Zauberblütenzeit - Gabriella Engelmann - E-Book
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Zauberblütenzeit E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Wellness für die Seele von Spiegel-Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann: ein Wiedersehen mit den Freundinnen Leonie, Nina und Stella aus »Eine Villa zum Verlieben« und »Apfelblütenzauber« im Alten Land Das Mädels-Wochenende in der Hamburger "Villa zum Verlieben" ist für die Freundinnen Leonie, Nina und Stella die Gelegenheit, einander ihr Herz auszuschütten: Nina muss verkraften, dass ihr Freund Alexander sich in eine andere verliebt hat. Leonie ist überglücklich mit Markus, doch ihre Pension »Apfelparadies« im Alten Land läuft nach dem teuren Umbau längst nicht so gut wie erhofft. Und für Stella wird es immer schwieriger, ihren Job als Innenarchitektin und die Patchwork-Familie mit drei Kindern unter einen Hut zu bekommen. Da ist es ein wahrer Segen, dass die drei Freundinnen einander haben – dass im Alten Land Herzen heilen können und sich ganz unerwartet neue Chancen auftun. »Zauberblütenzeit« ist die Fortsetzung der Bestseller »Eine Villa zum Verlieben« und »Apfelblütenzauber« von Gabriella Engelmann. Die klugen Wohlfühl-Romane erzählen von drei ganz unterschiedlichen Freundinnen, die einander Mut machen und sich den Herausforderungen des Lebens gemeinsam stellen. Gabriella Engelmanns unverwechselbarer Tonfall – ebenso einfühlsam wie heiter – macht ihre warmherzigen Bücher zu einem echten Lese-Genuss. Entdecken Sie die zauberhaften Roman-Welten von Gabriella Engelmann: Die »Büchernest«-Serie (Sylt): Inselzauber Inselsommer Wintersonnenglanz Strandkorbträume Die Insel-Föhr-Serie: Sommerwind Schäfchenwolkenhimmel Die Im Alten Land-Serie: Eine Villa zum Verlieben (Hamburg) Apfelblütenzauber (Altes Land) Zauberblütenzeit (Altes Land) Weitere Romane von Gabriella Engelmann: Wolkenspiele (Amrum) Wildrosensommer (Vierlande) Strandfliederblüten (Halligen) Zu wahr, um schön zu sein (Hamburg) Anthologien: Sommerfunkeln – Geschichten in Sonnengelb und Meeresblau (Hrsg.)

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Seitenzahl: 388

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Gabriella Engelmann

Zauberblütenzeit

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Mädels-Wochenende in der Hamburger »Villa zum Verlieben« ist für die Freundinnen Leonie, Nina und Stella die Gelegenheit, einander ihr Herz auszuschütten: Nina muss verkraften, dass ihr Freund Alexander sich in eine andere verliebt hat. Leonie ist überglücklich mit Markus, doch ihre Pension »Apfelparadies« im Alten Land läuft nach dem teuren Umbau längst nicht so gut wie erhofft. Und für Stella wird es immer schwieriger, ihren Job als Innenarchitektin und die Patchwork-Familie mit drei Kindern unter einen Hut zu bekommen.

Da ist es ein wahrer Segen, dass die drei Freundinnen einander haben – dass im Alten Land Herzen heilen können und sich ganz unerwartet neue Chancen auftun.

Inhaltsübersicht

1 | Nina2 | Leonie3 | Stella4 | Nina5 | Leonie6 | Stella7 | Nina8 | Leonie9 | Stella10 | Nina11 | Leonie12 | Stella13 | Nina14 | Leonie15 | Stella16 | Nina17 | Leonie18 | Stella19 | Nina20 | Leonie21 | Stella22 | Nina23 | Leonie24 | Stella25 | Nina26 | Leonie27 | Stella28 | Nina29 | Leonie30 | Stella31 | Nina32 | Leonie33 | Stella34 | Nina35 | Leonie36 | StellaRezepteElisas Pflaume-liebt-Apfel-MarmeladeElisas Pflaume-liebt-Apfel-Marmelade mit SchussKürbis-Apfel-SuppeRezepte vom Biohof OttilieQuitten-Sellerie-SuppeWinterliche Wurzel-FrittataRigatoni mit frischer TomatensoßeGefüllte Kohlwickel»Lieblingsstück« bei OttilieApfeltorte mit WolkensahneRhabarberschmandtorte mit Walnuss-Crumble-ToppingRingelblumen-ZuckerApfelstrudel mit VanillesoßeNachwort und DanksagungLeseprobe »Schäfchenwolkenhimmel«
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1

Nina

Moin. Na, wie geht’s unserem schönen Blumenmädchen?«

Frech grinsend reichte Björn Nina ein gehobeltes Stück Käse, das im hellen Morgenlicht glänzte wie Goldspäne, über den Tresen des Marktwagens.

Nina Korte streckte die Hand nach der aromatischen Köstlichkeit aus, ließ sich diese auf der Zunge zergehen und schloss verzückt die Augen. In den Wipfeln der hohen Bäume, die den Markt säumten, trällerten Vögel fröhliche Lieder, die Sonne holte Atem für den vor ihr liegenden Tag.

Dieser Freitag würde wunderbar warm werden, perfekt für ihre Wochenendpläne.

»Und?« Björn schaute sie erwartungsvoll an.

Der schlaksige Marktverkäufer mit dem schief sitzenden Strohhut, den wirren Locken und den strahlenden Augen war nicht nur irgendein Typ, der Nina auf dem beliebten Isemarkt Käse verkaufte, sondern der wöchentliche Seelentröster, seitdem ihr Freund Alexander nahezu ständig beruflich unterwegs war. Der kleine, aber harmlose Flirt mit Björn hob ihre Laune und gab ihrem Selbstbewusstsein, das in den vergangenen Wochen durch die räumliche Trennung und die vielen Streitereien erheblich gelitten hatte, einen wohltuenden Kick.

»Ein Traum«, antwortete Nina, ehrlich begeistert. »Cremig, würzig, eine feinherbe, reife Note. Wie ein Spätsommertag. Was kosten hundert Gramm? So viel wie Trüffel?«

»So ähnlich«, erwiderte Björn mit breitem Lächeln. »Aber ich habe einen Vorschlag: Ich schenke dir zwei Pfund für euer Mädelswochenende, und dafür berätst du mich in Sachen Einrichtung. Ist das ein Deal?«

»Was hast du denn für ein Problem mit deiner Wohnung?« Björns Frage verwirrte Nina. Männer waren ihr stets ein Rätsel gewesen, und es wurde leider nicht besser, je älter sie wurde. Ganz im Gegenteil: Nina verstand die Spezies Kerle immer weniger. Wollte er ein Date oder tatsächlich ihren Rat?

»Genau genommen habe ich weniger ein Problem mit meiner Einrichtung als mit dem Garten«, korrigierte sich Björn. »Und dafür bist du doch Spezialistin, nicht wahr?«

Das stimmte. Blumen, Hochbeete, Urban Gardening, Teiche und Balkonbepflanzung waren Ninas Welt. Die Floristin arbeitete allerdings nicht mehr in ihrem erlernten Beruf, seit das Eimsbütteler Blumenmeer geschlossen wurde und sie deshalb gezwungen gewesen war, sich einen neuen Job zu suchen.

Björn kritzelte etwas auf die Rückseite des Quittungsblocks, während ein Herr hinter Nina sich auffällig räusperte und eine Frauenstimme nörgelte: »Dauert das hier noch lange? Wenn ja, kaufe ich meinen Käse ab sofort woanders.«

Nina brauchte sich gar nicht erst umzudrehen, um zu wissen, wie die Dame aussah, die so gereizt klang, wie viele Großstädter, die mal eben kurz Besorgungen machen wollten, bevor sie ins Büro, in die Agentur oder zum Müttertreffen mussten: blass, genervt, angespannt.

