Zeit der Brennessel - Marliese Fuhrmann - E-Book

Zeit der Brennessel E-Book

Marliese Fuhrmann

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Beschreibung

Unsentimental und verblüffend präzise erinnert sich Marliese Fuhrmann an ihre Kindheit. Aus vielen genau beobachteten Details entsteht die Chronik dieser Mädchenjahre und zugleich das Dokument des Lebens von Frauen in Nazi-Deutschland und den ersten Nachkriegsjahren: der biographische Hintergrund einer ganzen Generation. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Marliese Fuhrmann

Zeit der Brennessel

Geschichte einer Kindheit

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Bärbel und Robert [...]12345678910111213141516171819

Für Bärbel und Robert

1

Stand sie am Fenster und schaute hinaus oder lief sie im Zimmer auf und ab? Saß sie auf einem Stuhl und wartete auf mich? Auf jeden Fall muß sie aufgeregt gewesen sein damals im Sommer 34, denn ich war ihr erster Enkel. Um vier Uhr nachmittags, gerade noch rechtzeitig für ein Arbeiterkind, um den Feierabend nicht zu verpatzen, zog mich die Hebamme ans Tageslicht des schwülen Julifreitags. Bevor mein Vater aus dem Betrieb nach Hause kam, wo er von diesem Tag an für drei das Geld zusammenkloppen mußte, lag ich gewaschen und gewickelt, aber nicht schlafend neben meiner Mutter, Gott sei Dank ein Mädchen, stellte die alte Frau erleichtert fest, die mich als erste in den Arm genommen hatte. Es war meine Großmutter mütterlicherseits. Obwohl sich alle, einschließlich meiner Mutter, einen Sohn gewünscht und erhofft hatten, war sie als einzige froh darüber, daß es nun doch anders gekommen war. Von Mädchen hat man wenigstens was; das bedeutete, daß sie sich nach all der Windelwascherei, der Flaschen- und Breikocherei und der umfangreichen Erziehungsprozedur ein weiteres aktives Mitglied in der Reihe der Frauen ihrer weit zurückreichenden Tradition versprach.

An Väter dachte sie nicht, wenn sie neugeborene Kinder sah. Nur Mütter waren wichtig für sie; das Gebären und das Weitergeben, das Leben wurde sichtbar. Das schmatzende Saugen an der vollen Brust, der milchtropfende Mund des Säuglings, der im Schlaf noch die Saugbewegungen wiederholt, bedeutete für sie Fruchtbarkeit, Nahrung im Leib der Frau. Das Leben der Frauen hatte einen Sinn. Die Väter, in ihren Augen unzuverlässige Mannsbilder, waren ein notwendiges Übel, verschwitzte, brutale, trinkende und manchmal sogar zuschlagende Ungeheuer; sie haßte alles Männliche.

Großmutter stammte aus einer Frauenfamilie, sie hatte noch sechs Schwestern. Drei davon waren zur Zeit meiner Geburt schon gestorben, die anderen standen noch tatkräftig im Leben.

Sie war eine kleine, gebückt gehende Frau. Alles an ihr war rund, ihr Körper, ihr Gesicht, ihre Arme. Die dunklen, bodenlangen Röcke bauschten sich über ihrem gewölbten Leib. Ihre schwarzen Haare trug sie glatt anliegend, mit Mittelscheitel, in einem flachen Knoten am Hinterkopf zusammengedreht. Nur ihre Nase war lang und spitz, ein wenig gekrümmt nach unten gebogen. Ihre gutmütigen braunen Augen widersprachen ihrem ernsten Gesichtausdruck mit den aufeinandergepreßten schmalen Lippen.

Großmutter lachte selten, nur manchmal kam ein schadenfrohes Gekicher aus ihrer trockenen Kehle. Ab und zu kniff sie die Augen zusammen, dann verzerrte ein verbitterter Ausdruck ihr faltiges Gesicht.

Die Leute sagten, daß sie ihre Herkunft nicht verleugnen könne; aber in der Pfalz gibt es viele dieser romanischen dunklen Typen. Man findet sie in beinahe allen Städten und Dörfern, besonders dort, wo sich im 16. Jahrhundert Hugenotten und Wallonen angesiedelt hatten.

