Zahlenmäßig unterlegen - Malou Theisen - E-Book

Zahlenmäßig unterlegen E-Book

Malou Theisen

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Beschreibung

Der 17-jährige Kai geht gern zur Schule. Nicht nur, da er dort sein Wissen in seinem Lieblingsfach Mathematik erweitern kann, sondern auch wegen seiner besten Freunde Peter und Trina. Als sich die drei mit ihrer Klasse eines Tages der Willkür eines Lehrers ausgesetzt sehen, wird ihnen bewusst, dass sie handeln müssen. Von der Schulleitung und ihrer Vertrauenslehrerin im Stich gelassen, wächst der Klassenverband nur noch enger zusammen und versucht, sich mit den Fakten Gehör zu verschaffen. Als sich der Vorfall jedoch wiederholt, weiß Kai, dass er diesmal nicht schweigen wird und findet seinen eigenen Weg, um die Geschehnisse zu verarbeiten – und gleichzeitig der Schulleitung einen Spiegel vorzuhalten.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0225-1

ISBN e-book: 978-3-7116-0226-8

Lektorat: Clarissa Seiferheldt

Umschlagabbildungen: Orkidia, Connie Larsen, Sergey Ilin, Denisismagilov | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel 1

„Wach auf!“

Das warnende Zischen wurde von einem leichten Stups in die Rippen begleitet. Kai öffnete die Augen und blickte geradewegs in das erboste Gesicht seines Mathelehrers. Neben ihm rutschte Peter verlegen auf seinem Stuhl ein wenig von ihm weg, so, als ob er damit den Zorneswellen entgehen könnte, die an seinen Banknachbarn gerichtet waren.

„Wiederhol doch bitte, was ich eben erläutert habe!“, befahl Herr Tasnoff mit einem gemeinen Lächeln in seinem hageren Gesicht. „Oder möchtest du dich lieber in der Direktion melden und denen erklären, dass du mal wieder überhaupt nichts mitbekommst vom Unterricht?“

Verständnislos starrte Kai ihn weiter stumm an, denn er wusste einfach nicht, wie er schon wieder in so einer schwierigen Lage gelandet war. Mann, er hatte echt die Nase voll davon, dass alles, aber auch alles zurzeit mies für ihn lief. Er hätte sich ohrfeigen können, weil er ausgerechnet in dieser Stunde eingenickt war, denn er wusste sehr genau, dass Herr Tasnoff sich diese Gelegenheit kaum entgehen lassen würde, Kai zu zeigen, wer Meister im Klassenzimmer war. Das hatte wenig mit Mathekenntnissen zu tun, sondern lediglich damit, dass er Lehrer und Kai Schüler war. Wäre es um Begreifen und Begeisterung in punkto Mathematik gegangen, so wäre die Situation wohl eher umgedreht gewesen: Kai war so stark in diesem Fach, dass sich sein Lehrer von ihm herausgefordert und sogar bedroht fühlte. Um unangenehme Konfrontationen an der Tafel zu vermeiden, bemühte sich der Junge eben, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen, doch Einschlafen war dann doch nicht die richtige Tarnung. Was sollte er tun, der Kurs war so langweilig und trocken dargeboten, dass er einfach abschalten musste, um nicht wieder und wieder mit diesem Lehrer anzuecken. Leider hatte er ihn schon mehrmals auf Fehler und falsche Darstellungen hingewiesen, und das machte die Sache nicht wirklich besser.

„Bitte entschuldigen Sie, Herr Tasnoff“, sagte er betont unterwürfig, „ich fühle mich nicht besonders gut und würde mich am liebsten im Sekretariat abmelden und nach Hause gehen.“

Er schaute von unten mit hoffentlich flehentlichem Blick zu dem wütenden Lehrer hinauf und vervollständigte seinen geistesgegenwärtigen Notfallplan mit einem trockenen Hüsteln, gefolgt von theatralischem Seufzen und einer Hand an seiner Stirn, so als hätte er Kopfschmerzen. Sofort trat Herr Tasnoff einen Schritt zurück: Nachdem sich dieses Virus vor ein paar Jahren ausgebreitet hatte, waren alle vorsichtiger im Umgang mit Krankheiten geworden.

Auf keinen Fall konnte Herr Tasnoff jetzt noch sein Spiel verlängern, er wollte schließlich nicht derjenige sein, der ein Schließen der Schule zu verantworten hätte. Mit einer unwirschen Geste gab er Kai also zu verstehen, dass dieser seine Sachen packen und verschwinden sollte.

„Vergiss bloß nicht, dich abzumelden, Freundchen, und ohne ärztliches Attest kommst du morgen nicht um die Prüfung herum, das kann ich dir jetzt schon versichern!“ Er machte einen weiteren Schritt rückwärts, um Kai nicht zu nahezukommen und dabei trat er auf Trinas Schultasche, die nicht am dafür vorgesehenen Haken seitlich an ihrem Tisch hing, sondern wie so oft am Boden lag. Erschrocken hob er den Fuß, dann kickte er ungehalten die Schultasche von sich weg, so dass sie gegen die Wand schlitterte, wo der Großteil des Inhaltes herausquoll.

„Hat eigentlich überhaupt noch jemand hier einen Sinn für Ordnung?“, brüllte er durch die Klasse. Trina wagte nicht einmal, ihre Sachen einzusammeln, obwohl sie innerlich vor Wut kochte. Kai fing ihren Blick ein und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Wenn sie jetzt den Mund nicht hielt, würde ihnen allen mal wieder ein lautstarker Vortrag gehalten werden während dem sich ihr Lehrer immer weiter in Rage redete. Wäre nicht das erste Mal, doch es war immer echt anstrengend, solche unbeherrschten Ausbrüche auszusitzen, und dabei war es noch nicht mal neun Uhr!

