Xanthippe - Maria Regina Kaiser - E-Book

Xanthippe E-Book

Maria Regina Kaiser

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Beschreibung

Was, wenn die sprichwörtlich gewordene Xanthippe, die Frau des Sokrates, gar kein zänkisches altes Weib war? Was, wenn sie, wie einige fragmentarische Überlieferungen andeuten, vielmehr eine junge und intelligente Frau war? Dieser historische Roman mit aktuellen Bezügen erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe und Emanzipation im Athen der klassischen Antike – auch so könnte es gewesen sein. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Maria Regina Kaiser

Xanthippe

Schöne Braut des Sokrates

FISCHER E-Books

 

Roman

Inhalt

Die Frau in der [...]Darin (im Gefängnis) fanden [...]Für Uli G. [...]Xanthippe, das blonde PferdDas GeheimnisDer MenschenfängerDie Äpfel des SokratesDas Haus hinter der PappelIm Monat PosideonDemeters FestGlück oder UnglückLeiden zu groß, um zu weinenMilonDas magische EidolonDie ThessalierinAuf Chalkos’ RückenFünfzehn Jahre späterNachwort

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Darin (im Gefängnis) fanden wir den Sokrates soeben frei von Fesseln und neben ihm Xanthippe, die du kennst. Sie trug sein jüngstes Söhnchen auf den Armen. Als uns Xanthippe sah, erhob sie lautes Wehklagen und redete so recht nach Frauenart: »Ach, Sokrates, nun ist’s zum letztenmal, daß deine Freunde dir noch etwas sagen können und du ihnen.« Da blickte Sokrates zu Kriton hin und sagte:

»Sorg du dafür, mein Kriton, daß sie gut nach Hause kommt.«

Platon, Phaidon

Für Uli G.

Xanthippe, das blonde Pferd

Auf dem Herd brodelte es in einem gewaltigen Kupferkessel, daneben standen zwei Tonkrüge mit frischem, kühlem Wasser, das Philippos für seine Schwester vom Brunnenhaus geholt hatte. Einige Nachbarinnen drängten sich um das neue, krokusgelbe Prozessionskleid, das ausgebreitet auf dem gescheuerten Tisch lag.

»Die Tochter des Lysimachos ist für ein Mädchen von vierzehn Jahren zu groß geraten und viel zu dünn«, flüsterte eine der Frauen, als Xanthippe aus ihrer Kammer trat.

»Sie hat nicht einmal eine Andeutung von Brüsten«, sagte eine andere.

Das tröstete die Frauen, denn keine von ihnen war als junges Mädchen, wie Xanthippe, auserwählt worden, mit dem Schiff nach Delos zum Apollonheiligtum zu fahren, um am heiligen Tanz vor dem Hörneraltar teilzunehmen. Nur die sieben schönsten Mädchen Athens wurden einmal im Jahr zusammen mit den sieben schönsten Jünglingen nach Delos entsandt.

»Der alte Sokrates muß schon halb blind sein«, tuschelten die Nachbarinnen. »Oder er ist verblendet von Philippos.« Der Triumph der alten Frauen.

Was Sokrates betrifft, so hatten sie nicht ganz unrecht. Er hatte Xanthippe dem Rat der Stadt für die Prozession nach Delos vorgeschlagen, obwohl er sie nicht kannte, nur von ferne gesehen hatte. Aber er war ein Freund von Philippos, der seiner Schwester sehr ähnlich sah, denn sie waren Zwillinge. Und er war ein merkwürdiger, häßlicher Kauz, schon über fünfzig, die Glatze war eingerahmt von einem Kranz roter Haare, und er war nicht sehr sauber, aber einflußreich. Xanthippe hatte gehört, daß er in Alopeke, dem Stadtteil, in dem das Haus des Lysimachos stand, aufgewachsen war und in der Steinmetzwerkstatt seines Vaters Götterbilder in Marmor geschlagen hatte. Doch das war lange vorbei. Seit Jahren ließ er sich hier nicht mehr blicken, ging auf dem Marktplatz herum und auf den Turnplätzen und philosophierte mit den Schönen-und-Guten, redete mit jedem, mit Geldwechslern ebenso wie mit Schustern.

