Zeit der Gefühle - Judy Blume - E-Book

Zeit der Gefühle E-Book

Judy Blume

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Beschreibung

Margo und Francine, genannt B.B., sind Freundinnen. Beide haben sie gescheiterte Ehen hinter sich und mussten ihre Kinder alleine großziehen. Doch sie haben ihr Leben gemeistert -mehr oder weniger. Da taucht Margos neuer Nachbar auf: Es ist ausgerechnet Andrew, B.B.s Exmann. Und entgegen ihrer Vorurteile verliebt sich Margo in ihn. Da sind Probleme mit B.B., die sich immer cool gibt, aber zutiefst verletzt ist, natürlich vorprogrammiert. Werden es beide Frauen schaffen, ihre Vergangenheit und ihre Ängste hinter sich zu lassen und endlich ihre wahres Glück zu finden?

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Seitenzahl: 486

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JUDY BLUME

ZEIT DER GEFÜHLE

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Irene Rumler

Das Buch

Margo und Francine sind Freundinnen. Beide haben sie gescheiterte Ehen hinter sich, und ihre Kinder allein großgezogen; doch sie haben ihr Leben gemeistert – mehr oder weniger. Da begegnet Margo Andrew, Francines Exmann, und entgegen ihrer Vorurteile verliebt sie sich in ihn …

Die Autorin

Judy Blume wurde 1938 geboren. Sie studierte Pädagogik an der New York University. Schon bald nach ihrem Studienabschluß begann sie zu schreiben und veröffentlichte 1969 ihr erstes Buch. Als erfolgreiche Autorin von Kinderbüchern erhielt sie zahlreiche Preise. Inzwischen hat sie sich auf dem Sektor der Erwachsenenliteratur ebenso etabliert.

Judy Blume ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Sie lebt in New York.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinCopyrightErster Teil
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15
Zweiter Teil
Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 28Kapitel 29
Dritter Teil
Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43
Vierter Teil
Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48

HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr.01/12406

Titel der Originalausgabe SMART WOMEN

Taschenbuchausgabe 8/2002 Copyright © 1984 by Judy Blume Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1984 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann und Kampa Werbeagentur, CH-Zug, unter Verwendung des Gemäldes IN EINEM PARK von Konstantin Makowsky, 1881

eISBN: 978-3-641-17876-5V001

http://www.heyne.de

www.randomhouse.de

Erster Teil

1

Margo schob die Glastür auf, die zum Patio vor ihrem Schlafzimmer führte. Sie stellte die Uhr ihres Heißwasserbeckens auf zwanzig Minuten, prüfte mit der linken Zehenspitze die Wassertemperatur und warf ihren Bademantel auf ein Bänkchen aus Rotholz; dann ließ sie sich langsam in das dampfende Becken gleiten und ihren Körper vom quirlenden Wasser umschmeicheln.

Es war Ende August, und die Nachtluft war frisch und klar. Ein beinahe voller Mond tauchte die Berge in milchiges Licht. Außer Margos Atmen und dem sanften Blubbern des Wassers in dem Becken war kein Laut zu hören. Tief sog sie den mit dem Dampf aufsteigenden Zedernduft ein, schloß die Augen und spürte, wie alle Spannung des Tages von ihr abfiel.

»Margo ...«

Die Stimme, die die Stille der Nacht durchbrach, ließ sie auffahren. Sie sah sich um, doch außer den Kästen mit üppig wuchernden Petunien und Geranien rings um die Wanne konnte sie nichts erkennen. Immer wieder vergaß sie, die welken Blüten abzuzupfen, aber offenbar verhinderte dies nicht, daß ständig neue nachwuchsen.

»Hier drüben …«, sagte die Stimme.

Er stand auf der anderen Seite ihres morschen Holzzaunes. Sie konnte ihn nur mühsam erkennen.

»Was soll das?« fragte sie scharf.

»Ich wollte nur wissen, ob Sie vielleicht Lust auf einen Drink hätten. Ich bin Andrew Broder. Ich wohne im Haus nebenan.«

»Ich weiß, wer Sie sind«, gab Margo verärgert zurück. »Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, daß es unhöflich ist, seinen Nachbarn zu bespitzeln?«

»Ich bespitzle Sie nicht.«

»Und daß elf Uhr zu spät ist, um auf einen Drink herüberzukommen?«

»Wirklich?« fragte er.

»Ja, wirklich.«

»Ich bin ein Nachtmensch«, meinte er. »Mir kommt das früh vor.«

»Ist es aber nicht. Es gibt Leute, die morgens aufstehen und arbeiten müssen.« Sie erwartete, daß er sich entschuldigen und dann verschwinden würde und wandte ihren Blick von ihm ab. Natürlich war sie neugierig auf ihn, aber nicht mehr als auf irgendeinen anderen Exmann einer ihrer Freundinnen. Letzten Samstag hatte sie beobachtet, wie er mit einem Arm voller Einkaufstüten kämpfte. Auf dem Weg von seinem Transporter zum Haus war eine gerissen, und der gesamte Inhalt, darunter eine Schachtel Eier, klatschte zu Boden. Margo, die auf ihrem Balkon saß und las, hatte belustigt zugesehen. Einen Augenblick lang stand er wie angewurzelt da, schüttelte den Kopf und murmelte etwas. Dann räumte er den Saustall beiseite, stieg wieder in seinen Wagen und kam eine Stunde später mit zwei weiteren Lebensmitteltüten zurück.

Und am Sonntag hatte sie ihn mit seiner Tochter Sara lachen hören. Wie schön es doch für einen Vater sein mußte, wenn er sich so über sein Kind freuen konnte. Den Gedanken, daß sie ihre Kinder mit Freddy nie mehr lachen hörte, empfand sie wie einen Schlag. Sie wußte nicht einmal, ob sie überhaupt miteinander lachten.

»Hören Sie«, sagte er, und erst da wurde Margo bewußt, daß er noch immer am Zaun stand. »Francine hat gesagt, daß …«

»Francine?«

»Sie nennen sie wohl B. B .... Jedenfalls hat sie gesagt, wenn ich keinen Zucker habe, könnte ich Sie darum bitten.«

»Soll das heißen, daß Sie nachts um elf Zucker wollen?«

»Nein. Wie ich schon sagte, dachte ich, daß wir vielleicht einen Drink nehmen könnten.« Er hielt eine Flasche hoch.

»Was ist es denn?« fragte Margo. »Es ist dunkel, und so weit kann ich nicht sehen.«

»Courvoisier. Gläser habe ich auch dabei.«

Margo mußte lachen. »Sie haben wirklich an alles gedacht.«

»Ich gebe mir alle Mühe.«

»Das Gartentor ist offen.«

Da meldete sich in ihrem Kopf eine andere Stimme. Margo, Margo ..., was tust du da?

Ich tue gar nichts.

Unsinn.

Schau her, er wird mich weder umbringen noch vergewaltigen. Das weiß ich sicher.

Du weißt mehr als das. Du weißt genau, warum du ihn nicht hereinlassen solltest.

Es ist doch nur auf einen Drink.

Das kommt mir so bekannt vor.

Ich benehme mich nur wie ein guter Nachbar.

Manche Leute lernen nie dazu.

Er öffnete das Tor, ging über den kleinen Hof zum Heißwasserbecken, setzte sich auf den Rand und schenkte ihnen beiden ein. »Auf gute Nachbarschaft«, sagte er und hob sein Glas.

»Es ist gefährlich, im heißen Bad zu trinken«, erklärte ihm Margo. »Das verstärkt die Wirkung des Alkohols ... er kann einen umbringen.« Sie steckte ihre Zunge ins Glas, um von dem Likör zu kosten, und setzte es dann ab. Ihr Körper war ganz von schäumendem Wasser bedeckt; der Dampf hatte ihre schwarzen Haare gekräuselt.

»Aus der Nähe sehen Sie ganz anders aus«, meinte er.

»Aus der Nähe?«

»Ich habe Sie ein paarmal von Ihrem Wagen zum Haus gehen sehen.«

»Oh.« Also hatte auch er sie beobachtet.

»Sie sehen aus wie das Mädchen auf der Sun-Maid-Rosinenschachtel.«

»Ein Mädchen bin ich wohl kaum mehr.«

»Dann eben ihre ältere Schwester.«

»Soll das ein Kompliment sein?«

»Ich mag Rosinen.«

Margo versuchte sich daran zu erinnern, wie das Mädchen auf der Rosinenschachtel aussah, konnte sich aber nur ihre rote Haube ins Gedächtnis rufen.

»Ich bin noch nie in einer Heißwasserwanne gewesen«, sagte er. »Wie ist das denn?«

»Heiß«, entgegnete sie. »Manche Leute vertragen es nicht.«

»Ich würde es gerne mal versuchen.«

»Es gibt mehrere Clubs in der Stadt, aber Boulder Springs ist der beste. Nur sollten Sie sich anmelden, denn sie sind immer ziemlich ausgebucht.«

»Ich hatte eigentlich eher an jetzt gedacht«, sagte er.

»Jetzt? In meinem Becken?«

»Mich würde das nicht stören«, sagte er, während er sich das Sweatshirt über den Kopf zog.

