Zähl nicht die Stunden - Joy Fielding - E-Book

Zähl nicht die Stunden E-Book

Joy Fielding

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Beschreibung

Mattie Hart hat vieles, wovon andere träumen: Erfolg im Beruf, einen attraktiven Mann und eine Tochter, die sie über alles liebt. Eines Tages muss sie sich jedoch eingestehen, dass ihr Leben eine Lüge ist, denn ihr Mann Jake betrügt sie seit Jahren. Doch genau, als Mattie sich endlich entschließt, einen Neubeginn zu wagen, schlägt das Schicksal auf grausame Weise zu. Und die junge Frau erkennt, dass sie jetzt erst wirklich kämpfen muss: um ihr Glück – und um ihr Leben ...

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Das Buch
Die 36-jährige Mattie Hart hat vieles erreicht: Gemeinsam mit ihrem Mann Jake, einem attraktiven und äußerst erfolgreichen Rechtsanwalt, lebt sie in einem luxuriösen Haus am Stadtrand von Chicago. Ihre heranwachsende Tochter Kim bedeutet ihr alles, und als Kunsthändlerin genießt Mattie einen exzellenten Ruf. Doch der schöne Schein trügt, denn eines fehlt Mattie in ihrem Leben: Liebe. Lange Zeit hat sie die Augen verschlossen vor der traurigen Tatsache, dass die Ehe mit Jake zerrüttet ist und er sie betrügt. Als sie dann eines Tages wieder einmal die Rechnung eines Nobelhotels in seiner Jacke findet, spürt sie, dass sie Jakes Lügen nicht länger ertragen kann. Richtig glücklich war sie mit ihm in all den Jahren ohnehin nie, denn Jake schien ein düsteres Geheimnis aus seiner Vergangenheit mit sich zu tragen: Stets bewahrte er Schweigen über seine Kindheit, seine Mutter und den mysteriösen Tod seines ältesten Bruders. Doch genau in dem Moment, in dem Mattie bereit ist, in ein neues Leben aufzubrechen, schlägt das Schicksal auf grausame Weise zu. Mattie erfährt, dass sie an einer heimtückischen Krankheit mit tödlichem Ausgang leidet – geschieht nicht ein Wunder, bleibt ihr noch ein Jahr, vielleicht zwei. Für die junge Frau beginnt ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit, denn sie erkennt, dass sie kämpfen muss …
Joy Fielding 
gehört zu den unumstrittenen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller „Lauf, Jane, lauf“ waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida. Weitere Informationen unter www.joy-fielding.de
Mehr von Joy Fielding:
Solange du atmest • Die Schwester • Sag, dass du mich liebst • Das Herz des Bösen • Am seidenen Faden • Im Koma • Herzstoß • Das Verhängnis • Die Katze • Sag Mami Goodbye • Nur der Tod kann dich retten • Träume süß, mein Mädchen • Tanz, Püppchen, tanz • Schlaf nicht, wenn es dunkel wird • Nur wenn du mich liebst • Bevor der Abend kommt • Zähl nicht die Stunden • Flieh wenn du kannst • Ein mörderischer Sommer • Lebenslang ist nicht genug • Schau dich nicht um • Lauf, Jane, lauf! 

Joy Fielding

Zähl nichtdie Stunden

Roman

Deutschvon Mechthild Sandberg-Cilettiund Kristian Lutze

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »The First Time« bei Pocket Books, New YorkCopyright © der Originalausgabe 2000 by Joy FieldingCopyright © der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2001by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München.CN Herstellung: scCovergestaltung: UNO WerbeagenturCovermotiv: Ildiko Neer/Trevillion ImagesISBN: 978-3-641-05420-5V008
www.goldmann-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Die Autorin
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
 
Copyright
1
Sie dachte darüber nach, wie sie ihren Mann umbringen könnte.
Martha Hart, von allen Mattie genannt, nur nicht von ihrer Mutter, die regelmäßig erklärte, Martha sei doch ein wunderschöner Name – »Oder hast du je davon gehört, dass Martha Stewart ihren Namen geändert hat?« -, zog in dem langen beheizten Pool, der den größten Teil des ansehnlichen Gartens einnahm, ihre Bahnen. Außer bei Gewitter oder bei für Chicago nicht untypischem vorzeitigen Schnee pflegte sie von Anfang Mai bis Mitte Oktober jeden Morgen fünfzig Minuten zu schwimmen, genau einhundert Bahnen, abwechselnd Frei- oder Kraulstil. Gewöhnlich war sie spätestens um sieben im Wasser, um fertig zu sein, bevor Jake und Kim aus dem Haus gingen, aber heute hatte sie verschlafen, genauer gesagt, sie war nach einer Nacht, in der sie kein Auge zugetan hatte, erst kurz vor dem Läuten des Weckers eingenickt. Jake, wie üblich von solchen Schwierigkeiten unbehelligt, war aus dem Bett und in der Dusche, bevor sie richtig wach geworden war. »Geht’s dir gut?«, hatte er etwas später, tadellos gekleidet und gut aussehend wie immer, gefragt und das Haus so schnell verlassen, dass sie gar nicht dazu gekommen war, ihm zu antworten.
Ich könnte ihn mit einem Fleischermesser erstechen, dachte sie jetzt und schob die geballten Fäuste durch das Wasser, als stieße sie mit jeder Armbewegung die mindestens dreißig Zentimeter lange Klinge ihrem Mann mitten ins Herz. Als sie am Ende des Beckens wendete, um die nächste Bahn in Angriff zu nehmen, fiel ihr ein, dass es vielleicht einfacher wäre, Jake mit einem wohlberechneten Schubs die Treppe hinunter ins Jenseits zu befördern. Oder sie könnte ihn vergiften, indem sie ihm statt geriebenem Parmesan eine Hand voll Arsen auf die Spaghetti streute, die er sehr gern aß und die sie ihm erst gestern Abend gemacht hatte, bevor er noch einmal weggefahren war, angeblich in die Kanzlei, um dem alles entscheidenden Schlussplädoyer für den heutigen Prozesstag den letzten Schliff zu geben. Bevor sie in seiner Jacke – der Jacke, die sie für ihn hatte zur Reinigung bringen wollen – die Hotelrechnung gefunden hatte, die eindeutig bewies, dass er wieder einmal fremd ging.
Sie könnte ihn natürlich auch erschießen, sagte sie sich und drückte das Wasser, das zwischen ihren Fingern hindurchglitt, als drückte sie auf den Abzug einer Pistole. In ihrer Phantasie sah sie die Kugel über das Wasser fliegen, direkt in den Gerichtssaal, wo ihr nichts ahnender Ehemann sich soeben erhob, um das Wort an die Geschworenen zu richten. Sie sah zu, wie er sein dunkelblaues Jackett knöpfte, kurz bevor die Kugel es zerfetzte und dunkelrotes Blut langsam auf die akkuraten Diagonalstreifen der blau-goldenen Krawatte quoll, während das jungenhafte kleine Lächeln, das so sehr von seinen Augen wie von seinem Mund ausging, zuerst erstarrte und dann verblasste und schließlich ganz erlosch, als er in dem ehrwürdigen alten Gerichtssaal zu Boden stürzte.
Meine Damen und Herren Geschworenen, sind Sie zu einem Urteil gelangt?
»Tod den Verrätern!«, rief Mattie laut und trat im Wasser um sich, als hätte sie sich in einer Decke verheddert, aus der sie sich befreien musste. Ihre Füße fühlten sich plötzlich so bleiern an, schwer wie Zementblöcke. Einen Moment lang erschienen sie ihr wie Fremdkörper, als gehörten sie einer anderen Person und seien völlig willkürlich an ihrem Rumpf befestigt, wo sie nun keinem anderen Zweck dienten, als sie in die Tiefe zu ziehen. Sie versuchte zu stehen, aber ihre Fußsohlen fanden den Grund des Beckens nicht, obwohl das Wasser nur einen Meter fünfzig tief war und sie beinahe zwanzig Zentimeter größer.
»Verdammt noch mal!«, schimpfte Mattie, verhaspelte sich beim Atmen und schluckte eine Ladung Chlorwasser. Sie schnappte heftig nach Luft und rettete sich an die Seitenwand des Pools. Über den Beckenrand gekrümmt, hielt sie sich an den glatten braunen Steinen fest. Immer noch umschlossen unsichtbare Hände ihre Füße und suchten, sie unter Wasser zu ziehen. »Geschieht mir ganz recht!«, stieß sie zwischen schmerzhaften Hustenattacken hervor. »Geschieht mir ganz recht! Was muss ich so finstere Pläne wälzen!«
Sie war noch dabei, sich ein paar Tropfen Speichel vom Mund zu wischen, als sie aus dem Nichts von einem hysterischen Lachkrampf geschüttelt wurde. Das Gelächter mischte sich mit dem Husten, eines schaukelte sich am anderen hoch, und die hässlichen Geräusche schallten laut über das Wasser und brachen sich an den Wänden des Pools. Warum lache ich?, fragte sie sich, unfähig aufzuhören.