Das änderte sich von dem Tag an, als er die Nachricht von Xanthippes Wahl ins Haus des Lysimachos gebracht hatte. Seitdem sah ihn Xanthippe häufig in der Nähe, wenn sie morgens und abends Wasser holte. Manchmal saß er den ganzen Nachmittag lang vor dem Haus eines Nachbarn und trank mit ihm unter dem Sonnensegel Wasserwein, spuckte ab und zu einen Olivenkern auf den Boden, die Hände über dem Bauch gefaltet, den Blick auf die Haustür des Lysimachos gerichtet.

Während Xanthippe kein Wort darüber verlauten ließ, was sie von dem Alten dachte, der neuerdings in ihrer Gegend herumlungerte, kursierten bereits die Gerüchte. Hatte Sokrates Absichten? Auch wenn Xanthippe ungelenk war, ein Mädchen mit eckigen Bewegungen, so war sie doch immerhin vierzehn, ein Alter, in dem ein athenisches Mädchen meist schon verheiratet wurde. Und sie kam aus einer berühmten Familie, war die Enkelin von Aristides dem Gerechten, dem besonnenen Feldherrn und Staatsmann, dem Athen soviel zu verdanken hatte, trug einen aristokratischen Namen – Xanthippe, das blonde Pferd. Daß sie arm war und ohne Mitgift, das stattliche Haus heruntergekommen, alles, was Wert hatte, verkauft, würde Sokrates nicht schrecken. Das wußte jeder in der Stadt. Sein Sinn stand nicht nach Reichtum. Aber jeder wußte auch, daß sich der Philosoph mit der besonderen Aura gern in die Häuser der ehrwürdigen Familien begab, als wolle er dazu gehören. Immer noch der Steinmetzsohn aus Alopeke.

Xanthippe dachte nicht daran, sich zu verheiraten. Sie wollte mit Philippos und ihrem Vogel Xanthias zusammenleben, hier im Haus oder noch viel lieber weit weg von Athen, wo sie niemand kannte und Anstoß daran nahm, daß sie Geschwister waren. Manchmal, wenn sie daran dachte, bekam sie Angst, daß ihr Vater sie eines Tages zu einer Heirat zwingen könnte. Er würde es tun, sie war sich fast sicher, sobald ein Bewerber auftauchte, der Geld und Ansehen hatte, ein Politiker vielleicht, der nach Pinienöl duftete, gut reden konnte, Pferde besaß und den ganzen Tag auf dem Sportplatz zubrachte, eben weil er reich war.

Sie würde sich von einem solchen Mann nicht blenden lassen. Sie kannte zu viele Geschichten, die die Mädchen aus der Nachbarschaft erzählten, wenn sie zusammensaßen und ihre Aussteuer webten, kräftige weiße Laken mit einem feinen, viereckigen Muster, Kissen und Decken. Während die Schiffchen durch die gespannten Längsfäden glitten, gaben sie lachend zum besten, was ihnen die geschwätzigen Ammen und Sklaven erzählt hatten. Xanthippe fand es gar nicht komisch, wenn sie von Männern hörte, die ihre Frauen prügelten und im Haus einsperrten wie Sklavinnen, während sie sich bei Saufgelagen mit Tänzerinnen und Flötenbläserinnen vergnügten. Selbst der strahlende und kluge Alkibiades mit dem Mut eines Löwen, der das Idol aller Knaben und Jünglinge und das Traumbild eines jeden Mädchens in Athen war, mißachtete und beleidigte seine Frau und hatte neulich sogar seinen Schwiegervater zusammengeschlagen. Nie würde sie sich so behandeln lassen, nie würde sie einem Mann trauen.

Nur Philippos, auf ihn war Verlaß, das wußte sie genau. Mit ihm wollte sie leben, ihm den Haushalt führen, wie sie es jetzt schon für ihn und den Vater tat. Sie würde ihm die Sandalen bereitstellen, das Essen für ihn kochen und warm stellen, wenn er später kam, seine Kleider kunstvoll stopfen und im Winter die Kohlen auf dem Becken glühend halten. Und am Abend würde es nicht trostlos langweilig sein, denn er hatte sie noch nie in die Küche geschickt, wie es die anderen Männer mit den Mädchen und Frauen taten. Aber Xanthippe war auch nicht so unwissend wie sie. Philippos hatte ihr Lesen und Schreiben beigebracht, und sie wußte von ihm, was die Lehrer auf dem Marktplatz ihren Schülern zu erklären versuchten, so ungefähr jedenfalls.