»He …, einen Augenblick mal …«

Er kickte die Sandalen von den Füßen, öffnete seine Gürtelschnalle und ließ seine Jeans fallen. Er trug einen schmalen Slip. Gegenüber Männern mit Boxer-Shorts war Margo mißtrauisch. Freddy hatte solche Dinger getragen und darauf bestanden, daß sie gebügelt wurden. »Einen Augenblick mal …«, wiederholte sie, als er aus seiner Unterwäsche schlüpfte. Sie hatte ihn nicht direkt angesehen, während er sich auszog, aber es hatte genügt, um zu erkennen, daß er groß und schlank und sehr attraktiv war. Eigentlich hatte sie das auch schon gesehen, als sie ihn am letzten Wochenende beobachtete. »Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier machen?«

Er ließ sich ihr gegenüber in das Becken gleiten. »Ich dachte, Sie hätten okay gesagt …«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Wollen Sie, daß ich wieder heraussteige?«

»Ich wollte nicht, daß Sie überhaupt hereinkommen.«

»Oh, da habe ich Sie aber mißverstanden.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Aber nachdem ich schon drinsitze, haben Sie doch sicher nichts mehr dagegen, oder? Kann ich es ein paar Minuten ausprobieren?«

»Ein paar Minuten werden wohl nichts schaden.«

Als das Zeitsignal ertönte, stieg er aus dem Becken und stellte die Uhr nochmals auf zwanzig Minuten. Doch bevor sie zum zweitenmal klingelte, meinte er, er fühle sich etwas schwindlig. Margo riet ihm, schnell aus dem Becken zu steigen, bevor er ohnmächtig würde. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig. Aber er war so benommen, daß sie ihn in ein Handtuch wickeln und in ihre Wohnung bringen mußte. Es war gar nicht so einfach, ihn die steile Außentreppe hochzuschleifen.

»Ich habe Sie gewarnt«, sagte sie, als er sich auf die Couch im Wohnzimmer plumpsen ließ.

»Es hat sich gelohnt«, erklärte er.

»Am besten nehmen Sie jetzt ein paar Aspirin und gehen so schnell wie möglich ins Bett.«

»Darf ich es morgen nochmals versuchen?« fragte er.

»Ich glaube kaum. Es scheint Ihnen nicht zu bekommen.«

»Ich werde mich daran gewöhnen.«

»Wissen Sie, ich habe zwei Kinder.«

»Ich eines.«

»Meine sind Teenager.«

»Meins ist zwölf.«

»Meine sind den ganzen Sommer bei ihrem Vater gewesen. Und morgen kommen sie nach Hause.«

»Ich würde sie gerne kennenlernen.«

»Seien Sie sich dessen bloß nicht so sicher.«

»Sie sind ziemlich abweisend, was Ihre Kinder angeht, habe ich recht?«

»Ich? Abweisend?«

»Sie haben wunderbare Brüste«, sagte er.

Margo sah an sich hinunter und wurde rot. Ihr Bademantel hatte sich bis zur Taille geöffnet. Schnell zog sie ihn wieder zu. »Und noch etwas will ich Ihnen sagen. Ein heißes Bad ist kein sexuelles Erlebnis.«

»Ich werde versuchen, es mir zu merken.«

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Margo.«

Als Margo am nächsten Nachmittag nach Denver fuhr, um ihre Kinder vom Flughafen abzuholen, dachte sie über den gestrigen Abend und ihre sonderbare Begegnung mit Andrew Broder nach. Sie hätte ihn nicht in ihr Heißwasserbecken steigen lassen sollen. Jetzt würde es heikel werden, drei Monate lang Tür an Tür zu wohnen. Obwohl sie sich ihres impulsiven Verhaltens bewußt war, brachte es sie immer wieder in Schwierigkeiten.

Habe ich dich nicht gewarnt?

Schon gut …, schon gut, du hast mich gewarnt.

Margo wußte, daß B. B. geschieden war, doch im Gegensatz zu anderen geschiedenen Frauen beklagte sie sich nie über ihren früheren Mann. Kein Wort darüber, wie gemein oder was für ein miserabler Vater er war. Kein Wort davon, daß er mit jungen Mädchen herumzog, die seine Töchter hätten sein können, daß er keinen Funken Humor hatte oder eiskalt wie ein Fisch sei. Kein bitteres Lachen über seinen Mangel an Einfühlungsvermögen im Bett. B. B. behielt die Hintergründe dafür, warum und wieso ihre Ehe mit Andrew gescheitert war, für sich, und Margo wagte nicht, danach zu fragen. Bis zu jenem Tag im Mai, an dem B. B. Andrew einen Scheißkerl genannt hatte, war ihr nicht einmal sein Name über die Lippen gekommen.

Daß sie sich darum gekümmert hatte, daß er die Wohnung im Haus der Hathaways mieten konnte, war wahrscheinlich ein Fehler gewesen. B. B. hätte sie bei der Suche nach einer Bleibe für ihn nicht um Unterstützung bitten sollen. Aber was geschehen ist, ist geschehen, dachte Margo.

Sie betrachtete ihr Gesicht flüchtig im Rückspiegel und überlegte, was ihre Kinder wohl von ihrer neuen Frisur halten würden. Jahrelang hatte sie ihr dunkles Haar schulterlang und in der Mitte gescheitelt getragen, doch diesen Sommer hatte sie das Bedürfnis gehabt, ihr Aussehen zu verändern. Stan, ihr langjähriger Friseur, hatte sie eingehend gemustert und dann gemeint: »Könnte nicht schaden, wenn Sie Ihre Vorzüge besser zur Geltung bringen …: schöne Haut, hübsche Augen und naturgewelltes Haar.«

Ist das alles? hatte Margo gedacht. Ist das alles, was nach vierzig Jahren noch übrigbleibt?

Nachdem die Haare geschnitten waren, hatte sie sich geschworen, sie wieder wachsen zu lassen und sie nie wieder abzuschneiden. Aber inzwischen mußte sie zugeben, daß ihre Augen jetzt viel besser wirkten.

»Eigentlich hätten wir sie wegen ihrer riesigen Augen Hazel nennen sollen«, pflegte ihr Vater zu scherzen.

Und ihre Mutter sagte dann: »Wer konnte schon wissen, daß sie solche Augen bekommen würde.«

»Du hast unglaublich häßliche Augen«, hatte James behauptet und sie damit zum Lachen gebracht. James war ihr erster Liebhaber gewesen, und etwas an Andrew Broder erinnerte sie an ihn. Vielleicht war es die Art, wie er sie ansah, oder sein herzliches, offenes Lachen.

Als Margo James kennenlernte, war sie siebzehn. Er war ein schlanker, hochaufgeschossener Freshman, rasend komisch, aber lieb und zärtlich. Eine gelungene Kombination. Nur seinem verqueren Sinn für Humor war es zu verdanken, daß sie die ersten ungeschickten Versuche, sich zu lieben, unbeschadet überstanden. Danach liebten sie sich mit ebensoviel Spaß an der Sache wie Leidenschaft, und erst später wurde es Margo bewußt, daß das gar nicht so schlecht war. Im Grunde genommen sprach sogar eine Menge dafür.

Zweieinhalb Jahre nach ihrer ersten Begegnung war James an Magenkrebs gestorben. Sie hatte nicht einmal gewußt, daß er krank war. Ihre Mutter hatte die Todesanzeige in der Zeitung gesehen. James Schoenfeld, zwanzig, nach kurzer Krankheit. Obwohl Margo und James nicht mehr miteinander gingen und sich sechzehn Monate lang nicht mehr gesehen hatten, traf sie sein Tod so sehr, daß sie bis zur Hochzeit mit Freddy mit keinem Mann mehr ins Bett ging.

Damals mußte Margo ununterbrochen an jene Nacht denken, in der sie mit James Schluß gemacht hatte. Sie mußte ständig daran denken, wie sie bei der Party der Studentenverbindung mit einem anderen Jungen geflirtet und ihm schließlich sogar einen Zettel mit ihrer Telefonnummer zugesteckt hatte. James hatte sich mit einem Sechserpack Bier getröstet. Dann schlug er der Länge nach ohnmächtig auf den Boden hin. Margo blieb nichts anderes übrig, als sich von dem anderen Jungen nach Hause fahren zu lassen. Am nächsten Nachmittag war James, noch immer ziemlich bleich im Gesicht, herübergekommen und hatte sich umständlich für sein Benehmen entschuldigt. Dann machten sie einen Spaziergang zum Teich, doch als er sie küssen wollte, drehte sie den Kopf beiseite. »Es ist aus«, hatte sie gesagt. »Wir werden uns nicht mehr sehen.«

»Aber warum denn? Kannst du mir das sagen? Warum?«

»Ich weiß es nicht«, hatte sie geantwortet. »Es ist nur so etwas, das ich fühle … oder vielmehr nicht fühle …«

James hatte kehrtgemacht und war in voller Montur mit erhobenen Händen geradewegs in den Teich hineingewatet. Sie stand am Ufer, hatte geschrien, gekreischt und gelacht, bis ihr Tränen in den Augen brannten. Vielleicht liebte sie ihn doch, dachte sie. Aber es gab so viele Jungen, die man lieben konnte. Noch war es zu früh, sich an einen zu binden.