Immer in Hektik. Immer auf dem Sprung.

»Es dauert so lange, wie es dauert, wir sind ja zum Glück nicht auf der Flucht«, konterte Björn lässig und reichte Nina den Zettel mit Adresse und Handynummer. Die schmunzelte.

Neben seinem sensationellen Angebot an Käsesorten hatte der Marktverkäufer stets einen charmanten Spruch auf Lager, der das Herz eines jeden noch so mies gelaunten, hektischen Kunden schmelzen ließ wie das Apfeleis mit Walnusskrokant, das ihre Freundin Leonie heute Abend als Dessert zubereiten wollte.

Nina nahm den in Pergamentpapier eingeschlagenen Käse und legte ihn in den geflochtenen Korb aus Seegras. Ihre Lippen formten lautlos: »Ich melde mich«, als sie dem Stand den Rücken zukehrte und als Nächstes den eines alten Ehepaars ansteuerte, das Eier von glücklichen Hühnern und Gemüse aus den Vierlanden verkaufte. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die Menschen um sich herum und schüttelte – wie so häufig – innerlich den Kopf.

Dass so ein Marktbesuch idealerweise etwas mit Genuss, Muße, Zeit, Flanieren und Sinnesfreuden zu tun haben sollte, kam den meisten gar nicht erst in den Sinn. Viel wichtiger, als den kostbaren Moment zu genießen, schien es ihnen zu sein, ihn durch Aufnahmen mit dem Smartphone festzuhalten. Im Laufe der vergangenen Jahre hatten sich die Betreiber der Marktstände daran gewöhnen müssen, dass von ihren Waren tausendfach Fotos geknipst wurden, um sie später auf Instagram zu posten – Hashtag Countrylife, LandLust oder Foodporn.

Gekauft wurde hingegen immer weniger, dafür aber an den Ständen gegessen und Kaffee getrunken, als gäb’s kein Morgen mehr. Nicht selten wunderte sich Nina darüber, wie viele Menschen tagsüber Zeit für derartige Vergnügungen hatten.

Allerdings hatte sie selbst heute auch frei, denn eine Kollegin vertrat Nina im Einrichtungsladen Koloniale Möbel. Dort arbeitete sie seit einigen Jahren, nachdem Stella, die Dritte im Freundinnenbunde, ihr den Kontakt zur Inhaberin Ruth Gellersen hergestellt hatte. Als Floristin einen guten Job zu bekommen war schwierig geworden, seit die Discounter den Fachhändlern die Kunden abjagten, und Nina würde ihrer Freundin ewig dankbar für die liebevolle Unterstützung sein, die ihr damals die berufliche Existenz gerettet hatte.

Nachdem Nina Eier, Kartoffeln, Blumenkohl, Salat und Möhren im Korb verstaut hatte, schlenderte sie weiter.

Sie genoss es unendlich, freizuhaben, sich treiben zu lassen und qualitativ hochwertige Lebensmittel einzukaufen. Am Ende des Isemarkts standen die meisten Blumenhändler, unter anderem ihre gute Bekannte Anja, die nach Ninas Ansicht die schönsten und frischesten Blüten anbot. Der würde sie jetzt gleich einen Besuch abstatten und fragen, wie die Dinge bei ihr so liefen.

»Aber bitte nicht die Köpfe ins heiße Wasser stecken, sondern die Stängel«, erklärte Anjas Mitarbeiterin gerade augenzwinkernd einem Herrn, der wirkte, als kaufte er zum ersten Mal in seinem Leben einen Strauß. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er die Verkäuferin an, erwiderte artig: »Alles klar«, und nahm die in buntem Papier eingeschlagenen Blumen entgegen.

»Hi, wie geht’s?«, begrüßte die rotwangige Anja Nina erfreut. »Willste nur Hallo sagen, oder kann ich dir was Gutes tun? Die Dahlien und Zinnien sind dieses Jahr der Knaller. Aber die habt ihr wahrscheinlich selbst im Garten, oder?«

Nina nickte und ließ ihren Blick über die duftenden, traumschönen Spätsommerblumen schweifen, ein buntes Feuerwerk für alle Sinne. »Und was macht Alexander? Ist er zurück aus Frankreich oder schon wieder unterwegs?«

»Toskana«, antwortete Nina und verspürte mit einem Mal einen dicken Kloß im Hals, der sie am Reden hinderte.

»Ach, wie schön, da ist es echt toll«, erwiderte Anja. Auch ihre Kollegin seufzte schwärmerisch, während sie einen soeben gebundenen Strauß mit einem hellen Bastband umwickelte. »Die Zypressen, Olivenhaine, der Wein und die vielen Kunstwerke. Hach, da würde ich zu gern mal wieder hinfahren. Aber zurzeit wirft der Stand nicht genug ab, um mir diesen Luxus leisten zu können. Alexander hat’s echt gut.«

Das Schwärmen von der italienischen Region, in die Alexander Nina diesmal partout nicht hatte mitnehmen wollen, schmerzte so sehr, dass sie mit einem Schlag keine Lust mehr auf ein Gespräch hatte, sondern dringend wegwollte. Also sagte sie: »Sorry, ich habe vollkommen vergessen, dass ich noch einen Termin habe. Macht’s gut, ihr beiden, bis nächste Woche.«

Ohne Anjas Reaktion abzuwarten, machte Nina auf dem Absatz kehrt und stapfte Richtung U-Bahn, tief in Gedanken versunken an ihren Freund. Der war dieses Jahr bereits zum vierten Mal in Italien, allerdings ohne festen Auftrag für ein Kochbuch oder einen kulinarischen Reiseführer, so wie sonst.

Björns Worte kamen ihr in den Sinn.

War Alexander auf der Flucht?

Vor ihr, vor ihren ständigen Streitereien, vor dem Leben in der alten Stadtvilla?

Auf Nachfrage kamen zurzeit nur lapidare, für ihn untypische Antworten wie: »Ich plane da etwas, das ich dem Verlag erst zeigen will, wenn es fertig ist.« Im Gegensatz zu sonst weihte er Nina nicht in seine Pläne ein.

Hatte sie ihm vielleicht zu oft abgesagt?

Ihn zu oft ermuntert, allein loszuziehen, um die Wunderwelt der Kulinarik zu erobern und sich ungestört inspirieren zu lassen, weil sie ebenfalls froh war, eine Atempause von nervigen Diskussionen zu haben, die immer häufiger aufbrandeten?

Wie gut, dass heute Abend Leonie und Stella kamen, dann konnte sie mit ihnen ausgiebig über alles quatschen, was sie bewegte und ihr Sorgen machte, obwohl sie den Abend eigentlich nicht mit dem Besprechen von Ängsten vermasseln wollte, die wahrscheinlich nur in ihrem Kopf existierten.

Am Eppendorfer Baum löste Nina eine Fahrkarte.

Wenige Minuten später stieg sie in Eimsbüttel an der Station Christuskirche aus. Wie so häufig spielte dort ein alter Herr südländischer Herkunft, den sie seit Jahren kannte, am Treppenaufgang Akkordeon. Seine Lieder waren voller Wehmut, voller Sehnsucht, als wolle er sich durch den Klang der Melodien in ein anderes Leben träumen.

Führe ich eigentlich das Leben, das ich mir wünsche?, fragte sich Nina, als sie auf die Villa zusteuerte, seit einigen Jahren ihre Heimat, ihr Hafen, ihr Ankerplatz.

An manchen Tagen konnte sie es kaum fassen, dass sie in diesem charmanten Stadtteil und diesem wunderschönen alten Haus mit dem großen Garten wohnen durfte. Und das alles nur, weil sie zur richtigen Zeit über eine Annonce gestolpert war, in der ein gewisser Robert Behrendsen Mieter für sein Haus am Pappelstieg gesucht hatte, die – laut Anzeige – einen grünen Daumen, Liebe zu Katzen und Talent zum Renovieren haben sollten.

