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»Ich bringe jede zum Singen.« Ein unbedacht dahergesagter Satz bringt Sänger John eine Wette ein, die er nicht gewinnen kann. Lara trifft keinen Ton, aber er soll sie zur Sängerin ausbilden. Darauf hat er keine Lust – bis sie tanzt und damit längst vergessene Saiten in ihm zum Klingen bringt. Mit aller Kraft klammert er sich an die Wette, denn wenn er aufgibt, verstummt auch die Melodie in seinem Inneren. Als Laras Tanzpartner ausfällt, braucht sie für den anstehenden Auftritt auf der Hochzeit ihrer besten Freundin rasch Ersatz. Da kommt ihr John, ein begnadeter Sänger und Musiker, gerade recht. Doch dass sich ein Musiker so wenig mit Paartänzen auskennt, damit hat sie nicht gerechnet. Und auch nicht damit, dass ihr Herz in seiner Nähe aus dem Takt gerät. Doch die Schatten seiner Vergangenheit lauern noch immer über ihm.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Andrea Ego
Zarte Klänge zwischen uns
Liebesroman
Im Herzen der Schweiz, wo ich herkomme und es leckere Schokolade, gute Messer und unglaublich schöne Berge gibt, läuft vieles ein wenig langsamer und anders. Ich liebe unser Tal und die Berge rundherum, die schrulligen Leute und den Herbstwind.
Wir Schweizer werden ohne »ß« gross. Weil ich unser Schriftbild schön finde, stolz auf diese Schweizer Eigenheit bin und vor allem die Vielfalt der deutschen Sprache liebe, verwende ich konsequent »ss«.
Ich danke euch allen schon im Voraus für das Verständnis, was die Rechtschreibung angeht, und wünsche trotzdem ein schönes Leseerlebnis.
Lara sprang aus dem Wagen auf den von der Sommersonne noch warmen Asphalt, schloss das Auto ab und hastete los. Ein Blick auf die Uhr bestätigte, was sie schon längst wusste: Sie war zu spät zum Training. Die Ampel stand auf Rot. Einen Fluch unterdrückend wartete sie, bis das Fussgängersignal auf Grün wechselte, dann rannte sie los.
Ruths Cafébar war brechend voll. Dennoch blickte die Geschäftsführerin auf, als Lara an der Glasfront vorbeihuschte. Sie winkte Ruth zu und betrat das Haus durch den anderen Eingang. Zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, band sie sich die blonden Haare im Nacken zusammen. Hoffentlich würde Rina ihr nicht den Hals umdrehen. Schon wieder.
Als sie den riesigen Tanzraum betrat, warteten Rina und ihre Freunde bereits auf sie. Durch das Fenster fielen Sonnenstrahlen herein und tauchten den modern eingerichteten Raum in warmes Licht. Laras beste Freundin Rina hatte zusammen mit ihrem Verlobten Rafael einen Neubau erstellt, mit dem auch Rinas grösster Traum von einer eigenen Tanzschule in Erfüllung gegangen war. Jedes Mal, wenn Lara ihre beste Freundin traf, strahlte diese über das ganze Gesicht, weil es nicht nur als selbstständige Tanzlehrerin, sondern auch mit Rafael so fantastisch lief.
Die schwarzhaarige Tanzlehrerin hob fragend eine Augenbraue, als sie ihre beste Freundin erblickte.
Lara setzte ein Lächeln auf und liess sich auf einem der Stühle an der Wand nieder, um die Strassenschuhe auszuziehen. »Tut mir leid, ich bin zu spät. Der Verkehr war schrecklich.« Lara schloss die Riemchen ihrer Tanzschuhe, wich Rinas Blick aus und stand auf. Sie gesellte sich zu den anderen der Showtanzgruppe, um sich für das Training bereit zu machen.
»Echt? Ich fand es heute ziemlich leer auf den Strassen.« Max sah sich in der Gruppe um und erhielt nur undefinierbares Gemurmel als Antwort.
Ein Schatten schlich sich in Rinas Blick. »In letzter Zeit bist du oft spät.« Entgegen ihrer Befürchtung klang Rina nicht wütend, sondern eher besorgt.
»Wie gesagt, der Verkehr. Ausserdem haben wir in der Arbeit viel zu tun. Es tut mir leid, dass ich schon wieder zu spät bin. Das nächste Mal werde ich pünktlich sein. Aber jetzt bin ich ja da, und wir können loslegen.«
Das schlechte Gewissen schlug mit einem Hammer auf Laras Brust ein, sodass sich ein unangenehmes Ziehen bis in ihren Bauch ausbreitete. Sie wusste, dass es nicht besser würde. Auch beim nächsten und übernächsten Training würde sie wahrscheinlich später kommen. Doch wenn sie mit Rina darüber sprach, musste sie auch den Grund dafür nennen, und das konnte sie nicht. Darüber konnte sie noch nicht einmal mit ihrer besten Freundin sprechen.
»Leider nicht.« Für einen Moment presste Rina die Lippen aufeinander und liess den Blick über die vier Tanzpaare schweifen, die sich zum Training versammelt hatten, bis er wieder bei Lara landete. »Weisst du das von Stefan noch nicht?«
Überrascht hob Lara die Augenbrauen. »Stefan?« Suchend sah sie sich im Raum um, konnte ihren Tanzpartner jedoch nicht finden. Bisher war er immer pünktlich erschienen, zumindest pünktlicher als sie. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das Lachen fehlte, das sie verband, die Leidenschaft, mit der sie die Showtänze einstudierten und probten, bis auch die kleinste Bewegung sass.
Thomas, der mit seinen vierundzwanzig Jahren der Jüngste ihrer Gruppe war, brach die eingetretene Stille. »Er meinte, er wollte dich selbst informieren.«
»Worüber sollte er mich informiert haben?« Die Stimmung im Raum drückte auf ihr Gemüt. Ohne auf eine Antwort zu warten, suchte Lara das Handy aus ihrer Tasche und entsperrte es. Neun Anrufe hatte sie verpasst und drei Nachrichten noch nicht gelesen. Alle stammten von Stefan.
Thomas war schneller. »Seine Schwester rief mich an. Er hatte einen Unfall. Ein Lieferwagen rammte ihn seitlich. Sein Bein wurde gequetscht, genaueres wissen wir auch noch nicht.«
Als hätte sie verstanden, nickte Lara, doch in ihr war nur dieses Zittern, das nicht nur ihre Gefühle, sondern auch ihre Gedanken beherrschte. Hilfe suchend wandte sie sich an Rina, die die Lippen zusammenpresste und dann die Arme hob, um Lara an sich zu ziehen. Verloren liess sie sich hineinfallen, drückte ihre beste Freundin an sich und atmete tief durch. Zumindest versuchte sie es, allerdings fühlte es sich eher nach einem Schnappen an.