Ihre Mutter bat sie inständig, Traurigkeit nicht mit Schuld zu verwechseln. Es war nicht ihre Schuld, daß James gestorben war. Ihr Vater hatte sie in seinen Armen gewiegt und ihr über das Haar gestrichen. Beide Schwestern, von denen eine jünger und eine älter war als sie, standen in ihrer Schlafzimmertür und schwiegen betreten.

Zum Begräbnis ging Margo ganz allein. Nachdem sie James’ Eltern und seinem Bruder ihr Beileid ausgesprochen hatte, erkundigte sie sich, wer das zarte, langhaarige Mädchen war, das so hemmungslos schluchzte, und sein Bruder erklärte: »Das ist Rachel. Sie war James’ Freundin.«

Margo nickte und biß sich auf die Unterlippe. James hatte einen Ersatz für sie gefunden. Aber was hatte sie denn erwartet? Sie ging auf Rachel zu. »Ich bin Margo«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid es mir tut.«

Rachel hörte zu weinen auf und sah Margo an. »Er hat mir viel von Ihnen erzählt. Daß Sie seine erste Freundin waren. Aber das ist schon lange her, nicht wahr?«

So lange auch wieder nicht, dachte Margo.

»Wir waren verlobt«, sagte Rachel. An ihrem schwarzen Kleid steckte die Nadel von James’ Studentenverbindung. Früher hatte Margo davon geträumt, sie zu tragen.

Sie träumte noch immer von James. Von James, der in den Teich watete. Und dann rief sie: »Komm zurück, James. Laß uns von vorne anfangen ...«, aber jedesmal war es zu spät. Mit Tränen auf den Wangen wachte sie auf.

Wie alle anderen jungen Männer, die Margo dann kennenlernte, war auch Freddy ganz anders als James. Vielleicht war das der Grund, warum sie ihn heiratete.

Vierzehn Jahre lang war sie mit Freddy zusammengewesen, ohne ihm je untreu zu sein, obwohl sie durchaus mit dem Gedanken spielte. Nach Freddy kam dann Leonard, und nach Leonard ihr Chef, Michael Benson. Dann ein paar kurze Affären, die ein paar Monate oder Wochen dauerten, manchmal nur eine Nacht. Zwölf Männer waren es in dieser Zeit gewesen, angefangen bei einem Physiologieprofessor der Colorado University über einen Buddhisten in Naropa bis hin zu einem Bauarbeiter. Und dann war da in diesem Sommer fünf Tage lang Eric.

Margo führte Buch über ihre Liebhaber; die Liste bewahrte sie in der verschließbaren obersten Schreibtischschublade in ihrem Büro auf. Manchmal fragte sie sich, ob andere Frauen das auch taten. Sie überlegte, was ihre Kinder wohl denken würden, wenn sie plötzlich sterben würde und sie ihre Papiere durchsahen. Siebzehn Namen standen auf dieser Liste. Siebzehn Männer. Nicht übermäßig viele Liebhaber für eine geschiedene Frau von vierzig, dachte sie. Sie kannte einige Frauen, die jedes Wochenende von Bar zu Bar zogen, um einen Mann für die Nacht aufzugabeln. Sie konnten es gut auf fünfzig im Jahr bringen. Sie selbst war seit fünf Jahren geschieden. Multiplizierte man das mit fünfzig, so hätte sie inzwischen zweihundertfünfzig Liebhaber haben können. Bei dieser Vorstellung mußte sie laut lachen. Sie erschien ihr auf Anhieb so irrsinnig komisch und grotesk, dann aber auf einmal so unendlich traurig und deprimierend, daß sie sich auf die Lippen biß, um nicht zu weinen.

Sie schaltete das Autoradio an und kurbelte das Fenster herunter. Der Wind fegte ein paar Zweige auf die Kühlerhaube, wo sie einen Augenblick liegenblieben und dann wieder wegflogen. Der Sommer geht zu Ende, dachte Margo.

Sie hatte intensiv an einem neuen Projekt mit Michael Benson gearbeitet, bei dem es um die Versorgung einer Wohnanlage mit Sonnenenergie ging. Während der ganzen Zeit hatte sie sich nur eine Woche für den Chaco Canyon freigenommen, um dort zum ersten Mal im Leben ganz und gar mit sich allein zu sein. Sie betrachtete es als Prüfung ihrer selbst. Vielleicht wollte sie sich beweisen, daß sie auch allein überleben konnte. Doch schon am zweiten Tag begegnete sie Eric. Er war zwanzig und unwiderstehlich. Später faßte sie den Entschluß, daß Eric das letzte ihrer spontanen Liebesabenteuer gewesen sein sollte. Denn danach empfand sie immer eine große Leere. Sie fühlte sich einsam und hatte Angst.

Das nächste Mal, wenn sie in Versuchung geriet, wollte sie widerstehen und statt dessen ernsthaft versuchen, einen festen Begleiter zu finden. Bis dahin wollte sie sich ganz auf ihre interessante Arbeit und ihre Kinder konzentrieren, die heute wieder nach Hause kamen.

An diesem Morgen war sie früh aufgestanden, um ihr Lieblingsessen zu kochen, ein saftiges Hühnchen in Rumsauce. Sie hoffte, daß es eine glückliche Heimkehr werden und das nächste Schuljahr besser als das letzte verlaufen würde. Sie wollte sich alle Mühe geben. Sie wollte versuchen, mehr Zeit für sie zu haben und mehr Verständnis aufzubringen, dazusein, wenn sie sich aussprechen wollten, weniger hart zu urteilen und ihnen alles in allem die warmherzige und verständnisvolle Mutter zu sein, die sie immer hatte sein wollen, ohne daß es ihr bisher gelungen wäre. Dies war ihre letzte Chance mit Stuart. Im nächsten Frühling würde er die Schule verlassen und aufs College gehen. Wie es mit Michelle werden sollte, wußte sie nicht. Noch ein Jahr voller Feindseligkeit konnte sie nicht ertragen. Vielleicht stellte sich bei der Landung des Flugzeugs sogar heraus, daß Michelle gar nicht an Bord war. Vielleicht war sie in New York bei Freddy und Aliza geblieben. Was würde sie in diesem Fall tun? Ins nächste Flugzeug nach New York springen und Michelle nach Hause schleifen? Sie wußte es nicht. Wenn Michelle doch nur verstehen könnte, daß man eine Sache nicht hinschmeißt, wenn es happig wird. Daß man seine Probleme nicht dadurch löst, daß man die Menschen, die einen am meisten lieben, ausschließt, sondern indem man sich von ihnen helfen und sich trösten läßt.

Margo bog vom Highway ab und folgte den Wegweisern zum Flughafen. Noch zwanzig Minuten bis zur Landung des Flugzeugs. So hatte sie noch Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken. Zeit, um sich einen Augenblick zu entspannen, bevor sie wieder in ihre Rolle als Mutter schlüpfen mußte.

Später am Abend, nach dem Begrüßungsessen, duschte Margo und zog das lange, wallende Gewand an, das ihr ihre Freundin Clare letzte Woche zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Wie herrlich sich die Seide auf der nackten Haut anfühlte! Unendliche Meter reiner Seide in der Farbe sanftgeröteter Wangen.

»Wenn du am Morgen hineinschlüpfst, dann strahlst du«, hatte Clare gesagt. »Das jedenfalls hat die Verkäuferin behauptet. Also, was hältst du davon?«

»Ich meine, daß es nicht unbedingt ein Hausgewand für den Morgen ist«, hatte Margo gesagt, »es sei denn, es ist der Morgen danach …«

Darüber mußten beide lachen.

Es gab Gerüchte in der Stadt, daß Clare Navajo-Blut in den Adern hätte, Gerüchte, an denen Clare mehr Gefallen fand als sonst jemand. Und wenn sie es darauf anlegte, sah sie mit ihrem dunklen, von Silberfäden durchzogenen Haar, den sorgfältig mit Schminke akzentuierten hohen Wangenknochen, ihrer tiefgebräunten Haut und den um den Hals gewundenen Türkis- und Korallenketten wie ein hochgewachsenes exotisches Halbblut aus. Wäre Margo schon vor zehn Jahren Clare begegnet, hätte sie sich vielleicht nicht die Mühe gemacht, sie näher kennenzulernen. Ihr Akzent war so abscheulich, daß sie sie nach dem ersten Satz womöglich als texanische Ölerbin abgetan hätte.

»Als ich letztes Jahr vierzig wurde«, kommentierte Clare ihr Geschenk, »habe ich mir ein durchsichtiges schwarzes Nachthemd und eine Federboa gekauft.«

Das erinnerte Margo daran, daß sie noch eine Schublade voll durchsichtiger schwarzer Dessous hatte, die aus ihrer Zeit mit Leonard stammten. Seitdem hatte sie kein Stück mehr davon getragen. Eigentlich schade.