Bei der Besichtigung der drei Wohnungen war sie zum ersten Mal auf Leonie Rohlfs und Stella Korte getroffen und hätte nie gedacht, dass sie Freundinnen fürs Leben werden würden, die miteinander durch dick und dünn gingen und dies immer tun würden, egal, was auch passierte.

Bis vor zwei Jahren hatte Leonie die Wohnung mit dem kleinen Wintergarten gegenüber im Erdgeschoss bewohnt, deren Mieter nun Alexander war. Stellas Wohnung im ersten Stock stand die meiste Zeit genauso leer wie die der Familie Behrendsen direkt gegenüber, denn Stella und Robert, die mittlerweile verheiratet waren und zwei entzückende Töchter hatten, lebten seit einiger Zeit in Roberts Heimatstadt Husum. Leider sah Nina ihre zweijährige Patentochter Lilly nur selten, da die Behrendsens nicht mehr so häufig in Hamburg zu Besuch waren.

Wann Leonie und Markus wohl heiraten?, fragte sich Nina, als sie die schwere Eingangstür öffnete und den Flur betrat, das Herzstück der Villa mit gekacheltem Fußboden.

Rechts an der Wand stand eine antike Kommode, auf der eine Pinnwand für Nachrichten, Postkarten und andere Grüße lehnte.

Darauf eine Keramikschale für Obst, das Leonie regelmäßig aus der für ihre Äpfel berühmten Region Altes Land mitbrachte, und ein Krug aus hellblauer Emaille. Im Sommer war er prall gefüllt mit Blumen aus dem Garten, in der kalten Jahreszeit von Anjas Stand am Isemarkt.

Die sonst so wohltuende Stille in der Villa zeigte Nina schmerzhaft auf, dass sie die Einzige des Freundinnentrios war, deren Beziehung nach all den Jahren immer noch schwankte wie ein Schiff auf hoher See.

ObwohlAlexander undsie mittlerweileunter einem Dachlebten, hatte Nina sich immer noch nicht dazu entschließen können, tatsächlich mit ihm zusammenzuziehen.Irgendetwas tief in ihr hinderte sie daran, diesen letzten, entscheidenden Schritt zu gehen, ohne dass sie wusste, was das war.

Seit Donnerstagmorgen schien Alexander wie vom Erdboden verschluckt. Mechanisch packte Nina die Einkäufe aus und verstaute sie in der Vorratskammer und dem Kühlschrank.

Als sie die Belege ihrer Einkäufe aus dem Portemonnaie nahm, um die Beträge ins Haushaltskassenbuch einzutragen, fiel ihr Björns Zettel in die Hände.

Wollte er tatsächlich fachlichen Rat für den Garten, oder suchte er doch einen eher privaten Kontakt zu ihr?, fragte sie sich, zugleich verwundert, aber auch ein wenig geschmeichelt.

Ach was, der Kerl ist locker fünfzehn Jahre jünger als du, rief sie sich zur Räson, nachdem sie festgestellt hatte, dass diese Frage sie sehr beschäftigte.

Was interessiert den schon eine Dreiundvierzigjährige?

Außerdem hatte sie einen Freund, auch wenn der gerade mal wieder nicht da war.

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2

Leonie

Am selben Tag gab Leonie Rohlfs im Alten Land ihrem Freund einen Gutenmorgenkuss und setzte sich im zerwühlten Bett des Schlafzimmers auf, um endlich richtig wach zu werden.

Leonie lebte erst seit knapp drei Jahren wieder in der Region vor den Toren Hamburgs, berühmt für ihre riesigen Obstplantagen, die weißen Apfelblüten, saftigen Kirschen, Deiche, malerischen Klappbrücken und Flüsse, die diese Kulturlandschaft durchzogen.

Leonie war hier geboren und erst wieder nach Steinkirchen zurückgekehrt, als ihre Eltern ihre Hilfe gebraucht hatten. Hier hatte sie auch ihre große Liebe Markus kennengelernt.

Die beiden hatten sich gerade geliebt, und Leonie fiel die Vorstellung schwer, sich gleich anziehen und arbeiten zu müssen. Nur wenig Tageslicht drang durch den schmalen Spalt der zugezogenen Vorhänge aus weiß-rot gestreiftem Leinen.

»Mhhhhmmm, das war grandios«, murmelte Markus Brandtner, setzte sich ebenfalls auf und gähnte herzhaft.

»Doch wohl eher langweilig, sonst würdest du nicht gähnen, oder?«, zog Leonie ihn schmunzelnd auf und rieb ihre nackten Füße an seinen. Markus grinste, gab einen undefinierbaren Laut von sich und rollte sich dann auf sie. »So langweilig, dass ich eine Wiederholung will«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Leonie kicherte und stieß ihn sanft von sich. »Sorry, aber das wird nichts. Dein Bart kitzelt, und ich muss los. Ich habe noch einiges zu tun, wenn ich heute pünktlich in Eimsbüttel sein will. Aber ich bin Sonntagabend wieder daheim, und dann können wir alles nachholen, wozu wir jetzt leider keine Zeit haben.«

»Es ist ja nicht so, dass ich nicht auch einiges zu erledigen hätte«, erwiderte Markus mit diesem spitzbübischen Lächeln, das ihn deutlich jünger wirken ließ als Ende vierzig. Der gebürtige Münchner war seit über zwei Jahren der Mann an Leonies Seite. Ihre große Liebe und Stütze, ihr Fels in der Brandung, der Mann, mit dem sie lachen, an dessen Schulter sie weinen, aber vor allem das Leben in vollen Zügen genießen konnte. Es hatte lange gedauert, doch nun war er wahr geworden: Leonies Traum von einem Leben mit einem tollen und zuverlässigen Partner, der sie aufrichtig liebte und so akzeptierte, wie sie war. Ein Mann, mit dem sie sich Kinder wünschte und der ein begeisterter Vater sein würde.

Ich möchte endlich schwanger sein, dachte Leonie sehnsüchtig, als wenige Minuten später das heiße Duschwasser an ihrem Körper hinabrann. Schließlich bin ich dreiundvierzig, habe vor einem Jahr die Pille abgesetzt, und mir läuft allmählich die Zeit davon.

Markus’ Frage »Darf ich zu dir rein?« unterbrach ihre sorgenvollen Gedanken. Leonie konnte ihn schemenhaft durch die beschlagene Scheibe erkennen. Nach einem kurzen Moment des Überlegens öffnete sie die Tür der Duschkabine einen Spalt. Man sollte die Feste feiern, wie sie fallen, dachte sie, zog Markus zu sich herein und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Außerdem habe ich gerade meinen Eisprung.

 

»Moin, Sonja«, begrüßte sie eine halbe Stunde später die Mitarbeiterin der Pension Apfelparadies, die Leonie vor zwei Jahren von ihren Eltern übernommen hatte. »Alles im grünen Bereich?«

Sonja Mieling nickte, in der Hand eine Kanne frisch gebrühten Kaffee. »Auch einen?«

Leonie nahm ihren blauen Lieblingskeramikbecher mit den weißen Pünktchen von der Anrichte und ließ sich einschenken. Die gemütliche Wohnküche war das Herzstück der Pension.

Die hell gestrichenen Dachbalken, die umlaufende Bank mit den bunten Kissen und die Möbel im Shabby Chic wirkten so einladend, dass sie am liebsten den ganzen Tag hier verbracht hätte.

»Machen Sie sich mal keinen Kopf, ich habe hier alles im Griff. Wann wollen Sie denn los?«, versuchte Sonja, sie zu beruhigen.