Ihr Vater, mein Urgroßvater, war Ackerer auf einem Stück Land, das seinen Vorfahren vom Pfalzgrafen Johann Casimir im Jahre 1579 geschenkt worden war. Sie waren als vertriebene Glaubensflüchtlinge hier angekommen und hatten nach einem Platz gesucht, auf dem sie sich wieder seßhaft machen konnten. Da die Gebäude des Zisterzienserklosters Otterberg und die dazugehörigen landwirtschaftlichen Höfe leerstanden und die Äcker brachlagen, durften sie sich dort niederlassen.

Urgroßvater Daniel war zusammen mit seiner Frau Sophie bemüht, einen Sohn zu zeugen, das erkennt man an der stattlichen Zahl seiner Töchter. Als ihm dies jedoch nicht gelang, übertrug er alle Rechte, aber auch alle Pflichten und die eigene Tradition auf seine Töchter. Die älteste wurde Bauer, sie lernte den Pflug zu führen, die Äcker zu bestellen, zu säen, zu mähen und zu ernten. Die zweite versorgte den Stall und das Vieh, sie fütterte, mistete aus, molk die Kühe und tränkte die Kälber. Die dritte Tochter war zuständig für den Garten und die Wiesen mit den Obstbäumen, die nächste für den Haushalt, die Kleidung und das Essen. So wuchsen die Frauen in ihr jeweiliges Arbeitsgebiet hinein, es gab wenig Anlaß zum Streit unter den Schwestern über die Zuständigkeit, und jede konnte für sich frei entscheiden. Die Mahlzeiten nahmen sie gemeinsam in der großen Stube des Bauernhauses ein.

Es war eine Selbstverständlichkeit, daß die Familie sonntags den Gottesdienst in der Abteikirche besuchte; schließlich war der Zusammenhalt in der Gemeinde durch den Glauben begründet. Die Nachkommen der ausgewanderten Hugenotten waren Protestanten aus Überzeugung und standen zu ihrem Bekenntnis. Protestantismus hatte für sie etwas mit Politik zu tun; ihr Glaube war nicht nur ein Lippenbekenntnis, er bedeutete für sie, sich selbst einzubringen und dafür einzustehen, auch wenn das mit persönlichen Nachteilen verbunden war.

Meine Großmutter war die dritte in der Reihe der Töchter, und als die älteste Schwester heiratete und einen Mann auf den väterlichen Hof brachte, war für Großmutter kein Platz mehr. Sie packte ihr Bündel, verabschiedete sich von zu Hause und machte sich selbständig. Sie ging in Stellung, wie das zu der damaligen Zeit üblich war. Noch vor der Jahrhundertwende verdingte sie sich auf dem Martinimarkt in der Kreisstadt. Sie suchte sich eine andere Herrschaft, falls es ihr bei der alten nicht mehr gefiel oder ihr Dienstherr es mit ihr nicht mehr aushielt.

Sie erzählte mir von ihren Herrschaften, bei denen sie nur den Dienstboteneingang benutzen durfte, und von den Madamen, denen sie beim Einkaufen den Korb tragen mußte. Die Herrin suchte auf dem Markt die Fleischstücke, das Gemüse und das Obst aus, beroch es, betastete es und legte es schließlich in den Korb.

Großmutter lernte die Männer kennen, die ihr beim Servieren auf den Hintern tätschelten, die heimlich bei Nacht in ihre Kammer kommen wollten, kam hinter die Schliche der sogenannten feinen Leute, sah, wie sie sich gegenseitig hintergingen und belogen. Dabei kam sie in der ganzen Pfalz herum, sah die reichen Weindörfer an der Haardt und die großen Bauernhöfe auf der Sickinger Höhe, diente im Rheinhessischen, gab aber auch dort bald wieder auf, weil die Frau des Hauses zwei Sorten Kuchen buk, einen ordentlich mit Äpfeln belegten für die Herrschaft und einen wenig appetitlichen, auf den die Äpfel samt Schale und Kernhaus mit dem Reibeisen gerieben wurden, für die Bediensteten.

Aber sie hatte sich vorgenommen, das zu tun, was viele aus ihrem Stand auch tun mußten; vielleicht wußte sie nicht weiter. Mit der Zeit kam sie mehr und mehr hinter die Gewohnheiten ihrer Arbeitgeber, wurde gewiefter im Umgang mit ihnen und durchschaute sie rechtzeitig.