Kai blickte von Trina zu Peter, nickte kurz und verließ die Klasse mit einem heiseren „Auf Wiedersehen, Herr Tasnoff“. Der hatte sich zum Glück abgewendet und marschierte auf das Lehrerpult zu, ohne Kai noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Puh! Nur weg hier, dachte dieser und zog erleichtert die Tür hinter sich zu. Er lief den Gang entlang Richtung Ausgang und blieb an der vorletzten Tür stehen. Er klopfte an und während er auf eine Antwort von innen wartete, überlegte er sich schnell eine plausible Geschichte. Er ging die gängigen Symptome durch, von denen jeder mittlerweile gehört hatte und beschloss, ein Zwischending zu erfinden um sich nicht für die nächsten drei Wochen ins Abseits zu bugsieren. Man nahm diese Sache hier sehr ernst, doch drei Wochen zu Hause sitzen und Schulstoff verpassen, das war nicht das, was er sich jetzt wünschte oder brauchen konnte.

„Herein!“, tönte der übliche Sing-Sang der Sekretärin und Kai trat ein. Heizungsluft mit Kaffeegeruch und betäubendem Duft von Puder und Seife schlugen ihm entgegen. Es schnürte ihm fast die Kehle zu und er brauchte sich nicht mal großartig zu verstellen, um seine Geschichte nur mit Mühe herauszubringen.

„Soso, Halsschmerzen, Kopfschmerzen und Übelkeit, ja?“, wiederholte Frau Mirbach seine Aufzählung. „Hm, also ich bin kein Arzt, doch ich denke, du solltest wirklich das Schulgebäude verlassen, man will ja nicht wieder so ein Drama wie letztes Jahr, nicht wahr?“, meinte sie und griff nach den Scheinen in der zweiten Schublade.

„Name?“

„Kai Lessner.“

„Klasse?“

„12B“

„Klassenlehrer?“

„Frau Andres.“

„Hast du vor, noch auf dem Heimweg einen Arzt aufzusuchen oder gehst du geradewegs nach Hause?“

Hmm, was wäre jetzt besser? Ohne Attest würde er die Matheprüfung mitschreiben müssen, doch wenn er die Option Arzt wählte, dann würde Frau Mirbach seine Eltern erreichen müssen, bevor er das Gebäude verlassen durfte. So war das eben, wenn man noch nicht achtzehn war! Mann! Ihm fehlten gerade mal drei Monate und fünf Tage! Außerdem wäre es sicher schwieriger, einem Arzt etwas vorzumachen als einem cholerischen Mathelehrer mit Minderwertigkeitsgefühlen oder einer älteren Schulsekretärin, die eigentlich schon fast zu betagt war, um die ganze Arbeit zu bewältigen und deswegen nie Zeit hatte, lange zu diskutieren.

„Ich möchte erst mal heim, um mich hinzulegen“, sagte er also. Das war nicht mal gelogen. Frau Mirbach griff nochmals in die Schublade und reichte ihm den gelben Zettel für Abwesenheit. Den würde er datiert und unterzeichnet wieder hier abgeben müssen, wenn er innerhalb von zwei Tagen wieder zum Unterricht erscheinen würde. Er bedankte sich, schniefte noch einmal laut und verabschiedete sich. Bevor er zur Tür hinaus war, hatte sich Frau Mirbach schon wieder über einen ihrer dicken Ordner gebeugt und ihre Brille zurechtgerückt. Sie sah Kai noch einmal eindringlich an, lächelte dann völlig überraschend und wünschte ihm viel Glück.

Viel Glück? Seltsam. Wie wäre es denn mit „gute Besserung“? Sein Herz klopfte schneller als gewöhnlich und ihm wurde ganz heiß in der Magengegend. Dieser Blick und dann das Lächeln: Sie hatte ihn durchschaut und trotzdem gehen lassen. Vielleicht wendeten sich seine Umstände doch wieder zum Besseren. Er dankte ihr gedanklich, während er die schwere Sicherheitstür aufdrückte und über den Hof vom Schulgelände lief. Doch was jetzt? Etwas ratlos blieb er am Fußgängerübergang stehen, obwohl die Ampel auf Grün stand. Menschen hasteten an ihm vorbei und er fühlte fast ein wenig Neid über ihre geschäftige Zielstrebigkeit. Alle wussten wohin, nur er offensichtlich nicht. Er schüttelte den Kopf über seine trüben Gedanken, rückte seine Tasche zurecht und machte sich auf den Weg zu seiner Straßenbahnstation. Zufrieden stellte er fest, dass er nur drei Minuten zu warten hatte und sah erwartungsvoll in die Richtung, aus der die Bahn kommen würde. Schon bald begann der Boden unter den Sohlen seiner Schuhe leicht zu vibrieren, die Bahn hielt, er stieg in ein fast leeres Abteil und setzte sich an einen Fensterplatz. Die Scheibe war eklig verschmiert und er nahm sich in Acht, den Kopf dagegen zu lehnen, doch die übertriebene Hitze im Abteil machte ihn schon wieder schläfrig und müde. Nur mit Mühe blieb er wach, bis er endlich aussteigen konnte. Als die Türen sich öffneten, sog er dankbar die frische Luft ein und fühlte sich sofort ein wenig besser. Er überquerte die Straße und ging zügig die Baumallee entlang, an der sich Einfamilienhäuser reihten, bis er zu Nummer 47 kam. Hier wohnte er mit seinem älteren Bruder, seinem Vater und dessen zweiter Frau Yvonne. Die beiden waren seit über zehn Jahren ein Paar, doch verheiratet waren sie nicht. Kais Mutter war nicht mehr am Leben. Er konnte sich kaum noch an sie erinnern, doch er hatte zwei schöne Fotos von ihr in seinem Zimmer. Eines stand auf seinem Nachttisch. Sie saß auf ihrem Pferd, welches sich von der Kamera abgewendet hatte, und beide, Pferd und Reiterin, schauten zurück zu demjenigen, der das Bild aufnahm. Seine Mutter lachte strahlend, und das Pferd spitzte freundlich und neugierig die Ohren. Das zweite Foto war ein Schnappschuss, auf dem sich seine Eltern lachend an den Händen hielten, während sie gemeinsam in einen See hüpften. Das war noch vor Ulrichs Geburt gewesen, und auch wenn das Foto alt und etwas verwackelt war, so spiegelte es für Kai dennoch ihre Liebe und Lebensfreude wider. Es war für die beiden Jungs und ihren Vater sehr hart gewesen, ohne Marion auszukommen. Als Yvonne in ihr Leben trat, wurde vieles einfacher.