Leonie überlegte einen Moment, was sie alles noch zu tun hatte. Es war wie immer ein bisschen mehr, als sie eigentlich schaffen konnte, doch dafür hatte sie ein ganzes Wochenende frei. »Ich backe gleich noch die Kuchen für den Hofladen, besorge ein paar Dinge in Jork, und dann geht’s ab nach Eimsbüttel zu den Mädels. Ich bin aber jederzeit erreichbar, sollte irgendetwas mit den Gästen sein.« Mit einem leisen Anflug von schlechtem Gewissen fügte sie ein »Ich weiß, dass das eine äußerst ungünstige Zeit ist, um nach Hamburg zu fahren« hinzu.

»Ach, Unsinn«, protestierte die hagere Endfünfzigerin, die mit Leib und Seele die Gäste der Pension umsorgte, Zimmer putzte und im Hofladen aushalf. Im Alten Land waren gut bezahlte Jobs keine Selbstverständlichkeit, und Leonie war eine nette, faire Arbeitgeberin. »Nur weil gerade Apfelsaison ist, muss man ja nicht auf sein Privatleben verzichten. Sie haben Ihre Freundinnen doch schon wieder viel zu lange nicht gesehen. Und wir wissen beide, wie Sie sind, wenn Sie Entzugserscheinungen haben. Da geht man lieber schnell in Deckung.«

Der letzte Teil des Satzes war begleitet von einem schelmischen Augenzwinkern. »Grüßen Sie die beiden bitte ganz lieb von mir, ja?«

»Mach ich«, erwiderte Leonie schmunzelnd. Gleich würde sie drei neue Kuchen für den Hofladen backen.

Oder sollte sie lieber auf vier erhöhen?

Mit Beginn der Erntezeit der frühen Sommeräpfel, im Volksmund Augustäpfel genannt, nahm die Zahl der Besucher im Alten Land deutlich zu, genau wie deren Kauflust. Allerdings waren die Erträge in der Region in den vergangenen Jahren deutlich schlechter als üblich ausgefallen, weil die klimatischen Bedingungen mit ihrem drastischen Wechsel zwischen Starkregen und Trockenperioden sich negativ auf das Wachstum der Früchte auswirkten.

Leonie band sich eine Schürze um, auf die ihre Mutter Anke Äpfel, Lavendelsträuße und kleine Schäfchen gestickt hatte. Dann schaltete sie das Tablet ein und ging auf den Blog Apfelwunderweib, den Anke Rohlfs mit wachsendem Erfolg betrieb, nicht unbedingt zur Freude von Leonies Vater Jürgen.

Mal schauen, hatte ihre Mutter ein neues Rezept online gestellt, von dem sie sich inspirieren lassen konnte?

Leonie klickte auf den Button mit der Überschrift Hip & lecker und scrollte sich durch die neuesten Einträge: Cake-Pops, Cruffins, Muffins, Cronuts, Brookies – Anke kannte jeden noch so neuen Trend und brachte ihn via Internet ins Alte Land, oftmals belächelt von den Landfrauen, die nichts von diesen »Kreuzungen« aus Croissants und Donuts (Cronuts) oder Brownies und Cookies (Brookies) hielten.

Doch das war Anke egal. Sie lebte mit ihrem Mann mittlerweile in Stade, nachdem beide sich aus dem operativen Geschäft des Obstbetriebs zurückgezogen hatten. In diesem Städtchen ging es nicht ganz so konservativ zu wie in der ländlichen Gegend um Jork. Und sie bekam nicht so hautnah mit, wenn über sie getratscht wurde.

Leonie klickte auf den neuesten Coup ihrer Mutter, einen V-Log, den sie früher alle zwei Wochen und nun wegen der hohen Follower-Zahlen sogar einmal die Woche auf dem Blog postete und auf den erfolgreichen YouTube-Kanal von Apfelwunderweib stellte.

»Das macht sie wirklich super«, lobte Markus, der gerade in die Küche gekommen war und Leonie über die Schulter schaute. »Deine Mutter wird immer lockerer, witziger – und hübscher, wenn du weißt, was ich meine.«

»Das macht der Abstand zum Obstbetrieb und der Pension, es tut ihr gut, nicht mehr täglich in alles involviert zu sein«, stimmte sie Markus zu, denn zurzeit sah die fünfundsechzigjährige Anke eher aus wie Anfang fünfzig. Sie trug die kastanienbraunen Haare, die Leonie von ihr geerbt hatte, getönt und ein bisschen länger. Das ließ ihr Gesicht schmaler und sie selbst weiblicher wirken. »Frühstückst du hier oder im Elbherz?«

»Im Café«, lautete Markus’ Antwort, der sich einen Stapel frisch gewaschener Geschirrtücher aus dem Schrank nahm und sogleich seinen bittenden Dackelblick aufsetzte, der Leonie gleichermaßen amüsierte und in den Wahnsinn trieb.

»Du weißt schon, dass wir hier auch welche brauchen und ihr eure Wäsche fürs Elbherz endlich mal selbst waschen müsst«, schimpfte sie in einem Ton, der lustig gemeint war, aber ernster geriet als beabsichtigt. In letzter Zeit war sie ein wenig dünnhäutig, wenn es um die Pension ging.

Nach der äußerst erfolgreichen ersten Saison unter ihrer Leitung waren die Buchungszahlen leider alles andere als konstant, doch die Kosten liefen weiter. Das Apfelparadies war weit davon entfernt, die teuren Umbaumaßnahmen einzuspielen, auch wenn das Haus nun fünf anstelle von ehemals drei Gästezimmern beherbergte, darunter ein großes Apartment für eine ganze Familie. Dass es einen kleinen Wellnessbereich mit Sauna und Whirlpool gab, interessierte kaum jemanden. Allerdings war es ein Genuss, dort nette Abende mit ihren Freundinnen zu verbringen.

»Ich verspreche hoch und heilig, dass das das letzte Mal ist«, erwiderte Markus und machte den Indianerschwur. »Schaust du später noch bei mir vorbei, bevor du nach Hamburg abdüst?«

»Wenn ich es schaffe, ja«, erwiderte Leonie, schon nicht mehr ganz bei der Sache. Sie musste entscheiden, welchen Kuchen sie backen wollte, und nachsehen, ob sie auch alle Zutaten dafür daheim hatte.

Nachdem Markus gegangen war, scrollte sie das Video ihrer Mutter zurück, in dem diese gerade die Zubereitung einer klassischen Rhabarber-Baiser-Torte demonstrierte.

Sollte sie die mal ausprobieren? Im Hofladen liefen die traditionellen Kuchen besser als der neumodische Firlefanz, als den Leonies Vater Ankes heiß geliebte Trendbackwaren bezeichnete. Gebäck-Cross-over waren die Hamburger aus den hippen Cafés in der Stadt gewohnt, und dort gierten sie auch nach diesen Neuerungen. Doch Leonie hatte gelernt, dass Ausflügler sich hier wirklich fühlen wollten wie auf dem Land, wo die Uhren scheinbar langsamer tickten, alles schön bodenständig und beständig war und man in nostalgischen Kindheitserinnerungen schwelgen konnte.

Heute also Apfelstreuselkuchen, Aprikosen-Quarksahnetorte, Käsekuchen und Rhabarberbaiser, beschloss Leonie und holte alle nötigen Zutaten aus der geräumigen Speisekammer, in der auch der große Kühlschrank und die Kühltruhen untergebracht waren. Dann legte sie los, knetete Teig, fügte Zucker hinzu, schnippelte Äpfel, mischte Quark und Sahne – und hörte nebenbei Musik.