Leonard war einer der Gründe gewesen, warum Margo New York vor drei Jahren verlassen hatte. Sie war nicht nur vor einer aussichtslosen Affäre mit ihm und vor Freddy und seiner neuen Braut weggelaufen, sondern auch vor sich selbst; sie hatte gehofft, in den Bergen einen neuen Sinn zu finden, und wenn schon nicht zu finden, dann zumindest sich einen zu schaffen.

Aufgrund ihres Interesses für Sonnenenergie-Projekte hatte sie sich für Boulder entschieden, wo sie das Glück hatte, mit Hilfe ihrer Arbeitsmappe, eines Empfehlungsschreibens ihres Chefs aus New York und nach einem gut verlaufenen Vorstellungsgespräch einen Job in einem kleinen Architekturbüro namens Benson & Gould zu bekommen. Erst später stellte sich heraus, daß Gould mehr als die Hälfte der Zeit auf den Bahamas verbrachte, Benson eine geradezu neurotische Angst vor Verantwortung hatte und beide hocherfreut waren, als sie ihr Angebot annahm.

Mitte August zog Margo mit der Hälfte des Geldes, das der Verkauf der Wohnung am Central Park West eingebracht hatte, nach Boulder, wo sie ein Haus am Rand der Berge kaufte, zu dem eine unbefestigte Straße führte. Es war ein seltsames Bauwerk, bei dem Küche und Wohnzimmer im ersten Stock lagen, weil man von dort aus einen Blick auf die Flatirons hatte, und die Schlafzimmer dafür im Erdgeschoß; für den Kauf ausschlaggebend war das Heißwasserbecken im Innenhof. Die Maklerin, eine Frau namens B. B., versicherte Margo, daß das Haus nur an Wert gewinnen könne.

Zwei Wochen nach Margos Einzug machte B. B. sie mit Clare bekannt, die ihre Galerie renovieren wollte und dafür nach einem Architekten Ausschau hielt.

Margo ging durch die Diele, um ihren Kindern gute Nacht zu sagen. Michelle saß im Bett und las Lady Chatterley’s Lover.

»Wie gefällt es dir?« wollte Margo wissen.

»Ich lese es nur, weil ich muß …, es steht auf der Lektüreliste für den Sommer«, verteidigte sich Michelle.

Margo lachte. »Doch nicht das Buch …; das hier …« Im Takt der Musik, die aus Michelles Stereoanlage erklang, wirbelte sie durchs Zimmer. Es hörte sich nach Joan Armatrading an, aber Margo war nicht ganz sicher. Michelle flog zur Zeit auf Sängerinnen, deren Songs und Lieder sich um Frauen drehten.

»Guter Gott, Mutter …, was hast du denn da an?«

»Das hat mir Clare zum Geburtstag geschenkt. Ist es nicht phantastisch?«

»Ein recht sonderbares Geschenk einer geschiedenen Frau an eine andere. Sie hätte sich von einem Bild aus ihrer Galerie trennen können. In diesem Haus gibt es eine Menge kahler weißer Wände.«

»Ich glaube, sie wollte mir ein persönliches Geschenk machen.«

»Hmm …, ziemlich persönlich ist es schon.«

»Also, wie gefällt es dir?«

»Für jemand, der auf Seide und Satin steht, ist es wohl ganz gut.«

»Ich habe das Buch gemeint.«

Michelle blickte Margo trotzig und streitlustig an. »Ich hab’ dir schon gesagt …, wir müssen es lesen.«

»Das weiß ich. Trotzdem kann es dir doch gefallen oder nicht.« Margo gebot sich Einhalt. Dieses Gespräch würde zu nichts führen.

Michelle schlug das Buch zu und legte es auf den Schoß. Dann warf sie Margo einen feindseligen Blick zu. »Es ist ein interessantes Buch, wenn auch ziemlich altmodisch.«

Altmodisch also, dachte Margo. Das war schwer zu verkraften. Sie mußte daran denken, wie sie Lady Chatterley gelesen hatte. Damals war sie auf dem College, und die Liebesszenen kamen ihr so schwül vor, daß sie sich im Badezimmer einsperrte und eine Stunde lang unter der Dusche stand. »D. H. Lawrence hat im Südwesten gelebt …, in Taos. Hast du das gewußt?«

»Natürlich hab’ ich das gewußt, Mutter. Aber dieses Buch spielt in England.«

»Ja. Ich weiß.« Margo näherte sich dem Bett und wollte Michelle einen Kuß auf die Wange geben, doch sie wich ihr aus.

»Bitte, Mutter …, sei nicht komisch.«

»Gute Nacht«, sagte Margo und gab sich alle Mühe, freundlich zu klingen und sich nicht anmerken zu lassen, was sie empfand.

»Gute Nacht«, antwortete Michelle und schlug ihr Buch wieder auf. »Und, Mutter … Du solltest wirklich etwas für deinen Atem tun. Hast du es schon mal mit Lavoris probiert?«

»Ich habe zum Lunch Chili gegessen.«

»Na ja, schließlich mußt du ja keine Werbung machen.«

Margo seufzte tief und verließ das Zimmer.

Sie wußte weder wie noch warum sich Michelle in so ein unmögliches Wesen verwandelt hatte. Freiwillig hätte Margo nie mit einem Menschen, der ständig verärgert war und Kritik übte, unter einem Dach gelebt. Aber wenn es sich um die eigenen Kinder handelte, hatte man keine andere Wahl. So versuchte sie es immer wieder aufs neue, hoffte, daß sich alles zum Guten wenden ließe und wartete darauf, daß ihre frühere Freundlichkeit zurückkehren würde.

Sie ging am Bad zwischen den beiden Schlafzimmern ihrer Kinder vorbei und hielt vor Stuarts Tür inne. Dann klopfte sie.

»Ja?« rief Stuart über den Lärm der neuesten LP der Gruppe Police hinweg.

»Ich wollte nur gute Nacht sagen.«

»Ja …, schon gut …, gute Nacht ...«

Als Margo an diesem Nachmittag Stuart auf dem Flughafen erblickt hatte, war sie sprachlos gewesen. Das lag nicht nur an seinem Haarschnitt, sondern auch an der Kleidung. Ein Polo-Shirt, ein um die Schultern geschlungener Pullover, in einer Hand einen Tennisschläger und in der anderen einen Seesack. Er sah aus, als wäre er geradewegs aus einer Anzeige von Ralph Lauren in der Sonntagsausgabe der Times gestiegen. Sie mußte ein Lachen unterdrücken. Dabei war sie sich nicht sicher, ob sie froh war oder ob es ihr leid tat, daß sich ihr Sohn über den Sommer in einen Beinahe-Studenten verwandelt hatte.

»Wo hast du bloß all die neuen Klamotten her?« hatte Margo ihn auf der Fahrt von Denver nach Hause gefragt.

»Dad ist mit ihm einkaufen gegangen …, nach East Hampton«, erklärte Michelle.

»Ich kann für mich selbst reden, Großmaul«, fuhr Stuart ihr über den Mund. »Und meiner Ansicht nach gibt es nichts daran auszusetzen, wenn man ein bißchen auf sein Aussehen achtet. Sogar Mutter hat einen neuen Haarschnitt.«

»Habe ich bemerkt«, sagte Michelle.

Bevor Margo Gelegenheit hatte, Michelle zu fragen, was sie davon hielte, sagte Stuart: »Ich möchte die Sache mit den Bewerbungen fürs College möglichst bald erledigen. Dad sagte, er würde sich im Oktober eine Woche freinehmen und mit mir herumfahren und die Gespräche führen.«

Diese Worte trafen Margo wie ein Schlag. Sie hatte immer geglaubt, daß sie diejenige sein würde, die ihn zu diesen Gesprächen begleitete. Und nur für diesen Zweck hatte sie sich eine Woche Urlaub aufgespart.

»Zuallererst werde ich mich wohl in Amherst bewerben.«

»Warum in Amherst?« wollte Margo wissen.

»Kennst du Dad’s Freund, Wally Lewis?«

»Ja.«

»Er ist auf dieses College gegangen, und er behauptete, er habe dort Kontakte geknüpft, die ein Leben lang gehalten hätten.«

Margo war angewidert. Das ging wirklich zu weit. »Wirklich, Stuart, allmählich klingst du schon genauso wie dein Vater.«

»Und was ist dagegen einzuwenden?« fragte Stuart. »Schließlich ist er wirklich mein Vorbild. Außerdem ist es allmählich Zeit, an die Zukunft zu denken. In diesem Sommer bin ich ein ganzes Stück erwachsener geworden, Mutter.«

Margo ging hinauf in die Küche und schenkte sich ein Glas Cognac ein. Wenn sie sich nur nicht so einsam gefühlt hätte! Sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Verbündeten in ihrem eigenen Haus. »Auf dich, Junge«, sagte sie und hob das Glas zu einem Toast. »Du wirst es brauchen.«

2

Was sich ihre Mutter nur dabei dachte, in diesem flatternden Gewand herumzurennen, überlegte Michelle. Es sah aus, als gehöre es einem längst verblühten Filmstar. Und dann erwartete sie auch noch, daß Michelle es bewunderte. Mein Gott! Michelle konnte einfach nicht verstehen, was mit ihrer Mutter los war. Aber seit dem letzten Winter war sie einfach unmöglich. Was immer Michelle sagte, Margo bekam es in den falschen Hals. Also machte sie Margo natürlich nicht klar, was sie von dem Kleid hielt.