Kai zog seinen Schüsselbund aus der Jackentasche und öffnete die Haustür. Gleichzeitig rief er ein munteres „Hallo“, doch er war nicht sicher, ob jemand zu Hause war. Ulrich war sicher in der Uni, denn er bereitete sich auf seine Prüfungen vor. Yvonne müsste eigentlich da sein, außer sie wäre zum Laden oder mit dem Hund raus. Doch ein Blick ins Wohnzimmer klärte diese Frage schnell: ein dickes schnarchendes Fellbündel lag in der Mitte des Teppichs. Kai musste lächeln, als der Hund ein Auge öffnete und ihn förmlich anlachte, dann gähnte er und rollte seine Zunge aus und wieder ein. Gina war eine zweijährige Leonberger Hündin und war als Welpe in die Familie gekommen. Sie war unaufdringlich und gehorsam, doch mit Yvonne verband sie eine besondere Freundschaft, die aus mehr als nur Futternapf und Spaziergängen bestand. Da Yvonne nicht berufstätig war, verbrachten die beiden eine Menge Zeit zusammen und waren ein gutes Team. Kai wandte sich der Küche zu, als er oben rasche und leichte Schritte hörte. Yvonnes freundliche Stimme rief: „Ist jemand da? Kai, bist du das?“ Er änderte die Richtung und stieg die Stufen zu ihr hoch, während er den Reißverschluss seiner Jacke öffnete. „Ich bin’s, Yvonne.“

„Hallo Kai, warum bist du nicht in der Schule?“, fragte seine Stiefmutter erstaunt. Dann sah sie ihn genauer an und fragte mit leichter Besorgnis in der Stimme:

„Sag mal, geht es dir nicht gut?“

Sie kam ihm entgegen und griff nach seiner Hand, ihre hellen Augen auf sein Gesicht gerichtet.

„Ich weiß nicht so recht“, antwortete Kai und bemühte sich, harmlos und gesund auszusehen. „Ursprünglich wollte ich dem Mathelehrer entkommen, doch jetzt, wo ich zuhause bin, wird mir klar, dass ich wohl nicht ohne Grund eingeschlafen bin.“ Yvonne musste lachen:

„Du bist im Unterricht eingepennt? Na das wird euer Arbeitsverhältnis ganz sicher stärken und positiv beeinflussen!“ Doch dann wurde sie wieder ernst, denn Kai war mittlerweile leicht grau im Gesicht. Seine Hand in ihrer fühlte sich heiß und etwas feucht an, seine Stirn glänzte und über seiner Oberlippe perlten winzige Schweißtropfen.

„Kai, du solltest dich hinlegen, denke ich“, riet sie ihm und zog ihn leicht in Richtung seines Zimmers. Sie ging voraus und öffnete die Tür. Das Fenster war noch offen und das Federbett zurückgeschlagen; es war kalt im Zimmer. Mit zwei, drei schnellen Handgriffen war alles bereit: Fenster zu, Bett gemacht, Heizung ein wenig aufgedreht. Der Holzboden begann sogleich zu knacken, das tat er immer, wenn das Holz sich am Leitungsrohr ausdehnte und die Nachbardielen die Spannung aufnahmen. Kai schlüpfte erst aus der Jacke und hängte sie sorgsam an den Kleiderhaken an seiner Tür, doch dann überkam ihn eine solch heftige Übelkeitswelle, dass er an Yvonne vorbei ins Bad stürzen musste und es noch gerade so zur Toilette schaffte. Yvonne wandte sich mit ihrem üblichen zarten Taktgefühl ab, ging die Treppe hinunter in die Küche und sah nach, ob sie noch Tee im Haus hatten.

Kapitel 2

Im Laufe des Nachmittags besserte sich Kais Zustand allmählich; er hatte den größten Teil davon verschlafen. Am Abend saß er im Bademantel auf dem Sofa und sah fern. Er bekam recht wenig vom Programm mit, da er sich immer noch müde und abgeschlagen fühlte. Er war sich ziemlich sicher, dass er am nächsten Tag noch nicht zur Schule gehen konnte. Das brachte einige Schwierigkeiten mit sich: Er hatte kein ärztliches Attest und würde die Mathearbeit also mitschreiben müssen. Doch eigentlich ging das nicht, da er die letzte Stunde vor der Prüfung abgebrochen hatte. Die Regeln der Schule sahen in solchen Fällen vor, dass die Prüfung nachgeschrieben werden muss. Das würde mehr Arbeit für seinen Lehrer bedeuten, der ja dann zum selben Stoff zwei Tests zusammenstellen müsste. Kai war sich sicher, dass die Nachprüfung wohl um einiges schwerer werden würde. Er ließ sich seitwärts auf das Sofa sacken, legte seinen schmerzenden Kopf auf ein kühles Kissen und schloss die Augen. Dann war da auch noch die Sache mit Paula. Er hatte den Abend gestern nicht so toll gefunden. Sie war ihm oberflächlich und ein wenig albern vorgekommen, als sie ihm erklärte, seine Art sich zu kleiden und seine Freunde würden ihr nicht so recht passen. Dass er das Essen bezahlt hatte, war ihr allerdings recht gewesen. Er hatte sich noch nicht einmal bei ihr gemeldet, um zu fragen, ob sie auch krank geworden war. Er fand das eher unwahrscheinlich, denn er hatte einen anderen Nachtisch als sie gehabt. Als sie sich voneinander verabschiedet hatten, war er beinahe erleichtert gewesen, dass sie ihn lediglich auf die Wange geküsst hatte. Er hatte noch nicht viel Erfahrung in Sachen Mädchen und Beziehungen, doch dass diese Verabredung nicht optimal gelaufen war, begriff er dann doch.

