Zeit der Schuld - Deepti Kapoor - E-Book

Zeit der Schuld E-Book

Deepti Kapoor

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Beschreibung

Geboren in einem kleinen Dorf im nördlichen Indien wird Ajay als Kind seiner Familie entrissen und an ein kinderloses Ehepaar verkauft. Von früh bis spät arbeitet er in der Landwirtschaft des Ehepaars, er lernt lesen und schreiben, lernt zu beobachten – und er lernt zu dienen.

Als sein Dienstherr stirbt, findet Ajay Arbeit in einem Café – und dort macht er eine schicksalsweisende Bekanntschaft: Sunny Wadia, Abkömmling des einflussreichen Wadia-Clans, verbringt dort mit seinen Freunden das Wochenende.

Ajay wird Sunnys rechte Hand und nicht nur in die politischen Machenschaften der Wadias, sondern auch in die verbotene Liebesbeziehung zwischen Sunny und der Journalistin Neda hineingezogen. Er würde für Sunny alles tun - ohne zu ahnen, dass sein größter Loyalitätsbeweis Sunny, Neda und ihn selbst in eine Spirale der Gewalt verstricken wird ...

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Das Buch

»Das Rad wird sich weiter auf den Zerfall zudrehen, der uns alle auslöschen wird.«

Geboren in einem kleinen Dorf im nördlichen Indien, wird Ajay im Alter von acht Jahren seiner Familie entrissen und an ein kinderloses Ehepaar verkauft. Von früh bis spät arbeitet er in dessen Landwirtschaft, er lernt lesen und schreiben, lernt zu beobachten – und er lernt zu dienen.

Als sein Dienstherr stirbt, findet Ajay Arbeit in einem Café im Ort und macht eine schicksalsweisende Bekanntschaft: Sunny Wadia, Abkömmling des einflussreichen Wadia-Clans, verbringt hier mit seinen Freunden das Wochenende. Ajay folgt ihm nach Delhi und wird seine rechte Hand.

Sunny feiert ausschweifende Partys, fördert Kunst und Kultur, finanziert Events in den angesagtesten Clubs Delhis. Er hat eine Vision: Er will die Stadt zu einer globalisierten Metropole machen und damit endlich dem Einfluss seines Vaters, Bunty Wadia, entkommen.

Neda ist Journalistin und den politischen Machenschaften und zweifelhaften Geschäften der Wadias auf der Spur. Aber als sie Sunny kennenlernt, verliebt sie sich in ihn, zerrissen zwischen Moral und Begehren. Und ihre Recherche bringt sie in große Gefahr – denn wenn es darauf ankommt, seine Macht zu verteidigen, ist Bunty Wadia zu allem fähig.

Ajay würde für Sunny alles tun – ohne zu ahnen, dass sein größter Loyalitätsbeweis Sunny, Neda und ihn selbst in eine Spirale der Gewalt verstricken wird …

Die Autorin

DEEPTIKAPOOR, geboren 1980 in Moradabad, Uttar Pradesh, studierte Journalismus in Neu Delhi und arbeitete zehn Jahre lang als Journalistin. 2014 erschien ihr Romandebüt A Bad Character über weibliches Begehren in einer zutiefst frauenfeindlichen Gesellschaft. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Goa lebt Kapoor nun in Portugal. Zeit der Schuld ist das erste Buch der Autorin, das auf Deutsch erscheint.

DEEPTI KAPOOR

ZEIT DER SCHULD

Roman

Aus dem Englischen

von Astrid Finke

Blessing

Das Buch erscheint unter dem Titel

AGEOFVICE

bei Riverhead Books, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 by Deepti Kapoor

Copyright © 2023 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO

Umschlagabbildung: Getty Images/Artur Debat

Gestaltung der Karte: Malik Sajad

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-27590-7V002

www.blessing-verlag.de

Für die naga-sadhus war das Unglück beim Kumbha Mela 1954 nur einer von vielen Gewaltausbrüchen während einer auf Gewalt beruhenden Veranstaltung unter Männern, deren Beruf Gewalt war. Der Unterschied war lediglich, dass gewöhnliche Haushaltsvorstände dazwischengeraten waren.

William R. Pinch,

Warrior Ascetics and Indian Empires

Und infolge der Kürze ihres Lebens werden sie nicht in der Lage sein, große Kenntnisse zu erwerben. Und infolge ihrer geringen Kenntnisse werden sie keine Weisheit besitzen. Und daher werden Habgier und Geiz sie alle überwältigen.

Das Mahabharata

Eins

NEU-DELHI, 2004

Fünf Obdachlose liegen tot am Rande von Delhis Inner Ring Road.

Das klingt wie der Anfang eines schlechten Witzes.

Wenn es einer ist, hat ihnen das niemand gesagt.

Sie starben, wo sie schliefen.

Fast.

Zehn Meter hat sie der Mercedes noch mitgeschleift, nachdem er mit Vollgas über den Bordstein gesprungen war.

Es ist Februar. Drei Uhr morgens. Sechs Grad.

Fünfzehn Millionen Seelen kuscheln sich in ihre Betten.

Ein blasser Schwefeldunst hängt in den Straßen.

Und eine der Toten, Ragini, war achtzehn Jahre alt. Sie war im fünften Monat schwanger. Ihr Mann Rajesh, dreiundzwanzig, schlief neben ihr. Beide mit dem Bauch nach oben, dicke Tücher um Kopf und Füße gewickelt, sodass sie ohnehin wie Leichen aussahen, abgesehen von dem Rucksack unter ihrem Nacken, den ordentlich neben den Armen aufgereihten Sandalen.

Eine grausame Laune des Schicksals: Das Paar kam erst gestern in Delhi an. Fand Zuflucht bei Krishna, Iyaad und Chotu, drei Wanderarbeitern aus demselben Distrikt von Uttar Pradesh. Jeden Tag standen diese Männer vor dem Morgengrauen auf und marschierten zur Arbeits-mandi beim Company Bagh, um den Tagelohn zu ergattern, der gerade aufzutreiben war – als dhaba-Koch, Hochzeitskellner, Bauarbeiter –, um Geld in ihr Dorf zu schicken, für die shaadi einer Schwester, die Schulgebühr eines Bruders, das Medikament eines Vaters. Lebten von einem Tag auf den anderen, einer Stunde auf die andere, arm trotz Arbeit, ums Überleben kämpfend. Kehrten nach Einbruch der Dunkelheit zum Schlafen an diese unwirtliche Stelle zurück, neben der Ring Road, unweit der Nigambodh Ghat. Unweit des abgerissenen Slums vom Yamuna Pushta, in dem sie gewohnt hatten.

Aber die Zeitungen halten sich mit diesen drei Männern nicht weiter auf. Ihre Namen verblassen im Morgengrauen wie die Sterne.

Ein Mannschaftswagen mit vier Polizisten trifft an der Unfallstelle ein. Sie steigen aus und sehen die Leichen und die heulende, wütende Menge, die jetzt das Auto umringt. Es sitzt noch jemand drin! Ein junger Mann, kerzengerade, die Arme auf das Lenkrad gestützt, die Augen fest geschlossen. Ist er tot? Ist er so gestorben? Die Polizisten schieben das Gesindel beiseite und spähen hinein. »Schläft der?«, sagt einer von ihnen zu seinen Kollegen. Diese Worte veranlassen den Fahrer dazu, den Kopf zu drehen und, wie ein Ungeheuer, die Augen zu öffnen. Der Polizist macht vor Schreck beinahe einen Satz. Das glatte, ebenmäßige Gesicht des Fahrers hat etwas Groteskes an sich. Sein Blick ist herausfordernd und wild, aber abgesehen davon ist alles an ihm akkurat. Die Polizisten ziehen die Tür auf, fuchteln drohend mit ihren lathis, befehlen ihm auszusteigen. Zu seinen Füßen liegt eine leere Flasche Black Label. Er ist ein schlanker Mann, durchtrainiert, in einem Safarianzug aus grauer Gabardine, messerscharf gescheiteltes und tadellos eingeöltes Haar. Unter den Whiskygestank mischt sich ein anderer Geruch: Davidoff Cool Water, nicht, dass diese Polizisten es erkennen würden.

