht gleich wieder.“ Sie versuchte, ruhig zu atmen. Diese blöde Eifersucht! Es gab doch überhaupt keinen Grund dafür. Was musste sie sich auch immer alles ganz genau vorstellen! Samira schüttelte den Kopf, um den Schwindel und die unpassenden Gedanken loszuwerden.

„Hier, trink noch einen Schluck Tee!“ Said schob ihr seinen Becher hin, denn Samira hatte ihren schon ausgetrunken.

„Danke.“ Sie leerte das Gefäß mit einem einzigen Zug. Said gab dem Mann hinter dem Tisch einen Wink, damit er ihnen noch einmal nachschenkte.

„Die Hitze ist wirklich ganz fürchterlich“, musste Said zugeben. „Ich würde mich jetzt am liebsten in den Schatten legen und ein Nickerchen halten. Aber es hilft ja alles nichts, ich brauche unbedingt ein Pferd.“

Sie tranken den neuen Tee aus, bezahlten und gingen wieder zu den Tieren zurück. Samira hatte dröhnende Kopfschmerzen. Sie sehnte sich nach einem kühlen, verdunkelten Raum und beneidete Abdul, der in der Herberge geblieben war.

Jetzt am Nachmittag waren schon viele Käufe und Verkäufe getätigt worden, und die Reihen der Reittiere begannen sich allmählich zu lichten. Samira wich einem frischen Haufen Kamel­dung aus, während sie Said folgte. Der Junge trat mit angespannter Miene auf eine braune Kamelstute zu. Diese drehte jedoch den Kopf und bleckte angriffslustig die Zähne. Said wich zurück und prallte gegen Samira.

„Tut mir leid“, murmelte er.

„Kein Problem“, erwiderte Samira. „Von diesem Kamel lässt du besser die Finger.“

Der Besitzer des Kamels hatte ihre Worte gehört und mischte sich ein.

„Werte Herren, das liegt nur an der Hitze und an den vielen Menschen“, säuselte er. „Normalerweise ist meine Ayla so friedlich wie ein Lamm. Sie ist ausdauernd und genügsam. Ihr könntet kein besseres Reittier wählen!“

Samira unterdrückte ein Lächeln. Weil sie Männerkleidung trug, wurde sie fast immer für einen Jungen gehalten, was ihr ganz recht war. Sie trat gerne als Junge auf und nannte sich dann Samir. Auch Said war anfangs auf die Verkleidung hereingefallen und ganz entsetzt gewesen, als er herausgefunden hatte, dass es sich bei Samir um ein Mädchen handelte.

Jetzt runzelte Said skeptisch die Stirn. Als er erneut auf die Kamelstute zutreten wollte, hielt Samira ihn zurück.

„Lass es bleiben“, flüsterte sie. „Der Händler belügt uns. Mit Ayla hast du bestimmt keine Freude.“

„Wenn du das sagst“, meinte Said.

Als Tochter eines Kaufmanns kannte Samira viele Tricks, mit denen Händler minderwertige Waren anboten. Ihr Vater hatte sie gelehrt, auf die Körpersprache und vor allem auf die Hände der Verkäufer zu achten. Sie verrieten viel über einen Menschen. Als Samira ihren Vater auf den Reisen begleitet hatte, hatte sie anfangs jedem noch so durchtriebenen Händler geglaubt, weil sie von zu Hause aus gewohnt war, ehrlich zu sein. Inzwischen hatte sie einiges dazugelernt und begriffen, dass manche Leute keine Skrupel hatten, andere über den Tisch zu ziehen. Aylas Besitzer schien einer von dieser Sorte zu sein, deswegen zog sie Said ungeduldig weiter.

„Ich weiß nicht, ob ich ein Kamel oder ein Pferd kaufen soll“, gestand Said. „Ein Kamel ist ausdauernder und für die Wüste besser geeignet. Allerdings kostet ein gutes Kamel eine ganze Menge Geld. Und ein Pferd wäre wahrscheinlich eine bessere Gesellschaft für deinen Hengst Rayan.“

Samira antwortete nicht, weil sie abgelenkt war. Sie hatte einen Händler entdeckt, der jetzt erst auf dem Tiermarkt ankam und zwei Pferde neben sich herführte. Ihr Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Ein hübscher grauer Wallach tänzelte am Führstrick, dahinter zuckelte eine Schimmelstute mit vielen braunen Flecken. Obwohl sie gut genährt aussah, ließ sie traurig den Kopf hängen und nahm kaum Anteil an ihrer Umgebung.

„Komm mit!“, rief Samira Said zu. „Diese Pferde will ich mir ansehen!“ Sie stürmte los, Said folgte ihr auf dem Fuß.

„Pah, was für eine hässliche Stute“, hörte Samira ihren Begleiter sagen. „Der Wallach ist ja ganz ansehnlich, aber das andere Pferd würde ich nicht wollen, selbst wenn man es mir schenken würde.“

Empörung wallte in Samira auf. Die „hässliche Stute“ war keine andere als ihre geliebte Aida! Sie hatte sie an ihrer Ramsnase erkannt. Ein Glücksgefühl durchströmte Samira, und schlagartig waren ihre Kopfschmerzen verschwunden.

Der Händler war gerade dabei, die Tiere festzubinden, als Samira und Said ihn erreichten.