Seine trüben Gedanken wurden unterbrochen, als er Ullis Schlüssel an der Haustür hörte. Er wusste, dass Yvonne und sein Vater noch nicht aus dem Schwimmbad zurück sein konnten, welches die beiden wöchentlich gemeinsam besuchten. Es hatte Kai einiges an Überzeugungskraft gekostet, bis sie ihn endlich alleine zurückließen, doch sie wussten schließlich, dass er zurechtkommen würde. Das Schlimmste hatte er ja bereits hinter sich.

„Hallo Kai“, rief Ulli, während er seine Jacke aufhängte. „Lebst du noch?“

Er kam ins Wohnzimmer, warf einen Blick auf das Gesicht seines Bruders und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Mann, siehst du schlecht aus! Wenn ein Mädel dich so krank macht, dann lass es besser ziehen!“, lachte er. Kai stöhnte und schüttelte leicht den Kopf, doch dann musste er auch ein wenig lachen.

„Ach Ulli, ich glaube, du hast recht. Das wird wohl nichts mit Paula und mir.“

„Weißt du, sie ist wohl ganz nett zum Anschauen, aber ich habe mich bereits öfter gefragt, was dir an ihr gefällt“, gab Ulli zu. Er wollte Kais Gefühle nicht verletzen, vor allem, weil er sehen konnte, dass es ihm immer noch nicht besonders gut ging. „Stört es dich, wenn ich mir ein Brot mache und dann wieder zu dir komme? Wie schlimm ist der Brechreiz?“, erkundigte er sich. Kai winkte ab.

„Yvonne hat mir tolles Zeug besorgt, übel ist mir gar nicht mehr, ich habe nur Kopfschmerzen und fühle mich müde. Du kannst also gerne in meiner Gegenwart essen, ich werde dich nicht anreihern.“ Ulli verschwand in der Küche. Als er kurze Zeit später wieder ins Wohnzimmer kam, hatte er neben seinem eigenen Abendbrot auch noch einen Tee und Salzstangen für Kai mitgebracht. Gemeinsam sahen sie sich einen recht hohlen Fernsehfilm an, froh, den anderen in der Nähe zu haben, ohne sich unterhalten zu müssen. Sie waren schon immer nicht nur Brüder, sondern auch Freunde gewesen. Kai lag später in seinem Bett und war froh, diesen anstrengenden Tag hinter sich zu lassen. Seine letzten Gedanken, bevor er einschlief, drehten sich um seine Familie, seine Leute, die so selbstverständlich für ihn dagewesen waren und auf die er sich immer verlassen konnte … und sie sich auf ihn.

Sieben Uhr! Aufwachen! Kai setzte sich auf und brachte seinen Wecker unsanft zum Schweigen. Warum fühlte er sich so seltsam? Dann fiel es ihm wieder ein: Mathelehrer, Heimreise undeutlich umrissen, das große K…, schwummeriger Nachmittag, Abendbrot mit Ulli vor dem Fernsehapparat! Erstaunt stellte er fest, dass es ihm im Gegensatz zu allen Erwartungen möglich schien, aufzustehen und tatsächlich zur Schule zu gehen. Sein Vater hatte ihm bereits erklärt, dass er sich wohl eine leichte Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte. So etwas kommt brutal wie ein Schnellzug, klingt aber bei sonst gesunden und starken Leuten recht schnell wieder ab. Sein Innenleben fühlte sich noch etwas wässrig an und sein Bauch sowie sein Kopf waren auch noch etwas beleidigt, doch das würde er schon schaffen. Nach einem leichten Frühstück würde er zum Unterricht gehen, das wäre zumindest die Lösung, was die Mathearbeit anging. Wie sich die Sache mit Paula entwickeln würde, war ihm noch nicht klar, doch dass es so nicht weiter gehen könnte, das wusste er. Überhaupt, was war das für eine Art, an seine Freundin zu denken: die Sache mit Paula. War sie überhaupt seine Freundin? Wenn ja, warum zog es ihn nicht in ihre Nähe? Wenn nicht, warum sagte er es ihr nicht, bevor das Ganze noch komplizierter wurde? Erstmal heute über die Bühne bringen, glücklicherweise besuchte sie nicht dieselbe Schule. Von wegen über die Bühne bringen, dachte Kai und musste trotz aller Sorgen grinsen, denn er freute sich auf die Probe später. Die hätte er auch ausfallen lassen müssen, wenn er nicht zum Unterricht erschien. Alles in allem war seine Entscheidung richtig, auch wenn er sich noch etwas angeknackst fühlte. Die Mathearbeit würde er trotzdem hinkriegen.