Ehe sie sichs versah, war es auch schon Mittagszeit. Jetzt musste sie dringend einkaufen fahren und die aktuelle Buchungssituation im Computer checken, nicht gerade eine ihrer Lieblingstätigkeiten. Der Blick in den PC geriet immer mehr zum emotionalen Lotteriespiel für Leonie und damit zu einer großen Belastung. Mal konnte sich das Apfelparadies vor Anfragen kaum retten, und sie musste potenziellen Gästen einen Korb geben, dann wiederum gab es gar keine Anfragen oder sogar Stornierungen.

Ihr entfuhr ein genervtes »Shit«, als sie sah, dass die Familie, die kommendes Wochenende anreisen und zehn Tage bleiben wollte, nicht kommen konnte, weil die Großmutter erkrankt war.

»Was ist passiert?«, fragte Sonja, die, einen Wischmopp in der Hand, soeben die Küche betrat.

»Familie Daniel wird nicht kommen, weil die Oma schwer gestürzt ist«, erklärte Leonie.

»Oje, das tut mir aber leid, wie schlimm ist es denn?«, fragte Sonja besorgt und lehnte den Mopp an die Wand. »Bertha ist so eine Liebe, aber leider ein bisschen wackelig auf den Beinen. Ich hoffe, das geht gut aus, schließlich ist sie mit sechsundachtzig auch nicht mehr die Jüngste. Muss sie ihren Geburtstag denn jetzt im Krankenhaus feiern?«

»Tja, ich weiß es leider nicht«, war alles, was Leonie dazu einfiel.

Die Daniels waren schon Stammgäste gewesen, als Anke mit der Vermietung von Fremdenzimmern begonnen hatte.

Seit Leonie denken konnte, feierte Bertha Daniel ihren Geburtstag im Kreis der Familie im Alten Land. Neben dem Apartment waren diesmal auch zwei Doppelzimmer für die Gäste gebucht, eine herbe finanzielle Einbuße, denn unter diesen Umständen konnte Leonie keinesfalls Stornogebühren in Rechnung stellen, wie sie es normalerweise getan hätte. In den Buchungsbestätigungen wies sie stets darauf hin, dass es ratsam sei, eine Reiserücktrittsversicherung abzuschließen, doch die wenigsten Gäste hielten sich daran.

So kam es immer wieder zu Ärger und zu faulen Kompromissen, die Leonie sich schlussendlich nicht leisten konnte.

»Wie ich die Sache sehe, lassen Sie das Storno am besten mal Storno sein, fahren einkaufen und dann wie geplant nach Hamburg«, schlug Sonja pragmatisch vor. »Sie werden sehen, wir haben im Handumdrehen neue Buchungen, schließlich ist ja Saison. Genießen Sie lieber Ihr freies Wochenende, sammeln Sie Kräfte, und heute Abend sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Jetzt aber hopphopp, oder soll ich Ihnen Beine machen?«

Leonie lächelte schwach, weil sie den Optimismus ihrer Mitarbeiterin nicht teilte. Es brauchte nur ein paar Tage zu regnen, dann kamen zwar mit Glück ein paar Tagesausflügler, aber keine Übernachtungsgäste. Doch Sonja hatte recht: Sie durfte sich jetzt nicht verrückt machen, sondern tat gut daran, die Sorgen für den Moment beiseitezuschieben.

Nicht mehr lange, und sie war endlich wieder in ihrer geliebten Villa in Eimsbüttel, zusammen mit ihren Freundinnen Nina und Stella. Sie würden gemeinsam essen, lachen, im Garten herumwerkeln, vielleicht einen Film schauen und es einfach genießen, wieder beisammen zu sein.

Diese Zeit war viel zu kostbar, um sie sich durch Grübeleien und schlechte Laune zu verderben.

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3

Stella

Ein prüfender Blick in den Spiegel, schnell noch eine Tasse grünen Tee, dann musste sie auch dringend los, sonst schaffte sie es heute nicht pünktlich von Husum, der grauen Stadt am Meer, wie der Dichter Theodor Storm die schleswig-holsteinische Hafenstadt genannt hatte, nach Hamburg.

Stella Behrendsen hatte an diesem Tag noch so einiges auf dem Zettel, denn sie war noch nicht hundertprozentig zufrieden mit der Innenausstattung ihres Hauses. Emma brauchte bald mehr Platz, deshalb plante Stella, einen Teil des Elternschlafzimmers abtrennen zu lassen, bekam zurzeit jedoch keine Handwerker für ihr Vorhaben.

»Emma, Lilly, seid ihr fertig?«, rief die hochgewachsene, attraktive Blondine, lauschte dem fröhlichen Gekicher aus den angrenzenden Kinderzimmern und massierte sich stöhnend die Schläfen. Bitte jetzt keine Kopfschmerzen, dachte sie.

Nicht ausgerechnet heute!

Genervt stellte sie den Tee beiseite und holte ein Fläschchen Pfefferminzöl aus der Nachttischschublade im Schlafzimmer. Sie hatte die Wände darin eigenhändig in sanftem Lindgrün gestrichen, das beruhigte und zudem einen schönen Kontrast zum weißen Bauernschrank bildete.

Stella gab je einen Tupfer Aromaöl auf die Schläfen, einen weiteren aufs Handgelenk. Tief ein- und ausatmen und nicht darüber nachdenken, was sie noch alles erledigen musste, bevor sie zum gemeinsamen Wochenende mit ihren Freundinnen Leonie und Nina in Eimsbüttel aufbrach.

Hoffentlich war die Autobahn halbwegs frei.

»Machst du mir Zöpfe?«, fragte ihre sechsjährige, schwedischblonde Tochter Emma, die plötzlich neben ihr stand, die Hände kokett in die Hüften gestemmt. Mit Zöpfen meinte Emma leider ein kompliziertes Flechtwerk, das sie neulich bei ihrer Freundin Marie gesehen hatte und für das Stella jetzt eindeutig die Zeit fehlte.

Bis spätestens neun Uhr mussten Emma und Lilly im Kindergarten sein, da kannten die Erzieherinnen erfahrungsgemäß kein Pardon.

»Ich mach dir einen Pferdeschwanz, Süße«, erwiderte sie und nahm eines von den vielen bunten Haargummis, die sie stets wegen Emma bei sich trug, aus der Tasche ihrer cremefarbenen Stoffhose. Heute war Business-Outfit angesagt, die bequemen Klamotten, die sie so sehr liebte, mussten fürs Erste im Schrank bleiben.

»Keinen Pferdeschwanz, ich will Zöpfe«, protestierte Emma, und die zweijährige Lilly, die neben ihrer großen Schwester aufgetaucht war, begann prompt zu weinen.

Die Worte ihres Mannes Du musst ihnen mehr Grenzen setzen, sonst tanzen sie dir auf der Nase herum schwirrten in ihrem Kopf umher, in dem nun ein Presslufthammer wütete – Spannungskopfschmerzen vom Allerfeinsten. Und ausgerechnet heute besuchte ihre nette Kinderfrau Karin ihre Tochter in Kiel und würde dort das ganze Wochenende bleiben.

»Süße, wir üben das, wenn ich wieder daheim bin, ja?«, versuchte sie, Emma zu beschwichtigen, und nahm die weinende Lilly auf den Arm. »Und was hast du, mein kleiner Muckel?«

»Aua«, kam es mit erstickter Stimme, und Lilly rieb sich mit ihren immer noch speckigen Kinderhändchen über den Bauch. Ihr Gesichtsausdruck war gequält, der Anblick herzzerreißend.

Stella fiel es mitunter schwer zu unterscheiden, ob eines der drei Kinder wirklich krank war oder nur simulierte, um irgendetwas zu erreichen. Auch Roberts Sohn Moritz aus erster Ehe gelang es immer wieder, seine Stiefmutter zu fordern, zu täuschen und an ihre Grenzen zu bringen. Hoffentlich war der wenigstens pünktlich, denn heute stand eine Bioklausur auf dem Programm, soweit Stella informiert war.