„Ich weiß, ich bin spät dran“, sagte er zu den Ankömmlingen. „Aber mein Wagen hatte auf dem Weg hierher einen Achsenbruch, sodass ich aufgehalten wurde. Haben die Herren Interesse an einem Pferd? Der Graue ist recht zuverlässig, aber erschreckt sich manchmal, sodass ich ihn nur einem erfahrenen Reiter anvertrauen würde. Bei der kleinen Stute weiß ich nicht recht. Ich denke, sie hat ganz gute Anlagen, aber irgendetwas scheint sie zu bedrücken. Vielleicht hat sie ihr Fohlen verloren oder vermisst ihren früheren Besitzer.“ Er lächelte die beiden an. „Wenn ihr den Grauen kauft, würde ich euch die Stute zu einem Spottpreis mitgeben. Die zwei Pferde haben in den letzten Tagen Freundschaft geschlossen, und es wäre nicht gut, sie schon wieder zu trennen. Aber ich kann verstehen, wenn ihr euch nicht auf einen solchen Handel einlassen wollt.“ Er seufzte ein wenig. Die Stute schien ihm wirklich am Herzen zu liegen.

Samira konnte vor Aufregung kaum sprechen. „Wir nehmen die Pferde“, sagte sie, bevor Said Einwände erheben konnte.

Als Aida Samiras Stimme hörte, hob sie den Kopf und spitzte die Ohren. In ihre stumpften Augen trat auf einmal neuer Glanz. Sie stieß ein leises Wiehern aus.

Samira konnte es kaum fassen. Sie trat auf die Stute zu und lehnte sich an ihren Hals. „Aida“, flüsterte sie zärtlich. „Endlich habe ich dich wiedergefunden!“ Sie schmiegte sich an ihr Fell und atmete den vertrauten Geruch ein.

„Nanu“, wunderte sich der Händler. „Die Stute scheint Euch gut zu kennen, oder?“

„Es stimmt“, antwortete Samira mit rauer Stimme. Sie hatte Tränen in den Augen. „Sie gehörte mir, bevor ich sie durch unglückliche Umstände verloren habe.“

„Es ist deine Aida?“, mischte sich jetzt auch Said ein. „Eines der Pferde, die dir dieser habgierige Wirt weggenommen hat?“

Samira konnte nur nicken. Aida war inzwischen wie ausgewechselt. Sie schnupperte eifrig an Samira und suchte ihre Kleidung nach einem Leckerbissen ab. Samira musste lachen.

„Tut mir leid, Aida, ich habe nichts dabei. Aber in Zukunft werde ich immer etwas für dich einstecken, versprochen.“ Freudentränen kullerten über ihre Wangen. Sie wischte sie hastig mit dem Handrücken ab.

Der Händler war ganz aus dem Häuschen. „Ich danke dem Himmel, dass ich Euch getroffen habe“, rief er überschwänglich und hob die Arme. „Das war eine Fügung des Schicksals, auch wenn ich vorhin noch geflucht habe wegen des Achsenbruchs. Es sollte so sein!“

Während Samira und Aida ihr Wiedersehen genossen, begutachtete Said den grauen Wallach. Er fand nichts an ihm auszusetzen. Das Tier war muskulös und dem Zustand der Zähne nach vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Augen und Nüstern waren klar, nichts wies auf eine Krankheit hin. Das Fell glänzte, es gab keine stumpfen oder verkrusteten Stellen. Auch die Verdauung schien vollkommen normal zu sein, denn der Wallach hob jetzt den Schwanz und setzte eine Ladung wohlgeformter Pferdeäpfel ab. Offenbar hatte der Händler sich sehr gut um ihn gekümmert.

„Und?“, fragte Samira, nachdem Said seine Untersuchung beendet hatte.

„Ich nehme ihn“, sagte Said, und der Händler strahlte. „Wie heißt er denn?“

„Sindbad“, erwiderte der Händler. Wieder hob er die Hände zum Himmel. „Ich bin so froh! Ihr scheint wahre Pferdefreunde zu sein!“

Schnell wurden die drei sich einig, was den Preis für die beiden Pferde anging. Said bezahlte mit einem von Leikas Goldringen und erhielt eine ganze Menge Münzen zurück, die er in einem kleinen Ledersäckchen verstaute.

Sie verabschiedeten sich von dem freundlichen Händler, nahmen die Pferde am Führstrick und schlugen den Weg zur Herberge ein. Samiras Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie hatte große Lust, zu hüpfen und zu singen, so sehr freute sie sich darüber, dass sie Aida wiedergefunden hatte.

Die Herberge Zur Weißen Düne lag nicht weit vom Tiermarkt entfernt und war eine einfache, aber saubere Unterkunft. Said und Samira brachten ihre Pferde in den Stall, in dem bereits Rayan stand. Der Hengst erkannte Aida wieder und begrüßte sie mit einem freundlichen Wiehern, das die Stute erwiderte. Als Samira Aida neben Rayan festband, berührten sich die beiden Pferde mit den Nüstern. Es war ein rührender Anblick.

„Hoffentlich fühlt sich Sindbad nicht ausgeschlossen“, meinte Said, während er sich um seinen Wallach kümmerte und ihn mit Futter und Wasser versorgte. Samira schleppte ebenfalls einen Eimer Wasser für Aida herbei und füllte ihre Raufe mit Heu. Sie vergewisserte sich auch, dass Rayan alles hatte, was er brauchte, aber der Stalljunge hatte sich gut um ihn gekümmert.