Am liebsten aber sprachen sie von fremden Städten, in die sie gemeinsam reisen wollten, wenn sie einmal erwachsen waren. Ägypten hatte Philippos vorgeschlagen, oder noch besser Persien, wo es einen Großkönig geben sollte, der mit seinen Freunden Löwen jagte. Daß dort andere Götter verehrt wurden, störte sie nicht. Manchmal saß auch ihre Mutter Ariste, als sie noch lebte, an heißen Sommernachmittagen mit ihnen im Schatten der Hausmauer. »Philippos wird einmal ein Feldherr sein oder ein Söldnerführer mit Wagen, die sich unter der Last der Beute biegen«, sagte sie dann stolz, oder etwas ähnliches, so genau erinnerte sich Xanthippe nicht mehr. Aber in letzter Zeit dachte sie wieder häufiger daran zurück, vielleicht weil sie schon vierzehn war und Gefahr drohte, träumte von Ägypten und Persien und neuerdings auch von Syrakus, der reichen, weltoffenen Handelsstadt, von der in Athen immer wieder die Rede war. Ja, vielleicht Syrakus. Dort würden sie und Philippos ein schöneres Leben haben als hier im Haus von Lysimachos.

Sie waren sehr arm, hatten nicht einen einzigen Sklaven. Ihr Vater war ein Trinker. Morgens erwachten sie von seinem würgenden Husten. Kaum war er aufgestanden, griff er schon mit zitternden Händen nach dem Weinschlauch in der Ecke und trank lang und gierig. »Jetzt bin ich wieder Mensch«, stöhnte er dann, griff sich das alte, fleckige Orakelbuch und tappte mit unsicheren Schritten fluchend zu seinem Platz unter den Platanen vor dem Apollontempel, wo er den Besuchern gegen ein paar Obolen weissagte. Um die Mittagszeit brachte ihm Xanthippe Brot und eine Schüssel mit Linsengemüse. Dann war er bereits hochrot im Gesicht und redete wild gestikulierend wirres, unzusammenhängendes Zeug. Es gab Leute, die überhaupt nur deshalb zum Apollontempel nach Alopeke kamen, um ihn zu sehen. Xanthippe hatte es miterlebt, wie Männer mit Fingern auf ihn zeigten und ihren Kindern erklärten: »Das ist der Sohn von Aristides dem Gerechten. Aristides hätte leicht reich werden können, als er die Gelder für den Seebund Athens verwaltete. Aber er behielt nichts für sich, achtete die Gesetze und starb in Armut. Und das ist sein Sohn.«

Das Haus, in dem sie lebten und das Aristides als junger Mann für seine Familie gebaut hatte, war größer und prächtiger als die meisten Häuser im Stadtteil Alopeke. Die Brüstung des Daches war aus verziertem Kalkstein, und an jeder Ecke hockte drohend ein Greif mit aufgerissenem Maul und herabhängender Zunge. Aber die rote Bemalung war längst abgeblättert und nur noch in Spuren zwischen den Krallen sichtbar. Das Haus machte einen heruntergekommenen Eindruck, und im Innern sah es fast noch kläglicher aus. Die Wände schwarz vom offenen Feuer, nirgends mehr alte geschnitzte Truhen, bis auf die Pinienholztruhe, in der Ariste ihre Aussteuer mitgebracht hatte, verschwunden auch die silbernen Becher, Teller und Leuchter und die üppigen Vorräte aus dem Keller. Nur in der Küche hing noch ein silbernes Sieb aus den Zeiten, als Aristides mit seiner Familie fette Suppen und Hammelfleisch gegessen hatte, und auf den Steinplatten des Männerraums hinter dem Hauseingang lag noch ein kostbarer lydischer Teppich, die einst kräftigen Farben der eingewebten Vögel verblaßt, den Xanthippe immer wieder auszubessern versuchte und das Mäanderband an den Rändern mit weißer Wolle nachstickte.