Auf dem Heimflug vor wenigen Stunden hatte Michelle noch gehofft, daß dieses Schuljahr besser verlaufen würde. Sie hatte sich geschworen, sich alle Mühe zu geben – keine Handtücher mehr auf dem Badezimmerboden, kein verdrecktes Geschirr mehr in der Spüle, keine sarkastischen Bemerkungen. Sie hatte gehofft, Margo würde sie in diesem Jahr akzeptieren und sie im Bewußtsein der Tatsache, daß auch sie Gefühle hatte, wie ein menschliches Wesen behandeln. Aber schon nach ein paar Stunden waren sie genau dort, wo sie vor dem Sommer aufgehört hatten.

Michelle versuchte, den genauen Zeitpunkt der Veränderung festzumachen, doch es gelang ihr nicht. Er fiel keineswegs mit dem Ende einer von Margos Liebesaffären zusammen; dann nämlich war die Atmosphäre immer äußerst angespannt. Margo heulte dann den ganzen Tag und setzte abends um der Kinder willen ein erzwungen heiteres Gesicht auf. Außerdem neigte sie am Ende einer Affäre immer dazu, ihre Kinder mehr zu schätzen und ihnen eine Menge Aufmerksamkeit und Zuneigung zu schenken.

So war es auch nach Leonard.

Leonard war Mutters erster Freund nach der Scheidung gewesen. Das Problem war nur, daß er verheiratet war und drei Kinder hatte, zwei Mädchen und einen Jungen – Anya, Deirdre und Stefan. Beschissene Namen. Sie hatten die üble Angewohnheit, ständig anzurufen. Seine Frau Gabrielle stiftete sie dazu an. Sie riefen an, heulten und sagten. »Bitte, gib uns unseren Daddy zurück.« Das sagten sie auch zu Michelle, die damals erst elf war. Wie in aller Welt hätte sie verstehen können, was sich da abspielte? Seine Kinder waren noch jünger. Jede Woche riefen sie an, manchmal sogar zweimal. »Bitte, gib uns unseren Daddy zurück. Er fehlt uns. Wir brauchen ihn.« Michelle hätte ihn nur zu gerne zurückgegeben. Aber er wohnte nicht bei ihnen, sondern in einer Wohnung am Gramercy Park. »Euer Daddy wohnt nicht hier«, sagte sie den Kindern wieder und wieder. »Ruft ihn in seinem Büro an.«

Eines Tages kam Gabrielle in ihre Wohnung, nahm einen Revolver aus ihrer Handtasche, fuchtelte damit herum und drohte, Margo umzubringen. Es stellte sich heraus, daß dieses Ding, das ihnen einen Todesschrecken eingejagt hatte, gar nicht echt war. Aber es hatte so ausgesehen. Und damit war die Sache erledigt. Am nächsten Tag beschloß Margo, New York zu verlassen und nach Boulder zu ziehen.

Einmal noch kam Leonard nach Colorado. »Auf der Durchreise«, hatte er gesagt. »Ich bin auf dem Weg nach San Francisco. Wollte nur sehen, wie es euch so geht«. Es geht uns ausgezeichnet, vielen Dank, dachte Michelle. Und seitdem hatten sie Leonard nicht mehr gesehen.

Nein, das Ende einer Liebesaffäre war es nicht. Übrigens hatte sich Michelle genau gemerkt, mit wem ihre Mutter schlief, um für den Fall einer Katastrophe vorbereitet zu sein; doch während des letzten Schuljahres hatte es keinen besonderen Mann gegeben. Keinen, der mit Kindern zum sonntäglichen Abendessen anrückte, keinen, der morgens unerwartet in der Küche auftauchte, keine stundenlangen Telefongespräche mitten in der Nacht. Soweit Michelle es beurteilen konnte, hatte ihre Mutter in diesem Jahr nur ab und zu mal mit verschiedenen bedeutungslosen Männern geschlafen. Also war nicht ihr Liebesleben daran schuld. Geldsorgen oder ihre Arbeit konnten es auch nicht sein. Unmittelbar nach der Scheidung gab es eine Zeit, in der Geld und Arbeit Margos größte Probleme waren. Aber jetzt war das anders.

Michelle drehte sich im Bett um und spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Sie hatte eine Höllenangst, daß Margo sie, wenn sie keinen Frieden mit ihr schließen könnte, auf dem schnellsten Weg nach New York zu Freddy und seiner israelischen Frau zurückverfrachten würde. Aber das sollte Margo nur versuchen. Michelle würde durchbrennen. Und dann würde es Margo leid tun, daß sie in letzter Zeit so ekelhaft gewesen war.

Sie haßte es, wenn andere Leute behaupteten, sie sähe genau wie ihre Mutter aus. Warum müssen die Leute einem Kind immer sagen, daß es genau wie sein Vater oder seine Mutter aussieht? So ein Blödsinn! Hätte Michelle sich aussuchen können, wem sie gleichsehen wollte, dann ganz bestimmt nicht ihrer Mutter, sondern B. B., dieser mächtigen Maklerin in Boulder. Wenn B. B. einen Raum betrat, erregte sie Aufmerksamkeit. Genau das hätte sich Michelle auch gewünscht. Aber die meiste Zeit hatte sie das Gefühl, unsichtbar zu sein.

Nachdem sie hierhergezogen waren, spielte Michelle eine Zeitlang den Babysitter für B. B.s Göre Sara. B. B. war damals mit einem Filmproduzenten aus Los Angeles befreundet, mit dem es die wüstesten Streitereien gab. So geschah es nicht selten, daß die beiden um Mitternacht ohne Rücksicht auf das schlafende Kind ins Haus stürzten. B. B.s Gesicht war vom Heulen ganz aufgeschwollen, und zweimal hatte sie ein blaugeschlagenes Auge; dann rannte sie in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, während Mitch – so hieß er – Michelle bezahlte und sie nach Hause fuhr, ohne jemals mehr zu sagen als »gute Nacht« und »vielen Dank« und »B. B. wird dich anrufen, um etwas für das nächste Wochenende auszumachen«. Sommer wie Winter steckten seine nackten Füße in Mokassins, und nie war sein Hemd zugeknöpft, so daß man das schwarze Kraushaar auf seiner Brust sehen konnte, was Michelle äußerst abstoßend fand.

Michelle hatte ihrer Mutter nie von den Kämpfen erzählt, die sich zwischen B. B. und Mitch abspielten. Sie befürchtete, daß Margo sie unter diesen Umständen nicht mehr dort hingelassen hätte. Umgekehrt sagte sie weder B. B. noch Mitch, daß Sara sie einmal in die Schulter gebissen hatte, weil sie sie gezwungen hatte, den Fernseher abzuschalten und ins Bett zu gehen. Dabei weiß doch jeder, daß es weitaus gefährlicher ist von einem Menschen gebissen zu werden als von einem Tier.

Michelle sah B. B. recht häufig in der Stadt herumfahren. In einem BMW 528i. Sie hatte dunkelrotes Haar wie ein irischer Setter, das bis auf die Schultern herabfiel. Ihre Haut war auffallend blaß, und sie war so groß und dünn, daß sich Michelle fragte, ob sie nicht vielleicht an Appetitlosigkeit litt wie Katie Adriano, eine Klassenkameradin, die ständig erbrechen mußte. Aber wahrscheinlich traf dies auf B. B. nicht zu, da sie recht häufig in Restaurants aß, was Leute, die unter Appetitlosigkeit leiden, wohl kaum freiwillig tun.

B. B. hatte einen leichten Überbiß, doch an ihr sah sogar so etwas gut aus. Mit Zähnen kannte Michelle sich aus, da ihr Vater Zahnarzt war. Frederic Sampson, Doktor der Zahnchirurgie.

Im Prinzip war sie stolz auf ihren Vater, doch dafür, daß er darauf bestanden hatte, daß sie noch einen Sommer im Camp Mindowaskin verbringen sollte, haßte sie ihn.

»Du brauchst Kontakt mit deinesgleichen«, hatte er gemeint. »Du darfst nicht in dem Glauben aufwachsen, daß alle Leute so sind wie …«

»Wie wer?« hatte Michelle gefragt.

»Wie die Leute in Boulder.«

»Was hast du denn an den Leuten in Boulder auszusetzen?«

»Auszusetzen eigentlich nichts …, aber das Leben besteht aus mehr als …«

»Als was?«

Ihr Vater hatte tief geseufzt.

Was sie als Betreuerin im Camp erlebt hatte, war katastrophal. Aber dies würde auf jeden Fall ihr letzter Sommer sein. Immerhin wurde sie demnächst siebzehn. Sie war alt genug, um selbst zu entscheiden, wie sie ihren Sommer gestalten wollte. Und sie hatte den Hals gestrichen voll von diesen kleinen Gören, die sie die »Pionierin« nannten, nur weil sie in Colorado lebte. Hätten ihre Eltern sich nicht scheiden lassen und wäre ihre Mutter nicht fortgezogen, wäre sie vielleicht auch so geworden.