„Diese Herberge ist wirklich ein Glücksfall“, sagte sie zu Said, während sie mit ihm zur Gaststube ging. „Der Stall ist hell und sauber, die Pferde bekommen ausreichend Futter und die Zimmer sind frei von Ungeziefer. Auf den Reisen mit meinem Vater haben wir schon ganz andere Dinge erlebt.“

Hungrig setzten sie sich an einen freien Tisch. Sogleich kam einMädchen und fragte nach ihren Wünschen. Samira bestellte sich Granatapfelsaft und ein dickes Fladenbrot, das mit Gemüse und Ziegenkäse gefüllt war. Said entschied sich für den Gazelleneintopf und einen Krug Wasser mit Zitronensaft und Honig. Sie mussten nicht lange auf ihr Essen warten. Es war heiß und schmackhaft, und die Portionen waren reichlich.

„Puh, ich bin pappsatt!“ Nachdem Samira auch den letzten Krümel ihres Fladenbrots verputzt hatte, lehnte sie sich zurück und klopfte auf ihren Bauch. „Hoffentlich komme ich noch die Treppe hoch!“

Said grinste. „Notfalls hole ich Abdul, damit er dich trägt.“ Er trank den letzten Rest seines Wassers aus, erhob sich und streckte die Hand nach Samira aus. „Komm!“

Sie ergriff sie und ließ sich von ihm hochziehen.

Gemeinsam verließen sie die Gaststube und stiegen die hölzerne Treppe hinauf, die zu den Zimmern führte. Die zweite Tür rechts gehörte zu dem kleinen Raum, den sie sich teilten. Auf dem Boden lagen mehrere saubere Strohmatratzen, die mit einem frischen Laken bezogen waren. Auf einer ruhte Abdul in seiner vollen Größe, er hatte sich zur Wand gedreht und schnarchte. Bei jedem Atemzug bewegte sich eine seiner feuerroten Haarsträhnen. Der Turban, den er sonst fast immer trug, lag ordentlich zusammengefaltet am Kopfende der Matratze.

Samira legte die Finger auf die Lippen, um Said anzudeuten, leise zu sein. Sie wollte Abduls Schlaf nicht stören. Auch ein Dschinn brauchte seine Ruhe. Auf Zehenspitzen durchquerten Said und Samira den Raum und nahmen ihre Plätze auf den jeweiligen Matratzen ein, wo schon die regenbogenfarbenen Schlafsäcke ausgebreitet waren. Eigentlich gehörte der eine Schlafsack Samiras verschwundenem Vater, aber solange er nicht da war, durfte Said ihn benutzen.

Die Schlafsäcke, die Samiras verstorbene Mutter Djamila vor einigen Jahren genäht hatte, besaßen eine wundersame Eigenschaft: Sie hielten jegliches Ungeziefer fern – egal, ob es sich um Stechmücken oder um hungrige Ratten handelte. Djamila musste die Schlafsäcke mit einem Zauber versehen haben. Samiras Schlafsack wuchs außerdem mit, sodass sie immer genügend Platz hatte.

Während Samira in ihren Schlafsack kroch und sich hinein­kuschelte, dachte sie wieder an ihre Mutter und ein sehnsüchtiges Ziehen breitete sich in ihrer Brust aus. Es war jetzt mehr als drei Jahre her, seit Djamila gestorben war, und Samira vermisste sie trotzdem noch jeden Tag. Automatisch wanderte ihr Griff zu der hübschen Muschel, die an einem Lederband um ihren Hals hing. Das Schmuckstück war ein Geschenk von einem geheimnisvollen Seiltänzer, der Samira die Muschel kurz nach Tariks Verschwinden gegeben hatte. Manchmal glaubte Samira, die Stimme ihrer Mutter zu hören, wenn sie die Muschel ans Ohr hielt. Auch jetzt wollte sie es wieder versuchen, doch in diesem Moment schnellte Abdul hoch und setzte sich senkrecht auf.

„Wer ist hier eingedrungen? Hände hoch!“, rief er laut.

Seine roten Haare standen nach allen Seiten von seinem Kopf ab. Sie schienen beinahe zu glühen.

„Alles gut“, antwortete Said besänftigend. „Wir sind’s nur, Abdul. Beruhige dich und schlaf weiter!“

Doch Abdul war jetzt hellwach und erhob sich. Misstrauisch spähte er in jede Ecke, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich alles in Ordnung war und sich kein Fremder im Zimmer befand. Dann ließ er sich seufzend wieder im Schneidersitz nieder.

„Lasst mich raten“, sagte er. „Ihr habt auf dem Tiermarkt wieder kein passendes Pferd gefunden, aber euch in der Gaststube ordentlich den Bauch vollgeschlagen. Stimmt’s?“

„Nur halb“, sagte Samira und schälte sich wieder aus dem Schlafsack. Bevor Abdul nicht die ganze Geschichte erfahren hatte, war an Schlaf nicht zu denken. „Stell dir vor, ich habe Aida wiedergefunden, meine geliebte Stute!“

„Aida?“ Abdul runzelte die Stirn und angelte nach seinem Turbantuch, um es sich geschickt um den Kopf zu wickeln.