Was sie erkennen, ist Folgendes: Er ist kein reicher Mann, beileibe kein reicher Mann, eher ein Faksimile, er erinnert nur an Wohlstand, dient ihm. Der Anzug, das gepflegte Gesicht, das Auto, all das kann die essenzielle Armut seiner Herkunft nicht verbergen; ihr Geruch ist stärker als jeder Schnaps, jedes Parfüm.

Ja, er ist ein Dienstbote, ein Chauffeur, ein Fahrer, ein »Boy«.

Eine wohlgenährte und stubenreine Version dessen, was da tot auf der Straße liegt.

Und der Mercedes gehört ihm nicht.

Man kann also mit ihm machen, was man will.

Er schluchzt selbstvergessen, als die Polizisten ihn herauszerren. Zusammengekrümmt übergibt er sich auf seine Lederslipper. Einer schlägt ihn mit seiner lathi, zieht ihn hoch. Ein anderer durchsucht ihn, findet seine Brieftasche, findet ein leeres Schulterholster, findet eine Streichholzschachtel aus einem Hotel namens Palace Grande, findet eine Geldklammer mit zwanzigtausend Rupien.

Wem gehört das Auto?

Woher hast du das Geld?

Wem hast du es geklaut?

Wolltest mal eine Spritztour machen, was?

Wem gehört der Schnaps?

Chutiya, wo ist die Waffe?

Wichser, für wen arbeitest du?

In seiner Brieftasche befinden sich ein Wählerausweis, ein Führerschein, dreihundert Rupien. Laut Ausweis heißt er Ajay. Der Name seines Vaters lautet Hari. Er wurde am 1. Januar 1982 geboren.

Und der Mercedes? Er ist auf einen Gautam Rathore zugelassen.

Die Polizisten beratschlagen: Der Name kommt ihnen bekannt vor. Und die Adresse – Aurangzeb Road – spricht für sich. Nur die Reichen und Mächtigen wohnen dort.

»Chutiya«, blafft ein Beamter und hält den Fahrzeugschein hoch. »Ist das dein Chef?«

Aber dieser junge Mann namens Ajay ist zu betrunken zum Sprechen.

»Arschloch, hast du ihm das Auto geklaut?«

Einer der Polizisten tritt zur Seite und betrachtet die Toten. Die Augen der jungen Frau sind offen, die Haut in der Kälte bereits blau geworden. Sie blutet aus dem Bereich zwischen ihren Beinen, wo Leben war.

Auf der Wache wird Ajay nackt ausgezogen und in einen kalten und fensterlosen Raum gesperrt. Er ist so betrunken, dass er das Bewusstsein verliert. Die Polizisten kehren zurück, um Eiswasser über ihm auszugießen, und er wacht mit einem Schrei auf. Er wird aufgesetzt, und sie drücken seine Schultern an die Wand, ziehen seine Beine auseinander. Eine Beamtin stellt sich auf seine Oberschenkel, bis sie nicht mehr durchblutet werden, und er brüllt vor Schmerz und wird erneut ohnmächtig.

Am nächsten Tag nimmt der Fall Fahrt auf. Die Medien sind empört. Anfangs wegen der Schwangeren. Nachrichtensender betrauern sie. Allerdings war sie weder fotogen, noch gab sie Anlass zu großen Erwartungen. Also richtet sich das Interesse auf den Mörder. Eine Quelle bestätigt, dass der Wagen ein auf Gautam Rathore zugelassener Mercedes ist, und das ist eine Schlagzeile – er gehört zum festen Inventar der Gesellschaft von Delhi, ein Polospieler, ein Anekdotenlieferant und ein Fürst, echter Adel, der erste und einzige Sohn eines Parlamentsabgeordneten, Maharaja Prasad Singh Rathore. Saß Gautam Rathore am Steuer? Das ist die Frage, die jeder sich stellt. Aber nein, nein, sein Alibi ist wasserdicht. Am vergangenen Abend war er im Urlaub, gar nicht in Delhi. Er war in einem Fort Palace Hotel bei Jaipur. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Aber er hat eine Erklärung abgegeben, sein Entsetzen geäußert und den Verstorbenen und ihren Angehörigen sein Beileid ausgesprochen. Der Fahrer, heißt es darin, arbeite erst seit Kurzem für ihn. Offenbar habe er sich den Mercedes ohne Gautams Wissen genommen. Habe sich Whisky und den Mercedes genommen und unerlaubterweise eine Runde gedreht.

Eine Verlautbarung der Polizei bestätigt das: Ajay, Angestellter Gautam Rathores, stahl eine Flasche Whisky aus Rathores Haus, während sein Arbeitgeber verreist war, fuhr mit dem Mercedes los, verlor die Kontrolle.

Diese Geschichte wird zur Tatsache.

Sie nistet sich in den Zeitungen ein.

Und der Polizeibericht kommt zu den Akten.

Ajay, Sohn Haris, wird gemäß Abschnitt 304A des indischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Fahrlässige Tötung. Höchststrafe: zwei Jahre.

Er wird in das überfüllte Gericht gebracht und dem Bezirksrichter vorgeführt, der Richter braucht zwei Minuten, um eine Kaution zu verweigern und Untersuchungshaft anzuordnen. Er wird mit den anderen Häftlingen in einem Bus ins Tihar-Gefängnis gefahren. Sie müssen zur Abfertigung eine Schlange bilden; in mürrischen Reihen sitzen sie auf Holzbänken im Aufnahmeraum, umgeben von in den feuchten, löchrigen Putz der Wände genagelten Plakaten mit Vorschriften. Als Ajay dran ist, wird er in ein vollgestelltes Büro gebracht, wo ein Verwaltungsbeamter und ein Gefängnisarzt mit ihrer Schreibmaschine und ihrem Stethoskop warten. Seine Habseligkeiten werden ein weiteres Mal ausgebreitet: Brieftasche, Geldklammer mit zwanzigtausend Rupien, die Streichholzschachtel mit dem Aufdruck Palace Grande, das leere Schulterholster. Das Geld wird gezählt.

Der Verwaltungsbeamte nimmt seinen Bleistift und beginnt, das Formular auszufüllen.

»Name?«

Der Häftling starrt ihn an.

»Name?«

»Ajay«, sagt er kaum hörbar.

»Name des Vaters?«

»Hari.«

»Alter?«

»Zweiundzwanzig.«

»Beruf?«

»Fahrer.«

»Lauter.«

»Fahrer.«

»Wer ist dein Arbeitgeber?«

Der Verwaltungsbeamte späht über seinen Brillenrand.

»Wie heißt dein Arbeitgeber?«

»Gautam Rathore.«

Zehntausend Rupien werden der Geldklammer entnommen, den Rest bekommt er zurück.

»Steck’s dir in den Strumpf«, sagt der Verwaltungsbeamte.