Oder vielleicht doch nicht. Irgendwie hatte es der Tasnoff wieder einmal hinbekommen, schon beim Austeilen der Prüfungsfragen Angst und Unsicherheit bei seinen Schülern hervorzurufen. Er hatte die Angewohnheit, darauf zu bestehen, dass das Blatt mit dem Text nach unten auf der Schulbank zu liegen hatte, bis er mit dem Austeilen fertig war. Das sollte etwaige Versuche, sich gegenseitig schnell noch Info zukommen zu lassen, während der Lehrer abgelenkt war, verhindern und alle Art von Solidarität wohl im Keim ersticken. Danach hatte er sich vor seinem Pult aufgebaut und „Umdrehen!“ in die Klasse gebellt. Kai sah auf einen Blick, dass der Test besonders schwierige Fragen beinhaltete und dass drei der fünf Aufgaben aufeinander aufbauten. Das bedeutete großen Druck für ihn und seine Klassenkameraden, da schon ein Zeichenfehler, beziehungsweise ein Zahlendreher die restlichen Aufgaben in Mitleidenschaft zog. Der Tasnoff war dafür bekannt, dass ein solcher Fehler aus seiner Sicht null Punkte auf der Übung nach sich zog. Er hielt nichts davon, den vielleicht korrekten Gedankengang seiner Schüler lobend hervorzuheben und dementsprechend zu bewerten.

Als die Stunde endlich vorbei war, schien die ganze Klasse bedrückt. Mit seinem üblichen hämischen Lächeln sammelte der Lehrer die letzten Tests ein, wobei er sich nicht scheute, dem vielleicht noch schreibenden Schüler das Blatt unter dem Füller wegzuziehen.

„Das reicht!“, meinte er dann, „das wird dich auch nicht mehr retten!“

Die Klasse verließ den Saal in Richtung Sporthalle. Alle schleppten sich unmotiviert den Flur entlang und Kai landete neben Trina. Sie blickte ihn kurz an und er sah betroffen, dass sie weinte. „Mensch Trina, was ist los? Du weinst ja!“, stellte er blöderweise fest. Sie wischte sich schnell die Augen mit ihrem Taschentuch ab und zuckte die Schultern.

„Ich habe die Prüfung versemmelt … wieder mal“, sagte sie leise. „Wenn das so weitergeht, sehe ich echt schwarz für meine Versetzung.“ Kai war ratlos und wusste nichts darauf zu antworten. Er überlegte kurz und sagte dann:

„Ich kann dir zwei Vorschläge machen: Komm doch nach der letzten Stunde heute Nachmittag mit in unsere Theaterprobe. Das lenkt dich vielleicht ab und du kannst Peter und mir bei pantomimischen Rätseln zusehen und dich schlapp darüber lachen, wie wir schmelzendes Speiseeis darzustellen versuchen.“

Peter, der seinen Namen gehört hatte, schloss zu ihnen auf. Er hatte mitgehört, was Kai gesagt hatte und nickte gleich begeistert mit dem Kopf.

„Das macht echt Spaß“, bestätigte er, „es wäre schön, noch ein paar Leute zu finden, die mitmachen wollen“.

„Wir sind also rasant vom Zugucken zum Mitmachen gekommen, ja?“, meinte Trina und konnte schon wieder ein wenig lächeln. „Wow! Und die Oscarverleihung ist dann Ende des Jahres, oder wie?“ Die beiden Jungs sahen sich an und grinsten über ihren Erfolg.

„Was ist denn eigentlich dein zweiter Vorschlag?“, wollte Trina nun wissen. Sie sah Kai aus immer noch traurigen Augen an, doch er konnte schon ihre Neugier sehen.

„Wenn wir uns ein wenig organisieren, könnte ich den Mathestoff mit dir durcharbeiten und dir vielleicht behilflich sein.“

„Uff, freiwillig in der Freizeit büffeln? Das würdest du tun?“, fragte sie ungläubig.

„Ich gebe es ungern zu, aber …“ Weiter kam Kai nicht, denn Peter lehnte sich zu Trina und flüsterte ihr verschwörerisch zu:

„Du musst wissen, dieser Junge LIEBT Mathe! Ich krieg das ja mit, schließlich teilen wir eine Schulbank!“

Kai sah ein wenig betreten aus und es tat Peter schon fast leid, sich so kindisch benommen zu haben. „Hey, wisst ihr was, mir würde das auch guttun!“, sagte er, und das war genau das Richtige. Die drei jungen Leute blickten sich freundlich an und jeder dachte für sich, dass es schön war, sich von anderen angenommen und verstanden zu fühlen. Mittlerweile waren sie an der Turnhalle angekommen; vor den Umkleiden trennten sich ihre Wege.