„Ach so, die kennst du noch gar nicht“, erinnerte sich Samira. „Aber ich habe dir ja erzählt, dass mir dieser Wirt damals die beiden Pferde und unser Maultier weggenommen hatte. Angeblich hatte mein Vater die Rechnung noch nicht beglichen.“

Wieder stieg Ärger in ihr hoch. Ihr Vater bezahlte meistens im Voraus, und sie war sich nicht sicher, ob die Behauptung des Wirts überhaupt stimmte. Auf alle Fälle waren die Tiere viel mehr wert als ein paar Übernachtungen in der Karawanserei. Der Wirt hatte sie also betrogen. Aber was hätte sie denn als Dreizehnjährige schon gegen ihn ausrichten können? Die Polizei hätte ihr kein Wort geglaubt! Die Wachen hatten ja nicht einmal etwas unternommen, als sie ihnen vom Verschwinden ihres Vaters erzählt hatte! Bei der Erinnerung ballte Samira die Fäuste. Wieder überrollte sie die Sorge um Tarik, und so bekam sie kaum mit, wie Said Abdul die Geschichte von dem zuvorkommenden Händler erzählte. Erst als er mit den Worten schloss „Sindbad scheint ein großartiges Pferd zu sein“, schreckte sie hoch.

„Aida ist auch ein tolles Pferd“, betonte sie. „Selbst wenn sie nicht besonders hübsch ist.“ Es wurmte sie immer noch, dass Said so abfällig über Aida geredet hatte, als er noch nicht gewusst hatte, wer sie war.

Abdul hatte zugehört, ohne besonders beeindruckt zu wirken. „Alles schön und gut“, murmelte er und stand wieder auf. „Aber ich bin am Verhungern. Warum habt ihr mir nichts mitgebracht?“

„Du kannst doch selbst hinunter in die Gaststube gehen“, meinte Said. „Der Eintopf schmeckt köstlich, den kann man wirklich empfehlen. Iss, so viel du magst!“ Er warf dem Dschinn ein paar Münzen zu.

Abdul brummte einen Dank und verschwand.

„Ich frage mich immer noch, wie dieser Kerl es monatelang in einer verschlossenen Flasche aushält“, sagte Said. „Er kommt ja schon vor Hunger um, wenn er mal einen halben Tag nichts zu essen hat.“

„Das ist eben eines seiner Dschinn-Geheimnisse“, antwortete Samira und nahm die kleine goldene Flasche zur Hand, die sie von einem schwer verletzten Mann bekommen hatte – ohne zu ahnen, dass ein Dschinn darin steckte. Leider hatte sie nichts mehr für den Verletzten tun können. Er war in ihren Armen gestorben. Die beiden Männer, die ihn mit einem Messer niedergestochen hatten, waren weggerannt, und Samira ha­tte ihre Zweifel, ob die Polizei sie im Nachhinein gefasst hatte. Wahrscheinlich waren sie immer noch auf freiem Fuß.

„ … nach ihm suchen?“

„Was hast du gesagt?“ Samira hatte nicht richtig zugehört.

Said wiederholte seine Frage. „Hast du schon eine Idee, wo wir nach deinem Vater suchen sollen?“

Samira seufzte. Wieder und wieder hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen. Ihr Vater konnte überall und nirgendwo sein, es war eine Suche wie nach einer Nadel im Heuhaufen. Sie hatte nur wenige Anhaltspunkte. Ihr Vater war hinter einem ganz besonderen Teppich her – dem sogenannten Tag-und-Nacht-Kelim, wie Samira inzwischen vermutete. Dieser Teppich aus Silber- und Goldfäden soll nicht nur fliegen können, sondern auch andere wundersame Eigenschaften haben. Abdul wusste, dass der Kelim das Reich der Toten und der Lebenden verband und die Grenze dazwischen überwinden konnte. Tarik hatte seine verstorbene Frau sehr geliebt, und Samira hatte den Verdacht, dass er hoffte, Djamila mithilfe des Teppichs ins Leben zurückzuholen. Aber Abdul hatte auch vor diesem magischen Teppich gewarnt. Es sei sehr gefährlich, ihn zu benutzen, und der Teppich selbst entscheide, ob derjenige, der mit ihm flog, die Schwelle zum Totenreich überquere oder nicht. Und noch riskanter sei die Rückkehr, über die wiederum nur der Teppich bestimme.

„Mein Vater sucht bestimmt nach diesem magischen Teppich“, sagte Samira jetzt. „Er hat ein großes Geheimnis darum gemacht und er wollte mich partout nicht zu der Verkaufs­verhandlung mitnehmen.“ Sie dachte nach. „Und Khaula, die Wirtin der Grünen Schildkröte, hat mir von zwei Männern erzählt, die ebenfalls von einem Teppich geredet haben und einen Käufer treffen wollten. Der eine Mann war ungefähr sechzig, der andere zwanzig Jahre alt. Der Alte soll ein schwarzes Kamel besitzen, ein einhöckriges Dromedar. Der Jüngere reitet auf einem Maultier, das eine sehr auffällige Satteldecke hat, angeblich mit Glasperlen geschmückt. Auch das Zaumzeug soll aufwendig bestickt sein.“