Er wird registriert und in Gefängnis Nr. 1 geschickt, durch den Innenhof zur Strafanstalt geführt, durch den dunklen Korridor in eine große Zelle gebracht, in der neun weitere Insassen beengt und gedrängt leben. Kleidung hängt an den Gitterstäben wie an einem Marktstand, und der Fußboden ist bedeckt mit zerfledderten Matratzen, Decken, Eimern, Bündeln, Säcken. Ein kleines Stehklo in der Ecke. Trotz der Enge befiehlt der Wärter, ihm auf dem kalten Boden neben dem Klo ein klein wenig Platz zu schaffen. Matratze kann allerdings keine entbehrt werden. Ajay legt die Decke, die man ihm gegeben hat, auf den Steinboden. Er setzt sich mit dem Rücken an die Wand, starrt mit leerem Blick geradeaus. Mehrere seiner Zellengenossen kommen und sagen ihm ihre Namen, aber er bleibt stumm, reagiert auf nichts. Er rollt sich zu einer Kugel zusammen und schläft.

Als er zu sich kommt, sieht er einen Mann vor sich stehen. Alt und zahnlückig, wirrer Blick. Seit über sechzig Jahren auf der Erde, sagt er. Über sechzig Jahre. Er sei Autorikschafahrer, zumindest sei er das draußen gewesen. Seit sechs Jahren warte er hier auf seinen Prozess. Er sei unschuldig. Das ist mit das Erste, was er sagt. »Ich bin unschuldig. Angeblich bin ich Drogendealer. Aber ich bin unschuldig. Ich war am falschen Ort. Ein Dealer saß in meiner Rikscha, aber der ist abgehauen, und mich haben die Bullen geschnappt.« Dann fragt er, wessen Ajay beschuldigt werde, wie viel Geld er am Leib versteckt habe. Ajay ignoriert ihn, dreht sich in die andere Richtung. »Wie du willst«, sagt der alte Mann fröhlich. »Aber du solltest wissen, dass ich hier Sachen regeln kann. Für hundert Rupien kann ich dir noch eine Decke besorgen, für hundert Rupien kann ich dir besseres Essen besorgen.« »Lass ihn in Ruhe«, brüllt ein anderer Insasse, ein pummeliger dunkler Junge aus Aligarh, der sich mit einem Stückchen niim in den Zähnen stochert. »Weißt du nicht, wer das ist, das ist der Mercedes-Killer.« Der alte Mann schlurft davon. »Ich bin Arvind«, sagt der dicke Junge. »Die sagen, ich hätte meine Frau umgebracht, aber ich bin unschuldig.«

Nach draußen, Hofgang. Hunderte von Insassen drängen aus ihren Zellen. Männer taxieren ihn. Er ist eine Art Star. Alle haben sie vom Mercedes-Killer gehört. Sie wollen ihn sich genauer ansehen, sich ihre eigene Meinung bezüglich seiner Unschuld oder Schuld bilden, abschätzen, wie tough er ist, wie verängstigt, klären, wohin er gehören könnte. Man braucht nur eine Minute, um zu erkennen, dass er einer der Unschuldigen ist, der Sündenbock für einen wohlhabenden Boss. Männer versuchen, ihm die Wahrheit zu entlocken. Was hat man ihm versprochen, damit er den Kopf hinhält? Etwas Schönes? Geld, wenn er rauskommt? Oder wird seinen Söhnen und Töchtern die Schule bezahlt? Oder ist es andersrum? Wird seine Familie bedroht? Ist sein Leben in Gefahr? Oder ist er einfach loyal?

Vertreter der Gangs, die im Gefängnis das Sagen haben, sprechen ihn im Hof an, im Speisesaal, in den Fluren, werben um seine Unterstützung, unterbreiten ihm ihr Angebot. Die Chavanni-Gang, die Sissodia-Gang. Die Bidi-Gang, die Haddi-Gang, die Atte-Gang. Die gefürchtete Bawania-Gang. Die Acharya-Gang, die Guptas. Als Unschuldiger, als jemand, der nicht an das Verbrecherleben gewöhnt ist, werde er Schutz brauchen. Er werde schnell Opfer von Erpressung werden, wenn er sich keine Gang aussuche; ohne die Hilfe einer Gang werde ihn bald ein Mann vergewaltigen, ein Wärter werde ihn in eine Zelle verlegen, allein mit einem anderen Insassen, er werde zu dessen Vergnügung dienen, niemand werde kommen, wenn er schreie. Und man werde ihm all sein Geld wegnehmen. Sie bieten ihm das als weisen und neutralen Rat an, als wären nicht sie die Bedrohung. Er wird hin und her gezerrt. Wie viel Geld hast du? Schließ dich unserer Gang an. Schließ dich unserer Gang an, und dir kann nichts mehr passieren. Du kriegst ein Handy, Pornos, Hühnchen. Dir wird die Frischfleischparty erlassen, die sonst auf dich zukommt. Schließ dich unserer Gang an, und du darfst ficken, du darfst vergewaltigen. Unsere Gang ist die stärkste. Mach bei uns mit, ehe es zu spät ist. Er ignoriert sämtliche Angebote. Als er in die Zelle zurückkehrt, hat man ihm seine Decke weggenommen.

Er zieht es ohnehin vor, allein zu sein und zu leiden. Das Grauen der Toten folgt ihm ins Gefängnis, er betrauert sie mit jedem Atemzug. Er weist alle Gangs zurück, lässt die Abgesandten mit ihren Annäherungsversuchen abblitzen. Also bauen sich am zweiten Tag, er ist allein, weil er zum Arzt geschickt wurde, vor der Apotheke drei Männer aus einer anderen Zelle vor ihm auf. Sie strecken die Zungen heraus und holen die Rasierklingen hervor, die sie im Mund versteckt haben; sie gehen auf ihn los, schlitzen ihm das Gesicht und die Brust und die Unterarme auf, die er schützend vor sich hält. Er nimmt es als Buße, ohne seinem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Dann reißt ihm endlich die Geduld, gibt nach wie eine Falltür. Er zerschmettert dem ersten Angreifer mit dem Handballen die Nase, packt den Arm des zweiten Mannes am Ellbogen und bricht ihn im Gelenk. Den dritten schleudert er zu Boden. Er schnappt sich eine der Rasierklingen und schneidet dem kreischenden Mann damit die Zunge der Länge nach durch, während er ihm mit eisernem Griff den Kiefer aufdrückt.

Man findet ihn vor ihnen stehend, blutbespritzt und benommen, begleitet vom Schmerzgeheul der Häftlinge, wird er in Einzelhaft gesteckt. Sie schlagen ihn, teilen ihm mit, er werde lange dort bleiben. Sobald die Tür sich schließt, wird er wild, faucht und boxt und tritt gegen die Wände. Schreit ohne Sprache. Unverständliche Wörter. Er kann seine Welt nicht kontrollieren.

Er stellt sich das Ende vor. Alles, was er ist und was er getan hat. Aber nein. Am nächsten Morgen wird die Tür geöffnet, neue Wärter treten ein. Sie fordern ihn auf mitzukommen. Zuerst werde er duschen. Er zittert, nackt und wund. Als sie auf ihn zukommen, ballt er, mit dem Rücken zur Wand, die Fäuste zum Kampf. Sie lachen und werfen ihm frische Kleider zu.