Stunden später betrat Kai wieder eine Garderobe, diesmal die vom Festsaal. Der etwas schäbige Raum befand sich hinter der Bühne und war voll bepackt mit Kostümen und Requisiten. Rechts von der Eingangstür stand ein goldener Thron aus Pappmaschee, halb von einem faserigen Ziegenfell bedeckt. Die Regale quollen von allen möglichen Masken und Stoffen über, die mehr oder weniger ordentlich gebündelt waren. Es gab schwere Samtstoffe in dunklen Farben, fast durchsichtige Kunstseide in verschiedensten Farben, gewirkte, gewebte und geriffelte Bänder die unterschiedlich breit waren und Körbe voller Woll- und Stoffreste. Bemalte Leinwände stapelten sich zusammengerollt auf jeder verfügbaren Fläche. Ausgediente durchgesessene Sofas und Ohrensessel bildeten mit nicht zusammenpassenden Stühlen und Hockern einen großen Halbkreis um einen riesigen Tisch an der Wand. Darauf stand ein Wasserkocher, eine Kaffeemaschine sowie eine interessante Auswahl an sauberen und gebrauchten Tassen und Gläsern. Neben dem Tisch gab es ein Spülbecken, einen wackeligen Küchenschrank und einen lädierten, mannshohen Kühlschrank, der laut summte. Längs einer Wand befanden sich vier Schminktische mit altmodischen Spiegeln, die von nackten Glühbirnen umrahmt waren, dazwischen, wie in einem Friseursalon, Stationen mit allerlei Theaterschminke und Perücken. Der Raum hatte einen besonderen Duft, der sich aus Staub, Schminke, Holzpolitur und Zedernholz zusammenstellte, letzteres gegen Motten. Kai mochte diesen Geruch sehr gern, da er ihn mit vielen frohen Erlebnissen in Verbindung brachte. Er hängte seine Jacke an das überfüllte Monster von Mantelbrett und setzte sich auf die Bank darunter, um Schuhe und Socken auszuziehen. Der hölzerne Fußboden war warm und erstaunlich sauber und alle liefen hier barfuß, denn das war ihrem Intendanten sehr wichtig. Eigentlich war Rolf Mayer Geographielehrer, doch er leitete die Theatergruppe schon seit Jahren. Er war nicht mehr besonders jung, doch er konnte sich gut in seine Schauspieler hineinfühlen, war humorvoll und leidenschaftlich in seiner Arbeit und lebte seine persönliche Kreativität mit einer wechselnden Belegschaft von interessierten Schülern aus. Dieses Jahr würden sie ein Pantomimestück im Sommer auf dem Schulfest vortragen, die Vorbereitungen waren in vollem Gange.

Kais Augen suchten im schon recht vollen Raum nach Trina. Da war sie, neben Peter am anderen Ende des Tisches! Die beiden hielten Tassen in den Händen und unterhielten sich angeregt. Peter gestikulierte etwas heftig und ein Teil seines Kaffees schwappte aus der Tasse auf den Tisch, woraufhin Rolf ihm einen Spüllappen zuwarf. Hier in der Theatergruppe duzten sich alle, jedoch wäre es keinem eingefallen, dies auch im Schulgebäude oder sogar im Unterricht zu tun. Es war eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen allen Beteiligten und gab der ganzen Truppe ein Gefühl von Zusammenhalt, was sehr förderlich für ihren Umgang miteinander war und ihre gemeinsame Arbeit sehr angenehm machte. Wahrscheinlich hatte Rolf deswegen schon vor Jahren eine Obergrenze an Teilnehmern einführen müssen, obwohl er immer wieder Ausnahmen machte. Es fiel ihm eben schwer, Leute aus seiner Truppe auszugrenzen, nur, weil es zu viele waren. Disziplin war ohnehin kein Thema, denn niemand wollte hier störend auffallen.

Zur eigentlichen Probe musste man einige Stufen zur Bühne hinaufsteigen. Diese war recht geräumig, mit schweren Vorhängen an beiden Seiten, durch die man durchschlüpfen konnte. Was vom Saal aus als einziges Stück wirkte, bestand in Wirklichkeit aus einzelnen Streifen, die ein einfaches Durchkommen ermöglichten. Der Vorhang zum Saal hin schien aus ungeahnten Höhen herabzufallen und war lediglich in der Mitte geteilt. Eine altmodische Kurbel an einer Seite erlaubte ein Öffnen und Schließen von der Mitte aus. Wenn man in diesen Falten stand und versuchte in den Saal zu sehen, kam man sich wie ein Zwerg im Gewand einer riesigen Großmutter vor. Der Boden der Bühne war zum Saal hin leicht gerundet und mit weißem Klebeband markiert. Dies sollte verhindern, dass die Schausteller, vom Licht der Scheinwerfer geblendet, über die Kante in den Saal stürzten. Dass dies trotzdem manchmal vorkam, war meistens nicht besonders schlimm: Die Bühne war lediglich etwa achtzig Zentimeter hoch. Zudem wurde allen Neuzugängen ganz früh eingebläut, sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen, und alle waren durch das Gebärdenspiel gut mit ihrem Körper vertraut. Gleichgewichtsübungen standen ebenso auf der Tagesordnung wie gutes Aufwärmen und grundlegende Sprung- und Tanztechniken. Die Dielen des Bühnenbodens waren ebenfalls sehr sauber und frei von Splittern, Spalten und Rissen. Man sollte sich nicht um seine nackten Fußsohlen sorgen müssen während der Arbeit.

„Schön, dass du da bist!“, sagte Kai zu Trina, als er sich zu seinen Freunden gesellte. „Ich freu mich, dir zu zeigen, womit man seine Stimmung ganz wunderbar aufhellen kann!“

Peter musste lachen und Trina musterte ihn prüfend.

„Wirkt ja ganz schön schnell bei einigen!“, sagte sie, und musste dann ihrerseits lachen, weil Peter errötete.

„Stimmt!“, pflichtete Kai ihr bei, und fand, es war einfach schön, gemeinsam hier zu sein. Es freute ihn, zu sehen, dass Trinas Augen nicht mehr vom Weinen gerötet waren. „Wenn du magst, kannst du vom Saal aus zusehen. Das stört hier keinen und das Schlimmste, was dir passieren kann, ist, dass Rolf dich einlädt, mitzumachen.“

„Wer ist Rolf?“, fragte Trina und blickte durch den Raum.

„Unser Leittier“, meinte Peter etwas salopp.

Wie seltsam er sich auf einmal benahm, dachte Kai, er hatte sich schon am Vormittag so doof ausgedrückt. Er sah Peter ins Gesicht, und dann dämmerte es ihm: Peter wollte Trina beeindrucken! Wie spannend! Trina legte den Kopf etwas schräg und sah Peter aus den Augenwinkeln nachdenklich an; es war ihr wohl auch aufgefallen. Kai beobachtete, wie sie sich rasch abwendete, doch er konnte noch ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht erkennen. Na dann würde es wohl ihm überlassen sein, ob und wieviel Mathe gelernt werden würde! Sie mussten zudem noch eine Uhrzeit und einen Ort festlegen; viele gute Vorsätze wurden einfach nicht umgesetzt, weil man sich nicht organisieren konnte; das wusste Kai aus eigener schmerzlicher Erfahrung.