»Er hat mir geschrieben.« Lara löste sich aus der Umarmung, sosehr sie sie auch brauchte, und entsperrte ihr Smartphone. »›Hey, Lara. Hatte einen Unfall. Keine Sorge, geht mir gut. Kann heute nicht ins Training. Gruss, S‹«, las sie vor. »›Scheisse, Sprunggelenk gebrochen und Knie verdreht. Kommt gut.‹ ›Mann, Lara, ruf endlich zurück!‹« Mit brennenden Augen hob sie den Blick, schluckte. »Das war vor zwei Stunden.«
Um ihre Gedanken nicht jedem zu offenbaren, wandte sie ihren Blick zum Fenster hinaus. Sie war eine verdammt schlechte Freundin. Nicht nur, dass sie zu spät zum Training gekommen war, nein, sie hatte auch den Hilferuf ihres Freundes nicht gehört. Und das alles nur wegen …
»Hey, alles in Ordnung?« Rina legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie so, dass sie ihr in die Augen blicken konnte. »Ihm ist nichts wirklich Schlimmes passiert, und es wird ihm bald wieder besser gehen«, sagte sie so leise, dass niemand sonst es hörte.
In Laras Innerem drehten sich Schuldgefühle und Gewissensbisse umeinander wie in einem Wirbelsturm. Der Tag sass ihr in den Knochen und wollte sie zusammen mit dieser Hiobsbotschaft in die Knie zwingen. Normalerweise würde sie eine solche Nachricht nüchterner sehen. Wie Rina. Doch die Entwicklungen der letzten Tage, der ganzen letzten Woche brachten sie schon genug aus der Bahn.
Zitternd atmete Lara ein und nickte. Rina hatte recht. Zwar war Stefan verletzt, aber es war nichts, das nicht wieder heilte. »Danke.«
»Ruf ihn an.« Rinas warme Stimme mischte sich mit dem Klimpern eines Schlüsselbundes. »Geh in unsere Wohnung. Dort hast du Ruhe. Wir fangen schon mal mit dem Training an. Und wenn du fertig bist, dann kommst du zurück, und ich spiele deinen heissen Lover.«
Wider Willen grinste Lara, als sich für einen Wimpernschlag das Bild von Stefan, der sich mit einer Frau vergnügte, in ihrem Kopf formte. »Als würde ich Stefan je als Lover gewinnen.«
Rina lachte und winkte sie mit der Hand raus. »Los, geh. Wir wollen anfangen.«
Lara nahm ihre Tasche sowie den Schlüsselbund und drückte ihre Freundin erneut, bevor sie sich von der Gruppe verabschiedete.
Sobald sie allein war, kehrte die Schwere zurück. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, ihr, die sowieso nicht die Beste der Gruppe war und den anderen hinterherhinkte. Rina hatte sie darum gebeten, in der Showtanzgruppe mitzuwirken und für Auftritte zu proben. Sogar bei Rinas Hochzeit sollte sie mitmachen. Beim bittenden Blick ihrer Freundin hatte sie sich auf das Experiment eingelassen und mit dem Tanzen begonnen. Wider Erwarten bereitete es ihr unheimlich viel Spass und machte ihren Alltag etwas bunter. Die Bewegung, die Musik, dazu all die tollen Leute, die sie zum Lachen und Nachdenken brachten … Auch wenn sie das erst seit einem Jahr wusste, liebte sie das Tanzen. Es erfüllte sie und brachte Leichtigkeit in ihren Alltag.
In Rinas Wohnung fiel zumindest ein Teil der Anspannung von Lara ab. Sie war allein, Rafael war nicht zu Hause. Noch während sie Stefans Nummer wählte, spazierte sie ins Wohnzimmer, wo sie bei einem Fenster stehen blieb. Gedankenverloren blickte sie nach draussen und sah nichts. Einzig das Tuten des Freizeichens drang in regelmässigen Abständen in ihr Bewusstsein.
Endlich nahm Stefan den Anruf entgegen. »Hey, Lara, alles klar?«
Seine fröhliche Stimme zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. »Nein, ganz und gar nicht. Wieso lässt du dich auch überfahren?«
Stefan lachte und brachte damit all die Steine ins Rollen, die es sich auf ihrer Brust gemütlich gemacht hatten. »Genau genommen wurde ich nur angefahren. Ich bitte darum, das in Zukunft zu beachten«, witzelte er. »Aber für die Trainings muss ich mich leider entschuldigen. Du brauchst jemand anderen. Da ist ziemlich viel kaputt, sagen die Ärzte. Das Sprunggelenk hat es offenbar stark in Mitleidenschaft gezogen. Ein Teil des Knochens ist abgesplittert. Und den Meniskus hat es erwischt. Aber das ist offenbar nichts, das einen süssen Krankenpfleger rechtfertigen würde.«
»Stefan!«
Er lachte. »Was? Ist doch so. Da schwirren nur Frauen um mich herum.«
Das Lächeln auf Laras Lippen verblasste kein bisschen. »Es tut mir leid, dass ich deine Anrufe nicht gehört habe. In der Arbeit geht es gerade drunter und drüber. Aber das wird schon wieder.« Müde strich sie sich über das Gesicht und verhinderte im letzten Moment ein schweres Ausatmen. Er hätte sie nur danach gefragt. »Was soll ich nur ohne dich tun? Du bist der Beste. Ich brauche dich, um all meine Fehler auszugleichen!« Obwohl sie lachte, fühlte sich der Gedanke schwer an. Wie ein klebriger Klumpen wanderte er in ihren Bauch.
Stefans tiefer Atemzug liess ihn gleich noch ein gutes Stück schwerer werden. »Das brauchst du nicht, und das weisst du auch. Das wissen wir alle. Du tanzt gut, dafür, dass du erst ein Jahr trainierst.«
Lara horchte auf. Irgendetwas an seiner Stimme warnte sie, allerdings konnte sie den Finger nicht darauf legen. »Was hast du noch zu sagen?«
»Nichts.«
Stefan log. Sie erkannte es an der gezwungen fröhlichen Tonlage, an der Gleichgültigkeit, die er mit aller Macht in dieses eine Wort pressen wollte. »Stefan, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, ich schwöre dir, ich komme dich jetzt im Krankenhaus besuchen und lasse dich erst in Ruhe, wenn du mir die Wahrheit gesagt hast.«
»Ich habe nichts zu verbergen, Lara, glaub mir doch.«
Nicht, wenn er so flehend sprach. Dann log er.