Sie hatte kräftige Bauernhände, die zupacken konnten und sich vor keiner Arbeit fürchteten. Jede Woche richtete sie in der großen, hölzernen Teigmulde Kornmehl und Sauerteig zum Brotbacken her, knetete, walkte, schlug den Teig, bis sich Blasen zeigten, ließ ihn in der Wärme des Ofens gehen, zerteilte ihn, formte die einzelnen Laibe und buk das Brot für eine Woche. Der Duft des frischen Brotes zog durch das Bauernhaus, und der Geschmack trug ihr Lob ein. Langsam begriff sie und zog aus der Kochkunst ihren persönlichen Vorteil. Köchinnen hatten unter dem Dienstpersonal die höchste, bestbezahlte Stellung inne und wurden, wenn sie sich anstrengten, am meisten gelobt.

Sie verbrachte ihr Leben hinter riesigen Herden, beugte sich über Ofenplatten und stand vor heißen Backöfen. Sie putzte Körbe voller Gemüse, schälte eimerweise Kartoffeln und setzte alles in mächtigen Töpfen auf. Sie erhitzte Fett in großen Pfannen, legte das Fleisch hinein, daß es zischte und spritzte. An Weihnachten schichtete sie pfundweise das Gebäck und bereitete für große Gesellschaften das Menue vor. Sie begoß das Geflügel, baute kunstvolle Pasteten in die Tafelmitte, spickte Braten und richtete sie anschließend so an, daß auch die Augen der verwöhnten, anspruchsvollen Tischgäste auf ihre Kosten kamen.

Sie schuftete, daß ihr die Beine schmerzten; ihre Wirbelsäule verschob sich – keiner kümmerte sich drum –, und sie ärgerte sich schon im voraus, daß von ihrer ganzen Arbeit nichts übrigblieb – nichts übrigbleiben sollte: im Gegenteil, je mehr davon gegessen wurde, um so größer war die Anerkennung für die Köchin.

Alle Rezepte, die sie für ganz bestimmte Gericht brauchte, die Mengenangaben für eine große Gästezahl bei festlichen Anlässen, stellte sie sich selbst zusammen, schrieb sie in ihrer spitzen, altdeutschen Schrift, die mir heute soviel Mühe beim Entziffern bereitet, in ein dickes liniertes Kochbuch.

Als Köchin im Kurhaus Johanniskreuz erfand sie spezielle Gerichte und gab ihnen passende Namen. Da ist zum Beispiel auf stockfleckigem Papier zu lesen:

›Johanniskreuzer Pudding für 10 Personen‹, ›Johanniskreuzer Torte, gibt zweimal gemacht, 3 schöne Torten‹.

Sie berechnete die Kosten eines jeden Rezeptes auf den Pfennig. ›Pfälzer Ohren, 30–40 Personen‹, kosten alles zusammen 1,30 Mark.

¼ Schoppen Rahm

10

Pfennig

 

7 Eier

56

Pfennig

 

60 gr. Zucker

5

Pfennig

 

½ Kaffeelöffel Salz

1

Pfennig

 

775 gr. Mehl

30

Pfennig

 

Vanillezucker

8

Pfennig

 

 

1,30

Mark

 

Von dem allem schafft man einen Teig fest aus, bis er glatt und geschmeidig ist, worauf er in 3 Teile geteilt wird und diese zugedeckt ½ Stunde ruhen müssen. Dann rollt man jeden Teil so dünn als möglich aus und sticht runde Kügelchen daraus, zieht jedes nochmals fast durchsichtig aus, backt sie schwimmend goldgelb und bestreut sie mit Vanillezucker.

Großmutter kochte in Kurhäusern und bekannten Hotels. Bald war die so selbstsicher, daß sie drüben über dem Rhein in einem großen Haus selbständig die Hauswirtschaft leiten konnte, Abrechnungen machte, Hilfskräfte beschäftigte, einstellte und entließ.

Später, als sie mir einmal eine Fotografie aus dieser Zeit zeigte, wunderte ich mich, wie jung sie darauf aussah. Ihr Kleid, das sie auf dem steifen Kartonbild trägt, ist glatt geschnitten und seitlich geknöpft, wie eine preußische Uniform. Auf der Fotografie macht sie einen fremden, aber überaus fortschrittlichen Eindruck auf mich, und ihr selbstbewußter Blick ist nicht zu übersehen.