Und die zwei Wochen, die sie anschließend in Bridgehampton bei ihrem Vater und Aliza verbrachte, waren auch nicht besser. Zwei Wochen lang redete ihr Vater auf sie ein; dabei hätte sie sich doch nur gewünscht, daß er sie so mochte, wie sie war. Beim Abendessen drehte sich das Gespräch um Tennis und die Frage, warum Michelle nach neun Jahren Camp noch immer nicht bei Tisch servieren konnte. Oh, hab’ mich doch gern, Daddy ..., und mach’ dir nichts daraus, wie ich serviere. Sag mir, daß du stolz darauf bist, daß ich deine Tochter bin. Daß ich genau richtig bin und daß du mich immer lieben wirst, was auch geschieht ...

Aber so war es ganz und gar nicht. Jetzt liebte er Aliza. Er interessierte sich für Stuart und seine Bewerbungen fürs College, aber nicht für Michelle. Sie bedeutete ihm gar nichts. Für ihn war sie ein lästiges Übel, weil sie ihn an Margo erinnerte. Einmal hatte sie ihn zu seinem Freund, Dr. Fritz, sagen hören: »Jedesmal, wenn ich sie anschaue, sehe ich Margo vor mir.«

»Du mußt gegen diese Gefühle ankämpfen, Freddy«, hatte Dr. Fritz ihm geraten.

»Ich versuche es ja«, hatte ihr Vater geantwortet, »aber es ist nicht einfach.«

Als ihre Eltern sich scheiden ließen, war Michelle elf. Damals wollte sie am liebsten sterben. Aber sie kam darüber hinweg. Weniger als zwei Jahre danach hatte ihre Mutter sie dann vor die vollendete Tatsache gestellt, daß sie wegziehen würden.

»Aber wohin denn?« wollte Michelle wissen.

»Nach Colorado«, erklärte ihre Mutter.

»Colorado?«

»Ja, nach Boulder.«

»Boulder …, du meinst dahin, wo Mork und Mindy wohnen?«

»Mork und Mindy – wer ist denn das?«

Michelle hatte gelacht. Ihre Mutter war völlig weg vom Fenster.

Alle ihre Freunde in New York fanden, daß sie ein Riesenglück hatte, in die Stadt ziehen zu dürfen, in der Mork und Mindy lebten. Sie meinten sogar, sie könne vielleicht irgendeinen Job bei ihrer Fernsehshow bekommen. Vielleicht würde sie selbst dabei mitwirken, so daß sie sie jede Woche auf der Mattscheibe sehen könnten. Auf alle Fälle versprach sie, allen ein Autogramm von Mork und Mindy zu besorgen.

Doch als sie nach Boulder kamen, erfuhr Michelle, daß sich Mork und Mindy fast nie in der Stadt aufhielten. Die meisten ihrer Shows wurden in Kalifornien gedreht. Verübeln konnte ihnen das keiner. Somit war Boulder eine große Niete. Nichts anderes als eine kleine College-Stadt am Ende der Welt. Mit New York City überhaupt nicht zu vergleichen. Michelle haßte ihre Mutter, weil sie ihr Leben verpfuscht hatte. Aber auch darüber kam sie hinweg. Inzwischen gefiel es ihr hier sogar, besonders im Winter, wenn Schnee auf den Bergen lag.

Dieses flatternde Gewand, das ihre Mutter heute abend trug, war wirklich ein Witz! Unvermittelt mußte Michelle in ihr Kopfkissen lachen. Doch dann machte sich wieder dieser Kloß in ihrer Kehle bemerkbar und wollte einfach nicht verschwinden, obwohl Michelle alles versuchte, ihn hinunterzuschlucken. Diesen Kloß in der Kehle verstand sie ebensowenig wie ihre Mutter, und sie verstand auch nicht, warum sie sich jeden Abend in den Schlaf weinte.

3

Während B. B. die Straße entlanglief, konzentrierte sie sich auf ihren Atem und den Rhythmus ihrer Beine. Jeden Morgen vor dem Frühstück lief sie drei Meilen. Dann duschte sie, zog sich an und war um neun Uhr im Büro. Sie lief nicht nur, um sich fitzuhalten, sondern auch, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dies war die Zeit, in der sie Probleme löste und Entscheidungen traf. Ihr Körper war so gut trainiert und straff wie mit zwanzig, und insgesamt fühlte sie sich jetzt sogar besser. Wahrscheinlich würde sie sich eines Tages, wie derzeit ihre Mutter, damit abfinden müssen, daß sie alt wurde, aber das würde noch lange dauern. Sie atmete tief durch, wobei sie darauf achtete, keine Luft zu schlucken. Dann nämlich bekam sie Bauchschmerzen. Als sie um die Ecke bog, blickte sie auf die Uhr. Zwei Meilen in achtzehn Minuten vier Sekunden. Nicht schlecht, fand B. B.

Sie hatte nicht immer B. B. geheißen. Bei ihrer Geburt 1940 in Miami hatten ihre jüdische Mutter und ihr irischer Vater ihr den Namen Francine Eloise Brady gegeben. Ihre Familie und die Freunde hatten sie meist Francie genannt, alle anderen Francine. Dann hatte sie Andrew geheiratet und seinen Namen angenommen – Broder. Sie ging davon aus, daß sie bis zu ihrem Lebensende verheiratet bleiben würde, doch nach zwölf Jahren war alles vorbei.

Einen Monat bevor die Scheidung endgültig ausgesprochen wurde, verließ sie Miami mit der damals sechsjährigen Sara, zwei Koffern und zweiunddreißigtausend Dollar in bar, die sie mit dem Verkauf von Immobilien verdient hatte. Um vier Uhr morgens setzte sie sich in ihren Buick und fuhr nach Westen – weg von Florida, weg vom Ozean, weg von allem, was sie an ihr früheres Leben erinnerte, zu dem sie nicht mehr zurückkehren konnte.

Sie fuhr nach Colorado, weil sie im vergangenen Jahr im Architectural Digest einen Artikel über restaurierte viktorianische Häuser in Boulder gelesen hatte und sich an die Farbe des Himmels und die schneebedeckten Bergspitzen am Horizont erinnerte, die ihr den größtmöglichen Kontrast zu dem, was sie kannte, zu bilden schienen. Bei ihrer Ankunft nahm sie sich ein Zimmer im ›Boulderado Hotel‹ und schon zwei Tage später kaufte sie sich ein kleines viktorianisches Haus im Vorgebirge. Eine Woche später begann sie für das Maklerbüro, über das sie das Haus bekommen hatte, zu arbeiten. Und nach einem Jahr machte sie ihr eigenes Maklerbüro auf. Francine Brady Broder – Vornehmes Wohnen. Die Leute in der Stadt gewöhnten sich an, sie wegen ihres Doppelnamens B. B. zu nennen. Es störte sie nicht weiter. Sie fand es sogar ganz reizvoll.

Sie lief die Auffahrt hinauf bis zu ihrem Wagen, wo sie stehenblieb, um ihren Puls zu messen. Lucy kam ihr entgegen und leckte ihre Beine. B. B. tätschelte ihren Kopf und ging dann hinein in die Küche.

»Hallo, Mom ..., der Tisch ist schon gedeckt«, begrüßte sie Sara. »Wie war’s?«

»Gut, ich hätte ohne weiteres noch länger laufen können. Es hat mich überhaupt nicht ermüdet.«

»Hast du eigentlich gewußt, daß weibliche Sportler manchmal Schwierigkeiten haben, schwanger zu werden?«

»Tatsächlich?« sagte B. B., während sie sich die Hände wusch.

»Ja«, meinte Sara und schob zwei Scheiben Brot in den Toaster. »Das habe ich gelesen. Sie werden zu mager und bekommen dann keine Periode mehr. Zuviel Sport ist für die Fortpflanzungsorgane nicht gut.« Sara kippte ihren Orangensaft hinunter und schenkte sich ein zweites Glas ein. »Also solltest du auf alle Fälle vorsichtig sein.«

»Für welche Fälle denn?«

»Na, wenn du noch mehr Kinder möchtest.«

»Ich bin vierzig, Sara. Und ich habe nicht vor, noch ein Kind zu bekommen.«

»Das kann man nie wissen«, meinte Sara. »Jennifers Mutter ist einundvierzig und hat gerade ein Baby bekommen.«

»Also ich wünsche mir ganz sicher kein Baby mehr.«

»Na gut. Ich dachte nur, du solltest Bescheid wissen.«

»Danke für die Warnung. Möchtest du Rührei oder Spiegelei?«

»Lieber Spiegelei.«

»Gibst du mir bitte mal die Pfanne rüber?« sagte B. B., während sie Wasser aufsetzte.

»Erinnerst du dich an deinen ersten Tag in der Junior High School, Mom?« fragte Sara.