»Hey, was ist los?« Die Stimme befand sich irgendwo oberhalb von ihr. »Mama? Mama, ist alles in Ordnung?«
Mattie hob die Hand zur Stirn, um ihre Augen gegen die gleißenden Sonnenstrahlen abzuschirmen, die sie wie ein Scheinwerfer umfingen, und blickte hinauf zu der großen schattigen Terrasse aus Zedernholz hinter der Küche des roten Backsteinhauses, in dem sie und ihre Familie lebten. Ihre Tochter Kim stand scharf umrissen vor dem Herbsthimmel, die sonst so klaren Züge ihres Gesichts seltsam verwischt vom grellen Sonnenlicht. Aber das machte nichts. Mattie kannte jede Linie und Kontur ihres Gesichts und ihres Körpers: die großen blauen Augen, die dunkler waren als die ihres Vaters und größer als die ihrer Mutter; die lange, gerade Nase, die sie vom Vater, den Mund mit dem hübsch geschwungenen Amorbogen, den sie von der Mutter mitbekommen hatte; die knospenden Brüste, die schon jetzt, obwohl Kim erst fünfzehn war, eine Üppigkeit erahnen ließen, die von der Großmutter an ihre Enkelin weitergegeben worden war; Kim war groß wie ihre beiden Eltern und dünn wie ihre Mutter in diesem Alter. Aber sie hatte eine weit bessere Haltung, als Mattie sie mit fünfzehn gehabt hatte, ja, als sie sie heute hatte. Kim brauchte man nicht zu ermahnen, die Schultern zu straffen oder den Kopf hoch zu halten; sie besaß, das sah man auch jetzt, wie sie da biegsam wie ein junger Baum an dem stabilen Holzgeländer lehnte, ein natürliches Selbstbewusstsein, das Mattie erstaunlich fand. Manchmal fragte sie sich, ob sie an seiner Entwicklung überhaupt mitgewirkt hatte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Kim ein zweites Mal und reckte ihren langen, schlanken Hals, um zum Pool hinuntersehen zu können. Ihr schulterlanges blondes Haar war streng zurückgenommen und oben am Scheitel zu einem festen kleinen Knoten gedreht. Meine kleine Schulmamsell, zog Mattie sie manchmal liebevoll auf.
»Ist jemand bei dir?«, rief Kim.
»Alles in Ordnung«, antwortete Mattie, musste aber immer noch so stark husten, dass ihre Worte nicht zu verstehen waren. Deshalb wiederholte sie »Alles in Ordnung« und begann dann von neuem schallend zu lachen.
»Was ist denn so komisch?« Kim kicherte, zaghaft und scheu in ihrem Bemühen, an dem Scherz teilzuhaben, der ihre Mutter so amüsierte.
»Mir ist der Fuß eingeschlafen«, sagte Mattie, während sie langsam beide Füße zum Grund des Beckens hinunterließ und erleichtert wahrnahm, dass sie stand.
»Beim Schwimmen?«
»Ja. Ist das nicht ulkig?«
Kim zuckte kurz mit den Schultern, als wollte sie sagen, so ulkig auch wieder nicht, und beugte sich aus dem Schatten ein Stück weiter vor. »Ist wirklich alles okay?«
»Aber ja. Ich habe nur ein bisschen Wasser geschluckt.« Mattie hustete, wie um ihren Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen. Als sie sah, dass Kim ihre Lederjacke anhatte, wurde ihr zum ersten Mal an diesem Morgen die herbstliche Kühle des Tages bewusst. Es war immerhin schon Ende September.
»Ich geh jetzt«, sagte Kim, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. »Was hast du heute vor?«
»Ich habe am Nachmittag einen Termin mit einem Klienten, der sich ein paar Fotografien ansehen will.«
»Und heute Morgen?«
»Heute Morgen?«
»Dad hält sein Schlussplädoyer«, sagte Kim.
Mattie nickte, ungewiss, wohin dieses Gespräch führen würde. Während sie auf die nächsten Worte ihrer Tochter wartete, sah sie zu dem alten Ahornbaum hinauf, der hoch und ausladend im Nachbargarten stand. Im grünen Laub begann das tiefe Rot des Herbstes sich auszubreiten. Es sah aus, als bluteten die Blätter langsam aus.
»Er würde sich bestimmt freuen, wenn du ins Gericht kämst, um ihn anzufeuern. Du weißt schon, wie du das bei mir immer tust, wenn ich in der Schule Theater spiele. Zur moralischen Unterstützung und so.«
Und so, dachte Mattie, sagte aber nichts, hüstelte nur ein wenig.
»Na ja, egal, ich geh jetzt jedenfalls.«
»Okay, Schatz. Ich wünsch dir einen schönen Tag.«
»Ich dir auch. Gib Dad einen Kuss von mir. Als Glücksbringer.«
»Ich wünsch dir einen schönen Tag«, wiederholte Mattie und blickte Kim nach, bis diese im Haus verschwunden war. Wieder allein, schloss sie die Augen und ließ sich unter den glatten Wasserspiegel sinken. Augenblicklich schlug ihr das Wasser über Mund und Ohren zusammen und blendete die Geräusche des Morgens aus. Kein Hundegebell aus benachbarten Gärten mehr, kein Vogelgezwitscher aus den Bäumen, kein ungeduldiges Hupen von der Straße. Alles war still und friedlich. Keine untreuen Ehemänner, keine Teenager, die alles ganz genau wissen wollten.
Wie macht sie das nur, fragte sich Mattie. Ihre Tochter schien ungeheuer feine Antennen zu haben. Mattie hatte ihr kein Wort davon gesagt, dass sie Jake wieder einmal bei einem Seitensprung ertappt hatte. Sie hatte auch mit sonst keinem Menschen darüber gesprochen, weder mit ihren Freundinnen noch mit ihrer Mutter oder Jake. Beinahe hätte sie gelacht. Wann hatte sie sich zum letzten Mal ihrer Mutter anvertraut? Und was Jake anging, so war sie einfach noch nicht bereit, ihm in einer Auseinandersetzung gegenüberzutreten. Sie brauchte Zeit, um alles gründlich zu überlegen, ihre Gedanken zu sammeln wie ein Eichhörnchen die Nüsse für den Winter, um für die Entscheidung, die sie schließlich fällen, den Weg, den sie wählen würde, gewappnet zu sein.
Sie öffnete unter Wasser die Augen und schob sich das kinnlange dunkelblonde Haar aus dem Gesicht. Ganz recht, mein Kind, sagte sie sich, es ist Zeit, die Augen zu öffnen. The time for hesitating’s through, meinte sie Jim Morrison singen zu hören. Come on, baby, light my fire. Wollte sie wirklich darauf warten, bis jemand ihr Feuer unterm Hintern machte? Wie viele Hotelrechnungen musste sie noch finden, ehe sie endlich etwas unternahm? Es war Zeit zu handeln. Es war Zeit, gewisse unbestreitbare Fakten ihrer Ehe einzugestehen. Meine Damen und Herren Geschworenen, ich möchte diese Hotelrechnung als Beweis vorlegen.
»Ach, zum Teufel mit dir, Jason Hart«, prustete sie nach Luft schnappend, als sie mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchstieß. Der Vorname ihres Mannes lag ihr fremd auf der Zunge, denn sie hatte ihn, seit sie einander vor sechzehn Jahren vorgestellt worden waren, immer nur Jake genannt.
Light my fire. Light my fire. Light my fire.
»Mattie, ich möchte dich mit Jake Hart bekannt machen«, hatte ihre Freundin Lisa gesagt. »Du weißt schon, er ist ein Freund von Todd, von dem ich dir erzählt habe.«
»Jake«, wiederholte Mattie, der der Klang gefiel. »Ist das eine Kurzform von Jackson?«
»Von Jason. Aber so nennt mich kein Mensch.«
»Nett, dich kennen zu lernen, Jake.« In der Erwartung, dass gleich einer der ernsthaft Beschäftigten hier aufspringen und sie mit einem »Pscht« zum Schweigen bringen würde, sah sie sich im Hauptsaal der Bibliothek der Loyola Universität um.
»Und was ist mit Mattie? Heißt du in Wirklichkeit Matilda?«
»Martha«, gestand sie verlegen. Wie hatte ihre Mutter ihr nur einen so altmodischen und biederen Namen anhängen können? Er hätte weit besser zu einem ihrer geliebten Hunde gepasst als zu ihrer einzigen Tochter. »Aber nenn mich bitte Mattie.«
»Gern. Ich darf dich doch mal anrufen?«
Mattie nickte, den Blick auf den Mund des jungen Mannes gerichtet, dessen volle Oberlippe über der schmäleren Unterlippe leicht vorsprang. Es war ein sehr sinnlicher Mund, fand sie und stellte sich vor, wie es wäre, diesen Mund zu küssen, diese Lippen auf den ihren zu fühlen.