Sie war jedoch überaus schwierig und eigenwillig. Soweit mich meine Erinnerungen zurücktragen, höre ich ihr Geschimpfe und ihr Gebrewel. Sie war verschlossen, hielt Gespräche mit Freundinnen für überflüssig und redete auch selten mit Verwandten über Dinge, die sie bedrückten.

Obwohl sie niemand Rechenschaft schuldig war, trug sie bis ins hohe Alter jeden Pfennig ihrer Ausgaben in ein Buch ein.

Ihre Schwester erzählte einmal, daß sie einen Dickkopf habe und immer mit dem Kopf durch die Wand wolle. Ihr Haß und ihre Verachtung aber galt den Männern. In dem Augenblick, wo sie sich allein und unbeobachtet glaubte, fing sie an mit sich selbst zu reden; zog über die unzuverlässigen Mannsbilder her, die Taugenichtse, die Halodris, knerwelte vor sich hin, drohte den Tunichtguten, den Faulenzern, die zu nichts taugen und unserem Herrgott die Zeit stehlen. Einmal lauter, dann wieder leiser werdend, ihre Stimmte ebbte ab, hob dann wieder von neuem an und polterte auf Pfälzisch weiter. Schimpfen wurde immer mehr zur Gewohnheit, dabei spuckte sie vor Zorn und Ekel aus. Sie fand jeden Tag einen Anlaß, die Schleusen zu öffnen; ihr Unterkiefer war ständig in Bewegung. Sie kämpfte andauernd gegen den Übeltäter Mann, stieß Verwünschungen aus und ging fluchend durch den Tag.

Sie war niemals demütig oder untertänig, das kam ihr überhaupt nicht in den Sinn. Sie war eine Bauerntochter und dachte nicht daran, die Knie zu beugen. An manchen Tagen, wenn sie mit meiner Mutter eine Auseinandersetzung hatte und sich so halsstarrig verhielt, überkam mich schon als Kind das Gefühl, als wolle sie sich hinter dieser Haltung verstecken; vor allem, wenn sie sich nicht mehr anders zu helfen wußte, als mürrisch und brummend hinter ihrer Wohnungstür zu verschwinden.

Nur mir gegenüber war sie anders, aber auch nur dann, wenn wir beide allein waren. Sie nahm mich als ihr Kind mit in ihre Wohnung, den Vorbehalt unter dem Dach; sie zog mich in ihre Höhle und bewachte mich, ich gehörte ihr. Mein Drahtgitterbett stand in ihrer Schlafstube, sie übernahm freiwillig meine Pflege. Je älter ich wurde, um so mehr schenkte Großmutter mir, ohne daß jemand davon wußte oder ich die Dinge in Besitz nahm. Sie vermachte mir ihre handgeschriebenen Kochbücher mit der Auflage, daß ich mindestens so gut kochen lernen müsse wie sie. Sie zeigte mir ihre kunstvollen Handarbeitsspitzen, ihre Kunststrickdecken und erweckte in mir die Lust, stricken und häkeln zu lernen. Sie überging meine Mutter und versprach mir ihr hausgemachtes Leinenzeug, wenn ich groß wäre, ohne jedoch zu ahnen, daß wir es einmal verlieren könnten. Großmutter liebte das alte Zinngeschirr mit den Namensgravuren und den Jahreszahlen, das auf ihrem Regal stand, und erzählte mir Geschichten dazu, wer davon schon gegessen hatte, und meine Phantasie wurde geweckt. Weißt du, wenn du in der Schule tüchtig lernen wirst, werde ich dich einen schönen Beruf lernen lassen, versprach sie mir, vergaß aber, daß ihr Geld schon einmal bei einer Entwertung verfallen war und sich dies wiederholen könnte.

Großmutter unterhielt sich mit mir wie mit einer erwachsenen Person, obwohl ich noch nicht zur Schule ging, und sie scheute sich nicht davor, meine Mutter in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Sie betrachtete mich als ihre Nachfolgerin, darüber ließ sie mich niemals im Zweifel. Sie konnte nicht erwarten, mich erwachsen zu sehen, und wurde nicht müde, mich zu unterrichten.

Es mangelte mir an nichts, meine Großmutter sorgte für mich, sie fütterte mich, sie lobte und sie streichelte mich. Obwohl sie das Heben schwerer Lasten sehr anstrengte, biß sie die Zähne zusammen und hob mich in mein Kinderbett. Sie bewunderte mein erstes Lächeln, meinen ersten Zahn.