„Hm“, brummte Said. „Das sind ja nicht besonders viele Anhaltspunkte.“

„Ich weiß“, murmelte Samira bedrückt. „Vielleicht sollten wir diese Khaula noch einmal aufsuchen. Möglicherweise sind die Männer in den Gasthof zurückgekommen und sie kann uns mehr erzählen.“ Sie blickte unsicher zu Said. Es gab noch einen weiteren Grund, zum Gasthof Zur Grünen Schildkröte zurückzukehren. Khaula, die freundliche Wirtin, hatte vor etlichen Jahren auf einer Reise ihren zweijährigen Sohn verloren. Ein Fieber hatte die Reisegruppe erfasst. Khaulas Mann war daran gestorben, und sie selbst war lange schwer krank gewesen. Als sie endlich aus ihren Fieberträumen erwacht war, war ihr zweijähriger Sohn fort, und niemand hatte ihr sagen können, was mit ihm passiert war. Khaula hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihr Sohn noch am Leben war. Er musste in Saids Alter sein – und hieß auch Said! Das war jedoch ein häufiger Name, und Samiras Freund Said hatte nichts davon wissen wollen, dass Khaula vielleicht seine leibliche Mutter war. Er war ein Findelkind, bei Pflegeeltern aufgewachsen und hatte keine schönen Erinnerungen an seine Kindheit. Samira war jedoch insgeheim davon überzeugt, dass es eine Verbindung zwischen Khaula und Said geben musste, und sie hätte die beiden gerne zusammen­gebracht. Doch bisher hatte Said kein Interesse an einem solchen Treffen gezeigt.

Jetzt beobachtete Samira, wie Said grübelte. Er zupfte nervös an dem Stoff des Schlafsacks.

„Du redest von dieser Khaula, die vielleicht meine Mutter ist?“, fragte er dann mit rauer Stimme.

„Ja, genau“, erwiderte Samira. Sie gab sich einen Ruck. „Was hast du schon zu verlieren, Said? Wir können doch mal zu dieser Herberge reiten, und du kannst mit Khaula reden. Ganz unverbindlich.“

Said atmete tief, dann warf er ihr einen gequälten Blick zu. „Ich will mir keine falschen Hoffnungen machen, Samira. Ich habe viele Jahre davon geträumt, meine richtigen Eltern zu finden. Wie oft lag ich in der Nacht wach und malte mir das Wiedersehen aus! Und immer, wenn mich mein Pflege­vater wieder verprügelt hatte, hoffte ich, dass mein echter Vater kommen und es ihm heimzahlen würde!“ Tränen schimmerten in seinen Augen. „Ehrlich, Samira, ich habe große Angst davor, diese Khaula kennenzulernen. Angst, dass ich wieder enttäuscht werde.“ Seine Stimme war zuletzt immer leiser geworden.

Samira nickte und spürte einen Kloß im Hals. Nur zu gut konnte sie ihn verstehen! Wie oft sehnte sie sich danach, Djamila wiederzusehen! Sie wusste, dass sie alles dafür tun würde. Sie würde sich sogar auf diesen magischen Teppich setzen und ins Totenreich fliegen – falls die Gerüchte stimmten und der Kelim tatsächlich solche außerordentlichen Zauberkräfte besaß. Aber vielleicht war das alles nur gelogen, und ihr Vater jagte ganz umsonst einem Phantom nach. Möglicherweise hatte ihm diese Jagd bereits Unglück gebracht oder ihm sogar das Leben gekostet … Sie schluckte heftig.

„Aber du hast recht“, sagte Said schließlich. „Wir dürften nichts unversucht lassen, um deinen Vater zu finden. Und wenn sich herausstellen sollte, dass Khaula tatsächlich meine Mutter ist –umso besser.“ Sein plötzlich munterer Tonfall klang ein wenig gezwungen.

Samira lächelte schwach. „Danke, Said! Dann brechen wir also morgen auf und reiten zur Grünen Schildkröte. Ich hoffe, dass ich den Weg dorthin wiederfinde.

Überraschung in der Nacht

Die Kühle des Morgens lag noch in der Luft, als sie die Herberge Zur Weißen Düne verließen und losritten, aber es wurde mit jeder Minute wärmer. Samira ärgerte sich über sich selbst, denn sie war schuld an der Verzögerung ihres Aufbruchs. Sie hatte sich nicht entscheiden können, ob sie auf Aida oder Rayan reiten sollte. Noch vor wenigen Wochen wäre das kein Thema gewesen, denn Rayan war Tariks Pferd und der Hengst duldete keinen anderen Reiter auf seinem Rücken als Samiras Vater. Doch die Umstände hatten sich geändert, und inzwischen waren Samira und Rayan so miteinander vertraut, wie Samira es zuvor mit ihrer Stute Aida gewesen war. Vielleicht war die Verbindung zwischen ihr und Rayan sogar noch inniger. Samira vertraute dem Hengst mittlerweile blind. Er schien manchmal ihre Gedanken und Wünsche auf wundersame Weise zu erraten.

Doch heute Morgen hatte Samira im Stall gezögert. War es nicht ein Treuebruch gegenüber Aida, wenn sie wieder auf Rayan ritt?Die Stute hatte ihr immer brav gehorcht und sie nie in gefährliche Situationen gebracht. Sie war lammfromm und auch für ungeübte Reiter geeignet, warf niemanden ab und ging niemals durch. Selbst wenn ein Vogel plötzlich vor ihr aufflog, scheute sie nicht oder stieg gar auf die Hinterhufe. Tarik hätte kein besseres Pferd für seine Tochter finden können.

Doch in den letzten Wochen war Samira über sich hinaus­gewachsen. Anfangs notgedrungen, weil sie plötzlich auf sich allein gestellt war. Inzwischen hatte sie gelernt, dass sie sich nur weiterentwickeln konnte, wenn sie etwas wagte. So hatte sie auch ihre magischen Fähigkeiten entdeckt.