»Oh, entschuldige«, stotterte sie. »Was hast du eben gesagt?«
»Ich sagte, dass ich gehört habe, dass du im Hauptfach Kunstgeschichte studierst.«
Wieder nickte sie und zwang sich, ihm dabei in die blauen Augen zu blicken, die etwa die gleiche Farbe hatten wie ihre eigenen. Aber seine Wimpern waren länger als ihre, und das fand sie unfair. Oder war es etwa gerecht, dass ein einziger Mann so lange Wimpern und einen so sinnlichen Mund mitbekommen hatte?
»Und was tun Kunsthistoriker genau?«
»Frag mich was Leichteres«, hörte Mattie sich antworten, ihre Stimme eine Spur zu laut, sodass diesmal tatsächlich jemand »Pscht!« zischte.
»Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee?« Er nahm sie beim Arm und führte sie aus der Bibliothek, ohne auf ihre Antwort zu warten, als gäbe es überhaupt keinen Zweifel daran, wie ihre Antwort ausfallen würde. Und sie bestätigte ihn in seiner Selbstgewissheit, auch später, als er sie ins Kino einlud und dann in seine Wohnung, die er mit mehreren Kommilitonen von der juristischen Fakultät teilte, und schließlich in sein Bett. Danach war es zu spät. Keine zwei Monate nach diesem ersten Abend, zwei Monate, nachdem sie sich mit Wonne von diesem gut aussehenden Mann mit den langen Wimpern und dem sinnlichen Mund hatte verführen lassen, stellte sie fest, dass sie schwanger war – ausgerechnet an dem Tag, an dem er erklärte, ihm gehe das alles zu schnell, sie müssten ein wenig bremsen, eine Pause einlegen, sich wenigstens vorübergehend trennen. »Ich bin schwanger«, sagte sie wie betäubt, unfähig, dem noch irgendetwas hinzuzufügen.
Sie redeten über Abtreibung, sie redeten über Adoption; am Ende hörten sie auf zu reden und heirateten. Oder genauer, sie heirateten und hörten auf zu reden, sagte sich Mattie jetzt, als sie aus dem Wasser stieg und leicht fröstelnd in der frischen Herbstluft nach dem großen magentafarbenen Badetuch griff, das ordentlich gefaltet auf dem mit weißem Leinen bezogenen Liegestuhl lag. Mit einem Zipfel des Badetuchs frottierte sie ihre Haarspitzen, den Rest wickelte sie fest wie eine Zwangsjacke um ihren Körper. Jake hatte nie heiraten wollen, das wusste sie jetzt – wie sie es damals schon gewusst hatte, obwohl sie beide, zumindest zu Beginn, so getan hatten, als wäre diese Heirat unvermeidlich gewesen; als wäre ihm nach einer kurzen Trennung unweigerlich klar geworden, wie sehr er sie liebte, sodass er zwangsläufig zu ihr zurückgekehrt wäre.
Aber er liebte sie gar nicht. Er hatte sie damals nicht geliebt. Und er liebte sie jetzt nicht.
Und Mattie selbst war sich, wenn sie ehrlich war, nie sicher gewesen, ob sie ihn wirklich liebte.
Sie hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt, keine Frage. Sie war wie gebannt gewesen von seinem blendenden Aussehen und seinem mühelosen Charme. Aber sie wusste nicht, ob sie ihn je wirklich geliebt hatte. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, es herauszufinden. Alles war viel zu schnell gegangen. Und plötzlich war keine Zeit mehr geblieben.
Mattie knotete das Badetuch über ihrer Brust und lief die kurze Holztreppe zur Terrasse hinauf. Sie zog die Schiebetür zur Küche auf und trat ein. Wasser tropfte von ihrem Körper auf den dunkelblauen Fliesenboden. Normalerweise bekam sie sofort gute Laune, wenn sie diesen Raum betrat. Er war ganz in Blau- und sonnigen Gelbtönen gehalten, mit viel rostfreiem Stahl und einem runden Tisch mit einer Steinplatte, um den vier Stühle aus Schmiedeeisen und Rattan gruppiert waren. Von genau so einer Küche hatte Mattie geträumt, seit sie in einer Einrichtungszeitschrift eine Bilderserie über provenzalische Küchen gesehen hatte. Sie hatte die Renovierung ihrer Küche im letzten Jahr, auf den Tag vier Jahre nach ihrem Umzug in das Sechs-Zimmer-Haus am Walnut Drive, persönlich überwacht. Jake war gegen die Renovierung gewesen, genau wie er gegen den Umzug an den Stadtrand gewesen war, auch wenn man von Evanston bis zum Zentrum von Chicago mit dem Auto nur eine Viertelstunde brauchte. Er hatte in der Wohnung am Lake Shore Drive bleiben wollen, obwohl er Mattie in allen Punkten, dass es draußen am Stadtrand weniger Verbrechen gebe, bessere Schulen und mehr freie Natur, Recht geben musste. Er behauptete, er sei aus Gründen der Bequemlichkeit gegen den Umzug, aber Mattie wusste, dass Angst vor Verbindlichkeit dahinter steckte. Ein Haus am Stadtrand, das war zu viel der Etabliertheit für einen Mann, der immer einen Fuß aus der Tür hatte. »Aber für Kim ist es besser«, hatte Mattie vorgebracht, und da hatte Jake endlich nachgegeben. Für Kim tat er alles. Nur ihretwegen hatte er ja Mattie überhaupt geheiratet.
Den ersten Seitensprung hatte er sich kurz nach ihrem zweiten Hochzeitstag geleistet. Sie war auf das belastende Material gestoßen, als sie die Taschen seiner Jeans, die sie in die Waschmaschine stecken wollte, geleert hatte: mehrere kleine Liebesbriefchen, mit Herzchen statt Punkten auf den I’s. Sie hatte sie zerrissen und in der Toilette hinuntergespült, aber die blassblauen Papierfetzen waren immer wieder nach oben gestiegen, so als weigerten sie sich, auf so einfache Art und Weise zu verschwinden. Es war ein Omen gewesen, sagte sie sich jetzt, aber damals war ihr die Symbolik nicht aufgefallen. Im Lauf der beinahe sechzehn Jahre ihrer Ehe hatte es solche Geschichten immer wieder gegeben: Liebesbriefe von anderen Frauen, achtlos liegen gelassene Zettel mit fremden Telefonnummern, telefonische Nachrichten von Frauen, die ihren Namen nicht hinterließen; dazu das gar nicht so zurückhaltende Getuschel ihrer Freunde. Und jetzt also diese letzte kleine Überraschung, eine Rechnung für ein Zimmer im Ritz-Carlton, ausgestellt vor mehreren Monaten, etwa um die Zeit, als sie an ein zweites Kind gedacht und versucht hatte, mit Jake darüber zu sprechen.
Warum musste er jedes Mal so indiskret sein? Brauchte er ihr Wissen von seinen Affären zur Selbstbestätigung? Galten ihm seine Eroberungen irgendwie weniger, wenn sie nicht von ihnen erfuhr, auch wenn sie sich bis heute geweigert hatte, sie zur Kenntnis zu nehmen? Bezweckte er vielleicht genau das mit seiner Nachlässigkeit: sie zur Kenntnisnahme zu zwingen? Weil ihm klar war, dass es das Ende ihrer Ehe bedeuten würde, wenn ihm das gelang und sie sich dazu verleiten ließ, eine Aussprache herbeizuführen? War es das, was er wollte?
Und sie? Wollte sie es?
Vielleicht war sie diese Ehe, die doch nur eine Farce war, ebenso leid wie ihr unwilliger Ehemann. »Vielleicht«, sagte sie laut und starrte ihr Spiegelbild in der dunkel getönten Glastür des Mikrowellenherds an. Sie war nicht unattraktiv – groß, blond, blauäugig, ganz dem gängigen Bild der frischen jungen Amerikanerin entsprechend – und sie war erst sechsunddreißig Jahre alt, noch lange nicht reif also, zum alten Eisen geworfen zu werden. Es gab noch genug Männer, die sie begehrenswert fanden. »Ich könnte mir einen Liebhaber suchen«, flüsterte sie.
Ihr Spiegelbild fixierte sie ungläubig und voller Spott. Das hast du doch schon mal versucht, weißt du noch?
Mattie wandte sich ab. »Ja, aber doch nur das eine Mal und nur um mich zu rächen.«
Ach, und jetzt willst du den nächsten Racheakt abziehen?
Mattie schüttelte den Kopf, dass ihr die Wassertröpfchen aus den Haaren flogen. Die Affäre, wenn man einen one-nightstand überhaupt so nennen konnte, hatte sie sich kurz vor dem Umzug nach Evanston erlaubt. Die Geschichte war kurz und heftig gewesen, nicht der Erinnerung wert. Trotzdem konnte sie sie nicht vergessen, obwohl ihr vom Gesicht des Mannes kaum ein Eindruck geblieben war, weil sie die ganze Zeit beharrlich vermieden hatte, ihn anzusehen.