»Ja ... Ich hatte solche Angst, daß ich keinen Bissen Frühstück hinunterbrachte und meine Mutter mir eine Buttersemmel in die Schultasche packte. Die habe ich dann ins Klo gespült.«

Sara lachte. »Ich habe keine besondere Angst. Schließlich werden alle meine Freunde von Mapleton ebenfalls dort sein, vor allem Jennifer.«

»Du bist eben tapferer als ich.«

Nach dem Frühstück bürstete B. B. Saras Haar. Es war dick und honigfarben wie das Andrews. »Zopf oder Pferdeschwanz?« fragte B. B.

»Einen Zopf.«

Als B. B. mit dem Flechten fertig war, sammelte Sara Hefte und Schreibzeug zusammen. Beide gingen sie zur Haustür. »Auf Wiedersehen«, sagte B. B. »Ich hab’ dich lieb.«

»Und ich hab’ dich auch lieb.«

»Wie lange denn?«

»Immer und ewig.«

»Genauso lange werde ich dich auch liebhaben.«

B. B. umarmte Sara und ging dann zurück in die Küche, wo sie das Frühstücksgeschirr zum Einweichen ins Spülbecken stellte.

Bis zum vergangenen Frühling war B. B.s Leben in Boulder, von Mitch einmal abgesehen, friedlich und zufriedenstellend verlaufen. Bis dann im Mai dieser Brief von Andrew eintraf. B. B. war ein paar Minuten später als sonst ins Büro gekommen, da sie sich heute zum Anziehen etwas mehr Zeit genommen hatte. Sie hatte Clare und Margo zu einem gemeinsamen Lunch im ›James‹ eingeladen, um sich mit ihnen über ein interessantes Bauprojekt zu unterhalten. Eine zwanzig Morgen große Parzelle Land außerhalb der Stadt stand zum Verkauf, und wenn sie Clare dafür gewinnen konnte, die Hälfte des Kaufpreises zu übernehmen, wollte sie versuchen, es zu erwerben. Das Gelände war ideal für eine Wohnanlage, die mit Sonnenenergie versorgt wurde – ein Konzept, von dem sie wußte, daß es Margo gefallen würde. Sie war bereit, ihr als Gegenleistung für ihre Arbeit als Architektin einen Anteil anzubieten. Sie bewunderte Margos Arbeit, deren Stilsicherheit und Niveau selbst dann noch zum Tragen kam, wenn es nur um den Umbau einer Garage ging.

B. B.s Sekretärin Miranda hatte ihr die Morgenpost heute sehr früh gebracht. Beim Überfliegen hielt sie plötzlich inne, als sie auf einen Brief von Andrew mit dem Vermerk persönlich stieß.

Die beiden hatten sich nie geschrieben. Alles, was es zwischen ihnen im Hinblick auf Sara zu klären gab, wurde durch seinen Anwalt in Miami und ihren in Boulder geregelt. Was also hatte das zu bedeuten?

Sie schlitzte den Brief mit einem mit Türkisen besetzten silbernen Brieföffner auf, den ihr einmal ein zufriedener Kunde geschenkt hatte. Hastig überflog sie die Zeilen und las sie dann noch ein zweites Mal langsam, um sicherzugehen, daß sie auch alles verstanden hatte.

Liebe Francine,

ich habe vor, das kommende Schuljahr in Boulder zu verbringen und in dieser Zeit mein zweites Buch zu schreiben. Auf diese Weise können Sara und ich uns öfter sehen; wir freuen uns beide darauf.

Voraussichtlich werde ich in der zweiten Augustwoche hier mit dem Wagen wegfahren und etwa um den zwanzigsten in Boulder sein. Ich hoffe, daß wir uns bei meiner Ankunft ohne Schwierigkeiten über die Modalitäten einigen können. Ich werde mich nach einer Wohnung oder einem kleinen Haus umsehen müssen, in dem genug Platz für Sara ist. Solltest Du etwas für mich wissen, wäre ich Dir dankbar.

Herzliche Grüße,

Andrew.

Sie fühlte, wie es ihr heiß und dann kalt wurde. Ihre Schläfen begannen zu pochen. Und obwohl sie selten schwitzte, spürte sie, wie ihre Achselhöhlen feucht wurden. Sie stand auf und ging im Büro umher, goß ihre Usambaraveilchen und glättete die Fritz-Sholder-Poster an den Wänden. Dann ging sie zurück zu ihrem Schreibtisch und las den Brief zum drittenmal. Sie nahm den Telefonhörer ab, um ihren Anwalt anzurufen, änderte aber ihre Meinung und legte wieder auf. Dann faltete sie den Brief und steckte ihn in ihre Handtasche. Sie konnte einfach nicht glauben, daß er es ernst meinte.

Anschließend machte sie fünf oberflächliche Atemzüge und eine Yogaübung, die sie im vergangenen Jahr gelernt hatte. Dann packte sie ihre Tasche und verließ das Büro zu ihrer Verabredung mit Margo und Clare im ›James‹.

4

Für Margo kam B. B.s Einladung zum Lunch damals recht überraschend. Die beiden standen sich nicht besonders nahe. Margo war es nie gelungen, wirklich an B. B heranzukommen und sich in sie einzufühlen, so daß sie sich schließlich mit einer freundschaftlichen Beziehung anstelle einer echten Freundschaft zufriedengab. Im Grunde war Clare das Verbindungsglied zwischen Margo und B. B., und obwohl die drei ab und zu zusammen gegessen hatten, handelte es sich jedesmal um ein spontanes, in letzter Minute beschlossenes Treffen.

Es war ein milder Maitag, so daß sie draußen im Hof sitzen konnten, wo es nach Flieder duftete. Sie wurden von einem äußerst freundlichen und flinken Mädchen bedient, das angenehm vom zumeist mißgelaunten Personal des ›James‹ abstach.

Nachdem der Salat serviert worden war, eröffnete B. B. den beiden, warum sie sie hierhergebeten hatte. Margo fühlte sich geschmeichelt, daß B. B. sie als Architektin für die Wohnanlage auserkoren hatte, und sie war dankbar für diese Gelegenheit, sich an einem gemeinsamen Geschäftsunternehmen beteiligen zu können. Wenn die Sache klappte, konnte das das große Geld bedeuten. Zwar kam Margo mit ihrem Gehalt und den Provisionen durchaus zurecht und hatte sogar ein bißchen beiseite gelegt, aber man konnte nicht behaupten, daß sie im Geld schwamm. Freddys Unterhaltskosten für die Kinder halfen ihr, ohne Schwierigkeiten über die Runden zu kommen, aber jetzt, wo die beiden bald aufs College gingen, konnte sie nicht mehr damit rechnen. Sie wollte es auch gar nicht.

Mehr als einmal während des Mittagessens legte B. B. ihre Hand an die Stirn und schloß die Augen. Margo empfand das nicht als ungewöhnlich, da B. B., wenn sie mit einem redete, in Gedanken oft weit weg zu sein schien. Selbst dann, wenn es um Geschäfte ging.

Als der Kaffee serviert wurde, sah B. B. auf die Uhr und sagte: »Ich muß zurück ins Büro.« Sie zahlte, und die drei verließen das Restaurant. Doch noch bevor sie ums Haus bogen, legte B. B. erneut ihre Hand an die Stirn und begann zu taumeln. Es sah aus, als würde sie jeden Augenblick stürzen. Das kommt vom Wein, dachte Margo.

»Bist du in Ordnung?« fragte Clare besorgt und packte sie am Arm.

»Nein«, sagte B. B. ruhig. Dann riß sie sich von Clare los, schleuderte ihre Handtasche auf die Straße und schrie: »Nein, verdammt noch mal. Ich bin überhaupt nicht in Ordnung!« Der Inhalt ihrer Tasche ergoß sich auf den Boden; ein Fläschchen Parfüm zersplitterte vor Margos Füßen, Lippenstifte rollten unter Autos, eine Haarbürste, ein Notizbuch, ein Taschenrechner und ein Umschlag fielen in den Schmutz. »Wenn er doch nur tot wäre!« kreischte B. B.

»Wer denn?« fragten Margo und Clare gleichzeitig.

»Mein Exmann Andrew, dieser elende Scheißkerl!«

Margo war wie vor den Kopf geschlagen. Bis zu diesem Tag hatte sie B. B. nicht ein einziges Mal emotional reagieren sehen. Auch war das hier das erste, was sie über Andrew Broder hörte.

Fünf Tage später rief Clare Margo an und fragte sie, ob sie wüßte, wie man Hühnersuppe kocht. B. B. hatte, seit sie sich am Nachmittag nach dem gemeinsamen Lunch ins Bett gelegt hatte, nichts als Tee und Götterspeise zu sich genommen.