Jetzt wieder auf Aida zu steigen, kam ihr wie ein Rückschritt vor. Gleichzeitig hatte sie ein unheimlich schlechtes Gewissen. Was war nur mit ihr los? Sie hatte sich so sehr über das Wiedersehen mit Aida gefreut, und auf einmal war ihr die Stute als Reittier nicht mehr gut genug?

„Ach, Aida!“ Sie hatte die Stute umarmt und sich an ihren Hals geschmiegt. „Sei mir nicht böse, wenn ich heute wieder auf Rayan reite. Vielleicht tut es dir auch ganz gut, wenn du nur unser Gepäck tragen musst. Ich weiß ja nicht, was du in den letzten Tagen erlebt hast. Das bedeutet aber nicht, dass ich dich nicht mehr liebe, Aida, bestimmt nicht!“ Samira hatte Tränen in den Augen, als sie diese Worte aussprach.

Doch Aida hatte nur freundlich gewiehert. Es schien der Stute nichts auszumachen, an diesem Tag keine Reiterin zu tragen.

So war die Verteilung klar: Said ritt auf seinem neuen Wallach Sindbad, Samira nahm Rayan, und Abdul schrumpfte wieder zur Größe einer Banane und klammerte sich an Rayans Mähne. Said wollte Aida mit einem Strick an Sindbad anbinden, damit die Stute ihnen folgte, aber Samira schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht nötig, Said. Aida kommt auch so mit.“

„Bist du sicher?“, fragte Said nach. „Nicht, dass sie mit dem ganzen Gepäck durchgeht!“

„Keine Sorge“, meinte Samira. „Ich kenne Aida lange genug. Du kannst ihr vertrauen.“

Und so zog die kleine Karawane schließlich los und verließ den Ort in Richtung Südwesten. Bald hatten sie die Sonne im Rücken, während die Reittiere vor ihnen Schatten warfen. Als es wärmer und wärmer wurde, schützten Said und Samira ihre Nacken mit einem Tuch.

Gegen Mittag legten sie unter einer Baumgruppe eine Rast ein, aßen und tranken von ihren Vorräten, versorgten die Tiere mit Futter und ließen sie an einem kleinen Bach trinken. Samira war so müde, dass ihr die Augen zufielen und sie ein Nickerchen hielt. Als sie wieder erwachte, war die Sonne ein ganzes Stück weitergezogen.

„Warum habt ihr mich nicht geweckt?“ Samira sprang erschrocken auf und streckte ihre Glieder.

„Haben wir es denn so eilig?“, antwortete Abdul mit einer Gegenfrage. Er zog die Augenbrauen hoch. „Es ist sowieso besser, in der Mittagshitze zu ruhen. Das tut Menschen und Tieren gut.“

Samira hatte schon eine wütende Erwiderung auf den Lippen, doch sie unterdrückte sie. Abdul hatte recht, es brachte nichts, unnötig zu hetzen. Außerdem war sich Samira nicht mehr sicher, ob sie wirklich noch auf dem richtigen Weg waren. Je mehr sie sich zu erinnern versuchte, desto leerer fühlte sich ihr Kopf an. War sie wirklich schon einmal an diesem Bach vorbeigekommen? Verwechselte sie die Baumgruppe nicht mit einer anderen? Samira drehte sich im Kreis.

„Abdul“, sagte sie dann hilflos. „Weißt du noch, wo wir sind?“

Sie erntete einen vorwurfsvollen Blick von dem großen rothaarigen Dschinn.

„Ich dachte, du wüsstest es“, meinte Abdul. „Hast du heute Morgen nicht behauptet, dass du den Weg praktisch im Schlaf findest?“

Samira erinnerte sich nicht, so etwas gesagt zu haben. Aber sie war sich sicher gewesen, dass sie die Strecke schon erkennen und sich zumindest an den Kreuzungen sicher sein würde, welche Richtung sie einschlagen mussten. Doch jetzt überwog die Verwirrung. Sie wusste gar nichts mehr. Vielleicht waren sie schon die ganze Zeit den falschen Weg entlanggeritten. Sie spürte, wie Verzweiflung in ihr hochstieg, und sie musste sich auf die Lippe beißen, um die Tränen zu unterdrücken. Sie hatte versagt und ihre Gefährten in die Irre geführt!

In ihrer Not wanderte ihre Hand zu der Muschel, in der Hoffnung, dass ihr das glatte Gehäuse Trost und Zuversicht spendete. Sie sah, wie Said und Abdul stumme Blicke wechselten. Bestimmt hielten die beiden sie für völlig unfähig!

In diesem Moment ertönte ein Vogelschrei, der Samira nur zu bekannt vorkam. Sie ließ die Muschel los und beschirmte mit ihrer Hand die Augen. Und da war er wieder, der Falke, der ihnen schon öfter den Weg gewiesen und sie begleitet hatte! Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

Sie streckte den Arm aus und deutete nach oben: „Schaut mal! Unser Freund ist zurückgekehrt!“

In den vergangenen Tagen war der Falke nämlich verschwunden gewesen, und Samira hatte schon gedacht, dass er sie für immer verlassen hätte. Doch nun kreiste er erneut am Himmel. Samira war überzeugt, dass er auch diesmal voranfliegen und ihnen den richtigen Weg weisen würde.

„Wie hast du es geschafft, ihn herbeizurufen?“, fragte Said verblüfft.