Er wird ins Büro des Aufsehers gebracht. Es ist reichlich aufgetischt: frisch geschnittenes Obst, paratha, lassi. Der Aufseher bittet ihn, sich zu setzen. »Nimm dir eine Zigarette. Bitte, greif zu. Uns ist ein Fehler unterlaufen. Man hat mir nicht Bescheid gegeben«, sagt er. »Sonst wäre das niemals passiert. Ehrlich, niemand wusste es, nicht mal deine Freunde. Aber ab jetzt wird alles anders. Du wirst jetzt zu deinen Freunden hier gebracht. Du wirst frei sein, also im Rahmen des Möglichen. Und diese bedauerliche Angelegenheit mit den anderen Männern, alles vergessen. Man könnte sie bestrafen. Nur hast du sie ja schon selbst bestraft, stimmt’s?! Ganz schöner Auftritt. Ach, und das Geld hier gehört dir. Du hättest was sagen sollen. Du hättest uns aufklären sollen. Du hättest dich bei uns melden sollen. Warum hast du nichts gesagt?«

Ajay starrt das Essen an, die Zigarettenschachtel.

»Was gesagt?«

Der Aufseher lächelt.

»Dass du einer von Wadias Leuten bist.«

MAHARAJGANJ, ÖSTLICHES UTTAR PRADESH, 1991

AJAY

(Dreizehn Jahre vorher)

1.

Man darf nicht vergessen, dass Ajay nur ein Kind war. Acht Jahre alt und unterernährt. Kaum des Lesens und Schreibens mächtig. Mit wachsamen Augen.

Seine Familie war arm. Bitterarm. Lebte von der Hand in den Mund, in einer mit trockenem Gras und Plastikfolie geflickten Hütte auf einer kleinen Anhöhe über der Schwemmebene, beim Schilfrohr hinter dem Schattenende des Dorfes. Vater und Mutter, beide Latrinenputzer, die mit Schiefer und Händen Scheiße aus den Trockenklos der Dörfler kratzten, die Körbe auf dem Kopf trugen, um sie in einigem Abstand auszukippen. Die vor dem Morgengrauen auf den Feldern pissten und schissen. Nach Einbruch der Dunkelheit pissten. Die kärgliches Blattgemüse in dem schmutzigen Ablauf zogen. Die Wasser aus dem entlegenen, brackigen Brunnen tranken, um die Gemeinschaftsquelle nicht zu verunreinigen. Die ihre Grenzen kannten. Um nicht den Tod einzuladen.

Ajays Mutter Rupa ist wieder schwanger.

Seine ältere Schwester Hema hütet die Ziege.

Dies hier ist das östliche Uttar Pradesh. Neunzehnhunderteinundneunzig.

Im Norden erheben sich die Gebirgsausläufer Nepals.

Der Mond ist noch lange nach Tagesanbruch sichtbar.

Bevor Ajay den ersten Atemzug machte, wurde er bereits betrauert.

2.

Es ist neunzehnhunderteinundneunzig, und die Lage im Distrikt ist katastrophal. Den hochkastigen Grundbesitzern und ihren Spießgesellen geht es bestens. Der Junge wandert jeden Tag zur staatlichen Schule, einem alternden, ungeliebten Bau; einer falschen Hoffnung aus Beton und ohne Türen; Fenster mit Holzläden, zersplittert und durchlöchert; Räume zu klein für die vielen Kinder, rotznasig, Haare gekämmt, Haare eingeölt, die zerlumpten Uniformen immer frisch gewaschen, im Kampf gegen die Abnutzung. Der Lehrer fehlt, ist oft betrunken, oft verschollen, wird oft fürs Zuhausebleiben bezahlt. Ajay ist arm, mehr als arm, mit den anderen Valmikis, mit den Pasis und Koris, in die letzte Reihe verbannt, gemieden, ignoriert. In der Mittagspause müssen sie abseits warten, auf felsigem Boden, während die Kastenkinder im Schneidersitz auf dem glatten Podest ihre Mahlzeit von Bananenblättern essen. Wenn sie fertig sind, dann sind die Kastenlosen an der Reihe, ihre Portionen karg, gestreckt. Nach der Pause muss Ajay an die Arbeit. Er fegt den Fußboden, entfernt getrockneten Mist aus den Ecken, wischt Eidechsenscheiße vom Fensterbrett. Eines Tages liegt ein toter Hund neben der Grundstücksmauer, aufgedunsen und verwest und von einer Schlange gebissen. Ajay muss ihm eine Schnur um den Hinterlauf binden, ihn wegziehen.

In der Nachmittagshitze läuft er mehrere Kilometer nach Hause, um Hema mit der Ziege zu helfen. Vorbei am Hanuman-Tempel, vorbei an den Kricket spielenden Jungen. Er hält einen Sicherheitsabstand. Drei Jahre zuvor hat er den Fehler gemacht, einen herumliegenden Ball aufzuheben und mit aller Kraft zurückzuwerfen. Der Ball wurde gemieden wie ein Leprakranker und Ajay über die Felder gejagt. Er entkam durch den Abwassergraben. Sie sagten zu ihm: Wenn du den Ball noch mal anfasst, hacken wir dir die Arme und Beine ab, zünden sie an, schmeißen dich in den Brunnen.

Es ist neunzehnhunderteinundneunzig, und sein Vater hat sich Schwierigkeiten eingehandelt. Die Ziege hat sich vom Strick losgerissen und den Spinat vom Feld eines Dörflers gefressen. Ajay und Hema fangen sie wieder ein, aber der Eigentümer des Feldes erfährt davon. Am späten Nachmittag kommt er mit dem Dorfvorsteher, Kuldeep Singh, zu ihrer Hütte. Kuldeep Singh bringt eine Handvoll willige Schläger mit. In ihrer Gegenwart verlangt der Eigentümer eine Erklärung, wo doch keine genügen wird, während Ajays Vater, nur Sehnen und Knochen, um Verzeihung bittet, wo doch keine gewährt werden wird. Die Ziege ist zuerst dran. Hellseherisch spuckt sie und schnaubt und bäumt sich auf und schwingt die Hörner, also scheuen die Schläger zurück. Es braucht Kuldeep Singh, um die Männer beiseitezuschieben, um dem Tier seinen brutalen Knüppel schwungvoll über den Kopf zu ziehen. Der Schädel knackt, die Ziege taumelt ins Leere, die Beine knicken ein – einen Moment lang sieht sie aus wie ein Neugeborenes, das zu laufen versucht. Kuldeep Singh legt ihr das Knie auf den Kopf und schlitzt ihr mit seinem Messer die Kehle auf. Angepeitscht vom heißen Blut, wenden sich die Schläger Ajays Vater zu. Sie zerren ihn zu Boden, halten ihn an Schultern und Knien fest und schlagen ihn abwechselnd mit Bambusstöcken auf die Fußsohlen, arbeiten sich in ihrem Eifer zu seinen Knöcheln, seinen Schienbeinen, seinen Knien, seinem Unterleib hoch. Sie versetzen ihm kräftige Hiebe in den Unterleib, auf die Brust, die Arme. Seine Frau und Tochter schreien auf, weinen, flehen sie an, damit aufzuhören. Ajay will wegrennen, wird aber von Kuldeep Singh festgehalten. Diese schweren Hände umschließen seine Schultern. Der Tabak- und Schnapsatem ist für seine Nase wie saures Parfüm. Ajay wendet sich ab, richtet den Blick in den rosa Himmel, doch Kuldeep Singh dreht ihm den Kopf herum, sodass er zusehen muss.