Er war Anwalt wie ihr Mann, allerdings bei einer anderen Sozietät und in einem anderen Fachgebiet tätig. Fachanwalt fürs Schaugeschäft, hatte er scherzend gesagt und ihr erzählt, dass er verheiratet sei und drei Kinder habe. Seine Firma hatte sie beauftragt, Kunstgegenstände zur Dekoration der Kanzleiräume zu erwerben, und er versuchte, ihr zu erklären, was seinen Partnern vorschwebte, bevor er näher rückte und ihr erklärte, was ihm vorschwebte. Statt mit Zorn und Empörung zu reagieren wie am Morgen desselben Tages, als sie mitangehört hatte, wie ihr Mann am Telefon mit seiner neuesten Geliebten Pläne zum Abendessen machte, verabredete sie sich mit ihm. Ein paar Tage später, während ihr Mann mit einer anderen Frau im Bett war, lag sie mit einem anderen Mann im Bett und überlegte voller bitterer Ironie, ob sie wohl gleichzeitig zum Höhepunkt gekommen waren.
Sie sah den Mann nie wieder, obwohl er mehrmals anrief, vorgeblich um mit ihr über die Gemälde zu sprechen, die sie für die Kanzlei auswählen sollte. Nach einer Weile gab er seine Bemühungen auf, und die Kanzlei engagierte einen anderen Händler, dessen Geschmack »mehr unseren Vorstellungen entsprach«. Jake erzählte sie nie von diesem Seitensprung, obwohl das doch eigentlich Zweck der Übung gewesen war – was war an der Rache noch süß, wenn der, den sie treffen sollte, sie nicht zu spüren bekam? Aber sie schaffte es einfach nicht, ihm etwas zu sagen – nicht etwa weil sie ihm nicht wehtun wollte, wie sie sich damals einzureden suchte, sondern weil sie fürchtete, ihm mit einem Geständnis genau den Vorwand zu liefern, den er suchte, um sie zu verlassen.
Sie hatte also geschwiegen, und alles war weitergelaufen wie bisher. Sie hatten die Fassade eines gemeinsamen Lebens aufrechterhalten – unterhielten sich bei Tisch höflich miteinander, gingen mit Freunden zum Abendessen aus, schliefen mehrmals in der Woche miteinander, häufiger, wenn er gerade eine Affäre hatte, und stritten sich wie Hund und Katze über jede Lappalie, nur nicht über das, worum es wirklich ging. Du schläfst mit anderen Frauen!, hätte ihr Vorwurf eigentlich lauten müssen, wenn sie tobte, weil er von der Küchenrenovierung nichts wissen wollte. Ich will überhaupt nicht hier sein!, hätte er in Wirklichkeit sagen müssen, wenn er ihr wütend vorhielt, sie gebe zu viel Geld aus, sie müsse sparsamer sein. Manchmal weckten sie Kim mit ihren Auftritten. Sie kam dann ins Schlafzimmer gelaufen und ergriff augenblicklich die Partei ihrer Mutter. Dann waren sie zwei gegen einen – eine weitere Ironie, die – so vermutete Mattie – an Jake, der ja nur Kims wegen überhaupt hier war, unbemerkt vorbeizog.
Vielleicht, dachte Mattie mit einem Blick auf das Telefon an der Wand neben ihr, hat Kim ja Recht. Vielleicht war nicht mehr notwendig als eine kleine Demonstration von Loyalität, um ihn wissen zu lassen, dass sie auf seiner Seite stand und es zu schätzen wusste, wie hart er arbeitete, wie sehr er sich bemühte – immer bemüht hatte -, das Richtige zu tun. Sie griff zum Telefon, zögerte, beschloss, lieber ihre Freundin Lisa anzurufen. Lisa würde ihr den richtigen Rat geben. Sie wusste immer, was zu tun war. Sie war schließlich Ärztin, und Ärzte wussten doch auf alles die richtige Antwort, oder nicht? Mattie wählte die ersten Ziffern der Telefonnummer, dann legte sie ungeduldig wieder auf. Was fiel ihr ein, Lisa, die bestimmt irrsinnig viel zu tun hatte, wegen so einer Lächerlichkeit bei der Arbeit zu stören! Sie würde doch wohl fähig sein, ihr Problem selbst zu lösen. Rasch gab sie die Nummer von Jakes Direktanschluss ein und wartete, während es läutete – einmal, zweimal, dreimal. Er weiß, dass ich es bin, dachte sie, während sie ärgerlich ihren Fuß schüttelte, um das lästige Kribbeln an der Sohle loszuwerden, das sich von neuem eingestellt hatte. Er überlegt sich, ob er abheben soll oder nicht.
»Die Freuden des Displays«, spöttelte sie laut und stellte sich Jake an dem massiven Eichenschreibtisch vor, der gut ein Drittel seines weiß Gott nicht geräumigen Büros in der einundvierzigsten Etage des John Hancock Gebäudes im Zentrum von Chicago einnahm. Das Büro, eines von 320, die alle zur renommierten Anwaltskanzlei Richardson, Buckey und Lang gehörten, zierte ein eleganter Berberspannteppich, und es hatte deckenhohe Fenster mit Blick auf die Michigan Avenue, aber es war viel zu klein für Jakes wachsende Mandantschaft, die sich besonders in letzter Zeit, seit die Presse ihn zu einer Art Lokalberühmtheit hochgejubelt hatte, rapide vergrößert hatte. Ihr Mann schien ein besonderes Talent dafür zu besitzen, aussichtslos scheinende Fälle zu übernehmen und dann zu gewinnen. Trotzdem, meinte Mattie, würden wohl nicht einmal Jakes beträchtliches Können und sein unwiderstehlicher Charme ausreichen, um einen Freispruch für den jungen Mann zu erwirken, der gestanden hatte, seine Mutter vorsätzlich getötet zu haben, und sich nach dem Mord vor seinen Freunden mit der Tat gebrüstet hatte.
War es möglich, dass Jake schon weg war? Mattie warf einen Blick auf die beiden Digitaluhren auf der anderen Seite der Küche. Die Uhr an der Mikrowelle stand auf 8 Uhr 32, die am normalen Herd auf 8 Uhr 34.
Gerade wollte sie auflegen, als Jake sich meldete. »Mattie, was gibt’s?« Sein Ton war kurz und energisch und machte deutlich, dass er jetzt für einen Plausch wirklich keine Zeit hatte.
»Hallo, Jake«, begann Mattie und hörte selbst, wie dünn und zaghaft ihre Stimme klang. »Du bist heute Morgen so schnell weg gewesen. Ich bin gar nicht dazu gekommen, dir Hals- und Beinbruch zu wünschen.«
»Tut mir leid. Ich konnte nicht warten. Ich musste -«
»Nein, nein, ist doch in Ordnung. Damit wollte ich nicht sagen -« Keine zehn Sekunden am Telefon, und schon hatte sie es geschafft, ihm die Laune zu verderben. »Ich wollte dir nur viel Glück wünschen. Obwohl das wahrscheinlich ganz überflüssig ist. Du wirst bestimmt genial sein.«
»Glück kann man immer gebrauchen«, erwiderte Jake.
Ein Spruch aus einem Glückskeks, dachte Mattie.
»Hör mal, Mattie, ich muss wirklich los. Es ist nett, dass du angerufen hast -«
»Ich hab mir gedacht, ich komme zur Verhandlung.«
»Bitte tu das nicht«, sagte er sofort. Viel zu schnell. »Ich meine, es ist wirklich nicht nötig.«
»Ich hab schon verstanden«, versetzte sie, ohne zu versuchen, ihre Enttäuschung zu verbergen. Offensichtlich gab es einen Grund, warum er sie nicht bei der Verhandlung haben wollte. Mattie fragte sich, wie der Grund aussah, und schob den bedrückenden Gedanken dann rasch weg.
»Ich wollte jedenfalls nur anrufen, um dir viel Glück zu wünschen.« Wie oft hatte sie das jetzt schon gesagt? Dreimal? Viermal? Hatte sie denn kein Gespür dafür, wann es Zeit war, sich zu verabschieden, mit Grazie zu gehen, ihre guten Wünsche und ihren Stolz einzupacken und zu verschwinden?
»Wir sehen uns später.« Jakes Stimme hatte diesen falschen, viel zu munteren Ton. »Pass auf dich auf.«
»Jake -«, begann Mattie, aber entweder er hörte sie wirklich nicht oder gab vor, sie nicht zu hören. Die einzige Antwort jedenfalls, die Mattie erhielt, war ein dumpfes Krachen, als er auflegte. Was hatte sie überhaupt sagen wollen? Dass sie über seine neueste Affäre Bescheid wusste? Dass es für sie beide an der Zeit war, reinen Tisch zu machen und offen einzugestehen, dass sie in dieser Ehe, die schon lange nur noch Theater war, nicht glücklich waren? Dass es an der Zeit war, den Schlussstrich zu ziehen?