Ergeben seufzte er. »Schau einfach, dass du zu deinen Trainingsstunden kommst und einen Ersatz für mich findest, dann ist der Auftritt an der Hochzeit auch kein Problem.«
Lara fiel es wie Schuppen von den Augen. »Du wirst dann noch nicht gesund sein.«
Wieder atmete er schwer. »Ich werde dann noch nicht gesund sein«, wiederholte er bestätigend. »Du brauchst einen anderen Partner für die Show.«
Mechanisch nickte sie. »Ich frage Gerry, vielleicht hat er Zeit.«
»Oh, das ist eine gute Idee!« Stefan klang ganz begeistert. »Zumindest hat er Erfahrung.«
Lara nickte. Natürlich hatte Gerry Erfahrung. Er war der beste Tänzer, den sie kannte, und das mit Abstand. Jede einzelne Bewegung wirkte so leicht, so beschwingt, dass sie sich manchmal vorstellte, wie er einfach davonschwebte. Und sie … sie fühlte sich eher wie ein Pinguin. Die Art Pinguin, die auf dem Boden blieb und um die anderen herumwatschelte. Ganz eindeutig. Noch dazu tanzten alle in der Gruppe schon deutlich länger als sie. Obwohl sie immer wieder Komplimente bekam, fürchtete sie manchmal, dass diese ihr nur Mut machen sollten.
»Es tut mir leid, wirklich. Das war so nicht geplant. Ich wollte diesen Auftritt wirklich mit dir geniessen und wünschte, ich könnte dir beistehen.« Stefan räusperte sich, als wüsste er nicht recht, ob er noch weitersprechen sollte.
Obwohl er es nicht sehen konnte, schüttelte Lara den Kopf. Hinter den Häusern verschwand die Sonne und senkte sich dem Horizont entgegen. Stefan wusste vielleicht als Einziger, wie sehr sie sich vor dem Auftritt fürchtete. Wenn sie es Rina erzählte, hätte diese ein so schlechtes Gewissen, dass sie die Show direkt abblasen würde. Dabei war es ihr Traum, auf der Hochzeit eine Tanzshow zu haben. »Das werde ich schon schaffen. Ich finde jemanden, der mit mir tanzt. Kein Problem.« Zumindest hoffte sie das.
»Danke, Lara, du bist die Beste!«
Das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück. »Ich gebe mir Mühe.«
Stefan lachte. »Ich weiss. Bis ein andermal, und pass auf dich auf.«
»Werde ich. Bis bald und gute Besserung!«
Als sie auflegte, fühlte sich Lara leer. Für den Auftritt hatte sie sich auf Stefan verlassen, und nun brach ihr Fundament einfach weg, als hätte sie ihn sich lediglich eingebildet.
Sie gab sich einen Ruck und kehrte zur Gruppe zurück. Die Klänge von Kenny Logans Footlose drangen an ihre Ohren und liessen ihrem Herzen Flügel wachsen, als könnte es sich dadurch von der Last befreien, die es an den trockenen Boden kettete. Die Gruppe tanzte wie wild, Thomas liess seine Partnerin unter dem Arm hindurchtänzeln und machte ein überraschtes Gesicht, als hätte er es nicht kommen sehen.
»Na?« Rina trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Augenblicklich erstarb der Tanz der Gruppe, und jemand machte die Musik aus.
Lara nickte und lächelte, auch wenn es in ihr noch immer aussah, als würde der Himmel weinen. »Ihm geht es den Umständen entsprechend gut. Offenbar kann er aber weder an den kommenden Trainings noch am Auftritt für deine Hochzeit teilnehmen. Sein Knie und das Sprunggelenk hat es zu sehr erwischt.«
»Autsch!«, sagte Thomas.
Seine Partnerin Kim stiess einen unterdrückten Fluch aus. »Wünsch ihm gute Besserung von uns, wenn du ihn das nächste Mal siehst. Und er soll in Zukunft zusehen, dass er nicht wieder überfahren wird.«
»Gerade eben legte er sehr viel Wert darauf, dass er ›nur‹ angefahren wurde, nicht überfahren.« Unwillkürlich grinste Lara und liess ihre Tasche am Rand des Tanzraumes auf den Boden sinken. »Kommt, lasst uns trainieren!
John trank den Rest seines Bieres in einem Zug leer und beobachtete, wie die Perlen des Kondenswassers im unteren Drittel des Glases herunterliefen. Sie rannen ruhig über das Glas, bald würde der warme Sommertag ihnen ein Ende bereiten. Wenn er sie nicht beobachtete, ihr Wunder nicht in sich aufsog, dann tat es niemand. Dann waren die Wassertropfen da gewesen und doch nicht. Es wäre, als hätten sie nie existiert. Niemand sonst sah sie, obwohl so viele Menschen im Biergarten sassen und sich ein Feierabendbier oder gar einen Cocktail gönnten. Sie lachten, sprachen, diskutierten. Es war warm, der Sommer gerade angebrochen. John liebte diese Zeit, wenn sich die Sonne nicht mehr hinter Wolken versteckte und er ihre Kraft auf der Haut spürte, obwohl sie bereits untergegangen war. Doch heute konnte ihm diese Tatsache kein Lächeln entlocken.
»John!«, rief Mike, der Bassist ihrer Band, und riss ihn damit aus seinen Überlegungen.
John hob den Blick, presste die Lippen zusammen und verstrich die Wassertropfen auf dem Glas mit seiner Hand. Die Bewegung führte zu einem Kreisen seiner Umgebung. Offenbar hatte er schon ein oder zwei Bier zu viel gehabt. War auch nötig gewesen nach der Probe. Eine Probe ohne neue Songs. Wieder einmal. Dennoch hob er die Hand, als der Blick der jungen Bedienung den seinen traf. Sie nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte.
»Was ist?«, fragte er und ignorierte die stark zusammengezogenen Augenbrauen des Bassisten.
Dieser hob die Hände und liess sie auf den Tisch fallen. »Habt ihr das gehört? Wir haben zehn Minuten über unsere Zukunft gesprochen, und er säuft nur. Dem ist es egal, was aus der Band wird.« Als er Rob und Daniel ansah, flogen seine schulterlangen, schwarzen Haare nur so durch die Luft.
»Ist es nicht«, widersprach Rob, der Gitarrist und zweiter Sänger.
»Und wieso haben wir dann seit Monaten keinen Vorschlag mehr für einen neuen Song?« Mike wies eine erstaunliche Treffsicherheit auf, wenn es darum ging, in Johns Wunden zu bohren. »Wir brauchen neue Stücke, sonst gehören wir bald zum alten Eisen. Und das hier« – er tippte auf einen Haufen Papier in der Mitte – »ist die grösste Chance unserer ganzen Karriere.«
John atmete tief durch und hob die Hand, als er sein frisches Bier bekam und Rob wieder Partei für ihn ergreifen wollte. Sosehr er seinen besten Freund und Bandkollegen schätzte, musste er seine Kämpfe selbst austragen. »Was steht denn in der grossen Chance?«
Er wusste es. Natürlich hatte er den Vertrag gelesen, den das Musiklabel Winters Music ihnen anbot. Doch im Gegensatz zu Mike war er alles andere als begeistert.