„Wann wollen wir uns denn treffen?“, fragte er die beiden. Sie sahen ihn erstaunt an, denn sie hatten das Mathedesaster schon ganz vergessen. Dann verdunkelte sich Trinas Miene und sie seufzte schwermütig.

„Kai, das ist total nett von dir, doch ich kann das einfach nicht. Du verschwendest nur deine Zeit. Ich muss mir einfach eine gute Technik überlegen, wie ich in der letzten Prüfung mogeln kann.“ Sie sah die beiden Jungen an, die fassungslos zurückstarrten.

„Das darfst du nicht!“, stieß Peter hervor. „Du fliegst von der Schule, wenn man dich erwischt!“ Kai nickte heftig mit dem Kopf. Es war in der Tat seit etwa zwei Jahren ein persönliches Steckenpferd ihres Direktors, jegliche Form von Unehrlichkeit im Keim zu ersticken. Damals hatten sich ein paar Gesellen die Abiprüfungsfragen im Vorfeld besorgt, das Examen mit Glanz und Gloria bestanden und das dann – irrsinnigerweise – in den sozialen Medien gepostet … gerade so, als ob Lehrer und Schulleiter das nicht lesen könnten! Das Endresultat war durchaus klar in seiner Botschaft: Vier Schüler konnten ihren Hut nehmen, nachdem ihnen die Prüfung aberkannt wurde. Die zwei Lehrer, die mit verwickelt waren, wurden auf das Schärfste verwarnt. Einer der beiden hatte wohl die Unterlagen im Lehrerzimmer nicht sicher verwahrt, während der andere aus Neugier den versiegelten Umschlag vorzeitig geöffnet hatte, um ihn dann in seiner Mappe herumzutragen. Die Unehrlichen brauchten also nur beherzt zupacken, schnell zu vervielfältigen und die Originale wieder in die Mappe, beziehungsweise ins Schubfach, zurückbringen. Seitdem waren alle, Lehrer wie Schüler, äußerst gewissenhaft und vorsichtig, denn der Ruf der Schule hatte in den Medien stark gelitten und keiner wollte, dass an ihm noch ein Exempel statuiert würde.

Kai und Peter waren also mit Recht total erschrocken über Trinas Lösungsvorschlag und machten sich sogleich daran, ihr diesen auszureden. Doch dann pochte Rolf auf den Holztisch und alle begaben sich auf die Bühne: Die Probe hatte begonnen.

Kapitel 3

Es war kurz nach halb sechs, als Kai, Peter und Trina endlich gemeinsam über den Schulhof zur Straßenbahn liefen. Kai fühlte sich müde und abgekämpft; es war ein langer Tag gewesen. Er wollte nur noch nach Hause und den anderen schien auch nicht der Sinn nach großer Planung zu sein. Deshalb vereinbarten sie rasch ein Treffen bei Peter um halb zwei am nächsten Nachmittag. Seine Eltern hatten eine geräumige Gartenlaube, die gleichzeitig als Rumpelkammer und Bibliothek des Haushaltes diente. Dort könnten sie ungestört sein und alle waren mit diesem Vorschlag zufrieden. Kai verabschiedete sich von den beiden und überquerte die Straße, da er in die andere Richtung musste, um heimzukommen. Bevor er einstieg, sah er noch, dass Peter seine gerade angekommene Straßenbahn nicht bestieg, sondern gemeinsam mit Trina auf die Nummer 19 wartete. Er fand das sehr nett von Peter, denn es dämmerte bereits. Der Frühling ließ noch auf sich warten, es wurde abends früh dunkel, vor allem heute, wo der Himmel den ganzen Tag bedeckt gewesen war. Schön, dass morgen Samstag war. Doch halt! Das bedeutete auch, dass Paula sicher heute noch etwas mit ihm unternehmen wollte. Sie hatten sich die letzten Wochen regelmäßig Freitagabend verabredet, es war schon beinahe eine Selbstverständlichkeit geworden. Kai hatte total vergessen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Ein wenig seltsam kam ihm das schon vor; er war schon lange nicht mehr so begeistert wie zuvor und wusste, dass er früher oder später darüber nachdenken musste. Er verstand noch nicht viel vom weiblichen Geschlecht, doch da war jemand, den er fragen konnte: Yvonne würde ihm vielleicht helfen können. Froh, dass er jetzt wenigstens ansatzweise einen Plan hatte, schloss Kai die Augen für einen Moment und freute sich, dass er Paula wenigstens für heute Abend, ohne lügen zu müssen absagen konnte.

Als er zu Hause ankam, sah er, dass unten die beiden Fenster zur Straße hin hell und freundlich erleuchtet waren. Er beschleunigte seinen Schritt und trat mit Hilfe seines Schlüssels ein. Leckerer Essensduft schlug ihm entgegen, der Flur war fast völlig mit Hund ausgefüllt.

„Na, hast du einen schönen Tag verbracht?“, fragte Kai, während er sich zu der Hündin auf den Boden hockte und ihre Ohren streichelte. Sie sah in freundlich an, blieb aber ansonsten ruhig liegen. Yvonne hatte recht viel Zeit damit verbracht, ihr das beizubringen. Nun erhob sich Gina im Haus lediglich auf ein diskretes Handzeichen hin; es war einfach angenehmer, mit zum Beispiel einer vollen Einkaufstüte oder einem Wäschekorb über einen liegenden Hund zu steigen, als von dessen Versuchen, schnell aufzustehen und aus dem Weg zu gehen, gefällt zu werden. Ob das für Dackel- und Terrierbesitzer ebenfalls wichtig war, schien unwahrscheinlich, aber in diesem Fall machte es das Zusammenleben deutlich reibungsloser.