»Sie sagt, sie möchte nichts anderes essen als so eine Hühnersuppe, wie sie ihre Mutter immer kochte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Jüdische Hühnersuppe. Ihr Vater habe ihr gesagt, mit Hühnersuppe könne man mit Ausnahme von Warzen alles heilen, und wenn man Glück habe, vielleicht sogar diese. Kennst du das Rezept, Margo?«

»Ich habe seit Jahren keine Hühnersuppe mehr gemacht«, erwiderte Margo, »aber ich könnte meine Mutter anrufen Ich glaube, das Geheimnis besteht darin, das richtige Huhn zu nehmen.«

»Dann laß es uns doch versuchen«, schlug Clare vor. »Ansonsten fürchte ich, daß sie noch im Krankenhaus landet.«

An diesem Abend rief Margo ihre Mutter in New York an. Sie war auf dem Sprung ins Ballett im Lincoln Center, aber als sie hörte, daß Margo Hühnersuppe kochen wollte, war sie begeistert und erklärte ihr haarklein, was sie machen mußte. Sie legte Margo ans Herz, auf alle Fälle eine Poularde zu nehmen, genug Dill hineinzutun und die Pastinakenwurzel nicht zu vergessen.

Am Samstag früh ging Margo zum Einkaufen. Als sie nach Hause kam und die Zutaten auf dem Küchentisch absetzte, war es völlig ruhig im Haus. Stuart war zum Arbeiten in die Eisfabrik gegangen, und Michelle schlief noch. Margo wusch ihre Hände über der Spüle, trocknete sie mit einem Papierhandtuch ab und krempelte die Ärmel hoch. Wenig später erfüllte der Geruch ihrer Kindheit das Haus.

Als Michelle noch völlig verschlafen in die Küche heraufkam, schnupperte sie und fragte: »Was kochst du denn da, Mutter?«

»Hühnersuppe.«

»Hühnersuppe?«

»Ja. B. B. geht es gar nicht gut. Ich koche für sie.«

»Wenn es mir nicht gutgeht, machst du nie Hühnersuppe.«

»Ich dachte, du magst keine selbstgemachte Hühnersuppe, Michelle. Du hast doch gesagt, daß dir von den kleinen Stückchen, die an der Oberfläche herumschwimmen, übel wird. Deshalb wolltest du immer Lipton’s Hühnersuppe, wenn du krank warst.«

»Ich mag sie sehr wohl, wenn sie mit Reis gemacht ist«, entgegnete Michelle. »So, wie Großmama sie immer gemacht hat.«

»Welche Großmama? Großmama Sampson oder Großmama Belle?«

»Großmama Belle«, sagte Michelle. »Großmama Sampson hat mir meistens Gemüsesuppe gemacht, und sie hat sie immer durchpassiert, damit mir das Gemüse nicht im Hals steckenblieb.«

»Ach ja, das stimmt.« Margo mußte lachen.

»Was fehlt denn B. B.?«

»Sie ist deprimiert. Ihr Exmann kommt unerwartet in die Stadt.«

»Du meinst den Vater von der Göre?«

»Sara ist keine Göre, Michelle.«

»Das kannst du nicht wissen, weil du nie auf sie aufgepaßt hast.«

»Das stimmt natürlich. Aber inzwischen ist sie älter geworden.«

»Ich bezweifle sehr, daß sich dadurch etwas geändert hat.«

»Du bist so unerbittlich mit den Menschen, Michelle. Warum kannst du ihnen keine Chance geben?«

»Ich …, unerbittlich? Na hör mal, Mutter.« Sie holte sich eine Karotte aus dem Kühlschrank und stelzte aus der Küche.

»Ist das dein ganzes Frühstück?« rief Margo hinter ihr her.

»Karotten sind äußerst nahrhaft.«

Am späten Nachmittag kostete Margo von der Suppe. Sie war nicht sicher, ob sie genug Dill hineingetan hatte, aber sie schmeckte nicht schlecht, also war sie zufrieden mit sich. Als sie sich von Freddy trennte, hatte sie dem täglichen Kochen abgeschworen, doch inzwischen hatte sie festgestellt, daß Kochen Spaß machte, wenn einen niemand dazu drängte. Auch ihre Kinder hatten kochen gelernt.

An diesem Abend brachten Margo und Clare B. B. das Essen – Margo die Hühnersuppe und Clare Salat, französisches Brot und eine Flasche Weißwein. B. B. saß aufrecht im Bett. Sie trug einen weißen durchsichtigen Kaftan und hatte die Haare zurückgekämmt und mit einem Band zusammengebunden. Sie sah so zerbrechlich und schön aus wie die Kameliendame auf ihrem Sterbelager. Neben ihr kam sich Margo in Jeans und kariertem Hemd recht schlampig vor. Alles in B. B.s Haus war ebenso weiß und fein wie sie selbst. In jedem Zimmer standen frische Blumen, sogar in den Bädern. Dieser Anblick weckte in Margo den Wunsch, nach Hause zu gehen und nicht nur aufzuräumen und zu putzen, sondern das ganze Haus zu renovieren.

B. B. lachte, als sie die Hühnersuppe roch. »Köstlich«, meinte sie. »Genau so, wie meine Mutter sie gemacht hat.«

Nachdem sie den ersten Teller geleert hatte, bat sie um einen zweiten. »Morgen werde ich wieder aufstehen«, erklärte sie. »Und am Montag sitze ich wieder im Büro. Vielleicht gehe ich sogar zu Thorny Abrams …, nur um mir einen Rat zu holen.«

Thorny Abrams war einer der zahlreichen Therapeuten von Boulder. Im vergangenen Jahr hatte Margo wegen einer Solaranlage, die er an seinem Haus anbringen wollte, mit ihm zu tun gehabt. Da seine Frau Marybeth absolut unfähig war, irgendeinen Entschluß zu fassen, mußten die Pläne siebenmal überarbeitet werden. Thorny sagte immer: »Wie Marybeth will.« Und Marybeth sah ihn dann hilflos an und sagte: »Du weißt doch, daß ich keine Entscheidungen treffen kann, Thorny.«

»Und Richard Haver wirft für mich einen Blick ins Gesetzbuch«, fuhr B. B. fort. »Gut möglich, daß ich gar nicht zulassen muß, daß Andrew unsere Tochter überhaupt bekommt. Wir haben uns auf einen Modus geeinigt, und der sieht zwei Wochen an Weihnachten, die Osterferien und einen Monat im Sommer vor, und damit basta. Wenn er also hierherkommt und darf Sara nicht sehen, dann wird er wohl kaum bleiben.« Ihr Blick wanderte von Margo zu Clare. »Ich meine, warum sollte er unter diesen Umständen bleiben?«

Eine Woche später rief B. B. Margo an und wollte sich nach der Arbeit auf einen Drink mit ihr im ›Boulderado‹ treffen.

»Ich will ohne Umschweife zur Sache kommen«, sagte B. B., sobald die Drinks vor ihnen standen. »Weißt du, ob die Hathaway-Wohnung noch zu haben ist?«

»Ich habe in letzter Zeit niemanden darin gesehen«, sagte Margo. »Normalerweise vermieten sie sie den Sommer über an Dozenten von der Universität.«

»Ich wollte dich bitten, festzustellen, ob sie noch zu haben ist. Und wenn ja, würdest du sie dann auf den Namen Andrew Broder für drei Monate ab der dritten Augustwoche anmieten? Sagen wir für 350 Dollar im Monat?«

»Suchst du ihm denn jetzt auch noch eine Bleibe?« fragte Margo.

»Ich bin zu dem Entschluß gelangt, daß dies das vernünftigste ist«, meinte B. B.

»Für mich hört sich das ziemlich heikel an. Bist du sicher daß du dich da hineinziehen lassen willst? Warum läßt du ihn nicht selbst eine Wohnung suchen?«

»Wenn Sara schon die Zeit bei ihm verbringt, dann möchte ich zumindest sicher sein, daß sie sich in guter Umgebung aufhält. Überlasse ich ihm die ganze Angelegenheit, würde er sicher irgendein Loch jenseits der 28. Straße nehmen.«

»Aber du arbeitest doch in der Branche …, da könntest du doch bestimmt …«

»Tu’s für mich, Margo …, bitte ...«

»Also gut. Wenn du darauf bestehst.«

»Ich … ja ... ich muß es einfach tun.«

Margo wußte aus Erfahrung, daß es Zeiten gab, in denen man so verzweifelt war, daß es schon half, Pläne zu schmieden. Es gab einem das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Margo war es nach der Trennung von Freddy ebenso ergangen. Sie hatte das Gefühl gehabt, in Verzweiflung zu versinken, bis sie sich dazu aufraffte, Pläne für das folgende Jahr zu machen. Daß sie es sich dann doch anders überlegte, spielte kaum eine Rolle. So rief sie denn an jenem Abend vor dem Dinner ihren Nachbarn Martin Hathaway an, um wegen der Wohnung nachzufragen.

»Was hattest du denn bloß mit Mr. Hathaway zu bereden, Mutter?« fragte Michelle sie später beim Essen.

»Brauche ich denn einen Grund, um mit Mr. Hathaway zu sprechen?« entgegnete Margo. Mein Gott, sie klang schon genauso giftig wie Michelle. Wenn man das lange genug mitmachte, wurde es ansteckend.

»Ich dachte immer, du hättest gesagt, er sei ein ekelhafter alter Furz«, erwiderte Michelle.

»Habe ich das wirklich gesagt?« fragte Margo und versuchte zu lachen.

»Nicht nur einmal. Und du hast recht, Mutter … Er ist ein widerlicher alter Furz.«