Sein Vater bekommt Fieber, die Knochen verfärben sich düster lila. Am Morgen wendet sich die Mutter verzweifelt an den örtlichen Geldverleiher, Rajdeep Singh, bettelt ihn an, um ihren Mann zur Behandlung in das zwanzig Kilometer entfernte öffentliche Krankenhaus zu bringen. Rajdeep Singh bewilligt ihr zweihundert Rupien zu vierzig Prozent Zinsen, nach einer demütigenden Verhandlung.

Als Rupa das Krankenhaus erreicht, weigern sich die Ärzte, ihren Mann aufzunehmen, wenn sie nicht im Voraus voll bezahlt werden. Sie nehmen einhundertfünfzig Rupien, dann lassen sie ihn unbeaufsichtigt auf einer Station liegen. Vor Mitternacht gleitet er aus dieser Welt. Sie schleppt seine Leiche, auf einen Holzschlitten gebunden, im Dunkeln selbst nach Hause, kommt nach Tagesanbruch zu Hause an. Da ihnen der Zutritt zur Verbrennungsstätte des Dorfes verwehrt ist, äschern sie ihn mit zusammengesammeltem Öl und billigem Holz auf einem Scheiterhaufen nahe ihrer Hütte selbst ein. Das Holz reicht nicht ganz. Der Gestank ist unerträglich. Sie heben ein flaches Grab neben dem Wald aus und bestatten dort seine verkohlten Überreste.

Am nächsten Tag stehen Rajdeep Singhs Schläger vor der Tür, um Ajays Mutter daran zu erinnern, was sie schuldig ist. Die Gorillas umringen Ajays Schwester, geben anzügliche Kommentare von sich, schlagen ihr vor, was sie tun könnte. Ajay beobachtet sie stumm und zwischen den Halmen des Nachbarfelds versteckt. In der aufgerissenen Erde unter seinen Füßen sitzt eine Kakerlake. Er hält sich die Ohren zu, um die Schreie nicht hören zu müssen, und stampft die Kakerlake in den Staub. Und dann läuft er weg. Als er zwei Stunden später zurückkehrt, schluchzt seine Schwester in einer Ecke der Hütte, und seine Mutter stochert im Feuer.

Ein paar Stunden später taucht der thekedaar auf, der örtliche Unternehmer. Er spricht ihnen sein Beileid aus, und da er ihre prekäre Lage kennt, schlägt er vor, ihre Schulden selbst in voller Höhe zu begleichen. Sie können es ihm auf eine einfache, ehrbare Weise zurückzahlen.

3.

Ajay wird nicht gefragt. Am nächsten Morgen, ehe es hell ist, wird er auf die Ladefläche eines Tempo gesteckt, auf der schon acht Jungen sitzen, die er noch nie gesehen hat. Es ist ein altes Fahrzeug mit einer verbeulten Kabine und einem schmierigen Käfig dahinter, der ein offenes Dach hat, sodass die menschliche Fracht die Sterne sehen, aber nicht zu fliehen wagen kann. Ajay hat nichts vorzuweisen außer seinen alten Kleidern und einer schmutzigen Decke. Seine Mutter und seine Schwester stehen in einigem Abstand da, dann drehen sie sich um und gehen weg. Der Lieferwagen parkt im Leerlauf auf der unbefestigten Straße neben dem Abflussgraben. Dann steigt der Unternehmer ein, und der Gehilfe steigt ein, und sie fahren aus dem hervorkriechenden Licht über eine Piste voller Schlaglöcher auf einen von Sternen übersäten schwarzen Horizont zu. Ein Sammelsurium von Decken hält sie nur halbwegs warm. Auf der zur Kabine hin liegenden Käfigseite kuscheln sie sich aneinander, mit dem Gesicht nach Osten, wo ihr Zuhause immer kleiner wird, und warten auf den Anbruch des Tages.

Kurz vor Sonnenaufgang halten sie an einem geschäftigen dhaba an, um zu pinkeln. Eine stumpfsinnige Neonröhre zieht sehnsüchtige Motten an. Dampf quillt aus den Mündern sich ausruhender Lastwagenfahrer. Innerhalb von Minuten ist der Himmel hell geworden, und die Landschaft bekommt Konturen. Fahrzeuge tuckern über die Landstraße. Weizenfelder erstrecken sich zu beiden Seiten im Dunst. Der Gehilfe des Unternehmers, ein drahtiger, dunkler, pockennarbiger Mann mit einem gezwirbelten Schnurrbart, langem Gesicht und schmalen Augen öffnet den Käfig. Er warnt sie davor, wegzulaufen, als er sie zum Pinkeln zum Straßengraben bringt, und zur Sicherheit bleibt er hinter ihnen stehen und spielt mit seinem Messer. Der Nebel drängt schwer herein, die Sonne erscheint kurz als blasse silbrige Scheibe, verschwindet dann. Als sie wieder auf dem Lieferwagen eingesperrt sind, bekommen die Jungen roti und chaay, während der thekedaar und sein Gehilfe sich an einen der Plastiktische setzen und alu paratha bestellen.

Das ist der Moment.

Einer der eingesperrten Jungen, hühnerbrüstig und mit lockigen Haaren, einst passiv, springt auf und klettert am Käfig hoch, wirft sich hinunter. Bevor jemand reagieren kann, rennt er über die nackte Erde, auf die Rückseite des dhaba zu, Hände greifen instinktiv nach ihm, aber der Junge schlüpft hindurch und hüpft über Müllhaufen, dann über den stinkenden Graben in das dunstverhangene Feld. Der Gehilfe des thekedaar ist schnell auf den Beinen, sein Plastikstuhl kippt um, als er die Verfolgung aufnimmt, an den Toiletten vorbeiläuft, ebenfalls über den Graben springt, sein Messer zückt. Und dann sind sowohl der Junge als auch der Mann fort. Die Lastwagenfahrer, die dhaba-Angestellten, die Jungen, alle sehen erwartungsvoll dem Flüchtigen nach, spähen in die graue Weite, neigen den Kopf zur Seite, um zu horchen. Nur der thekedaar, ein Mann von großer Erfahrung, sitzt ruhig da und schlürft seine chaay.

Fünf Minuten verstreichen ohne ein Zeichen.

Das normale Leben setzt wieder ein.

Dann ein lähmender Schrei, ein haarsträubendes Heulen irgendwo im Nebel. Alle streunenden Hunde bellen los.

Als der Gehilfe keuchend zurückkommt, allein, ist sein weißes Unterhemd mit Blut bespritzt. Er spuckt auf den Boden und setzt sich wortlos wieder hin.

Niemand wagt es, seinem Blick zu begegnen.

Er trinkt seine chaay aus, isst sein paratha.

Der Augenblick brennt sich in Ajays Gehirn ein.

Der Dunst steigt von den Feldern hoch und löst sich auf.

Sie fahren den ganzen Tag, und die Sonne wird rabiat, nimmt die ganze Welt in sengende Gefangenschaft, brennt sich in ihre Ortschaften mit den staubigen Kreuzungen voller Lastwagen und Gemüsestände.

Einige der Jungen regen sich allmählich, als wachten sie aus einer Betäubung auf, flüstern untereinander, versuchen, sich vor dem grellen Sonnenschein und dem Staub und dem Wind zu schützen. Ajay kneift die Augen zusammen und spricht mit keinem; er versucht, sich das Gesicht seines Vaters einzuprägen, das Gesicht seiner Schwester, das Gesicht seiner Mutter. Er versucht, sich die Straße nach Hause einzuprägen. Am Nachmittag wacht er auf, ohne gemerkt zu haben, dass er eingeschlafen war, und sieht eine Stadt mit breiten Alleen und prächtigen Gebäuden und Gärten voller leuchtend blühender Blumen, eine Welt, die er für einen Traum hält.