 

Kein Glück, ein Unglück war es, zu den Auserwählten für Delos zu gehören. So jedenfalls erschien es Xanthippe in diesem Augenblick, als sie in der Küche neben dem dampfenden Kessel stand und die abschätzenden Blicke der Nachbarinnen spürte. Sie bewundern das Kleid und nicht mich, dachte sie, und ihr fiel ein, wie ungeschickt sie sich manchmal, wenn sie ein wenig aufgeregt war, beim Tanz in den Übungsstunden angestellt hatte. Vor dem Hörneraltar und den vielen Zuschauern würde sie erst recht versagen.

»Schick die Frauen weg«, bat sie Philippos, und als er sie hinausgedrängt hatte, fügte sie hinzu: »Und bring das Prozessionskleid zurück. Ich kann nicht fahren. Ich werde uns Schande machen.«

Statt einer Antwort schob Philippos die tönerne Wanne in die Küche, brachte ein flauschiges grünes Badetuch und umarmte ihren knochigen Körper. »Du fühlst dich ja an wie eine verhungerte Katze, du mußt viel mehr essen«, sagte er zärtlich und küßte ihr die Tränen von den Backen.

»Aber ich bin häßlich«, sagte sie und verkroch sich in dem weichen Tuch.

Philippos lachte, nahm die kugelige Tonflasche vom Fenster, entfernte den Korkstöpsel und ließ wohlriechendes Badeöl in die Wanne fließen. »Es gibt Leute, die sehen dich anders.«

Ach, Sokrates! Vielleicht dachte Xanthippe das gleiche, was sich die alten Frauen zugeflüstert hatten.

»Aber ich habe auch Angst«, wich sie aus, »ich war noch nie von zu Hause fort, und bestimmt kommt ein Sturm.«

»Das Schiff steht unter Apollons Schutz und unter dem von Artemis. Apollon ist unser Gott, das weißt du. Er wird dich beschützen.«

»Ja, er ist unser Gott. Er und Artemis sind Zwillingsgeschwister wie wir. Und wir sind beide im Schatten seines Tempels geboren.« Xanthippes Augen begannen zu leuchten. Sie waren groß und dunkelbraun wie Haselnüsse. Sie warf ihre schwarzen halblangen Locken zurück und schneuzte ins Badetuch. Während er das heiße Wasser in die Wanne schöpfte und mit dem kühlen aus den Tonkrügen mischte, lenkte er sie von ihren eigenen Ängsten ab. »Apollon wird auch mich beschützen, wenn unsere Schiffe nach Sizilien aufbrechen. Er und Artemis werden am Himmel erscheinen und Pfeile auf Syrakus herabregnen lassen. Wir Athener werden siegen, so wie es Alkibiades in seiner Rede prophezeit hat. Dann gehört uns all der Reichtum dort, die Weizenfelder und vor allem die Wälder. Wir brauchen das Holz für unsere Schiffe.«

Xanthippe nickte zustimmend. Natürlich brauchte Athen das Holz der sizilischen Wälder für seine stolze Flotte, das sah sie ein. Mehr noch aber erfüllte sie der Gedanke, daß mit der Eroberung von Syrakus die Verwirklichung ihres Kindheitstraums in greifbare Nähe rückte. Doch das verriet sie nicht. Statt dessen sagte sie: »Also gut, ich werde nach Delos fahren. Und wenn ich zurückkomme, werden wir ein Fest mit Hasenbraten feiern, bevor du dich nach Sizilien einschiffst. Wirst du auch meinen Vogel füttern, solange ich weg bin? Und morgens mußt du ihn am Hals kraulen, er wird sonst krank, wenn das niemand tut.«

Sie hielt einen Fuß ins Wasser. Die Temperatur war richtig. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich ganz in der Wanne versinken. Sie tauchte den Kopf unter und wusch sich das Haar. Der Gedanke an Delos erschreckte sie nicht mehr.

»Mein Freund Milon wird auch mitfahren. Du hast ihn ab und zu gesehen«, sagte Philippos fürsorglich, obwohl sie schon längst keinen Trost mehr brauchte.

»Der mit dem schwarzen Wallach?« fragte sie. »Dann sind wir ein Dreigestirn.« Denn ihre Cousine Kallinike, ihre beste Freundin, gehörte auch zu den Auserwählten.