»Winters Music will uns unter Vertrag nehmen, das steht da drin. Weisst du eigentlich, wie gross die sind?« Mike funkelte ihn aufgebracht an. »Die zweitgrössten in der Schweiz, und sie haben internationale Beziehungen. Wir könnten ganz gross rauskommen!« Die Vorstellung gefiel ihm offenbar derart gut, dass er seinen Frust vergass und wild lachte.
John nickte, seine Gedanken drifteten wieder ab. Früher hatte er von einer solchen Chance geträumt. Früher, als Charly ihn noch lächelnd begrüsst hatte. Seit sie ihn im vergangenen Herbst fallen lassen hatte, fühlte sich das Leben grauer an. Trister. Und seither wünschte er sich keine Groupies, die ihm den Weg zum Wagen verunmöglichten. Er wollte einzig und allein in Ruhe auf seiner Couch liegen und ein Bier nach dem anderen saufen, bis er dort einschlief. O wie schön waren solche Abende!
»Wir haben alle noch Jobs, die wir nicht so schnell kündigen können«, warf Daniel, der Drummer ein. Er hatte Oberarme wie andere Oberschenkel und rasierte seinen Schädel immer kahl. Selbst im Winter stachen einige Tattoos unter den Pullovern hervor, doch jetzt im Sommer machten sie beinahe so viel Eindruck wie die Oberarme selbst. Dabei war er der friedlichste Mensch, den John kannte.
»Genau. Ausserdem will ich gar nicht professionell Musik machen.« John hob die Arme hinter den Kopf und streckte sich, bis seine Knochen knacksten.
Ungläubig richteten sich drei Augenpaare auf ihn. Selbst Rob schaffte es nicht, seine Überraschung zu verbergen.
Entschuldigend hob John die Hände. »Ich denke einfach … es ist zu früh. Wir sind nicht gefestigt genug. Auch wenn sich Winters Music nach einem genialen Deal anhört, ist er es nicht. Habt ihr gesehen, dass wir eine Leadsängerin brauchen?«
Mike sah ihn erwartungsvoll an, und als er nichts antwortete, atmete er tief durch. »Und wo ist das Problem?«
Allmählich reichte es John. »Sieh dich um. Siehst du hier eine Frau? Nein. Und warum? Weil wir eine Männerband sind.« Dieser Argumentation sollte doch auch ein unterbelichteter Bassist wie Mike folgen können.
»Dann suchen wir uns eben eine!« Mike warf die Arme in die Luft. »Das kann doch nicht so schwer sein.«
»Nun ja …«, begann Rob nachdenklich und legte den Kopf von der einen Seite auf die andere. »So einfach ist es nicht. Sie müsste ja nicht nur menschlich, sondern auch musikalisch zu uns passen. Ausserdem bleibt das Problem mit den Songs bestehen. In letzter Zeit hatten wir wirklich wenig neue, und dann noch mit einer Frauenstimme …« Er schnalzte mit der Zunge, ein eindeutiges Zeichen, dass er mehr als einen kleinen Zweifel hegte.
John wich den Blicken seiner Freunde aus und beobachtete den Verkehr, der sich an der roten Ampel vor dem Biergarten staute. Erstaunlicherweise fühlte er sich nicht wie mitten in der Stadt. Wahrscheinlich war das den vielen Bäumen und Blumen zu verdanken, die auf der Terrasse des Biergartens und rundherum gediehen. Die Ampel sprang auf Grün, jemand hupte, die Autos setzten sich eins nach dem anderen in Bewegung.
»Ihr versteht doch auch was von Musik«, sagte er leise, ohne die Blechkolonne aus den Augen zu lassen. »Wieso schreibt ihr nicht selbst mal einen Song, wenn euch mein Tempo nicht passt?«
Seine Freunde lachten auf, doch im Gegensatz zu Mike schwang bei Rob und Daniel weder Neid noch Schadenfreude mit.
Mike hingegen wühlte weiter in seiner Wunde. »Vielleicht mache ich das ja. Einen Song schreiben. Dafür muss ich nur Charly finden und sie so richtig rannehmen, dann küsst mich die Muse, nicht wahr?« Er wartete, bis John seinen Blick erwiderte, und trank betont langsam aus seinem Bierglas.
John ballte die Hände zu Fäusten und überlegte sich, wie er den besten Treffer landen konnte, um seinem Bandkollegen den grösstmöglichen Schmerz zu bereiten. So wie die Erwähnung der Liebe seines Lebens in seinem Inneren schmerzte. Mindestens.
Auch wenn es nicht möglich sein dürfte, grinste Mike noch breiter. »Wie ich hörte, singt sie nicht schlecht. Wollen wir sie fragen?«
»Mike.« Rob sah ihn strafend an, doch als er das Grinsen registrierte, seufzte er nur.
Auch Daniel setzte sich für ihn ein und rief den Bassisten zur Vernunft. »Lass ihn in Ruhe, Mike.«
»Ist schon okay.« John zwang sich dazu, die Erinnerung an Charly aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Auch wenn es nie möglich sein würde. Eine Frau wie Charly vergass man nicht, egal, wie sehr die Erinnerung an sie schmerzte. »Es ist längst vorbei.«
»Ja, Mann!« Mike grinste.
Oh, wie gern er es ihm aus dem Gesicht prügeln würde.
»Endlich sagst du etwas Vernünftiges. Also, bist du dabei?«, fragte Mike.
John atmete tief durch. Er hatte den Vertrag immer wieder gelesen. Abgesehen davon, dass sie zehn brandneue Songs bis einen Monat nach Vertragsabschluss verlangten und auch einzelne Stücke mit einer Frau singen sollten, war es kein schlechtes Angebot. Kein wirklich schlechtes. Ganz zu schweigen von dem Alter, in dem sie sich befanden. Normalerweise wurden Bands, deren Mitglieder im Durchschnitt über dreissig waren, nicht mehr einfach so unter Vertrag genommen. Mit zwanzig galt man schon als alt. Teenie Groupies standen nicht auf alte Säcke.
Rob seufzte. »Und was machen wir mit der Sängerin?«
So konnte er nicht weitermachen. John wollte kein alter Sack sein, der die Chance seines Lebens vielleicht nicht genutzt hatte, obwohl sie sich ihm auf dem Silbertablett präsentiert hatte. Er wollte es Charly zeigen. Er musste ihr beweisen, dass er kein Loser war, der nur Träumen aus Seifenblasen hinterherjagte, statt seine Ziele zu verfolgen.
»Finden wir«, beschloss John. »Ich bringe jede zum Singen.«
Mikes überraschter Ausdruck wich viel zu schnell einem breiten Grinsen. »Ein Satz, den sowohl ein Musiker als auch ein Mafioso sagen könnte.«
Seinem Unmut zum Trotz grinste auch John. »Tja, wer weiss, welche Karriere ich insgeheim anstrebe.« Er trank einen Schluck des frischen, kühlen Bieres.