Großmutter hatte mir ihren Vornamen gegeben, Elisabeth, den Namen, der in der Bibel steht, den Königinnen tragen; sie erzählte es mir, es war ihr wichtig.

Sie nahm mich auf ihren Schoß: Troß, troß, trille, de Bauer hat e Fille.

Du mußt jetzt singen lernen: Kommt ein Vogel geflogen …, Ein Männlein steht im Walde …

Sie spielte mit mir die Fingerspiele: Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen …

Sie nähte mir Lumpenpuppen aus Stoffresten zum Schmusen und bewachte meine Spiele bei Tag und Nacht. Sie gab mir ein Blatt und einen Stift, komm, jetzt malen wir ein Haus, einen Sauhund.

Wurde ich unruhig und wachte nachts auf, durfte ich in ihrem breiten Bett weiterschlafen. Ich kuschelte mich an sie, ich wärmte mich an ihrem Leib, wir bauten uns eine Höhle und verkrochen uns. Sie faltete die Hände und sagte, wir beten jetzt; ich legte meine Hände ineinander und betete.

Auf ihrem Nachttisch stand eine Kerze. Jeden Abend stellte sie ein Glas mit frischem, klarem Wasser daneben. Sie ließ ihren dünnen Zopf herunter, setzte sich auf die Bettkante, ließ ihren Oberkörper langsam nach rückwärts gleiten, zog die steifen Beine nach, brachte ächzend ihren schweren Körper in die richtige Lage, lag lange wach, rieb die Füße auf dem Bettuch, bis sie warm geworden waren. Dann schliefen wir. Nachts erwachte sie, setzte sich auf, zündete die Kerze an und trank von dem kalten Wasser. Jedes Jahr im Herbst, wenn die Dreschmaschine auf dem Hof ihrer Schwester das Getreide gedroschen hatte, ließ sie sich ihren Sprausack mit frischer Haferspreu füllen.

Morgens, wenn es hell wurde, stand Großmutter vor dem Bett und zog ihre Kleider an. Da war ein grobes Leinenhemd, in dem sie auch geschlafen hatte, es ging beinahe bis zu den Knöcheln. Beim Schlafen trug sie eine Bettjacke darüber. Am Tag kamen zuerst zwei schwarze Serge-Unterröcke, die gingen von der Taille bis zum Boden und wurden mit dünnen, langen Bändern um den Leib herum festgebunden. Dann schlüpfte sie in eine Bluse, weit und vorn geknöpft. Darüber kam der Überrock und darüber noch eine Halbschürze aus blauweiß gestreiftem Kattun. Sie trug schwarze, handgestrickte Wollstrümpfe, die mit einem Gummiband rings um das Bein gehalten wurden.

Sie konnte sich schlecht bücken, die ganze Anziehprozedur ging langsam voran. Oft half sie mit ihrem Gehstock nach, wenn sie nicht in die Hausschuhe kam.

Dann ging sie hinaus in die Küche, nahm den Schürhaken, zog die Ringe von dem kleinen, eisernen Herd, daß es schepperte, rüttelte die Asche durch den Rost und entfachte mit Papier, Tannenzapfen und Kienspänen ein Feuer. Es roch nach Harz, und es knackte, wenn das Feuer das Holz anbrannte, es knisterte und brummelte gemütlich. Sie drehte den Hahn auf, ließ Wasser in einen Topf laufen und setzte ihn auf die Herdplatte.

Ich lag solange noch in der warmen Kuhle des Bettes und döste vor mich hin. Ich wartete, bis es in der Küche ein bißchen wärmer geworden war. Wir wuschen uns jeden Tag in einer Waschschüssel im Wasserstein. Darüber hing ein alter, geschliffener Spiegel in einem breiten, braunen Rahmen; rechts davon, an zwei Haken, ein weißes, kratziges Leinenhandtuch für das Gesicht und ein dunkles für die Hände. Meine Großmutter machte ihren Zopf auf, kämmte ihn aus, flocht ihn erneut, nahm ein paar Haare, die im Kamm hängengeblieben waren, zu einer Strähne zusammen und band den dünnen Zopf damit zu. Dann drehte sie ihn zu einem kleinen Nest am Hinterkopf zusammen, steckte ihn mit Haarnadeln fest. Zum Schluß setzte sie ihre Metallbrille mit den runden, geteilten Gläsern auf die Nase.