»Soll ich dich zu Papa in die Praxis bringen, damit er sich dein Bäuchlein anschauen kann?«

Die dunkelhaarige Lilly mit dem wirren Lockenköpfchen nickte mit ernsthafter Miene, der Tränenfluss verebbte so schnell, wie er gekommen war. Beide Mädchen hingen sehr an Robert, der als viel beschäftigter Kinderarzt leider viel zu wenig Zeit für seine Familie, aber auch seine Interessen und Hobbys hatte.

Stella hangelte mit der einen Hand nach ihrem Smartphone, mit der anderen streichelte sie Lilly, die sich an ihr festklammerte wie ein kleines Äffchen. Vielleicht war es doch zu früh gewesen, sie jetzt schon in Emmas Kindergarten betreuen zu lassen.

Stella ließ sich von Roberts Sprechstundenhilfe Ina durchstellen und schilderte ihrem Mann Lillys Symptome.

»Kommt vorbei, ich untersuche sie«, erwiderte er knapp, wahrscheinlich war sie mit ihrem Anruf direkt in ein Patientengespräch geplatzt.

Stella setzte Lilly auf den Boden, nahm sie und Emma bei der Hand und ging mit ihnen die ausladende Holztreppe des heimeligen Einfamilienhauses hinunter. Aus Moritz’ Zimmer im Erdgeschoss dröhnte laute Musik.

»Macht euch schon mal fertig«, sagte Stella und klopfte an die Tür. Der gerade sechzehn Jahre alt gewordene Moritz war allerdings gar nicht da, er hatte offenbar nur vergessen, die Musik auszumachen, erkannte sie, nachdem sie die Tür einen Spalt geöffnet hatte. Das Totenkopfschild an der Außenseite von Moritz’ Tür warnte davor, sein »Reich« unangemeldet zu betreten. Doch Stella hatte bereits dreimal geklopft.

Während Emma im Flur ihrer kleinen Schwester dabei half, sich Jacke und Schuhe anzuziehen, checkte Stella in der Küche, ob Moritz gefrühstückt hatte, bevor er zur Schule gegangen war. Ein kurzer Blick auf die Milchtüte, die sie seufzend in den Kühlschrank stellte, und die Cornflakeskrümel auf dem großen Esstisch aus Holz genügten, um zu wissen: Er hatte gegessen, während sie oben mit den beiden Mädchen beschäftigt gewesen war. Stella deckte den Tisch und hielt dann einen Moment inne, um sich bewusst zu machen, wie gut die Entscheidung gewesen war, den Essbereich neu zu gestalten und sowohl Zeit als auch Arbeit darin zu investieren.

An der Stirnseite des Tisches stand eine lange Bank mit gedrechselten Armlehnen, bedeckt mit Kelim-Kissen, die gerade wieder in Mode waren, handgefertigt von marokkanischen Weberinnen, ein Fair-Trade-Projekt, das Stella nur allzu gern unterstützte. Die Wände hatte sie eigenhändig rau verputzt, die Wand im Arbeitsbereich mit bunten Fliesen gekachelt, in denen sich das Muster der Kissen wiederholte. Alles war gemütlich, einladend und wie dafür gemacht, lange beim Essen zusammenzusitzen.

Das Frühstück hingegen verlief, wie immer, ein wenig hektisch, denn keine ihrer beiden Töchter aß gern am frühen Morgen.

Zum Glück war der Kindergarten Tobekatzen nur zwei Querstraßen entfernt, so wie überhaupt in Husum vieles dicht beieinanderlag. Doch halt, sie wollte ja noch zu Robert, ermahnte sich Stella, als sie ihren Fehler erkannte.

Wo war sie nur schon wieder mit ihren Gedanken?

Also lieferte sie als Erstes Emma bei ihrer Lieblingserzieherin Julia ab und informierte sie darüber, dass sie mit ihrer jüngsten Tochter zum Arzt musste. »Kann sein, dass Lilly heute gar nicht mehr kommt, je nachdem wie mein Mann die Situation einschätzt«, erklärte sie und gab Emma einen Abschiedskuss. Doch ihre ältere Tochter wand sich ganz schnell aus ihrer Umarmung und stürmte auf ihre Freundin Marie zu.

»Klingeln Sie einfach durch oder sprechen aufs Band, damit wir Bescheid wissen«, erwiderte Julia und wünschte Stella einen schönen Tag.

Zehn Minuten Fußweg später, Lilly wurde bereits nörgelig, erreichte Stella die Praxis ihres Mannes.

Sie befand sich in der Nähe des Marktplatzes, untergebracht in einem alten Kaufmannshaus, in prominenter Lage unweit der altehrwürdigen Schwan-Apotheke mit dem wunderschönen Deckengewölbe. In Husum schien die Zeit stillzustehen, man meinte jeden Moment Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster zu hören oder den Schimmelreiter, entsprungen der Fantasie des Dichters Theodor Storm, vorbeipreschen zu sehen.

»Moin, Frau Behrendsen, schön, dass Sie auch mal wieder da sind«, begrüßte Ina sie mit strahlendem Lächeln und sagte, zu ihrer Tochter gewandt: »Hallo, Lilly, was machst du denn für Sachen? Ihr müsst leider noch einen kleinen Augenblick warten, aber dann hat Papa Zeit für dich, meine Süße.«

Wie immer war Stella zugleich fasziniert als auch ein wenig beunruhigt, wenn sie mit Roberts Sprechstundenhilfe zusammentraf. Ina war neunundzwanzig, kurvig, ihre Augenfarbe changierte zwischen Blau, Grün und Türkis, die rotblonden Locken reichten bis zum Po. Ihre Haarpracht trug sie meist zu einem geflochtenen Pferdeschwanz gebunden oder türmte sie zu einem gigantischen Dutt auf. Das Tollste an Ina waren ihr großer Mund und ein umwerfendes Lächeln, ähnlich wie bei Julia Roberts.

»Alles klar, wir gehen so lange ins Wartezimmer«, erwiderte Stella und zog Lilly die Jacke aus. Sie grüßte die anderen wartenden Mütter und den »Quoten«-Papa. So viel zum Thema Gleichberechtigung und Female Power, dachte Stella seufzend angesichts dieses Anblicks und kramte in der Spielzeugkiste nach einem passenden Bilderbuch für Lilly.

Zu dumm, dass sie vergessen hatte, das Buch mitzunehmen, das sie ihrer Tochter am Vorabend vorgelesen hatte.

Andere Mütter haben das besser im Griff, dachte sie beschämt, als sie die Frauen betrachtete, die mit ihren Sprösslingen auf den Termin bei Robert warteten. Keines der Bücher trug den Aufkleber Praxis Dr. Behrendsen, und Stella war absolut sicher, dass jede von ihnen auch etwas zu essen oder ein Spielzeug im Rucksack dabeihatte, falls die Wartezeit zu lang für die Kinder wurde.

»Hallo, Schatz«, sagte Robert, als Ina sie und Lilly schließlich in sein Sprechzimmer winkte. »Irgendwie haben wir uns heute Morgen verpasst, oder?«

»Das stimmt, denn du warst schon weg, als der Wecker geklingelt hat«, erwiderte Stella und setzte Lilly auf die Untersuchungsbank. Begeistert davon, bei ihrem Papa sein zu können, zierte sich und muckte die Kleine kein bisschen bei der Untersuchung. Ganz im Gegenteil, sie schien die Besorgnis und die liebevollen Berührungen ihres Vaters zu genießen.

»Alles in Ordnung, Muckel, ich würde mal sagen, du hast gestern nur ein bisschen zu viel genascht, kann das sein?«, sagte Robert nach einer Weile.

Der letzte Teil des Satzes war eindeutig an Stella gerichtet. Und klang vorwurfsvoll in ihren Ohren.