Wohlig streckte sie sich in dem warmen Wasser aus und schloß die Augen. Vielleicht würde sie doch schön sein in ihrem kostbaren Kleid aus dem fast durchsichtigen fließenden Stoff, das so gut zu ihren dunklen Haaren und Augen paßte. Sie stellte sich vor, wie leicht ihr darin der Tanz der Bärin mit den anderen Mädchen vor Artemis fallen würde, langsam am Anfang, die Schritte vorsichtig setzend, und schließlich immer sicherer, immer ausgelassener. Und dann am anderen Tag mit den sieben Jungen der Heilige Tanz für Apollon um den Hörneraltar. Nein, es war kein Unglück, es war ein Glück und eine Ehre, die sie stellvertretend für Athen dem Gott erweisen durfte. Vor langer Zeit hatte er vierzehn Geiseln des Königs Minos auf wunderbare Weise gerettet. Mit Prinz Theseus waren sie glücklich von Kreta zurück in ihre Heimat Athen gesegelt und hatten unterwegs auf der Insel Delos Apollon für seine Hilfe bei der Rettung vor dem Ungeheuer Minotaurus gedankt. Seitdem wiederholten die Athener ihren Dank jedes Jahr mit einer Prozession vor seinem Altar in Delos. Und sie durfte diesmal dabeisein.

Xanthippe stand in ihrem leuchtenden Kleid, mit polierten Fingernägeln und einem Lorbeerkranz im Haar zwischen den anderen festlich herausgeputzten Mädchen am Hafen. In der Ferne war die Halbinsel Salamis zu sehen, zarte Schleier von Dunst und Nebel lagen davor. Als die Pechfackeln entzündet wurden, fielen Mütter und Väter ihren Kindern um den Hals und nahmen Abschied, als sei es für den Rest des Lebens. Xanthippe umarmte ihren Vater und Philippos. Dann gingen die Mädchen und Jungen in getrennten Reihen auf das Schiff. Es roch nach Teer. Aber der Wind vom Meer her war kühl und angenehm. Xanthippe fühlte sich schwerelos wie ein kleiner Vogel, der sich entschlossen hat, weit fortzufliegen.

Sie stand Hand in Hand mit Kallinike auf dem Schiff, als sie sich langsam vom Ufer entfernten. Die Tempel auf der Akropolis wurden kleiner, und die Lichter der Speicher und Häuser am Hafen verblaßten. Bald würden die Sterne kommen. Für einen Augenblick träumte sich Xanthippe zurück ins Haus ihres Vaters Lysimachos in der Nähe des Apollontempels. Es war jetzt die Zeit, zu der sie sonst zu Hause im Frauenraum die Fensterläden schloß. Durch die sternförmigen Öffnungen fiel noch etwas Licht ins Zimmer. Dann pflegte sie Xanthias Vogelbauer zu öffnen, damit er einige Runden drehen konnte. Er genoß es, seine Flügel auszubreiten und sich zu bewegen. Zielbewußt flog er vom Dach des Käfigs auf den Giebel über dem Türrahmen. Dort plusterte er sich auf und legte das Köpfchen schief. Manchmal ließ er sich auf ihrer Schulter nieder, wollte, daß sie ihn am Hals kraulte, und gab zärtliche Laute von sich. Xanthias würde sie vermissen. Ihr Vater war lange auf dem Markt herumgegangen und hatte nach einem Vogel für sie gesucht, damals, als ihre Mutter gestorben war und Xanthippe nicht mehr sprechen konnte. Nach Monaten der Sprachlosigkeit war der kleine graue Vogel der erste, mit dem sie wieder redete. Nur wenige Worte am Anfang, dann langsam mehr, und schließlich erzählte sie ihm alles, was ihr durch den Kopf ging. Wenn sie allein im Haus waren, bekam er allerlei Geschichten und Lieder zu hören. Das Lied vom Seemann, der seine Liebste verlassen muß, mochte er besonders gern. Immer wenn sie es ihm vorsang, zwitscherte er.