»Würde dir stehen.« Mike hob sein noch halbvolles Glas und trank es in einem Zug leer. »Also, du bringst jede zum Singen?«
»Singen ist nicht schwer. Man muss einfach die eigene Stimme finden.« John lächelte, und vielleicht zum ersten Mal an diesem Abend war es ehrlich. Die Musik war für ihn schon immer ein Ventil gewesen, eine Flucht aus dem Alltag und gleichzeitig der Ausgleich, den er brauchte. Früher hatte er von einer Karriere geträumt, bis er erkannt hatte, dass er sein Hobby behalten möchte. Diesen Vertrag nun zu sehen, brachte die Träume seiner Jugend zurück. Mit dem, was er liebte, genug Geld zu verdienen, um davon leben zu können, lockte ihn mehr, als er zugeben wollte.
»Jaja.« Mike winkte mit der Hand, und John unterdrückte ein Seufzen. Egal, wie oft er ihm erklärte, was das Singen und die Musik für ihn bedeuteten, er würde es nie begreifen. Deshalb folgten immer diese abwertenden Sprüche, das Verharmlosen seiner Wünsche und Gefühle. »Wetten wir! In einem Monat hast du eine x-beliebige Frau so geschult, dass sie mit uns mithalten kann.«
Johns Kopf drehte sich vom vielen Bier, doch das schrille Klingeln in einer der hinteren Ecken war nicht laut genug, um zu verhindern, dass er die ausgestreckte Hand des Bassisten ergriff. »Die Wette gilt.«
Rob rieb sich über das Gesicht und seufzte laut. »Bitte nicht. Ihr seid derartige Kindsköpfe. Schlagt euch euren Hahnenkampf doch bitte endlich aus dem Kopf! Dafür seid ihr längst zu alt.«
John zuckte mit den Schultern. »Nun, Wette ist Wette. In einem Monat werden wir eine valable Kandidatin für unsere Band haben, und dann unterschreiben wir den Vertrag.«
»Und falls du es nicht schaffst«, ergänzte Mike, »werde ich eine Sängerin organisieren.«
»Wieso wettet ihr dann überhaupt?«, fragte Daniel. Auf den ersten Blick wirkte er gelangweilt, doch die Spannung in seinen Schultern war dennoch zu sehen. Entgegen seinem harten Äusseren hasste er es, wenn sich seine Freunde stritten und gegenseitig zu Unsinn anstachelten.
Von weit her drangen so schiefe Töne an Johns Ohren, dass er unwillkürlich zusammenzuckte. Wer konnte nur so schräg singen, so falsch? Er blickte zur Kreuzung. An der roten Ampel wartete ein kleiner Wagen mit irgendeiner Aufschrift. Die Fenster waren heruntergelassen, die Fahrerin trällerte munter Simply the best von Tina Turner. Er erkannte das Lied nur am Text.
»Oh, ich glaube, ich weiss schon, welche Sängerin du ausbilden wirst.« Mike klang ganz begeistert.
John drehte sich zu seinen Freunden zurück und fixierte den Bassisten mit einem Blick, der ihn hätte aufspiessen und in drei Stücke teilen sollen. Mindestens. »Nein.«
»O doch. Wette ist Wette.« Der Triumph funkelte in Mikes Augen, und trotz seines angetrunkenen Zustandes wusste John, dass er einen gewaltigen Fehler beging.
Lara unterdrückte ein schweres Seufzen, als sie ein weiteres Bündel Notizen und Aufzeichnungen dem Schredder zum Frass vorwarf. Am liebsten würde sie sich umdrehen, aus dem Gebäude stolzieren und nie wieder zurückkehren. Doch sie war dazu verpflichtet, weiter hier zu arbeiten. Sie konnte nicht einfach weg. Selbst wenn sie es könnte, sah der Stellenmarkt im Moment beschissen aus für sie.
Sie kehrte zu ihrem Arbeitsplatz zurück und nahm einen Schluck Kamillentee. Er war längst kalt. Eigentlich war das auch gut, immerhin war es Sommer. Kaffee konnte sie keinen mehr trinken, davon wurde sie nur noch nervöser. Bei dem Häufchen Espenlaub, das sie sowieso schon war, konnte sie das nicht gebrauchen.
Aus dem Gang, der zu den Büros führte, drangen schwere Schritte an ihre Ohren. Für einen Moment schloss sie die Augen, wappnete sich innerlich für die Begegnung und setzte dann ein möglichst freundliches Lächeln auf.
Herrn Ebels Wanst erschien, kurze Zeit später folgte sein Gesicht. Wie immer trug er diesen Ausdruck im Gesicht, als würde er jeden Moment seine Umgebung vollkotzen. Das tat er auch, nur nicht mit seinem Mageninhalt, sondern mit Worten. »Frau Deck, wann sind Sie denn mit den Rechnungsstellungen fertig?«
»Bald«, versprach sie, auch wenn sich beim Gedanken daran ein harter Kloss in ihrem Hals bildete. »Ich …«
»Ich wollte die bis heute Mittag.« Er blickte auf die Uhr, als wüsste er nicht genauso gut wie sie, dass es zwei Minuten vor zwölf war. »An Ihrer Stelle würde ich mich beeilen. Andererseits« – nun betrachtete er sie so intensiv wie zuvor seine Uhr – »haben Sie ja auch andere Qualitäten, nicht wahr? Ich bin überzeugt, dass ich bei Gelegenheit in deren Genuss kommen werde.« Anzüglich lächelte er.
Laras Magen drehte sich. Sie senkte den Blick und nickte nur.
Immer wieder hatte sie es versucht. Ihm gesagt, wie belästigend und unangebracht solche als Spass gemeinten Sätze sein konnten. Wie unwohl sie sich damit fühlte. Doch er hatte nur gelacht. Lara hatte es mit Freundlichkeit versucht, mit ebenso dummen Sprüchen, damit, sie zu ignorieren. Doch inzwischen wusste sie, dass sie mit ihrem neuen Chef am besten klarkam, wenn sie sich einfach fügte und nichts sagte.
Sie linste zu Kim hinüber, die sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen konnte, als sie ihren Schlüssel packte, die Handtasche über die Schulter schwang und ihrem Chef einen Luftkuss zuwarf. »Wohin gehen wir heute?«, flötete sie, um Herrn Ebels Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Lara wusste, dass sie es nicht tat, um sie vor dem Ekel von Chef zu schützen, sondern sich selbst zuliebe. Kim nutzte Gelegenheiten, die sich ihr boten, was auch immer es kostete. Innerlich verfluchte sie die Hexe von einer Angestellten, die sich für nichts zu schade war. Doch das liess sie sich nicht anmerken. »Guten Appetit.«
Ihrem Missmut zum Trotz konnte Lara nicht leugnen, froh darüber zu sein, dass ihr Chef und ihre Kollegin sie allein liessen. Auf die Gesellschaft der beiden konnte sie mehr als gut verzichten. Sie folgte ihnen mit den Blicken, während sie auf die glänzend polierte Glastür zuhielten. Schmierig lächelnd öffnete der Ebel Kim die Tür. Mit einem überwältigenden Strahlen drehte sie sich zu ihm um, himmelte ihn an wie in den letzten beiden Monaten schon und hakte sich bei ihm unter. In welches teure Restaurant entführte er sie heute wohl?