Mattie legte auf und ging langsam aus der Küche in die große Diele in der Mitte des Hauses. Schon wieder war ihr der rechte Fuß eingeschlafen, und sie hatte Mühe, sich beim Gehen auf den Beinen zu halten. Sie stolperte und hüpfte ein Stück auf dem linken Fuß über den blau-goldenen Gobelinteppich, während sie mit der rechten Ferse vergebens den Boden zu finden suchte. Sie merkte, dass sie zu fallen drohte, und nahm mit Schrecken wahr, dass sie nichts tun konnte, um den Sturz abzuwenden. Sie musste das Unvermeidliche hinnehmen und fiel hart aufs Gesäß. Ein paar Sekunden lang blieb sie sitzen wie betäubt, überwältigt von der Unwürdigkeit des Geschehens. »Du Mistkerl, Jake«, sagte sie schließlich heftig und würgte die unerwünschten Tränen hinunter. »Warum konntest du mich nicht einfach lieben? Wäre das denn so schwer gewesen?«
2
»Entschuldigen Sie«, sagte Mattie und zwängte sich an den unnachgiebigen Knien einer dicken Frau in Blau vorbei zu dem freien Sitzplatz direkt in der Mitte der achten und letzten Reihe des Besucherblocks im Gerichtssaal 703. »Tut mir leid. Entschuldigen Sie«, richtete sie an ein altes Ehepaar, das neben der Dicken in Blau saß, und wiederholte ein letztes »Entschuldigung« an die Adresse der attraktiven jungen Blondine, neben der sie gleich Platz nehmen würde. War die vielleicht der Grund dafür, dass Jake sie heute Morgen nicht hier haben wollte?
Mattie knöpfte ihren karamellfarbenen Mantel auf und streifte ihn mit möglichst wenig Bewegungen von den Schultern. Sie spürte, wie sich der Stoff an den Ellbogen zusammenschob und im Rücken spannte, sodass sie kaum noch die Arme bewegen konnte. Vergeblich wand sie sich auf ihrem Sitz, um aus dem Mantel herauszukommen, und störte dabei nicht nur die attraktive Blondine zu ihrer Rechten, sondern auch die ebenso attraktive Blondine, die, wie sie erst jetzt bemerkte, zu ihrer Linken saß. Diese Stadt schien ja über ein unerschöpfliches Reservoir hübscher Blondinen zu verfügen, aber mussten sie alle gerade an diesem Morgen hier im Gerichtssaal sein, wo gleich ihr Mann ein wichtiges Plädoyer halten würde? Vielleicht hatte sie sich im Raum geirrt. Vielleicht war sie statt in die Verhandlung des Falls Cook County gegen Douglas Bryant in eine Blondinenversammlung geraten. Schliefen sie alle mit ihrem Mann?
Matties Blick flog nach vorn, zum Tisch der Verteidigung, wo ihr Mann mit gesenktem Kopf mit seinem Mandanten sprach, einem grob wirkenden Jungen von neunzehn Jahren, der sich in dem braunen Anzug und der Krawatte mit dem Paisleymuster, in denen er zweifellos auf Anraten seines Verteidigers vor Gericht erschienen war, sichtlich unwohl fühlte. Sein Gesicht war merkwürdig leer, als wäre er, genau wie Mattie das eben von sich vermutet hatte, in den falschen Raum geraten und wüsste nicht recht, was er hier zu tun hatte.
Und was habe ich hier zu tun?, fragte sich Mattie unvermittelt. Hatte Jake sie nicht ausdrücklich gebeten, nicht zu kommen? Hatte Lisa ihr nicht ebenfalls von einem Besuch abgeraten, als sie doch noch angerufen und um Rat gefragt hatte? Sie sollte auf der Stelle aufstehen und gehen, sich hinausschleichen, bevor Jake sie bemerkte. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Dass er für ihre Unterstützung dankbar wäre, wie Kim gemeint hatte? War sie deshalb hergekommen? Zu seiner Unterstützung? Oder hatte sie gehofft, einen Blick auf seine neueste Geliebte werfen zu können?
Geliebte, dachte Mattie mit einem schalen Geschmack im Mund und kämpfte gegen einen plötzlichen Würgereiz, während sie ihren Blick über die Zuschauerreihen schweifen ließ. Am äußersten Ende der ersten Reihe entdeckte sie zwei kichernde braunhaarige Mädchen. Zu jung, sagte sie sich. Und zu unreif. Eindeutig nicht Jakes Typ, obwohl sie genau genommen keine Ahnung hatte, welchen Typ Frau Jake bevorzugte. Jedenfalls nicht meinen, dachte sie, und ihr Blick flog über einen braunen Lockenkopf in der zweiten Reihe direkt am Mittelgang, ehe er weiter durch die Reihen wanderte und am ebenmäßigen Profil einer schwarzhaarigen Frau hängen blieb. Mattie erkannte in ihr eine Anwältin aus Jakes Sozietät, die etwa zur gleichen Zeit wie er in die Kanzlei aufgenommen worden war. Shannon Soundso. War ihr Fachgebiet nicht Erbrecht oder etwas ähnlich Unspektakuläres? Was hatte die denn hier zu suchen?
Als spürte die Frau, dass sie beobachtet wurde, drehte sie langsam den Kopf in Matties Richtung. Ihr Blick blieb an Mattie haften, und ihr Mund verzog sich zu einem kleinen, unsicheren Lächeln. Sie überlegt, woher sie mich kennt, dachte Mattie, die diesen Blick zu deuten wusste. Sie erwiderte ihn mit Selbstsicherheit. Mattie Hart, sagte ihr Lächeln, Ehefrau von Jake, des Helden des Tages, des Mannes, um dessentwillen wir alle hier sind, des Mannes, den Sie möglicherweise gestern Abend in einem intimeren Ambiente genossen haben.
Shannon Soundsos Gesicht erstrahlte im Moment des Wiedererkennens. Ach, diese Mattie Hart, besagte das Lächeln. »Hallo, wie geht es Ihnen?« Lautlos formte sie mit den Lippen die Worte.
»Bestens«, antwortete Mattie laut und deutlich. Sie zerrte noch einmal kräftig an dem Ärmel, der sich um ihren Ellbogen bauschte, und hörte, wie das Futter riss. »Und Ihnen?«
»Glänzend«, kam es prompt zurück.
»Ich wollte Sie längst mal anrufen«, hörte Mattie sich erklären und hatte beinahe Angst davor, was sie als Nächstes von sich geben würde. »Ich möchte nämlich mein Testament ändern.« Ach was? Wann hatte sie das denn beschlossen?
Shannon Soundso hörte auf zu lächeln. »Was?«, fragte sie.
Vielleicht ist doch nicht Erbrecht ihr Fachgebiet, dachte Mattie und senkte den Blick zum Zeichen, dass sie das Gespräch beenden wollte. Als sie ein paar Sekunden später noch einmal aufsah, stellte sie erleichtert fest, dass Shannon Soundso, die Frau, die vielleicht oder vielleicht auch nicht mit ihrem Ehemann schlief, ihre Aufmerksamkeit schon wieder nach vorn in den Gerichtssaal konzentrierte.
Mensch, was willst du hier?, fragte sich Mattie. Los, steh jetzt auf. Steh auf und verschwinde, ehe du dich total lächerlich machst. Ich möchte mein Testament ändern? Wo war das denn plötzlich hergekommen?
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte die Blondine zu ihrer Linken und zog an Matties Mantelärmel, noch ehe Mattie ablehnen konnte. Sie lächelte Mattie genau so an, wie diese immer ihre Mutter anlächelte, ein klein wenig künstlich, eher mitleidig als wohlwollend.
»Danke.« Mattie schenkte der Frau ihr aufrichtigstes Lächeln, aber die hatte sich schon wieder abgewandt und blickte erwartungsvoll zum Richterpult hinunter. Mattie zog ihren grauen Wollrock gerade und nestelte am Kragen ihrer weißen Baumwollbluse. Die Blondine zu ihrer Rechten, die einen pinkfarbenen Angorapulli und eine marineblaue Hose anhatte, warf ihr von der Seite einen Blick zu, als wollte sie sagen: Können Sie eigentlich keinen Moment still sitzen? Mattie tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Sie hätte etwas anderes anziehen sollen, etwas, was weniger bieder war, nicht so lehrerinnenhaft, dachte sie und musste lächeln, als Kim ihr in den Sinn kam. Etwas Weicheres, wie zum Beispiel einen pinkfarbenen Angorapulli, dachte sie mit einem neidischen Blick zu der Frau neben ihr. Obwohl sie Angora noch nie gemocht hatte. Es brachte sie immer zum Niesen. Wie auf Kommando begann es in ihrer Nase zu kribbeln, und ihr blieb kaum Zeit, ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche zu kramen und ihre Nase darin zu vergraben, ehe sie losnieste, so explosiv, dass sie das Gefühl hatte, man müsste sie im ganzen Saal hören. »Gesundheit«, sagten die beiden Blondinen in schönem Einklang und rückten ein Stück von ihr ab.
»Danke!« Mattie warf einen besorgten Blick zum Verteidigertisch und stellte erleichtert fest, dass Jake nicht auf sie aufmerksam geworden war. Er war immer noch tief im Gespräch mit seinem Mandanten. »Oh, Entschuldigung!« Sie nieste ein zweites Mal.