Oder war sie nur zu empfindlich, weil ihr Kopf gleich zu platzen drohte?

»Ich habe ihr aber gar nichts gegeben«, verteidigte sich Stella empört. Sie achtete sehr auf gesunde Ernährung, Bewegung, frische Luft und ausreichend Schlaf für ihre Kinder. »Sie hatte gestern nach dem Abendessen nur noch einen halben Apfel und eine Handvoll Rosinen, weil sie die so liebt. Keine Schoki oder so.«

Robert drückte den Sprechknopf und bat Ina ins Zimmer.

Stellas Herz rutschte augenblicklich eine Etage tiefer.

Was ging hier vor?

»Kannst du Lilly bitte einen kleinen Moment mit nach draußen nehmen, meine Frau kommt gleich nach«, bat Robert, und schon waren beide verschwunden. Dann ging er auf Stella zu, sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst.

War Lilly womöglich ernsthaft krank?

Doch dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: Robert umfasste ihre Hüften und gab ihr einen langen, leidenschaftlichen Kuss. »Weil wir das heute Morgen vergessen haben«, sagte er leise und küsste zuerst ihren Hals und dann das Dekolleté, das der Ausschnitt ihrer Seidenbluse freiließ. »Wir sollten uns unbedingt mal wieder eine kleine Auszeit gönnen, ohne die Kinder. Was hältst du von diesem Vorschlag?«

»Klingt super«, murmelte Stella, während ihr ein heißer Schauer nach dem anderen den Rücken hinunterlief.

Seit Lillys Geburt war ihr Liebesleben so gut wie eingeschlafen. Beide waren viel zu erschöpft und abgekämpft, beruflich auf Reisen oder damit beschäftigt, die Kinder zu pflegen, wenn eines von ihnen krank war.

»Dann lass uns das festmachen, sobald du aus Hamburg zurück bist. Und was Lilly angeht, würde ich sagen, dass sie einfach keine Lust auf den Kindergarten hatte und lieber bei dir sein möchte. Sie ist nicht krank.«

»Dann bin ich ja beruhigt«, erwiderte Stella und zupfte ihre Bluse wieder zurecht. Doch in Wahrheit war sie alles andere als beruhigt.

Wie immer nagte das schlechte Gewissen an ihr, weil sie seit einem Jahr wieder Aufträge als Innenarchitektin annahm und dafür manchmal ihre Töchter in der Obhut der Kinderfrau lassen musste. Sie war eine klassische Working Mum und hatte mit den klassischen Problemen zu kämpfen, die aus dieser Situation resultierten, sosehr ihr dies auch missfiel.

»Grüß die Mädels, und lasst es euch gut gehen«, sagte Robert, der schon wieder hinter seinem Besprechungstisch saß.

Dann drückte er die Sprechtaste und bat Ina, den nächsten kleinen Patienten hereinzurufen.

Stella warf ihm eine Kusshand zu, schnappte sich Lilly und startete den zweiten Versuch, sie in den Kindergarten zu bringen. Diesmal zum Glück mit Erfolg. Lilly war wieder voll obenauf, offenbar hatte ihr das kurze Zusammensein mit ihrem Papa gutgetan.

Nachdem Stella sich von beiden Töchtern verabschiedet hatte, ging sie zurück nach Hause, um dort fürs Wochenende zu packen. Doch bevor sie sich mit Leonie und Nina treffen konnte, musste sie noch einige Dinge für ihre Kunden abholen: ein Bild aus einer Husumer Galerie und ein paar antike Bücher aus dem Trödelladen.

Ist das herrlich, dachte sie, nachdem alles erledigt war, sie Husum verlassen hatte und über Land fuhr.

Das Wetter präsentierte sich nicht mehr so schön wie an den Tagen zuvor, doch das störte sie nicht, denn die Natur und die Landwirtschaft dürsteten nach Regen, es war viel zu trocken, die Ernte von Winterweizen, Raps und Mais war in Gefahr.

Die vergangenen Sommer waren ungewöhnlich heiß gewesen, ein untrügliches Zeichen für den Klimawandel, der ihr zunehmend Sorgen bereitete.

In welcher Welt würden Emma und Lilly aufwachsen?

Düstere Gedanken von Klimaflüchtlingen, Wasserknappheit und dem fortwährenden Anstieg des Meeresspiegels machten ihr zuweilen so viel Angst, dass sie kaum noch Nachrichten schauen oder hören konnte.

Wie gut, dass es immer mehr Menschen und zum Glück auch Politiker gab, die die Zeichen der Zeit endlich erkannten und entschlossen handelten. Bis tatsächlich sichtbare Ergebnisse greifbar waren, würde es natürlich dauern.

Doch ein Weg konnte nur gegangen werden, wenn man sich entschloss, den ersten Schritt zu tun.

Stella schob im Laufe der Fahrt die sorgenvollen Gedanken von sich, denn sie wollte sich ungestört auf das vor ihr liegende Wochenende freuen können. Sie war schon gespannt zu hören, wie es Nina und Leonie ging, denn in den vergangenen Tagen hatten Sprach- und kurze Textnachrichten in der WhatsApp-Gruppe Villa-Mädels die Telefonate ersetzt.

Alle drei waren beschäftigt mit Alltagskram und sich darüber einig, dass sie lieber persönlich über all das sprechen wollten, was zurzeit in ihrem Leben passierte und was sie bewegte …

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4

Nina

Tadaaaaaa, hier kommt Nachschub für die Obstschale«, sagte Leonie, als Nina die Tür öffnete, und schwenkte einen vollbepackten Korb.

»Vergiss die Pflaumen, Quitten oder was eure Obstbäume sonst noch so alles hergegeben haben, und lass dich lieber drücken«, erwiderte Nina, nahm Leonie den Korb aus der Hand und fiel ihr um den Hals. »Gut siehst du aus, frisch und erholt. Hattest du Urlaub, von dem ich nichts wusste, oder gigantischen Sex mit Markus?«

Leonie errötete leicht, damit war die Antwort klar.

Nina verspürte ein unschönes Ziehen im Magen, es war nicht immer leicht für sie zu hören, wie verliebt Leonie und Markus auch nach über zwei Jahren Beziehung noch waren. Daher sagte sie tapfer: »Also Letzteres, das freut mich. Ist noch irgendwas im Kofferraum? Kann ich dir tragen helfen?«, und versuchte, den aufkommenden Neid im Keim zu ersticken. Schließlich gönnte sie ihrer Freundin das Glück von ganzem Herzen, Leonie hatte lange genug darauf warten müssen.

Beide gingen zu Leonies Golf, in dessen Kofferraum die berühmte Kühltasche stand, aus der sie regelmäßig kulinarische Köstlichkeiten zauberte, daneben der kleine Koffer mit ihren Klamotten. In dem Moment, als Nina eine Holzkiste, randvoll gefüllt mit duftenden Sommeräpfeln, aus dem Auto wuchtete, fuhr Stella auf den Parkplatz, der zur Villa gehörte.

Sie sieht erschöpft aus, dachte Nina, nachdem Stella ausgestiegen war und ihre beiden Freundinnen umarmte.

»Kaum zu glauben, dass wir es tatsächlich geschafft haben«, rief diese fröhlich, klang jedoch ein wenig abgehetzt. »Bevor ich euch richtig Hallo sage, muss ich aber erst nach oben und mich umziehen. Die hohen Schuhe und der enge Hosenbund bringen mich sonst um.« Und schon stürmte Stella in Richtung ihrer Wohnung im ersten Stock.

»Wie immer auf dem Sprung, unsere liebste Lady«, sagte Nina kopfschüttelnd und half Leonie mit dem Gepäck. »Dann lass uns mal reingehen. Oder willst du auch erst mal nach nebenan?« Nebenan war die Wohnung von Alexander, die er Leonie zur Verfügung stellte, wenn sie zu Besuch war und er selbst unterwegs.