Seufzend widmete sich Lara wieder ihrer Arbeit. Ihr Magen knurrte. Doch wie Herr Ebel schon bemerkt hatte, hätte sie bis mittags mit den Rechnungsstellungen fertig sein sollen. Am liebsten hätte sie ihm mit seiner gestreiften Krawatte den Mund gestopft.
»Also, Rechnungsstellung«, murmelte sie und öffnete das Programm. Aus den Augenwinkeln registrierte sie eine Bewegung beim Eingang und hob den Kopf.
Ein Mann gegen Mitte dreissig mit vollen, schulterlangen Haaren und einer dunklen Sonnenbrille kam auf sie zu. Er trug ein schwarzes Tanktop und enge Jeans, die seine kräftige Statur und das Tattoo am Oberarm betonten. Vom Anblick überrascht, starrte sie ihn an, bis er direkt vor dem Empfangstresen stand und sie ansah. Vermutlich, denn genau konnte sie es wegen der dunklen Gläser der Sonnenbrille nicht sagen.
»Ich dachte immer, Anwälte betreiben Schickimickibuden, die sauber arbeiten und ihre Angestellten nicht ausnutzen. Während der Mittagspause arbeitet man doch nicht.« Der Fremde stützte die Arme auf den Tresen und lächelte einseitig. Um seinen rechten Mundwinkel spielten Lachfältchen.
War er ein Fahnder, der ihnen auf die Schliche gekommen war? Der wusste, dass sie manchmal Beweise vernichteten, die ihre Klienten ihnen zuspielten, damit sie mehr Fälle gewannen? So wie sie eben mit den geschredderten Akten?
Klamm rann ihr die Angst den Nacken hinunter und setzte sich in ihrer Wirbelsäule fest, als wollte sie sie lähmen. Das konnte nicht sein, der Ebel war erst seit zwei Monaten in der Kanzlei. Das hatte noch nicht herauskommen dürfen.
Lara zwang ihre Gedanken von ihren Ängsten weg hin zu ihrer Arbeit. »Wie kann ich Ihnen helfen? Haben Sie einen Termin, Herr …?« Dabei wusste sie genau, dass niemand der Anwälte und Juristinnen einen Termin über die Mittagszeit ausmachte. Es sei denn, sie wurden zu einem teuren Essen eingeladen.
»Ich habe keinen Termin«, antwortete er und zog sich die Sonnenbrille von der Nase. Grünblaue Augen strahlten sie an. »Aber ich habe gefunden, wonach ich suche.« Sein Lächeln wurde eine Spur breiter. Berechnender.
Solche und ähnliche Sprüche hatte sie zu oft gehört, seit Herr Ebel die Kanzlei übernommen hatte. Lara zog lediglich eine Augenbraue hoch. »Glaubten Sie die Sonnenbrille verloren?«
Der Kerl blinzelte – ein Anblick, der Lara irritierte. Der Mann wirkte nicht nur wie ein aus einem Roman herausgezauberter Frauenheld, sondern auch unnahbar und hart. Dass sie ihn mit einer kleinen Frage aus dem Konzept bringen konnte, überraschte sie. »Nein, ich meinte, ich habe Sie gefunden.« Für einen Moment wirkte er überraschend ehrlich.
Lara atmete tief durch, zählte innerlich langsam bis fünf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie sehen nicht aus wie die Menschen, die hier ein und aus gehen.«
»Ich bin auch nicht wie die Menschen, die hier ein und aus gehen«, erwiderte er mit einer Selbstverständlichkeit, die ihr allen Wind aus den Segeln nahm. »Ich möchte Ihnen eine einmalige Chance anbieten. Wir suchen eine junge, engagierte Frau mit dem gewissen Flair, um …«
»Raus!« Lara stand auf und deutete mit dem Finger zur Tür. »Werbetreibende haben hier nichts zu suchen.« Und erst recht keine, die sie in einen zwielichtigen Klub oder so stecken wollten.
Tatsächlich machte er einen Schritt rückwärts und hob abwehrend die Hände. »Wou, wou, wou! Das ist nicht das, was Sie denken. Denke ich. Ich möchte Sie etwas fragen, nicht mehr.«
»Wenn Sie ein Anliegen haben, schicken Sie es uns per E-Mail oder Post. Dann können sich auch direkt die passenden Leute darum kümmern, und ich vergeude meine Freizeit nicht weiter mit Ihnen.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte den Fremden auffordernd an.
Der lächelte lediglich, doch im Gegensatz zu den bisherigen wirkten sie weder berechnend noch aufgesetzt. Nach einem leichten Kopfschütteln suchte er ihren Blick und hielt ihn fest, als gäbe es für ihn keine leichtere Übung als das. »Sie meinen die Freizeit, die Sie mit Arbeit verbringen?«
Lara fehlten die Worte. Obwohl sie nach ihnen suchte, fand sie keine. Wie lange war er schon hier? Oder war er gar Herrn Ebels Spitzel, der kontrollieren sollte, ob sie auch wirklich arbeitete und ihre eigene Freizeit zur Arbeitszeit machte?
Der Mann senkte den Blick und seufzte leise. »Es tut mir leid. Meine Bemerkung war nicht angebracht. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel. Ich fühle mich nur etwas … überfordert. Ich brauche nämlich Sie, genau Sie, auch wenn ich weder weiss, wie Sie heissen, was Sie genau tun oder woher Sie kommen. Lassen Sie es mich erklären. Meine Freunde und ich spielen seit einigen Jahren in einer Band, die wir mit einer weiblichen Sängerin ergänzen möchten.« Hoffnungsvoll sah er sie wieder an und lächelte ein unfassbar unsicheres Lächeln, das sie einem tätowierten Mann mit diesen Muskeln nie zugetraut hätte.
Lara starrte zurück, den Mund leicht geöffnet. Er wollte sie. Sie! Zum Singen!
Laut lachte sie los und erfüllte damit den ganzen Eingangsbereich. Sie, die keinen einzigen Ton traf, wollte er für seine Band. Einen besseren Witz konnte er sich nicht einfallen lassen. »Ich glaube, Sie haben die falsche Tür erwischt.« Wieder lachte sie. Sie, in einer Band! »Wissen Sie, dass niemand so falsch singen kann wie ich?«, brachte sie mühsam zwischen weiteren Lachern hervor und wischte sich mit einem Seufzen die Lachtränen aus den Augen, bevor sie erneut losprustete.