Der Taktangeber hämmerte, die Ruderer ließen die Stangen auf die Wasserfläche klatschen, das Schiff knarrte und stöhnte, als habe es sich noch an die Fahrt zu gewöhnen. Die Mädchen lachten und tuschelten, während sie, umweht vom angenehmen Duft des Minzeöls, ihre Plätze am langen weißgedeckten Tisch im Unterdeck einnahmen. Es gab Wasserwein und honigsüßen Alle-Körner-Brei, in dem dicke rote Bohnen schwammen. Xanthippe starrte auf das bestickte Tischtuch.

»Bist du nicht hungrig?« fragte Kallinike.

»Nicht besonders.«

»Ist es wahr, daß Sokrates dich heiraten wird?«

»Sokrates? Den kenne ich gar nicht richtig.«

»Alle sagen, daß er sich in dich verliebt hat.«

»Er ist ein Freund von Philippos. Mehr weiß ich nicht von ihm. Ich darf nicht mit Männern sprechen.«

»Ich auch nicht. Und ich habe nicht einmal einen Bruder. Mein Vater ist sehr streng.«

Xanthippe hatte davon gehört. Ihr Onkel Kallias war der höchste Priester des Heiligtums von Eleusis zwischen Athen und Korinth, ein Mann, der viele Kisten Gold und silberne Teller und Becher besaß. Hin und wieder ließ er von einem Sklaven einen Korb mit abgetragener Kleidung ins Haus des Lysimachos bringen. So kam es, daß Xanthippe die alten Sandalen Kallinikes trug, bis sie ihr von den Füßen fielen, und im Winter wollene Mäntel von gutem Schnitt und aus feinster milesischer Wolle, die um ihren dünnen Körper schlenkerten. An Festtagen ließ ihnen Kallias zuweilen ein gebratenes Huhn oder einen Weizenmehlkuchen zustellen. Er bedauerte die heruntergekommene Verwandtschaft aus dem Stadtteil Alopeke. Er selbst bewohnte ein weitläufiges Haus am Rand von Piräus, in dem Dichter, Sänger und Philosophen ein und aus gingen. Berühmt waren seine großen Feste, zu denen auch Politiker und Feldherrn eingeladen waren und von denen man noch Wochen später auf dem Marktplatz sprach. Lysimachos mied das Haus seines reichen Cousins. Er mochte ein Trinker sein und die Armut seiner Familie auf dem Gewissen haben und noch manches mehr, aber ein bißchen Stolz war ihm geblieben. Doch Philippos war unbefangen. Manchmal ging er gemeinsam mit Milon in das Haus seines Onkels, wenn er gehört hatte, daß Sokrates eingeladen war oder ein Sänger die Lieder Homers und Pindars vortrug oder berühmte Tänzer eine Vorstellung gaben. Mädchen und Frauen waren ausgeschlossen, auch Kallinike, obwohl sie die Tochter des Kallias war. Xanthippe fand ihre Freundin unwiderstehlich, wenn sie sich über diese Männergesellschaft beklagte und die grünen Flecken in ihren braunen Augen dabei vor Angriffslust blitzten.

»Es ist schön, daß wir zusammen sind«, sagte Kallinike zwischen zwei Löffeln Getreidebrei. »Ich wäre nicht mitgekommen, wenn ich nicht gewußt hätte, daß du auch dazugehörst.«

»Ja, ich bin auch froh. Und es wäre doch schrecklich, mit einem Mädchen im Bett liegen zu müssen, das man überhaupt nicht kennt.«

Kallinike wippte auf der hölzernen Bank.

»Die harten Bohnen mag ich überhaupt nicht«, sagte sie und zog ein Gesicht, daß sich ihre hübschen Grübchen zeigten. Sie trug goldene Ohrringe in der Form einer Schlange und ein goldenes Kettchen um den Hals. Die Bohnen spuckte sie wirklich unter den Tisch auf den weichen Wollteppich, was ein Frevel war, denn es war ein heiliges Essen. Xanthippe schämte sich für ihre Freundin. Sie sah beiseite und überließ sich den gleichmäßig an- und abschwellenden Geräuschen unter dem Schiffsboden, ahnte die unbekannte, nicht zu fassende Tiefe. Es war wie in einem Traum, in dem alles leicht und möglich ist. Sie wußte jetzt, daß es gut gelingen würde, sehnte sich danach, die Arme auszubreiten und sich im Tanz von der Flötenmusik davontragen zu lassen.