Eine Frau in der Reihe vor ihr drehte sich nach ihr um, weiche braune Augen mit hellen Glanzlichtern. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Sie hatte eine tiefe, etwas raue Stimme, die man eher einer älteren Frau zugeschrieben hätte, und das runde Gesicht war von krausen roten Locken umgeben wie von einer Wolke. Irgendwie passt da nichts richtig zusammen, dachte Mattie zerstreut und versicherte der Frau, dass ihr nichts fehlte.
Im Saal wurde es einen Moment unruhig, als der Gerichtsdiener die Anwesenden aufforderte, sich zu erheben, und die Richterin, eine gut aussehende Schwarze mit grau gesprenkeltem dunklen Haar ihren Platz am Kopf des Saals einnahm. Erst da bemerkte Mattie die Geschworenen, sieben Männer und fünf Frauen, dazu zwei Männer, die als Stellvertreter ausgewählt worden waren. Die Mehrzahl der Geschworenen war mittleren Alters, einige allerdings schienen kaum dem Teenageralter entwachsen, und einer, ein Mann, war sicher bald siebzig. Sechs der vierzehn Personen waren Weiße, vier Schwarze, drei waren Hispanos und einer war Asiate. Ihre Gesichter spiegelten Interesse, Ernsthaftigkeit und Erschöpfung in unterschiedlichen Abstufungen. Der Prozess dauerte nun schon beinahe drei Wochen, Anklage und Verteidigung hatten ihre Argumente vorgetragen, die Geschworenen hatten ohne Zweifel genug gehört. Jetzt wollten sie zurück an ihre Arbeit, zurück zu ihren Familien, das Leben wieder aufnehmen, das sie für die Dauer des Prozesses auf Eis gelegt hatten. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen und den Weg fortzusetzen.
Das gilt auch für mich, dachte Mattie und beugte sich ein wenig vor, als die Richterin die Anklage aufforderte, in der Verhandlung fortzufahren. Auch für mich ist es an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen und den Weg fortzusetzen.
Light my fire. Light my fire. Light my fire.
Augenblicklich sprang ein Vertreter der Staatsanwaltschaft auf, knöpfte sein graues Jackett zu, genau wie es die Anwälte in den Fernsehserien immer taten, und trat vor die Geschworenenbank. Er war ein groß gewachsener Mann von vielleicht vierzig Jahren, mit einem schmalen Gesicht und einer langen Nase, die vorn an der Spitze einen Knick nach unten hatte. Ein Rascheln ging durch die Reihen, als die Zuschauer alle gleichzeitig auf ihren Sitzen nach vorn rutschten und die Hälse reckten.
In das erwartungsvolle Schweigen hinein sagte der Staatsanwalt »Meine Damen und Herren Geschworenen« und nahm mit jedem Einzelnen von ihnen Blickkontakt auf, ehe er lächelnd anfügte, »einen schönen guten Morgen.«
Die Geschworenen erwiderten pflichtschuldig das Lächeln, und eine der Frauen gähnte unterdrückt.
»Ich möchte Ihnen für Ihre Geduld während der letzten Wochen danken«, fuhr der Staatsanwalt fort. Er schluckte, und sein großer Adamsapfel sprang über dem blassblauen Kragen seines Hemds in die Höhe. »Es ist meine Aufgabe, Ihnen noch einmal die reinen Fakten dieses Falls darzulegen.«
Ein Hustenanfall packte Mattie plötzlich, so heftig, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Fehlt Ihnen wirklich nichts?«, fragte die Blondine zu ihrer Linken und bot ihr ein Papiertaschentuch an, während die Blondine auf der rechten Seite genervt die Augen verdrehte. Du bist diejenige, stimmt’s?, dachte Mattie, sich mit dem Papiertuch die Augen wischend. Du bist diejenige, die mit meinem Mann schläft.
»Als Douglas Bryant am Abend des vierundzwanzigsten Februar von einem Kneipenbesuch heimkehrte, bei dem er mit Freunden ausgiebig gezecht hatte«, begann der Staatsanwalt, »wurde er von seiner Mutter, Constance Fisher, empfangen und zur Rede gestellt. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung. Douglas Bryant stürmte aus dem Haus. Er kehrte in die Kneipe zurück und trank dort weiter. Um zwei Uhr morgens kam er schließlich nach Hause. Seine Mutter war zu dieser Zeit bereits zu Bett gegangen. Er ging in die Küche, nahm aus einer Schublade ein langes, scharfes Messer, begab sich in das Schlafzimmer seiner Mutter und stieß dieser kaltblütig das Messer in den Leib. Ich glaube, niemand kann sich die Todesangst vorstellen, die Constance Fisher erfasste, als ihr bewusst wurde, wie ihr geschah, und sie tapfer versuchte, die wiederholten Angriffe ihres Sohnes abzuwehren. Insgesamt hat Douglas Bryant seiner Mutter vierzehn Messerstiche beigebracht. Er hat ihr mit dem Messer Lunge und Herz durchbohrt, und als wäre das noch nicht genug, schnitt er ihr danach so gewaltsam die Kehle durch, dass er beinahe den Kopf vom Rumpf trennte. Darauf kehrte er in die Küche zurück und strich sich mit dem Messer, mit dem er seine Mutter getötet hatte, ein Brot. Dann duschte er und ging zu Bett. Am nächsten Morgen fuhr er zur Schule und brüstete sich vor seinen Mitschülern mit der Tat. Einer der jungen Leute rief schließlich die Polizei an.«
Der Staatsanwalt fuhr fort, die so genannten reinen Fakten des Verbrechens aufzuzählen. Er erinnerte die Geschworenen an die Zeugen, die bestätigt hatten, dass Constance Fisher vor ihrem Sohn Angst gehabt hatte; dass die Mordwaffe mit den Fingerabdrücken Douglas Bryants übersät gewesen war; dass seine Kleidung mit dem Blut seiner Mutter getränkt gewesen war. Eine schlichte Tatsache nach der anderen trug er vor, jede für sich schwer belastend, zusammengenommen erdrückend. Wie wollte Jake Hart nach diesem Szenario des Schreckens noch mildernde Umstände geltend machen?
»Es klingt alles ziemlich eindeutig«, hörte Mattie ihren Mann sagen, als hätte er ihre Gedanken gelesen und spräche direkt zu ihr.
Ihr Blick heftete sich auf ihn, als er aufstand, das Jackett seines konservativen blauen Anzugs bereits richtig geknöpft. Sie stellte mit Befriedigung fest, dass er ihren Rat befolgt und statt des blauen ein weißes Hemd gewählt hatte. Die burgunderrote Krawatte allerdings, die er dazu trug, hatte sie noch nie gesehen. Mit einem Lächeln, einem feinen Kräuseln der Oberlippe, das ein wenig an Elvis erinnerte, richtete er das Wort an die Geschworenen, ruhig und gedämpft, beinahe persönlich, wie das typisch für ihn war. Er vermittelte einem das Gefühl, der einzige Mensch im Raum zu sein, dachte Mattie beeindruckt, während sie beobachtete, wie sich jeder einzelne der Geschworenen, ohne sich dessen bewusst zu sein, von ihrem Mann in Bann ziehen ließ und ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zollte. Die beiden Frauen rechts und links von Mattie rutschten erwartungsvoll auf der harten Holzbank unter ihren wohlgeformten Hinterteilen hin und her.
Warum muss er nur so verdammt attraktiv sein, dachte Mattie, die genau wusste, dass Jake sein gewinnendes Äußeres niemals nur als Segen, sondern immer auch als Fluch empfunden und sich in den vierzehn Jahren seiner Tätigkeit als Anwalt nach Kräften bemüht hatte, es herunterzuspielen. Ihm war bekannt, dass viele seiner Kollegen ihm seine Erfolge neideten und die Auffassung vertraten, ihm wäre alles in den Schoß gefallen: das blendende Aussehen, die hervorragenden Noten, der Instinkt, der ihm riet, welche Fälle er annehmen und von welchen er lieber die Finger lassen sollte. Aber Mattie wusste, dass Jake so hart wie jeder andere in der Kanzlei arbeitete, vielleicht sogar härter. Jeden Morgen war er vor acht in seinem Büro und verließ es selten vor acht Uhr abends. Immer vorausgesetzt natürlich, er hielt sich tatsächlich in seinem Büro auf und nicht in einem Zimmer im Ritz-Carlton, dachte Mattie mit Bitterkeit.
»So wie Mr. Doren die Dinge darstellt, erscheint in diesem Fall alles entweder schwarz oder weiß«, sagte Jake und rieb sich die schmale, hervorspringende Nase. »Constance Fisher war eine treu sorgende Mutter und loyale Freundin, von allen geliebt, die sie kannten. Ihr Sohn war ein Hitzkopf, der in der Schule nichts leistete und Abend für Abend in der Kneipe herumsaß und trank. Sie war eine Heilige, er war ihr Todfeind. Sie träumte von einem besseren Leben für ihren Sohn, er war der Albtraum jeder Mutter.«
Jake machte eine Pause und sah zu seinem Mandanten hinüber, der kaum still sitzen konnte vor Unbehagen.