Nur sonntagmorgens, da schloß sie die Tür zwischen der Stube und der Küche ab, da durfte selbst ich nicht dabei sein. Sie nahm die Holzbrenke, schüttete heißes Wasser hinein, nahm Soda und Kernseife und wusch sich von Kopf bis Fuß, auch die Haare; danach zog sie frische Kleider an. Die Hemden, die Unterhosen, die harten Bettücher, die groben Handtücher waren sämtlich aus selbstgesponnenem und handgewebtem Leinen genäht. Am Rand waren mit zierlichen, roten Kreuzstichen die Anfangsbuchstaben ihres Namens eingestickt. Die Sachen stammten alle aus ihrer Aussteuer.

Ein Schritt vom Fußende ihres Bettes entfernt stand der eichene Kleiderschrank mit den zwei gegeneinander gedrehten Holzschnecken am Kopfteil. Jahrein, jahraus blieb die Schranktür verschlossen; den Schlüssel dazu hatte Großmutter an ihrem Schlüsselbund am Schürzenband befestigt. Öffnete sie einmal die Tür, füllte der Geruch von Mottenkugeln die Schlafstube. Im Schrank hingen die dunklen Kleider eng aneinandergedrückt, da lagen verbeulte Ledertaschen, zerschlissene Samtbeutel, der schwarze Beerdigungshut wartete auf seinen Einsatz, die wollenen Dreieckstücher waren an ihren heraushängenden Fransen zu erkennen. Unten im Schrank stand ein Holzkästchen, etwa so groß wie zwei längs nebeneinandergestellte Schuhschachteln. Es war abgeschlossen, weil sich Großmutters ›geheime Papiere‹ darin befanden. Was sie genau darunter verstand, konnte ich niemals herausfinden. Ich erfuhr es auch später nicht; als Großmutter tot war, der Schrank geöffnet und das Sterbekleid herausgenommen wurde, stand das Kästchen offen und leer. Sie hatte vor ihrem Tod alles verbrannt, was in ihrem Leben Wichtiges auf Papier geschrieben und aufgehoben worden war. Niemand weiß, was es mit dem Inhalt des Kästchens auf sich hatte.

Rechts vom Fenster stand das Bett mit dem hohen Nachttisch, links davon hatte die Wäschekommode mit der Marmorplatte und dem Waschlavoir ihren Platz. Mein weißes Kinderbett stand an der gegenüberliegenden Seite. Das Gitter vorn war meist hochgestellt.

Eines Tages kam meine Mutter die Treppe herauf. Es war an einem Spätnachmittag, ich lag schon im Bett. Sie stand davor und sah auf mich herab. Ich begann zu zittern, ich zitterte am ganzen Körper, die Arme, die Beine. Meine Mutter holte Großmutter herbei und schaute auf mich, schau, das Kind hat Schüttelfrost, es wird krank sein. Großmutter beruhigte sie jedoch und versicherte ihr, daß ich kerngesund sei. Erleichtert atmete sie auf. Danach fragte mich meine Mutter: Kannst du schon turnen, Handstand machen oder Purzelbaum? Da strampelte ich die Decke weg und führte ihr vor, was ich alles zu bieten hatte. Ich machte einen Handstand, bei dem ich nur ein Bein in die Höhe streckte, einen Purzelbaum in dem kleinen Bett. Bei jeder Übung meinte Mama, da wird sich der Adolf Hitler aber freuen.

Meinen Vater sah ich nur selten. Einmal verbrachte er das Weihnachtsfest mit uns. Wir befanden uns auf dem Heimweg von seinen Leuten zurück zu unserem Häuschen. Da zeigte er mir mit der Hand hoch oben am Himmel die vielen Sterne. Ich sah sie zum ersten Mal und freute mich über das Geglitzer; je länger ich hinaufsah, je mehr Goldklümpchen sah ich strahlen. Mein Vater hatte mich auf seine Schultern gesetzt, meine Beine hingen rechts und links von seinem Kopf herunter. Er sagte zu mir, ich solle mich an seinen Haaren festhalten. Er hatte ganz dichte, helle Haare; sie waren warm und rochen nach Körper und Wind. Es gefiel mir gut bei ihm. Er sagte, wir spielen jetzt Pferd und Reiter, ich bin das Pferd und du der Reiter. Er sprang durch die Pfützen und hüpfte übermütig, dabei hielt er mich mit seinen Händen an den Füßen fest.