Der Mann schmunzelte ebenfalls. »Nun, ich habe Sie gestern singen gehört. Ihre Leidenschaft für die Musik spricht für sich. Ich würde Sie wirklich gern unterrichten und sehen, wozu Ihre Stimme fähig ist.«
Überrumpelt und vielleicht auch ein klein wenig geschmeichelt liess sich Lara den Gedanken durch den Kopf gehen. Für einen Moment gab sie sich der Vorstellung hin, wirklich singen zu können. Lara liebte das Singen, aber dummerweise traf sie kaum einen Ton, und wenn doch, dann nur aus purem Zufall. Wenn sie die Musik nur so interpretieren könnte, wie sie in ihrem Herz klang. Ein Traum! Doch das war pures Wunschdenken. Wahrscheinlicher war, dass der Typ ein Betrüger war und sie zu seinem nächsten Opfer auserkoren hatte.
»Ich habe gestern nicht gesungen«, antwortete sie schliesslich möglichst gleichgültig und deutete in Richtung der Tür. »Sagte ich Ihnen bereits, wo Sie den Ausgang finden?«
»Überdeutlich«, bestätigte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sie waren gestern um kurz nach zehn an einer roten Ampel in einem Wagen mit dem Firmenlogo darauf. Die Fahrerscheibe war heruntergekurbelt, und Sie haben aus voller Kehle Simply the Best gesungen. Das hat mich beeindruckt.« Kein Mundwinkel, kein Muskel in seinem ganzen Gesicht zuckte, als meinte er es absolut ernst.
Lara glaubte ihm nicht, auch wenn ihr Herz sie geradezu anschrie, diese Gelegenheit zu nutzen und wenigstens die Chance zu ergreifen, einmal in ihrem Leben ein Lied fehlerfrei zu trällern. Natürlich hatte sie gestern Simply the Best zum Besten gegeben und war im Firmenauto unterwegs gewesen, damit die Leute auch ganz sicher von Herrn Ebels Kanzlei wussten. Aber sie glaubte nicht, dass dieser Mann das Angebot ernst meinte. Besonders, da er sie tatsächlich schon singen gehört hatte.
Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. »Wenn Sie von meinem Gesinge beeindruckt waren, sollten Sie sich überlegen, aus der Band auszusteigen. Dann wären Sie sicher erfolgreicher. Nur ein gut gemeinter Rat.«
Er lachte auf. Laut und voll rollte seine unverhohlene Freude durch den Raum und verlieh dem Gebäude eine Wärme, die seit Monaten fehlte. »Über mangelnden Erfolg können wir uns nicht beklagen. Sie haben keine Ahnung, wer ich bin?«, fragte er nach einer kurzen Pause.
Gezwungenermassen schüttelte Lara den Kopf. »Justin Bieber hätte ich erkannt.«
Wieder lachte er, diesmal jedoch leiser. Er holte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und brachte eine Visitenkarte zum Vorschein. »Suchen Sie uns im Internet. Bestimmt werden Sie fündig. Und das hier« – er schnappte sich einen Kugelschreiber – »ist meine persönliche Nummer, falls Sie es sich anders überlegen.«
Erneut traf sie dieser unglaubliche Blick aus grünblauen Augen, als er sich wegdrehte und sich mit einem Lächeln verabschiedete. Bevor Lara noch etwas sagen konnte, hatte er den Raum verlassen und schritt zum Treppenhaus, um das Bürogebäude zu verlassen.
Überrumpelt griff Lara nach der Visitenkarte, liess sich auf einen Stuhl sinken und atmete tief durch. Die Karte sah professionell aus. Weiss zwar, was sie bei einem Mann wie ihm nicht erwartet hatte, aber gut, es war nicht seine persönliche Karte, sondern die seiner Band.
Sie drehte die Visitenkarte um. In unruhiger Schrift stand neben John eine Nummer. »John also«, murmelte sie und lenkte den Blick zur Tür. Dabei entdeckte sie seine Sonnenbrille, die noch immer auf dem Verkaufstresen lag. Zögernd blickte sie durch die breite Glastür, ob dieser John wieder auftauchte. Natürlich erschien niemand. Sie nahm die Brille kurzerhand an sich. »Dann werde ich wohl doch anrufen müssen.« Aber erst nach Feierabend.
Früher war es einfacher gewesen. Da waren ihm die jungen Mädchen gefolgt wie ein Schwarm Bienen dem Bären, der ihren Honig geklaut hatte. Heute lachten ihn die Frauen aus.
John seufzte und versank noch tiefer in seinem Sitzsack. Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster im kleinen Erker, in dem er sich eine kleine Entspannungsoase eingerichtet hatte. Eine gute Soundanlage, genug Platz für Bier und ein paar Pflanzen, hinter denen er sich verstecken konnte.
Einst war es Charlys Ecke gewesen. Hier hatte sie ihre atemberaubenden Bilder gemalt und all ihre Gefühle verarbeitet. Drei Wochen nach ihrem Auszug hatte es noch immer nach ihr gerochen. Ein halbes Jahr später hatte Rob ihn gezwungen, auszumisten und seine eigene Ecke zu gestalten. Manchmal verwünschte er seinen Freund und dessen Vorstellung davon, wann man über die Liebe des Lebens hinweg sein musste.
Doch die Erinnerung an funkelnde grünbraune Augen lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zum heutigen Mittag. Das Gespräch mit dieser Frau ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie war diejenige, die für die Band singen sollte. Dabei wusste er schon jetzt, dass sie es nie schaffen würde. Ihrer Stimme fehlte die Fülle, die man am Mikrofon brauchte, und auch die Energie, sich durchzusetzen. Er hatte sie beobachtet, wie sie vor ihrem Chef kuschte und tat, was dieser sagte. Jemand, der sich nicht im echten Leben durchsetzen konnte, ging auf der Bühne unter. Wieso liess sie sich das überhaupt gefallen?
Mit einem Seufzen kämpfte sich John auf die Beine und schüttelte diese aus. Es war Zeit, seinen Bandkollegen mitzuteilen, dass er seine Wette verlieren würde, obwohl es ihm mächtig auf den Senkel ging, dass der Start noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden zurücklag und er keine Aussicht auf einen Erfolg hatte. Vielleicht sollte er mit seiner Beichte noch etwas warten.
Das Klingeln seines Smartphones nahm ihm die Entscheidung kurzfristig ab. Er linste auf das Display. Eine unbekannte Nummer. John liess sich wieder in seinen Sitzsack sinken und nahm den Anruf an. »John Peter.«
»Hallo … Herr Peter.« Die Stimme am anderen Ende klang etwas unsicher, dennoch erkannte er sie sofort: Es war die Frau, die in der Band singen sollte. »Ich bin es, Lara Deck. Die von der Anwaltskanzlei von heute Mittag.«
John tat, als müsste er in seinen Erinnerungen nach ihr graben und schwieg ein paar Sekunden. »Ah, stimmt. Wie geht es Ihnen? Ich freue mich, dass Sie anrufen. Ehrlich gesagt habe ich damit nicht gerechnet.«
Ihr leises Lachen erreichte ihn. »Ich auch nicht. Es ist auch nur wegen der Sonnenbrille, die Sie vergessen haben. Möchten Sie sie morgen abholen? Auch wieder zur Mittagszeit?«
Bestimmt nicht. »Wie wäre es mit einem Kaffee oder einem Bier? Ich habe gerade nichts vor. Ich kann Sie abholen.« Noch bevor sie antwortete, stand er auf und machte sich auf ins Badezimmer, um einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen.