»Das klingt einfach, ich gebe es zu.« Jake wandte sich wieder den Geschworenen zu. Mühelos gelang es ihm, sie in sein unsichtbares Netz zu ziehen. »Aber nichts ist so einfach, wie es aussieht. Das wissen wir doch alle.« Mehrere Geschworene lächelten zustimmend. »Und ebenso wissen wir, dass eine Mischung von Weiß und Schwarz Grau ergibt. Und dazu noch verschiedene Nuancen von Grau.«
Jake drehte den Geschworenen den Rücken zu und ging in der ruhigen Gewissheit, dass die Blicke aller Geschworenen auf ihm ruhten, zu seinem Mandanten. Er hob die Hand und berührte die Schulter seines Mandanten. »Nehmen wir uns also ein paar Minuten Zeit, um die unterschiedlichen Nuancen von Grau zu prüfen. Geht das?« Er wandte sich wieder den Geschworenen zu, als erbäte er ihre Erlaubnis.
Mattie bemerkte, dass eine der Frauen tatsächlich nickte.
»Sehen wir uns also zunächst einmal die treu sorgende Mutter und loyale Freundin Constance Fisher näher an. Ich halte weiß Gott nichts davon, dem Opfer Schuld zu geben«, sagte Jake, und Mattie lachte lautlos vor sich hin, da sie wusste, dass er gleich genau das tun würde. »Ich denke, Constance Fisher war wirklich eine treu sorgende Mutter und loyale Freundin.«
Aber? Mattie wartete.
»Aber ich weiß auch, dass sie eine frustrierte und verbitterte Frau war, die ihren Sohn beinahe an jedem Tag seines Lebens mit Worten misshandelte und häufig auch vor körperlicher Gewaltanwendung nicht zurückscheute.« Jake schwieg, um seine Worte wirken zu lassen. »Keinesfalls will ich damit nun sagen, Douglas Bryant sei ein leicht erziehbares Kind gewesen. Das war er nicht. Vieles, was die Anklage über ihn gesagt hat, trifft zu, und diejenigen unter uns, die selbst Kinder haben«, womit er sich auf subtile Art zu den Geschworenen gesellte, »werden sich nur zu gut vorstellen können, wie frustriert diese Frau war, die sich unermüdlich bemühte, mit ihrem Sohn zurechtzukommen, der ihr nicht gehorchte; der ihr die Schuld daran gab, dass sein Vater die Familie verlassen hatte, als er selbst noch ein kleiner Junge gewesen war; der am Scheitern ihrer zweiten Ehe mit Gene Fisher wesentlichen Anteil hatte; der sich weigerte, ihr die Liebe und die Achtung entgegenzubringen, die sie ihrer Meinung nach verdiente. Aber halten wir einen Moment inne«, sagte Jake und tat eben dies, während alle im Saal atemlos auf seine nächsten Worte warteten.
Wie oft hat er eben diese Stelle geprobt?, fragte sich Mattie, die sich bewusst wurde, dass sie genau wie alle anderen den Atem anhielt. Wie viele Sekunden genau hatte er für diese Pause vorgesehen?
»Halten wir inne und betrachten wir die Quelle all dieser Wut«, fuhr Jake nach vollen fünf Sekunden fort und hatte seine Zuhörer augenblicklich wieder in der Hand. »Kleine Jungen werden nicht böse geboren. Kein kleiner Junge kommt mit Hass auf seine Mutter zur Welt.«
Unwillkürlich drückte Mattie die Hand auf den Mund. Deshalb also hat er diesen Fall übernommen, dachte sie. Und deshalb wird er diesen Prozess auch gewinnen.
Es war eine persönliche Angelegenheit.
Er selbst hatte einmal zu ihr gesagt, die Arbeit eines Anwalts reflektiere seine eigene Persönlichkeit. Hieß das also in Weiterführung dieser Theorie, dass der Gerichtssaal das juristische Pendant zur Couch des Psychiaters war?
Mattie hörte aufmerksam zu, während ihr Mann den Horror der beinahe täglichen Misshandlungen schilderte, die Douglas Bryant von seiner Mutter widerfahren waren: Als er noch ein Kind gewesen war, hatte sie ihm, um ihn zu bestrafen, den Mund mit Seife ausgewaschen; sie hatte ihn ständig als dumm und nichtsnutzig beschimpft; sie hatte ihn immer wieder mit solcher Gewalt geschlagen, dass er Blutergüsse und gelegentlich Knochenbrüche davongetragen hatte – was wesentlich dazu führte, dass Douglas Bryant selbst zuschlug, als er die Misshandlungen nicht mehr ertragen konnte. »Ein Fall wie aus dem Lehrbuch: Das Syndrom des misshandelten Kindes, das selbst zum Misshandelnden wird«, sagte Jake, sich auf das Zeugnis mehrerer Gutachter beziehend, mit großem Nachdruck.
War es bei dir auch so?, fragte Mattie im Stillen ihren Mann. Aber sie wusste schon, dass sie auf diese Frage wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen würde. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Jake verschiedentlich Andeutungen über eine schwierige Kindheit fallen lassen, die bei Mattie, die selbst eine unglückliche Kindheit durchgemacht hatte, sogleich ein Echo auslösten. Aber je häufiger sie sich gesehen hatten, desto zurückhaltender war Jake geworden, und wenn sie versucht hatte, ihn aus der Reserve zu locken, hatte er sich ganz verschlossen und manchmal tagelang hinter einer Mauer verschanzt, bis sie schließlich gelernt hatte, keine Fragen mehr über seine Familie zu stellen. Wir haben so vieles gemeinsam, dachte sie jetzt wie früher so oft in den Momenten drückenden Schweigens. Wir haben beide unter unseren verrückten Müttern, unseren abwesenden Vätern und dem Mangel an Wärme und Geborgenheit in unseren Familien gelitten.
Mattie, die ohne Geschwister aufgewachsen war, hatte ihre Kindheit mit den zahllosen Hunden ihrer Mutter teilen müssen. Nie waren es weniger als sechs gewesen, manchmal bis zu elf, und alle wurden sie verwöhnt und verhätschelt. Sie waren ja auch so viel leichter zu lieben als ein Kind, das Aufmerksamkeit forderte und auch noch dem Vater ähnlich sah, der die Familie im Stich gelassen hatte. Jake war zwar kein Einzelkind gewesen – er hatte einen älteren Bruder gehabt, der bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen war, und einen jüngeren, der einige Jahre vor Matties Erscheinen in die Drogenszene abgetaucht war -, aber Mattie wusste, dass seine Jugend so einsam und leidvoll gewesen war wie die ihre.
Nein, schlimmer noch. Viel schlimmer.
Warum hat er nie mit ihr darüber gesprochen?, fragte sie sich jetzt und hob unwillkürlich den Arm, als wollte sie sich melden, um die Frage jetzt zu stellen. Die Bewegung zog das Auge ihres Mannes auf sich und lenkte ihn von seinem Vortrag ab. Vielleicht hätte ich dir helfen können, sagte sie lautlos, als ihre Blicke sich trafen. Verblüffung, Ärger und Erschrecken flogen über sein Gesicht, alles im Bruchteil einer Sekunde, für niemanden erkennbar außer ihr. Ich kenne dich so gut, dachte sie, ohne das Kribbeln zu beachten, das aus der Tiefe ihres Halses aufstieg. Und ich kenne dich überhaupt nicht.
Und du – du kennst mich ganz gewiss nicht.
3
»Ruhe! Ruhe im Saal!«
Die Richterin wippte in ihrem hochlehnigen Ledersessel auf und nieder, während sie mit ihrem Hammer immer wieder krachend auf den Tisch schlug. Aber die Zuschauer, für den Moment völlig außer Rand und Band, kümmerte das wenig. Einige tuschelten hinter vorgehaltener Hand, andere lachten ganz offen. Mehrere Geschworene unterhielten sich lebhaft miteinander. »Was um alles in der Welt …?« »Was glauben Sie …?« »Was hatte das denn zu bedeuten?«
Jake Hart stand reglos, etwa auf halber Strecke zwischen seinem Mandanten und der Geschworenenbank, mitten in dem ehrwürdigen alten Gerichtssaal mit den hohen Fenstern und der dunklen Holztäfelung. Der Schock lähmte ihn, und die Wut umhüllte ihn wie ein schützender Kokon, während ihn Lärm und Tumult umbrandeten. Er hatte das Gefühl, wenn er jetzt nur einen Schritt machte, ja, wenn er nur Atem holte, würde er explodieren. Er musste sich unbedingt ganz stillhalten. Er musste erst wieder zu sich finden, seine Gedanken sammeln und dann verlorenen Boden wieder gutmachen.
Was zum Teufel war da eben passiert?