„Hallo Yvonne!“, rief Kai in Richtung Küche, aus der neben den betörenden Düften auch Musik drang. Seine Stiefmutter schaute zur Tür heraus:

„Ach Kai, du bist es!“ Sie wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und kam ihm bis zur anderen Seite des Hundes entgegen. Sie sah ihn prüfend an und bemerkte sofort die leichten Ringe unter seinen müden Augen und die weißen Flecken, die wie große Klammern um seine Mund- und Kinnpartie lagen. Dann trat sie rückwärts in die Küche, um Kai Platz für seinen Riesenschritt über Gina zu geben. Er folgte ihr und setzte sich auf einen der Küchenstühle. Der Tisch war schon gedeckt und alle Spuren der Vorbereitungen verschwunden. Lediglich der Kompostbehälter ließ Rückschlüsse auf das Abendessen zu: Kartoffelschalen, Zwiebel- und Knoblauchhäute und jede Menge Kleinzeug warteten gemeinsam mit dem Kaffeesatz darauf, im Garten entsorgt zu werden. Freitags aß immer die ganze Familie zusammen; es gab auch kaum Besuch zu dieser Mahlzeit, denn die Vier wollten nach einer anstrengenden Woche diese Zeit nutzen, um sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen, Entscheidungen zu treffen, die sie alle betrafen und – sehr selten – Reibereien aufzuklären und Lösungen für Probleme zu finden.

„Stellst du bitte die Gläser auf den Tisch, dazu bin ich noch nicht gekommen“, bat Yvonne Kai.

„Klar“, sagte er sofort, froh, etwas erledigen zu können. „Das duftet ganz herrlich“, meinte er dann und versuchte, einen Blick in die Töpfe auf dem Herd zu werfen. „Gestern um diese Zeit dachte ich, dass ich nie wieder Freude am Essen haben würde, doch das sieht heute ganz anders aus!“ Sie lächelten sich an und Yvonne beschloss, ihn nicht gleich mit Fragen zu löchern. „Habe ich noch Zeit für einen Anruf?“, fragte der Junge. „Ich habe mich seit vorgestern Abend noch nicht wieder bei Paula gemeldet.“

„Sie hat vorhin versucht, dich hier zu erreichen“, antwortete Yvonne betont neutral. Mann! Kai war schon wieder leicht verärgert. Warum konnte Paula sich nicht merken, dass freitags immer Probe nach der Schule war? Es konnte doch wohl nicht so schwierig sein, schließlich war das jede Woche der Fall!

Verstimmt setzte er sich ans Telefon im Wohnzimmer und wählte Paulas Nummer. Er hätte sie auch über sein Handy erreichen können, doch das benutzte er nur im Notfall. Seine Nummer hatte er ihr nicht gegeben, dafür hatte die Familie ein Festnetz. Er wollte nicht immer und überall erreichbar sein, Handyzombies gab es schon genug und er wollte das Auto sehen, das ihn anfuhr! Er musste über seine eigene schlechte Laune lachen, leider ging Paula genau in der Sekunde dran.

„Ja hallo, du scheinst ja sehr fröhlich zu sein!“, waren ihre ersten Worte. Oh je! Wie sollte er ihr jetzt verklickern, dass er zu müde war, um sich mit ihr zu treffen? Schnell hüstelte er in den Hörer und bat dann um Entschuldigung.

„Ich habe mich verschluckt“, log er. Dann kam er gleich zur Sache: „Wir können uns heute nicht treffen, Paula“, sagte er und bemühte sich, seine Stimme bedauernd klingen zu lassen. „Wir haben heute Familiensitzung und es scheint länger zu dauern.“

„Hm, das ist aber kurzfristig. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Freitagabend jetzt unsere Zeit ist“, meinte Paula sehr viel kühler. „Du hast ja schon nachmittags keine Zeit für mich, wegen deiner Proben!“ Aha, dann hatte sie es also doch auf dem Radar! Was sollte das ganze Theater eigentlich? Wollte sie jetzt irgendwelche Besitzansprüche geltend machen?

„Ich möchte eigentlich nicht immer wieder davon anfangen“, erklärte er. „Es ist ja nicht so, als ob du das nicht im Vorfeld gewusst hättest. Schließlich haben wir uns nach einer unserer Theateraufführungen kennengelernt!“

„Du bist wohl doch mies drauf“, stellte Paula kurz und bündig fest. „Es ist wohl echt besser, wenn wir uns heute nicht sehen, Spaßbremsen kann ich schlecht vertragen, das weißt du doch. Melde dich einfach, wenn du besser drauf bist … falls das dir gelingen kann!“

Verblüfft schaute Kai den stummen Hörer in seiner Hand an: Sie hatte einfach die Verbindung unterbrochen! Er konnte es kaum fassen, doch gleich danach zuckte er gedanklich die Schultern und legte auf. Wenn sie es so haben wollte, seinetwegen auch ok. Er würde sich sicher nicht auf dieses alberne Getue einlassen!

Es tat gut, sich darüber zu ärgern. Er vermutete sogar, dass es leichter war als alle anderen möglichen Reaktionen. Von Herzschmerz war allerdings nichts zu spüren. Kai ging kopfschüttelnd zurück in die Küche und half Yvonne bei den restlichen Vorbereitungen, dankbar für ihr Feingefühl, das ihr ermöglichte, natürlich und heiter mit ihm umzugehen.