Die junge Frau schwieg viel zu lange. »Ich kann nicht singen, und das wissen Sie.«
»Ich habe nichts davon gesagt«, verteidigte er sich breit grinsend, während er ein paar Haarsträhnen zurechtzupfte.
Frau Deck lachte wieder. »Aber gedacht. Wetten?«
Woher kamen plötzlich all diese Wetten? »In Ordnung. Wenn Sie gewinnen, dann bekommen Sie heute Abend einen Kaffee oder ein Bier offeriert. Gewinne ich, geben Sie mir einen aus.«
»Sie sind stur.« Es klang alles andere als genervt.
Beinahe konnte sich John ihr breites Lächeln vorstellen und das Aufblitzen ihrer Augen. Doch nur beinahe. Heute Mittag hatte sie ihn eher wütend angefunkelt.
Er grinste. »Ich weiss eben, was ich will. Und ich würde Sie gern heute Abend noch sehen und etwas besser kennenlernen.« Die Worte kamen ihm leicht über die Lippen. Einem Musiker glaubte sowieso niemand, dass er ehrlich war, wenn er jemandem schmeichelte. Warum also sollte er dann die Zeilen nicht nutzen, um Vertrauen und Interesse vorzugaukeln? Wenigstens bekam er so, was er wollte.
Die Fachangestellte atmete so tief durch, dass er es durch die Verbindung hörte. »In Ordnung. Wo wollen wir uns treffen?«
»Ich kann Sie abholen, wenn Sie möchten.« John zog die Schuhe an, verliess seine Wohnung und eilte das Treppenhaus hinunter. »Wo wohnen Sie?«
»Klar, das sage ich dem Mann, der sich immer noch ein wenig wie ein verrückter Stalker aufführt. Schaffen Sie es in zwanzig Minuten ins Gardening?«
»In diesen lahmen Schuppen?« Ungläubig blieb John auf einem Zwischenboden im Treppenhaus stehen und dachte an das Café, das zwar niedlich war, aber mehr auch nicht. »Haben die überhaupt zwei verschiedene Biersorten dort?«
Ihr leises Lachen entlockte John ein Lächeln, das er nicht hatte kommen sehen. Das ihn überrumpelte, so wie seine Freunde ihn gestern mit der Wette. »Das Gardening hat die besten Drinks. Sie werden kein Bier vermissen. Also, um neun?«
Er warf einen Blick auf die Uhr. Das schaffte er auch zu Fuss noch. »Ich werde da sein.«
Das Gardening war brechend voll. Wann hatte es das verschlafene Café mit Bar geschafft, so viele Fans anzulocken? Oder lag es einfach daran, dass die anderen Cafés rechts und links noch mehr aus allen Nähten platzten, dass sich so viele Gäste hier einfanden? Etwas verwirrt suchte John die Menge nach Frau Decks blondem Haar ab, fand sie jedoch nicht. Notgedrungen trat er ein. Als er sie auch im Inneren nicht entdeckte, suchte er die Gartenterrasse auf. Hier war es so ruhig, wie er das Café in Erinnerung hatte. Die Tische standen nicht so gedrängt, keine Besoffenen johlten herum und niemand musste darum fürchten, von der Bedienung mit Bier überschüttet zu werden, weil sie über einen unordentlichen Haufen Handtaschen stolperte.
Zuhinterst in einer Ecke entdeckte er Frau Decks blonden Haarschopf. Sie schenkte ihm ein Lächeln und winkte ihm zu, als sich ihre Blicke trafen. Sie liess ihn nicht mehr los, bis er sich ihr gegenübersetzte.
»Hallo, Lara. Es ist doch okay, wenn wir uns duzen?« Aufmerksam beobachtete er sie und streckte die Hand aus.
Nickend nahm Lara sie entgegen. »Hallo, John. Das Du ist in Ordnung«, antwortete sie nach kurzem Zögern.
Johns Lächeln vertiefte sich. »Es freut mich, dass du dich gemeldet hast. Wirklich.« Er legte die Unterarme auf den Tisch und musterte sie. Noch immer trug sie dasselbe Kostüm wie am Mittag: dunkelblauer, eng anliegender Blazer, der ihren üppigen Busen hervorstechen liess, dazu einen Rock, der ihre Hüften und vermutlich auch den Hintern wunderbar betonte. Auch die Haare waren noch hochgesteckt.
Stille trat ein. John wollte sie brechen, doch ihm fiel nichts ein. Normalerweise war er nicht so unfähig, wenn es um Smalltalk ging. Zudem hatte er auf das Treffen bestanden, nicht sie. Hin und wieder traf ihr Blick den seinen, doch meist wich sie ihm aus, wenn er sie ansah. Dann lächelte sie. Als sie die Hand hob, um die Bedienung an ihren Tisch zu holen, schien sie beinahe erleichtert.
Die junge Frau mit den Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und Sommersprossen bis zum Abwinken sah Lara auffordernd an. »Was darf ich euch bringen?«
Lara lächelte. »Ich nehme einen Rosmarin-Mojito und für ihn einen Martini mit Johannisbeersirup.« Nur kurz trafen sich ihre Blicke, doch John registrierte das Lächeln, das ihren Mund umspielte, das Leuchten in ihren Augen.
Als Pippi Langstrumpf weg war, sah er Lara an. »Das war mutig.«
Sie hob eine Augenbraue. »Weil ich einen Drink für dich bestellte oder mich tatsächlich auf ein Treffen mit dir einliess?«
Leise lachte John, unsicher, was er darauf antworten sollte. »Wegen des Drinks. Ich bestelle gern selbst.«
»Hast du Angst, dass ich ein Groupie bin und K.O.-Tropfen in deinen Drink mischen lasse?« Das Zwinkern nahm den Worten ihre Spitze.
John zuckte mit den Schultern, grinste jedoch. »Nun ja, du hast eine ganze Anwaltskanzlei im Rücken. Sollte es tatsächlich zu einem Streitfall kommen, wärst du klar im Vorteil.«
Lara wiegte den Kopf von der einen auf die andere Seite, als müsste sie ihre Möglichkeiten genauer abwägen. Dabei löste sich eine blonde Strähne aus ihren hochgesteckten Haaren und tanzte neben ihrer Wange. »Du könntest recht haben.« Sie erhob sich. »Warte schnell, ich muss die Bestellung ändern.«
John lachte auf, als er das Aufblitzen in ihren Augen sah, kurz bevor sich ihre Blicke voneinander trennten.