Es war doch bestens gelaufen, alles genau nach Plan. Wochenlang hatte er an diesem Schlussplädoyer herumgefeilt, nicht nur am Text, sondern auch an seiner Art des Vortrags, an der Modulation, der Akzentsetzung – welchen Worten er besonderen Nachdruck verleihen wollte und welchen nicht -, am Tempo und an der Spannung – wann er eine Pause machen und wann genau er fortfahren wollte. Es sollte der Vortrag seines Lebens werden, ein Schlussplädoyer, das den aufsehenerregendsten Fall seiner Karriere krönen würde, diesen Fall, den er trotz schwer wiegender Vorbehalte der Seniorpartner der Sozietät übernommen hatte, trotz deren nachdrücklich geäußerter Überzeugung, dass es ein aussichtsloses Unterfangen sei und er nicht die geringste Chance habe, einen solchen Prozess zu gewinnen. Dieser Fall würde ihm, sollte er obsiegen, beinahe mit Sicherheit die Aufnahme in die Sozietät garantieren, ihn im reifen Alter von achtunddreißig Jahren in eine Spitzenstellung seines Berufsstandes katapultieren.
Und er hatte es schon geschafft gehabt. Seine harte Arbeit hatte sich ausgezahlt. Die Geschworenen hatten ihm aus der Hand gefressen. Syndrom des misshandelten Kindes – was zum Teufel bedeutete das schon, bevor er es zur Grundlage seiner Verteidigung erhoben hatte? »Die Parallelen mit dem Syndrom der misshandelten Ehefrau sind unübersehbar und unbestreitbar«, hatte er fortfahren wollen. »Nur ist das misshandelte Kind noch weit hoffnungsloser allem ausgeliefert als die misshandelte Ehefrau, weil es noch weniger Möglichkeiten hat, die Situation zu verändern, noch weniger Möglichkeiten, sich seine Umwelt auszusuchen, seine Sachen zu packen und zu verschwinden.« Die Worte hatten ihm schon auf der Zunge gelegen – er hatte gerade Atem geholt und sich angeschickt, sie über seine Lippen rollen zu lassen, als jemand ihm einen solchen Magenschwinger verpasst hatte, dass ihm die Luft weg geblieben war.
Was war da passiert?
Aus dem Augenwinkel hatte er verschwommen eine Bewegung wahrgenommen, so als wollte jemand seine Aufmerksamkeit gewinnen, und als er hingeschaut hatte, war sein Blick auf Mattie gefallen, seine Frau, die er ausdrücklich gebeten hatte, nicht ins Gericht zu kommen: Da saß sie und lachte wie eine Wahnsinnige. Kichern konnte man das nicht mehr nennen, nein, das war ein grässliches, röhrendes Gelächter direkt aus dem Bauch gewesen. Er hatte keine Ahnung, worüber sie gelacht hatte, vielleicht über seine Worte, über die Kühnheit seiner Argumentation; vielleicht aber hatte sie auch nur ihrer Verachtung Ausdruck geben wollen – für das Verfahren, für den Ablauf der Dinge, für ihn. Dann hatte die Richterin mit ihrem Hammer losgedonnert und den Saal zur Ordnung gerufen, und Mattie hatte sich ungeschickt an den Leuten in ihrer Sitzreihe vorbeigezwängt und, ihren Mantel im Schlepptau, aus dem Saal bugsieren lassen, ohne auch nur einen Moment mit diesem irren, hysterischen Gelächter aufzuhören, das ihm jetzt noch in den Ohren dröhnte.
Fünf Minuten noch. Mehr Zeit hätte er nicht gebraucht. Fünf Minuten noch, und er wäre mit seinem Schlussplädoyer zu Ende gewesen. Die Anklage hätte zur Erwiderung antreten müssen. Da hätte Mattie nach Herzenslust Faxen machen können: auf und ab springen wie ein verrückt gewordenes Steh-auf-Männchen, sich nach Lust und Laune die Kleider vom Leib reißen, Tränen lachen.
Was war nur los mit ihr?
Vielleicht geht es ihr nicht gut, dachte Jake, der nicht herzlos sein wollte. Sie hatte heute Morgen verschlafen, was an sich schon ungewöhnlich war, und dann dieser seltsame Anruf bei ihm im Büro, dieses Klein-Mädchen-Stimmchen, so zart und verletzlich, als sie vorgeschlagen hatte, zur Verhandlung zu kommen. An Mattie Hart war nichts Verletzliches. Sie war stark und kraftvoll wie ein Orkan. Und konnte ebenso zerstörerisch sein. Hatte sie es vielleicht ganz bewusst darauf angelegt, ihn zu Fall zu bringen? War sie deshalb heute Morgen hierher gekommen, obwohl er sie ausdrücklich gebeten hatte, es nicht zu tun?
»Zur Ordnung«, rief die Richterin mit lauter Stimme, aber der Ruf verhallte ungehört.
»Was ist eigentlich los?«, fragte der Angeklagte, in den Augen den verängstigten Blick eines gefangenen Kindes.
Ich kenne diesen Blick, dachte Jake, der seine eigene Kindheit in diesen Augen gespiegelt sah. Ich kenne diese Furcht.
Er schob die unerwünschte Erinnerung weg und versuchte, das Gleiche mit dem Bild seiner Frau zu tun. Aber Mattie stand unverrückbar da, so zart anzusehen und doch so hartnäckig wie immer, von ihrer ersten Begegnung an.
Bloß nicht wieder dieser Quatsch, dachte Jake. Er zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen und den schützenden Kokon zu durchbrechen, der jetzt mehr einem Sarg glich. Er setzte sich neben seinem Mandanten nieder und umfasste die eiskalte Hand des Jungen.
»Ihre Hände sind so kalt«, sagte Douglas Bryant.
»Oh, tut mir leid.« Jake hätte beinahe gelacht, aber in diesem Gericht war für heute genug gelacht worden.
»Wir machen eine halbe Stunde Pause«, verkündete die Richterin, und der Gerichtssaal begann augenblicklich sich zu leeren, als die Leute wie magnetisch angezogen zu den Ausgängen strebten.
Jake spürte, wie Douglas Bryants Hand der seinen entglitt, als der Junge abgeführt wurde. Er sah den Geschworenen nach, die im Gänsemarsch aus dem Saal marschierten. Wie kann ich sie zurückgewinnen?, fragte er sich. Was muss ich sagen, um dieses vernichtende Theater, das meine Frau in diesem Gerichtssaal aufgeführt hat, vergessen zu machen?
Wusste jemand, dass sie seine Frau war?
»Jake …«
Die Stimme war vertraut, weich und gedämpft. Er hob den Kopf. O Gott, dachte er, warum muss ausgerechnet sie hiersein?
»Alles in Ordnung?«
Er nickte, ohne etwas zu sagen.
Shannon Graham hob die Hand, als wollte sie ihn berühren, aber nur Zentimeter von seiner Schulter entfernt hielt sie inne. Einen Moment flatterte ihre Hand ziellos in der Luft. »Kann ich irgendetwas tun?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Er wusste, dass sie in Wirklichkeit fragte, was zum Teufel da los war, aber da er die Antwort so wenig wusste wie sie, sagte er nichts.
»Geht es Ihrer Frau nicht gut?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Sie hat vorhin etwas Merkwürdiges zu mir gesagt«, fuhr Shannon fort, als Jake stumm blieb. »Sie erklärte mir aus heiterem Himmel, sie wolle ihr Testament ändern.«
»Was?« Jake drehte so ruckartig den Kopf, als hätte ihn jemand an den Haaren gepackt.
Jetzt war es Shannon, die mit den Achseln zuckte. »Also, jedenfalls … wenn ich irgendetwas tun kann …«, sagte sie wieder.
»Sie können das für sich behalten«, sagte Jake, aber er wusste, dass sich Shannon Graham, noch während sie sich zum Gehen wandte, bereits vorstellte, wie sie den Kollegen in der Kanzlei von der Szene erzählen würde. Ihr Gang hatte etwas Eiliges, ja, Eiliges, als könnte sie es kaum erwarten, den Ort zu erreichen, den sie anstrebte.
Es spielte keine Rolle. Die Geschichte von Matties Ausbruch würde ohnehin in aller Munde sein, noch ehe Shannon Graham das Haus verlassen hatte. Juristen bildeten in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Sie klatschten wie alle anderen Berufsgruppen mit Leidenschaft. Aufgebauschte Berichte über das Verhalten seiner Frau flogen zweifellos bereits durch die geheiligten Hallen der Gerechtigkeit zur Tür hinaus, um von der heruntergekommenen Straßenecke aus, an der das Gerichtsgebäude stand, ihren Weg über die Stadt zur eleganten Michigan Avenue zu nehmen, wo die Kanzlei Richardson, Buckey und Lang ihre Büros hatte. »Habt ihr gehört, was Mattie Hart heute im Gerichtssaal abgezogen hat?« »Was ist eigentlich mit dieser Frau los?« »Ihr hättet das erleben sollen! Sie hat mitten in seinem Schlussplädoyer angefangen zu lachen wie eine Irre.«
Manchmal wünschte er, sie würde einfach verschwinden.