Selten einmal erfuhr ich etwas von ihm oder über seine Arbeit. Nur manchmal erzählte er mir, daß er weit weg Geld verdienen müsse. Er berichtete von hohen Eisenbrücken, auf denen er stehe und nicht schwindelig werden dürfe. Er redete über den Zeppelin und vom Bodensee, er nannte die Donau, Plattling, Deggendorf und er sagte, daß er schon im Rhein geschwommen sei.

Kam er nach Hause, hatte er große Koffer dabei. Jeder Koffer hatte einen Namen, der Überseekoffer, der Schrankkoffer, der Blonde. Mir kamen seine Koffer wie riesige Schatztruhen vor. Wenn er sie öffnete, entstieg ihnen der Geruch nach Lederzeug, gefetteten Schuhen, Tabak und Rasierseife. Die Koffer waren viel größer als ich, und ich setzte mich hinein und spielte. Meine Mutter konnte die Koffer, wenn sie wieder gepackt waren, nicht vom Boden hochheben.

Soweit ich mich zurückerinnern kann, trug Vater eine flache, schwarze Stoffmütze, vorn mit einem schmalen Schild, einem gemusterten Ripsband und einer gedrehten Kordel drumherum. Diese Mütze, so sagte er mir, sei eine Arbeitermütze, und er sei sehr stolz darauf, sie zu tragen, auch wenn sie Mama nicht gefalle. Erst viel später, als er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, trennte er sich von den Mützen und trug einen Hut.

Solange ich ein Kind war, nannte ich meine Mutter Mama.

Sie hatte ein nagelneues Fahrrad bekommen, es glänzte und funkelte; sie liebte es sehr und putzte und polierte es häufig. Im Sommer fuhr sie damit in die Stadt, machte Einkäufe und erledigte wichtige Angelegenheiten auf den Ämtern. Über Winter stellte sie es zu Großmutter und mir in die Schlafstube. Wenn nachts die Kerze brannte, blinkten Lenkstange, Klingel und Pedale und der Rückstrahler leuchtete.

Die Ehe meiner Eltern, an deren Zustandekommen ich wahrscheinlich mitgeholfen hatte, wurde von mir nicht weiter gestört. Sie konnten sich ungehindert an die Verwirklichung ihres Wunsches nach einem Sohn machen. Schließlich ließ der große braune Mann mit dem schwarzen Schnurrbart und dem akkurat gescheitelten Haar, dessen Bild meine Mutter mit einigen Hammerschlägen über mein Kinderbett gehängt hatte, niemand in Zweifel darüber, Söhne waren nötiger denn je.

Meine Mutter war ständig in Bewegung; zu jener Zeit hatte sie Zimmer vermietet, gab Kost und Logis. Selten einmal bekam ich sie zu sehen, bald war sie einkaufen, bald machte sie Kaffee oder kochte Mittagessen. Ich hörte es nur an den Geräuschen, wenn die Betten geschüttelt wurden, das Geschirr klapperte, das Fleisch im heißen Fett zischte, die Bürste über die Fußbodenbretter des Hausgangs schrubbte. Ab und zu hörte ich sie bei der Hausarbeit singen.

Großmutter stützte sich, schon als ich geboren wurde, beim Gehen mit der rechten Hand auf einen Stock. Sie hatte ein Hüftgelenkleiden und wurde immer steifer. Am Morgen konnte sie sich nicht aufrichten, hatte den Kopf zur Erde geneigt, jammerte über ihr Kreuz und ächzte bei jeder Bewegung. Sie tat mir leid. Das komme von den vielen kalten Herbergen, sagte sie zu mir. Wollte sie mich tragen, solange ich klein war und nicht laufen konnte, nahm sie mich unter den linken Arm, vorn schauten der Kopf und hinten die Beine heraus. So kochte sie mit mir; zappelte ich zu sehr, dann warnte sie mich, daß sie mich fallen lassen müsse, wenn ich keine Ruhe gäbe.