»Immer noch irgendwie komisch, dass ich nicht mehr hier wohne«, murmelte Leonie und blieb am Eingang stehen. »Wo treibt Alexander sich denn diesmal herum?«

»In der Toskana. Seit gestern früh habe ich übrigens kein Sterbenswörtchen mehr von ihm gehört. Er hat weder angerufen noch geschrieben, obwohl er immer wieder online war.«

»Ist er so im Stress, oder habt ihr euch mal wieder gestritten?«, fragte Leonie verwundert. »Ihr seid doch sonst in engem Kontakt, wenn er unterwegs ist.«

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was diesmal los ist.«

Leonie musterte Nina eindringlich. »Weißt du, was? Ich gehe später nach nebenan, das Auspacken muss warten. Kochst du uns einen Kaffee? Und dann quatschen wir, bis Stella kommt, was, wie wir wissen, eine ganze Weile dauern kann.«

Genau dafür liebe ich Leonie, dachte Nina gerührt. Sie kennt Stella und mich, ist unglaublich warmherzig und einfühlsam.

Sie weiß um unsere Macken, nimmt Rücksicht darauf und mag uns trotzdem oder gerade deshalb. In der Küche angekommen, stellte Nina die Kaffeemaschine an, während Leonie das cremefarbene Geschirr aus dem Hängeschrank nahm, das Nina sich neulich gegönnt hatte.

In ihrem Inneren brodelte es. Sollte oder sollte sie nicht …?

Aber wem sollte sie sich anvertrauen, wenn nicht ihrer besten Freundin? »Glaubst du, dass Alexander sich in eine andere verliebt hat?« Diese Frage auszusprechen kostete Nina unendlich viel Kraft. Sie hatte sich bis zu diesem Augenblick geweigert, einen solchen Gedanken auch nur im Ansatz zuzulassen, doch im Beisein von Leonie war sie stark genug, um ihren unausgesprochenen Ängsten mutiger ins Gesicht zu schauen.

»Wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?« Leonie riss ihre blauen Augen auf, und mit einem Mal fand Nina diesen Gedanken ebenfalls albern. Aber dennoch …

»Wir hören normalerweise mindestens zweimal am Tag voneinander, wenn er unterwegs ist, und diesmal recherchiert er weder für ein Kochbuch noch sonst etwas. Er ist schon zum vierten Mal in der Toskana und macht ein großes Geheimnis aus den Gründen für seine Reisen.«

»Vielleicht will er dort ein Häuschen für euch kaufen und dich damit überraschen«, ertönte Stellas Stimme.

Leonie und Nina drehten sich um.

»Nanu, das ging ja schnell«, sagte Nina erstaunt.

Stella trug jetzt eine lässige Jogpant, ein weites T-Shirt und Flipflops, hatte ihre blonden Haare zum Zopf gebunden und das Make-up entfernt. »Ich wollte so schnell wie möglich bei euch sein«, erwiderte Stella, und nahm Milch für den Kaffee aus dem Kühlschrank. »Wie sieht’s aus? Mögt ihr jetzt schon einen kleinen Begrüßungsdrink oder erst nachher zum Essen?«

»Ich hätte eine Idee, was ganz hervorragend zum Kaffee passt, nämlich der Walnusslikör von Papa Rohlfs. Ich schaue mal eben nach, wie viel davon nach unserem feuchten Trip in St. Peter-Ording noch übrig geblieben ist«, sagte Nina und ging nach nebenan ins Wohnzimmer.

Kurz darauf saßen die drei im Garten. Der Wind raschelte durch die hohen Gräser mit den silbrigen Rispen, die Nina gepflanzt hatte, und streichelte sanft ihre Haut. Kleine Käfer krabbelten an den Halmen entlang, eine Hummel nahm Kurs auf den lilafarbenen Sommerflieder und machte es sich dort gemütlich.

»Ich vergesse immer wieder, wie wunderschön friedlich es hier ist«, schwärmte Stella seufzend und streckte die Beine von sich. Die Flipflops hatte sie mittlerweile ausgezogen, ein Zeichen dafür, dass sie sich rundum wohlfühlte. Kein Wunder, denn dieser Ort war an Schönheit kaum zu überbieten.

Der Terrassenbereich wurde umsäumt mit Terrakottatöpfen voller Hortensien, Phlox, Cosmea und Rosen. Schmetterlinge und Bienen umkreisten summend die farbenfrohen Blüten, ab und zu flog sogar eine Libelle über die Seerosen auf dem Gartenteich. »Unsere kleine Oase inmitten des Großstadttrubels, ist das nicht schön? Aber los, erzähl: Was ist mit dir und Alexander? Ich dachte, ihr hättet euch nach unserem SPO-Trip wieder angenähert.«

Die Freundinnen waren wenige Wochen zuvor bei einem Mädelswochenende an der Nordsee von einer Springflut überrascht worden und hatten sich auf einen der Pfahlbauten geflüchtet, während um sie herum ein heftiger Sturm tobte.

In der Zeit, in der sie auf die DLRG gewartet hatten, waren viele Themen zur Sprache gekommen, die jede Einzelne von ihnen belastete: die unglückliche Beziehung zwischen Nina und Alexander, Leonies Sorge um das Apfelparadies, Stellas fortwährende Überlastung und zeitweilige Einsamkeit in Husum. Sie hatten versprochen, wie immer füreinander da zu sein, sich Lösungsvorschläge einfallen zu lassen oder was sonst nötig war, um zu helfen. Doch schon bald war ihnen allen der Alltag in die Quere gekommen, Herausforderungen, die man nicht vorhersehen konnte, eben das Leben mit all seinen Aufs und Abs.

Nina wiederholte, was sie bereits Leonie erzählt hatte, und stellte erneut die Frage, die sie seit einiger Zeit in schlaflosen Nächten quälte – die nach einer anderen.

»Benimmt sich Alexander denn in irgendeiner Weise verdächtig? Schreibt er häufiger als sonst irgendwelche Nachrichten? Bricht er Telefonate ab, wenn du unerwartet ins Zimmer kommst?«, fragte Stella und schaute Nina mit ernster Miene an.

»Du klingst, als hättest du Erfahrung in diesen Dingen, Robert ist aber der treueste Mensch, den man sich vorstellen kann«, entgegnete Nina verwundert.

»Du vergisst, dass ich längere Zeit die Geliebte eines verheirateten Mannes war und Julian damals oft dabei beobachtet habe, wie er versuchte, vor seiner Frau zu vertuschen, dass er eine Affäre hatte.«

In Nina krampfte sich alles zusammen.

Das stimmte. Die Affäre mit Julian und dessen nie eingelöstes Versprechen, sich von seiner Frau zu trennen, hatten Stella damals einen schweren psychischen Zusammenbruch beschert, deshalb hatte Nina diese Zeit verdrängt. Sie selbst hatte ebenfalls schlechte Erfahrungen mit Untreue gemacht und sich – wenn sie ehrlich mit sich war – nie wirklich davon erholt und war deshalb extrem misstrauisch. Ihr damaliger Freund Gerald war fremdgegangen, genau wie ihr Vater, der Ninas Mutter damit das Herz gebrochen hatte.

»Was würdet ihr denn denken, wenn ihr sehen würdet, dass euer meilenweit entfernter Freund morgens um drei oder vier online ist?«, fragte sie.

»Dass er nicht schlafen kann und Netflix schaut? Oder irgendetwas recherchiert? Hat Alexander nicht die Online-Ausgabe der FAZ abonniert?«

Ein Hauch von Erleichterung durchströmte Nina.

An eine derart simple Erklärung hatte sie gar nicht gedacht.

Stattdessen war mal wieder die Fantasie mit ihr durchgegangen.