Als er das nächste Mal aufwacht, geht schon fast die Sonne unter, und sie befinden sich auf einer schmalen Straße, die zu einem Gebirge emporsteigt, mit einer steilen Geröllböschung zur Rechten und sanften Hügeln im Rücken.

Er sieht in die Augen der anderen Jungen und spricht endlich.

»Wo sind wir?«

»Panjab.«

»Wohin fahren wir?«

Einer deutet mit dem Kopf nach oben. »Da hoch.«

»Warum?«

Der Junge wendet den Blick ab.

»Zum Arbeiten«, sagt ein anderer.

Später am Abend erreichen sie das Gebirge, erklimmen seine Ausläufer, kriechen die Serpentinen entlang; der Lieferwagen ist kaum schneller als ein Maultier, sein Motor stemmt sich gegen den Sturzbach in der Schlucht und die pechschwarze Dunkelheit. Als sie ein Plateau erreichen, belauert sie von der Seite eine brausende Flussfläche. Der Mond zeigt sich wieder, fast voll, der hohe Himmel glüht weiß. Aber unterhalb der dahingleitenden Wolkenflotte sind Schwärze, groteske Umrisse, steile Abgründe, eine Schattenwelt, das Tuckern des Motors. Die Temperatur fällt, und die Jungen schmiegen sich aneinander, um sich zu wärmen, halten einander fest, rasselnde Knochen in Käfigen. Dann beginnen die Lavastunden der Albträume, endlose Anstiege, ein plötzlicher Absturz, stundenlanges Sich-Winden um Täler und Spitzkehren, die Luft so kalt, dass sie Narben hinterlässt. Ajay wartet auf die nächste Kurve, das Plateau, darauf, dass die Sonne aufgeht und sich über dem nicht zu sehenden Fluss ausbreitet, dass er nach Hause gebracht wird, dass seine Mutter ihn weckt, dass er tote Hunde aus der Schule zerrt.

Dann sprießen Ranken, und die Nacht ist vorbei, wie Dotter zerfließt die Sonne über den Gipfeln und wischt den blauen Tod, der die letzten Stunden erfüllte, beiseite. Reines Licht und der Sieg des Morgengrauens. Forschend betrachtet Ajay die Gesichter der blinzelnden Jungen, die sich benommen unter ihren Decken rühren. Ältere Gesichter: vierzehn oder fünfzehn, eines, das jünger ist, sieben vielleicht. Überprüft, ob sie sich verändert haben. Haben sie nicht. Aber sie haben eine Pforte durchschritten.

Jetzt gibt es keine Hoffnung auf zu Hause.

Der Lieferwagen hält zum Frühstück an einem chaay-Stand, der wie eine Grotte in eine senkrechte Felswand hoch oben auf einem Berg gehauen ist, neben einem Schrein für die örtliche Gottheit, auf der Straße kaum genug Platz für zwei entgegenkommende Fahrzeuge. Tief unten fließt ein sanfter Fluss durch eine Schlucht. Der Gehilfe springt aus der Fahrerkabine, reckt die Arme in die Luft, zündet sich eine bidi an und spaziert zur Kante, wo weiß bemalte Steine vor dem Absturz warnen. Er reinigt sich die Nägel mit seinem Taschenmesser und spuckt in die Leere, während sich putzende Affen fauchend die Fangzähne fletschen und zur nächsten Kurve hüpfen.

Die Jungen sitzen noch im Käfig.

Der abgestellte Motor ist das lauteste Geräusch der Welt.

Der thekedaar begrüßt den Teestandbesitzer, der in einem Kessel auf dem Petroleumkocher rührt. Der Gehilfe kommt von der Felskante zurück, um sich zu ihm zu setzen, und öffnet im Vorbeigehen den Käfig. Die drei Männer plaudern, berichten einander die Neuigkeiten von unterwegs.

Der Gehilfe pfeift den Jungen zu. »Vertretet euch die Beine, geht pinkeln. So schnell kriegt ihr keine Gelegenheit mehr dazu.«

Die Männer sind entspannt, der Vorfall beim dhaba am vergangenen Morgen vergessen.

Dieses Mal können die Jungen nirgendwohin rennen oder flüchten.

Also klettern sie vom Lieferwagen und laufen ziellos umher, starren den Kalksteinkorridor hinauf, atmen tief die kalte saubere Luft ein. Ajay hört den Fluss, außer Sicht, vom Dach der Welt strömend.

Einer der Jungen, der jüngste vielleicht, der Siebenjährige, läuft zur Felskante.

Ajay beobachtet ihn, als er wie gebannt dort steht, ganz vorn an der Kante, den Blick nach unten gerichtet.

Bis der Gehilfe ihn am Arm packt und zurückreißt.

Und sie sind wieder unterwegs.

Um zehn Uhr scheint die Sonne grell. Locker umgehängte Decken werden zu Schattenspendern.

Sie flitzen durch den Himalaja.

Befreit von der Nacht.

Noch verlorener.

Jetzt schlafen sie.

Gegen Mittag erreicht der Lieferwagen ein ramponiertes Marktstädtchen in einem heißen Tal, erstickt von Öl und Motoren, eine Müllhalde in den Bergen, ein Schmutzbecken. Sie überqueren einen kleinen felsigen Fluss, der von Abfall verstopft und aufgestaut ist, die darüber führende niedrige Metallbrücke durchflochten mit Gebetsfahnen. Sie schließen sich einer neuen Straße aus der Stadt heraus an und folgen dem Fluss stromaufwärts durch die Kiefern. Kleine Grasinseln durchbrechen den Wasserlauf. Im Norden ragen durch die Lücken zwischen den nach Harz duftenden Bäumen schneebedeckte Berge auf. Eine neue gewaltige Kette, eine undurchdringliche weiße Wand. Ajay schläft wieder ein und träumt von seinem Vater mit einem Korb auf dem Kopf, der Körper darunter komplett verkohlt.

Am Nachmittag nähert sich der Lieferwagen einer größeren Stadt, die sich an einen bewaldeten Hang schmiegt. Sie hütet die Mündung eines langen, steilen Tals, das sich weit voran durch die Erde gräbt. Darüber hängen Wasserfälle, spritzen und plätschern durch die Felsen, vereinigen sich mit dem mäandernden Fluss, peitschen ihn auf. Etwas weiter stromabwärts waschen Dorfbewohner ihre Wäsche, klatschen den Stoff an die Felsen. Der Lieferwagen biegt um eine Kurve, dichte Kiefern dämpfen das Geräusch des Flusses. Sie schlängeln sich an ordentlichen holzverkleideten Gebäuden vorbei, halten auf einem Parkplatz zwischen den Bäumen.

Einfach so verstummt der Motor, ein neuer schmerzlicher Verlust – die Jungen blinzeln und stehen wackelig auf, wie Männer, die nach Monaten auf See an Land kommen.

Eine Menschenmenge wartet schon auf sie. Der thekedaar springt aus der Fahrerkabine, spuckt paan aus und holt ein Büchlein aus der Tasche. Ohne Zeit zu vergeuden, ruft er Namen auf, während der Gehilfe den Käfig öffnet und die Jungen aushändigt, einen nach dem anderen. Kleine Dispute entstehen, Geld wechselt den Besitzer. Bande, gerade erst geknüpft, werden schon wieder zerrissen. Ein leichter Regen setzt ein, und Ajay kauert sich in den Käfig, wartet. Einer nach dem anderen werden die Jungen mitgenommen. Für die verbleibenden drei beginnt eine Auktion.