„Ich habe gar nichts gemacht“, erklärte Samira. „Aber er kommt genau zur rechten Zeit!“

Abdul schüttelte seinen dicken Kopf. „Du glaubst also immer noch nicht, dass du eine besondere Begabung hast, Samira. Dabei hast du instinktiv gewusst, wie man den Sonnenstein benutzt. Und auch deine Tränen haben Zauberkraft. Wurde dir nicht gesagt, dass du eine Tränenwandlerin bist?“

Samira nickte verlegen. Sie erinnerte sich an die Worte einer geheimnisvollen alten Frau, die sie so bezeichnet hatte. Aber es war so schwer zu akzeptieren, dass all die Jahre Zauberkräfte in ihr geschlummert hatten. Wobei – auch Djamila musste über Magie verfügt haben, und Tarik beherrschte ebenfalls einige Alltagszaubereien. Er hatte seine Tochter darin unterwiesen, doch Samira hatte sich bei den Übungen immer schrecklich ungeschickt angestellt. Schließlich war sie überzeugt gewesen, völlig unbegabt zu sein.

„Es gibt bestimmt eine unsichtbare Verbindung zwischen dir und dem Falken“, meinte auch Said. „Ich wette, er würde zu dir auf die Hand kommen, wenn du es wolltest.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, behauptete Samira.

„Probier es doch einfach mal aus“, schlug Abdul vor.

„Ja, versuch es“, bekräftigte Said.

Samira blickte in die erwartungsvollen Gesichter. Sollte sie kneifen oder tatsächlich einen Versuch unternehmen, nur um den beiden zu zeigen, dass sie sich irrten?

„Na gut“, gab sie schließlich nach. Sie formte mit ihren Händen einen Trichter und rief zum Himmel: „Falke, bitte komm herab zu mir!“

Nichts geschah. Der Falke kreiste unbeeindruckt weiter.

„Seht ihr, es funktioniert nicht“, sagte Samira triumphierend. „Ihr habt beide unrecht.“

„Du hast es nicht richtig gemacht“, murrte Abdul. „Rufen kann jeder! Du musst deine Magie einsetzen!“

Said nickte. „Genauso ist es.“

Samira verdrehte die Augen. Die beiden Nervensägen würden keine Ruhe geben, ehe sie es nicht noch einmal versuchte. Sie atmete tief durch und konzentrierte sich. Suchte in ihrem Kopf nach inneren Bildern. Stellte sich vor, wie der Falke vom Himmel herabstürzte und auf ihrer Hand landete. Schloss die Lider und streckte ihren rechten Arm aus.

Komm bitte aus der Luft herab, mein gefiederter Freund, und zeig mir, dass uns wirklich ein unsichtbares Band verbindet!, dachte sie inbrünstig.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sie plötzlich das Schlagen von Flügeln hörte und sich etwas Schweres auf ihre Hand setzte. Sie konnte die scharfen Krallen auf ihrer Haut spüren, aber der Vogel war behutsam, um sie nicht zu verletzen. Überrascht öffnete Samira die Augen und begegnete seinem klugen Blick.

O ja, und ob es eine Verbindung zwischen ihr und dem stolzen Falken gab! Daran konnte sie nun wirklich nicht mehr zweifeln.

Said stieß anerkennend die Luft aus. Und auch Abdul wirkte beeindruckt.

„Danke, dass du gekommen bist, Falke.“ Samira musste schlucken. Ihre linke Hand näherte sich dem Vogel. Würde der Falke zulassen, dass sie ihn streichelte?

Der Vogel hielt still, als sie ihn berührte und sachte über sein Gefieder strich. Sein Blick ruhte unverwandt auf ihr. Samiras Herz klopfte schnell. Es war ein wunderbares Gefühl, dass der Falke ihr vertraute. Seine Federn glänzten, der Brustkorb hob und senkte sich, und als sie seine Brust streichelte, konnte sie seinen schnellen Herzschlag spüren. Einige Augenblicke schien es, als klopften ihre beiden Herzen im selben Takt – und für einen Sekundenbruchteil hatte Samira den Eindruck, als tauschten sie die Rollen und sie säße auf der Hand eines Mädchens mit Falkenaugen. Dieser magische Moment war jedoch rasch vorbei, und hinterher war Samira sich sicher, dass es nur die Hitze war, die ihr das vorgegaukelt hatte.

„Lieber Falke“, sagte sie, „kannst du uns den Weg zu Khaula zeigen, der Wirtin der Grünen Schildkröte? Leider habe ich die Orientierung verloren und weiß nicht mehr, wo ihr Gasthaus steht. Es ist wichtig, dass wir mit ihr sprechen. Bitte hilf uns!“

Der Falke plusterte sich auf und gab einen leisen Laut von sich. War das ein Ja?

Als er Anstalten machte, die Flügel zu spreizen, schwang Samira ihren Arm schwungvoll nach oben, um dem Vogel Starthilfe zu geben. Sie sah ihm nach, wie er sich in die Lüfte erhob.

„Wahnsinn!“, murmelte Said. „Was gäbe ich darum, das auch zu können! Du beeindruckst mich von Tag zu Tag mehr, Samira!“

Samira fühlte sich geschmeichelt. Sie freute sich über das Lob. Aber dann überkam sie plötzlich eine leise Traurigkeit. Gut, er bewunderte ihre Fähigkeiten. Was nutzte das schon? Er hatte doch sein Herz längst an Leika verloren!