Zehn Minuten zu Fuß von unserem Haus lag ein Kiefernwäldchen. Sobald ich ein paar Schritte laufen konnte, machten wir beide uns auf den Weg dorthin. Sie nahm mich an der Hand und führte mich behutsam. Wir gingen ein Stück unter den Ahorn- und Roßkastanienbäumen der Allee, vorbei an den Ebereschen und Robinien, die am Waldrand standen, betrachteten die Maulbeerbäume, die in einer Anlage angepflanzt worden waren, und kamen in den Wald. Die Luft war voll vom Geruch der harzigen Rinde, der vertrockneten Kiefernnadeln und der sonnengewärmten Erde. Die Vögel lärmten in den Wipfeln, wir sahen den hohlen Baum, in dem der Buntspecht seine Höhle hatte. Im Frühjahr sammelten wir für den Tee, den wir im Winter tranken. Wir suchten Brombeerblätter, Himbeerblätter, kleine Heidelbeerstöcke, Blätter von Walderdbeeren. Großmutter besaß Teehorden, auf denen die Blätter im Schatten zum Trocknen ausgebreitet wurden. Der Tee schmeckte so köstlich, einen besseren habe ich nie mehr getrunken.

Als wir wieder einmal sammelten, kam eine junge Frau vorbei in einem schwarzen Rock, einer weißen Bluse und einem Tuch um den Hals, das mit einem Lederknoten zusammengehalten wurde. Sie rief meiner Großmutter zu, daß es verboten sei, die Blätter der Waldpflanzen abzureißen wegen der Ernährung des Deutschen Volkes. Aber meine Großmutter störte sich nicht daran.

Die wilden Brombeerranken hakten sich in meinem Kleid fest und zogen einzelne Fäden heraus. Bei den Brennesseln sagte mir Großmutter, diesen Monat brennen sie nicht. Ich griff vorsichtig mit zwei Fingern ein Blatt an und wurde prompt genesselt. Sie lachte, nahm eine Schere aus der Tasche, schnitt die frühen Brennesseln ab und kochte sie zusammen mit Melden zu einem wohlschmeckenden Frühjahrsgemüse.

Wermutblätter brauchten wir gegen Magenkrämpfe, Johanniskraut war wichtig bei entzündeten Fingern und Beinen, Thymian verwendeten wir in der Küche. Im Herbst sammelten wir Hagebutten, schnitten sie auf, füllten sie in eine Korbflasche und setzten mit Zucker und Wasser einen Wein an. Falläpfel schälte Großmutter, schnitt sie in Ringe und trocknete sie auf einer Schnur. Die gedörrten Pflaumen hängte sie in einem Leinensäckchen auf.

Auf ihrem Kiefernholzküchenschrank standen in den Regalen schnörkelig beschriftete Porzellanbehälter mit Rosinen und Haselnüssen. In unbeobachteten Minuten kletterte ich hinauf und naschte davon. Daneben standen mit bunten Pfauen bemalte Blechdosen, gefüllt mit allerhand Papiertütchen. Im Frühjahr säte sie daraus ›Gretel im Kraut‹, ›Fleißig Lieschen‹, ›Gelbe Pfeile‹ und Stiefmütterchen. Sie legte gesprenkelte Bohnen in den Boden, sie hießen Blumenbohnen.

Und überhaupt der Garten! Sie pflegte ihn begeistert, wenn es ihr auch noch so schwerfiel. Es war der wunderbarste Garten, an den ich mich erinnere. Die Rosen hinter dem Haus waren meine Lieblingsblumen, ihr Duft zog mich an. Waren sie verblüht, sammelte ich die Blütenblätter, stopfte sie in ein Glas, goß Wasser dazu und wartete, daß Parfüm daraus würde. Die Samenkapseln des Klatschmohns nahm ich als Stempel und drückte sie in die Haut.

Riech mal an den Feuerlilien, forderte Großmutter mich auf. Hinterher lachte sie über meine gelbe Nasenspitze.

Im Sommer lebte ich im Garten und vom Garten. Bevor ich mich auf den Weg zur Schule machte, schüttelte ich den niedrigen Klarapfelbaum, sammelte die meist unreifen oder wurmigen Früchte auf, steckte sie in den Schulranzen, füllte alle Taschen damit, nahm zwei Äpfel in die Hand als Wegzehrung.

Das Spätjahr brachte die Strohblumen, die glänzend braunen Roßkastanien, die in der Allee aus ihren stachelig-grünen Hüllen platzten. Wir schüttelten am Feldrain die Haselnußbüsche, wagten uns zaghaft ein paar der blauen Schlehen aus ihrem dornigen Gestrüpp zu angeln, wenn der erste Reif über sie gegangen war.