4.

Ajay wird an einen kleinen, dicken Mann mit roten Wangen und eleganter Kleidung und wichtigtuerischem Gehabe verkauft. »Du darfst mich Daddy nennen«, sagt der Mann, nimmt Ajay bei der Hand und führt ihn zu dem Autorikschastand in der Nähe. »Und du heißt?«

Aber Ajay kann nicht antworten. Er steht zu sehr unter Schock, weil ein wichtiger Mann seine schmutzige, kleine Hand hält.

In einer Autorikscha fahren sie die Ostseite des Tals hinauf. Die Stadt klappt mit jeder Kurve Stück für Stück unter ihnen weg. Durch die Stoffverkleidung der Rikscha sind die höheren Bergketten zu erkennen, in dem starken Regen, der eingesetzt hat, Gletscher schimmernd wie Edelsteine. Ajay bleibt ganz still, in den Sitz gepresst, bibbernd, während Daddy vorn auf der Kante hockt und sich mit dem Fahrer unterhält. Ein paar Kilometer weiter oben taucht eine friedlichere Ortschaft auf, ein Dorf, gesprenkelt mit dunklen Häusern im alten Gebirgsstil – Strohdächer, dicke Steine, Holzrahmen, kunstvoll geschnitzte Balkone, die langsam verfallen. Sie werden bedroht von neuen, aufdringlichen Betonbauten, mit Haufen von Flusssand unter Plastikplanen neben Bergen von Steinen.

Die Rikscha setzt sie vor einem dem Anschein nach kleinen, an den Hang gebauten Häuschen ab, aber als sie auf der Straße stehen, sieht Ajay, dass es fünf Stockwerke nach unten reicht, als flösse es in einem Erdrutsch den Berg hinab. Über einen kurzen, kahlen Durchgang hasten sie in das oberste Geschoss, treten durch eine schwere Holztür in einen Raum, erfüllt mit Licht und Wärme, ein großes, überladenes Zimmer mit deckenhohen Fenstern an zwei Seiten, die auf das Panoramawunder des Tals hinausgehen. Es ist vollgestopft mit Sofas und Webteppichen und Zierrat und Schmuckgegenständen, das Herzstück ein riesiger Holzofen, von dem aus Rohre wie Tentakel in andere Räume entschwinden, während eines davon Rauch durch einen Abzug neben dem Fenster in den Himmel bläst. Auf dem Ofen blubbert ein großer Kessel Milch. Ihr cremiger Geruch erfüllt das Zimmer.

Eine Frau, rundlich und rosig und duftend, glamouröser als jede andere, die Ajay jemals gesehen hat, steht auf und lächelt.

»Das ist Mummy«, sagt Daddy, die Hände auf Ajays Schultern gelegt.

»Hallo«, sagt Mummy und streckt ihm ihre rosige Hand entgegen. »Wie heißt du?«

»Na, mach schon«, sagt Daddy.

Doch Ajay reißt nur die Augen auf.

»Wie heißt er?«, fragt Mummy, angestrengt weiter lächelnd.

»Gib ihr die Hand«, sagt Daddy. »Siehst du?« Er nimmt Mummys Hand und schüttelt sie. »So.«

Ajay hebt den Kopf und grinst Daddy dümmlich an.

»Hast du schon gegessen?«, fragt Mummy Ajay mit einer Babystimme. »Möchtest du chaay?«

Ajay grinst weiter.

»Er ist schüchtern«, sagt Mummy, als diagnostizierte sie einen Patienten. Sie beugt die Knie und betrachtet ihn etwas eingehender. »Bist du sicher, dass er sprechen kann?«

»Natürlich kann er sprechen«, sagt Daddy.

Aber Ajay bleibt stumm.

»Lesen oder Schreiben kann er wahrscheinlich nicht«, sagt Daddy. »Aber sprechen schon. Stimmt’s?«

»Hast du das nicht überprüft?«, fragt Mummy leicht verärgert.

»Er war der Einzige, der übrig war.«

»Wie heißt du?«, fragt Mummy erneut und nimmt seine beiden Hände in ihre.

Ajay ist fasziniert.

Er flüstert, so leise, dass man ihn nicht hören kann.

Ajay.

»Wie?« Sie hält lächelnd ihr Ohr vor sein Gesicht.

»Ajay«, sagt er.

»Ajay!«, ruft sie triumphierend, richtet sich auf, wiederholt es, als wäre es der schönste Name der Welt. »Das ist sehr süß.«

»Sag ich doch, dass er sprechen kann«, meint Daddy.

Er nimmt Ajay wieder mit nach draußen; statt auf die Straße gehen sie seitlich um das Gebäude herum, eine vom überhängenden Dach vor dem Regen geschützte Steintreppe hinab, an mehreren grasbewachsenen Terrassen vorbei bis ganz nach unten zum Erdgeschoss des Hauses, fünf Stockwerke tiefer, und betreten ein Zimmer, in dem die Feuchtigkeit hängt, als drohte die vom Regen durchweichte Erde den blanken Beton zu durchbrechen. Es ist ein Lagerraum voller Gerümpel und Zementsäcken mit einer verdreckten Matratze und einigen Decken.

»Das ist dein Zimmer«, sagt Daddy. »Und hier ist dein Schlüssel.« Er gibt ihn Ajay. »Pass gut darauf auf. Wenn du ihn verlierst, kannst du deine Tür nicht abschließen.«

Ajay starrt den Schlüssel in seiner Hand an.

»Das Bad ist dort drüben.« Daddy zeigt auf eine Tür. »Da liegt Seife. Wasch dich und ruh dich aus. Es ist jetzt eins. Um fünf komme ich dich holen, dann fängst du zu arbeiten an.«

Mit großen Augen betrachtet Ajay ein Regal neben der Matratze, in dem einige Gegenstände liegen, zwei T-Shirts, ein Schulheft, ein schlaffer Fußball, eine Aufziehente auf Rädern und ein matter Spiegel.

»Das kannst du haben«, sagt Daddy, als er den Kopf noch einmal durch die Tür steckt. »Hat dem letzten Jungen gehört.«

Er schläft unter den Decken ein, sein Herz schlägt noch im Rhythmus des schaukelnden Lieferwagens.

Als er aufwacht, hat es zu regnen aufgehört, es ist still, und in der staubigen Scheibe des kleinen, über dem Gerümpel schwebenden Fensters pulsiert ein merkwürdiges Leuchten. Er weiß nicht, wo er ist, dann fällt es ihm langsam wieder ein, die Reise schwindet wie ein Traum, nur der Raum bleibt, losgelöst von allem anderen.

Lange liegt er reglos unter den Decken, sein Geist ein im Flug über dem Meer schlafender Vogel.

Die Sonne versinkt hinter den Bergen auf der anderen Talseite, die Wolken haben sich gelichtet und ein reines Blau offenbart. Das Gras auf den Terrassen ist übersät von Tröpfchen. Einsamkeit pocht aus dem Gebäude über ihm. Er steigt die Stufen hinauf, um einen Blick hineinzuwerfen, aber im Haupthaus brennt kein Licht. Jetzt weiß er nicht, was er tun soll. Alle Häuser am Berghang wirken verlassen. Also kehrt er in sein Zimmer zurück und zieht sich die Decken über den Kopf und wartet.

»Hast du dir die Hände gewaschen?«, fragt Daddy.

Ajay lügt und flüstert: »Ja.«

»Wasch sie dir noch mal.«

Es ist das Mantra des Hauses.