Samiras Kehle wurde eng, und schnell verdrängte sie den Gedanken. Jetzt hatte sie anderes zu tun, als darüber nachzugrübeln. Sie mussten aufbrechen und dem Falken folgen. Jeder Tag zählte, wenn sie Tarik finden wollten!

Samiras Rücken schmerzte vom langen Ritt. Die Sonne war schon fast hinter dem Horizont verschwunden, und es wurde immer schwieriger, den Weg zu erkennen.

Said schloss zu Samira auf. „Meinst du, wir erreichen heute noch unser Ziel? Mir tut schon alles weh. Ich kann kaum noch sitzen, obwohl Sindbad wirklich einen wunderbar weichen Gang hat.“

„Ich habe keine Ahnung, wie weit es noch ist“, gestand Samira.

Bisher hatte der Falke sie treu geleitet. Auch er war am Himmel, der sich immer mehr verdunkelte, kaum noch zu sehen.

„Dann sollten wir lieber eine Pause machen und unser Nachtlager aufschlagen“, meinte Abdul. „Ich bin todmüde.“

Samira unterdrückte ein Grinsen. Der Dschinn hatte fast die ganze Zeit in der Tasche ihres Gewands geschlafen. Sie hatte ihn dorthin verfrachtet, nachdem er mehrmals auf Rayans Mähne eingedöst und fast vom Pferd gerutscht war.

„Abdul hat recht“, sagte Said. „Es hat keinen Sinn mehr weiterzureiten. Wir sehen kaum noch etwas.“

Es war eine dunkle Nacht, der Mond nur eine schmale Sichel. Zwar funkelten auch unzählige Sterne am Himmel, aber das Licht reichte nicht bis zum Boden. Bäume und Sträucher verschmolzen zu schwarzen Schatten, die finster und bedrohlich wirkten.

„Gut, wir halten an“, bestimmte Samira.

Rayan blieb prustend stehen. Sie glitt von seinem Rücken und merkte, wie steif sie war. Ihre Schritte fielen anfangs ziemlich wackelig aus, aber nach ein paar Minuten ging es wieder.

Abdul hatte sich wieder groß gezaubert und machte sich daran, das Nachtlager herzurichten. Mit seinen magischen Fähigkeiten konnte er Dinge verwandeln, vor allem, was die Größe anging. So wurden aus Kienspänen Zeltstangen und aus Halstüchern eine Art Segel, sodass im Nu ein Unterschlupf aufgebaut war. Während Said die Schlafsäcke ausrollte, versorgte Samira die Tiere. Zum Glück gab es auch hier eine kleine Wasserstelle und genügend Gras für die Pferde.

Abdul entzündete ein Lagerfeuer, und wenig später saßen sie gemütlich im Kreis und blickten in die Flammen. In einer Pfanne brutzelten Bohnen, Zwiebeln und Tomatenscheiben, dazu gab es noch kalte, hart gekochte Eier, die sie aus der Herberge mitgenommen hatten. Sie hatten auch noch reichlich Fladenbrot. Samira liebte den würzigen Geschmack von Schwarzkümmel.

„Der Falke bewacht uns“, stellte Said fest und deutete auf einen Baum, der nur noch als Silhouette zu erkennen war.

Samira nickte kauend. Es war ein beruhigendes Gefühl, dass der Falke auch in der Nacht bei ihnen war. So würden sie ihre Reise am nächsten Morgen ungehindert fortsetzen können.

Entgegen seiner vorherigen Behauptung war Abdul hellwach und begann, nach dem Essen Geschichten zu erzählen. Wieder berichtete er von seiner Zeit, als er unfreiwillig Diener bei dem bösen Zauberer Malik gewesen war. Der Magier hatte nicht nur die Prinzessin Leika in ein Kamel verwandelt, auch andere hatten eine lange Zeit als Tiere verbringen müssen und waren von Malik gefangen gehalten worden.

Samira dachte mit Schaudern an den Zauberer und daran, wie sie mit ihm gekämpft hatte. Mithilfe des Sonnensteins, einem mächtigen magischen Artefakt, war es ihr gelungen, Malik in eine weiße Kakerlake zu verwandeln und sein Nachtschloss aus blauem Glas zum Einsturz zu bringen. Der Sonnenstein war dabei verloren gegangen, und Samira wusste nicht, ob er zerstört war oder nicht. Sie hatte auch keine Ahnung, ob der Zauberer für immer unter den Trümmern seines Schlosses begraben war oder ob er sich irgendwie hatte retten können. In den letzten Nächten bereitete ihr das zunehmend Sorgen. Es war ihr und Said mit Abduls Hilfe zum Glück gelungen, den Schicksalskelch zu finden und den verwandelten Tieren ihre wahre Gestalt zurückzugeben. Dass Leika endlich wieder eine Prinzessin sein konnte, war ein großer Erfolg, und alle hatten sich darüber sehr gefreut. Aber das ungewisse Schicksal des Zauberers beunruhigte Samira. Malik war ein großer Magier, und Samira wusste nicht, ob ihre eigenen Kräfte ausgereicht hatten, um ihn dauerhaft zu besiegen. Das Böse war stark und unberechenbar …

Samira war so in Gedanken versunken, dass Said sie mit dem Ellbogen anstieß.

„Was ist los mit dir? Du hast seit einer halben Stunde kein einziges Wort mehr gesagt!“

„Entschuldige“, murmelte Samira bedrückt. „Abduls Geschichten haben mich nur wieder an Malik erinnert.“