»Was hast du?« fragte Kallinike. »Freust du dich denn nicht? Ich kann es gar nicht erwarten. Wenn der Wind günstig ist, werden wir in drei Tagen da sein. Delos ist ein einziger Rausch, sage ich dir, ich war vor ein paar Jahren mit meinen Eltern dort, um Apollon und Artemis zu opfern.«

Xanthippe wußte nicht, was sie damit meinte.

»Also«, redete Kallinike munter drauf los, »ich werde dir alles von Sokrates erzählen. Er wird ja vielleicht dein Mann.«

Die Unterhaltung am Tisch verstummte. Die Mädchen blickten von ihren Tellern auf und kicherten. Xanthippe spürte, wie ihr die Röte vom Hals bis ins Gesicht kroch.

»Wirklich Sokrates?« fragte eins der Mädchen. »Der mit der Glatze?«

»Macht euch nicht lustig über ihn«, sagte Kallinike, »dazu habt ihr kein Recht. Er ist sehr klug und berühmt. Er hat von vielen anderen Städten Einladungen bekommen, im Theater zu reden und in den Säulenhallen zu unterrichten. Doch er ist nie hingegangen. Seine Athener haben ihm genügt.«

»Aber wie er aussieht«, beharrte das Mädchen. »Er ist häßlich und hat eine Glatze und Nubierlippen, ein richtiger Widerling.«

»Mir ist es egal, wie er aussieht und wie berühmt er ist«, sagte Xanthippe. »Ich werde ihn sowieso nicht heiraten. Ich heirate überhaupt nicht. Ich werde mit meinem Bruder zusammenleben und ihm den Haushalt führen. Das haben wir einander versprochen.«

Plötzlich mußte sie weinen, ohne zu wissen, warum, und ohne sich zu fragen, ob sie nicht vielleicht doch den falschen Traum träumte. Kallinike legte den Arm um sie und führte sie fort aufs Oberdeck. Sie zeigte ihr die Sterne, die mit ihren glitzernden Mustern den Himmel wie eine Stickdecke übersäten, und erklärte ihr die Gestirne, die sie kannte. Aber Xanthippe hörte nicht zu, lehnte nur den Kopf an ihre Schulter. Wie sollte sie Kallinike sagen, daß diese Fahrt für sie nur eine kurze Täuschung war, denn normalerweise ging sie nicht in goldenen Sandalen und einem krokusfarbenen Kleid durchs Leben. Sie war arm und lief barfuß, wenn sie nicht gerade abgelegte Sandalen von Kallinike trug, und den wollenen Mantel, der immerhin noch gut war und nur wenige Stopfstellen hatte. Bei diesem Gedanken fiel ihr Sokrates ein, der nicht einmal einen solchen Mantel hatte. Selbst bei Schnee lief er in einem dünnen Leinengewand herum, das auch schon bessere Tage gekannt hatte. Sie war überrascht, wie genau sie ihn plötzlich vor sich sah, diesen wunderlichen Kauz mit seinem lächerlichen roten Haarkranz, über den sich die Mädchen lustig machten. Seltsam, daß sie ihn gar nicht mehr komisch und abstoßend fand, sondern eher auf eine rätselhafte Weise anziehend. Vielleicht hatte sie ihm ja auch von weitem gefallen, als er sie unter all den anderen Mädchen Athens für Delos auswählte. Sie verscheuchte diese Gedanken, die zu nichts führen konnten. Aber sie weinte nicht mehr.

Während die Trommeln schlugen, tanzten die vierzehn Jungen und Mädchen aus Athen den Kranichtanz um den Altar, der aus den Hörnern der von Artemis getöteten Ziegenböcke gemacht war. Mit gesenktem Kopf und einstudierten Schritten stellten sie die Szene dar, wie einst Theseus mit den athenischen Geiseln den Weg durch das Labyrinth gesucht hatte. Kallinike hielt dabei die kleine Statue aus dunklem Olivenbaumholz empor, die Liebesgöttin Aphrodite, die damals dem Prinzen Theseus die kretische Königstochter Ariadne mit ihrem rettenden Einfall zur Seite gegeben hatte. Alle vier Jahre brachte die athenische Festgesandtschaft zur Erinnerung daran eine solche kleine Götterfigur für Apollon mit.