Wasch dir die Hände. Wasch sie dir noch mal. Wasch dir die Füße, wasch deine Kleider. Wasch dir die kleine Rotznase.

Ajay bekommt Essen. Daddy ermuntert ihn dazu. »Für die Arbeit«, sagt er, »musst du stark sein. Iss Reis mit Salz und ghi, trink Milch, du brauchst nicht mit den guten Sachen zu knausern, ghi und Milch sind reichlich da.«

Jetzt wird ihm die Arbeit erklärt. Er nimmt alles teilnahmslos auf.

Daddy hat eine kleine Landwirtschaft auf einer hoch gelegenen Wiese, eine Stunde Fußmarsch durch den Wald hinauf. Ajay soll seinen Vorgänger ersetzen. Seine Aufgabe ist, die Milch zu verarbeiten, ghi herzustellen und den Haushalt zu machen, Frühstück zuzubereiten, den Fußboden zu fegen und zu wischen, Wäsche zu waschen, das Feuer in Gang zu halten, Mittagessen zu kochen und hinterher das Geschirr zu spülen. Er bekommt einen eigenen Teller, Becher, Schüssel und Löffel.

»Kannst du kochen?«, fragt Daddy.

Ajay schüttelt den Kopf.

»Dann lernst du es. Ab sofort. Und morgen nach dem Frühstück gehen wir zum Bauernhof hoch.«

An jenem Abend zeigt Mummy ihm, wie sie kocht, Curry mit Huhn, alu ghobi, palak-panir, Reis. Er bestaunt die Fülle an Zutaten, das verschwenderische Würzen, die großen Batzen ghi. Mummy ist eine großzügige Köchin, eine geduldige Lehrerin. Er bekommt Tropfen zum Probieren auf den Handrücken, sieht jedes Mal ungläubig auf, wenn seine Zunge explodiert.

»Sieh dir an, wie er lächelt«, sagt Mummy. Aber Daddy hat den Kopf in die Zeitung gesteckt.

Als die roti an der Reihe sind, wird er beauftragt, sie selbst zu machen, und sie werden für gut befunden, obwohl er zu sparsam mit dem Salz gewesen ist.

Jetzt wird ihm gezeigt, wie er den Tisch zu decken hat, wie die Vorlegelöffel anzuordnen sind, die Schüsseln, die Teller, und als das Essen fertig ist, wird er aufgefordert, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.

Er weiß nicht, wie.

»Setz dich.« Mummy zieht den Stuhl heraus. »Hierher.«

Er nimmt Platz, sieht sie an.

»Und jetzt bedien dich«, sagt sie.

Er mustert sie beide zögerlich.

»Na los doch.«

Er greift nach einem großen Löffel, legt sich unbeholfen kleine Portionen auf den Teller, während Daddy so tut, als bemerkte er nicht, dass er dabei kleckert.

Als auf Ajays Teller mehrere kleine Häufchen liegen, gibt Daddy endlich dem Drang nach, sich einzumischen. »Du brauchst doch mehr.« Er schaufelt Reis und dal auf Ajays Teller und krönt das Ganze mit mehreren Löffeln ghi.

»Ist das nicht der beste ghi, den du je gegessen hast?«, fragt Mummy.

»Doch«, flüstert Ajay.

Er hat noch nie ghi gegessen.

»Dein Vater ist gestorben«, sagt Daddy, als hätte sein Vater die Nachricht am Telefon mitgeteilt. »Und deiner Mutter zuliebe musst du helfen, wie du eben kannst.«

Er gibt eine Geschichte vor.

»Also bist du zum Arbeiten hergekommen, damit zu Hause alles in Ordnung ist.«

Ajay starrt vor sich hin.

»Deine Mutter ist jetzt die seelische Belastung los. Deine Familie ist glücklich, weil du arbeitest.«

Ajay ruft sich das Gesicht seiner Mutter ins Gedächtnis, wie sie in der Dunkelheit wartet, als er auf den Lieferwagen geladen wird. Er ruft sich die schwelende Leiche seines Vaters ins Gedächtnis. Er sieht die Weizenfelder, er dreht sich um und rennt vor den Schreien seiner Schwester weg. Er zertritt eine Kakerlake mit dem nackten Fuß, wiederholt im Geiste die Namen Kuldeep und Rajdeep Singh.

»Ich weiß, dass man da, wo du herkommst«, sagt Daddy, »noch an vielen rückständigen Bräuchen und Überzeugungen festhält. Vielen Regeln und Sitten, die der Realität deiner Welt entsprechen. Aber hier sind wir davon frei, und deshalb bist du jetzt frei. Verstehst du?«

Er sieht von Daddy zu Mummy, zu der Glut des Feuers, zu dem Curry.

»In unserem Haushalt«, sagt Daddy, »haben wir andere Regeln. Es ist egal, woher du kommst. Wir sind alle Menschen, und alle Menschen sind gleich. Weißt du, was das bedeutet?«

Ajay bleibt stumm.

»Es bedeutet, wenn dich jemand fragt, wer du bist und woher du kommst«, fährt Daddy fort, »sagst du zu ihm: Ich komme aus einem Kshatriya-Haushalt.«

Ajay senkt den Blick auf seinen Teller.

»Sag es.« Daddy zieht die Worte in die Länge: »Ich komme aus einem Kshatriya-Haushalt.«

Ajay schielt zu Mummy; sie nickt ihm aufmunternd zu.

»Ich wohne in einem Kshatriya-Haushalt«, flüstert er.

»Nein«, sagt Daddy. »Du kommst jetzt aus einem, okay?«

Ajay nickt. »Ich komme aus einem.«

»Sehr gut«, sagt Daddy, das wäre erledigt. »Und jetzt iss.«

Er versucht es.

Er formt eine Kugel aus Reis und dal. Starrt sie an.

Aber er kann sie nicht zum Mund heben.

Er wirkt wie gelähmt.

»Was ist denn los?« Daddy legt demonstrativ seinen Löffel hin.

»Was ist los, Kind?« Mummy beugt sich zu ihm, damit er ihr ins Ohr flüstern kann.

Nachdem er gesprochen hat, sieht sie Daddy besorgt an.

»Er möchte wissen«, sagt sie sanft, »ob er da unten essen darf.« Sie stockt und richtet den Blick nach unten. »Auf dem Boden.«

Daddy macht einen betont tiefen Atemzug, der seine Gefühle besser vermittelt als jegliche Worte.

»Ich hab’s dir doch gesagt.«

»Ich weiß«, erwidert Mummy.

»Na gut«, sagt er wieder auf Hindi zu Ajay. »Nimm dir einen der Metallteller und geh.«

Ajay springt auf und holt sich eins der billigen kleinen Metalltablette. Er schiebt seine Portion von seinem Porzellanteller darauf und lädt sich noch etwas mehr Hühnchen dazu und läuft schnell in die Küchenecke, wo er im Schneidersitz, mit dem Rücken zu ihnen, alles verschlingt. Es ist mehr, als er in einer Woche gegessen hat – er hat das Gefühl, dass ihm gleich der Magen platzt.

Nach dem Essen, als Mummy und Daddy sich ausruhen, muss er abspülen. Als alles sauber ist, zeigt Mummy ihm, wie man warme Milch mit Kurkuma zubereitet.

»Der Tag beginnt um fünf«, sagt Daddy, als Ajay seine haldi dudh in der Hocke am Feuer trinkt. Die Hitze ist hypnotisch. Er spürt den Drang, sich hinzulegen und direkt dort zu schlafen. Aber nachdem er ausgetrunken hat, bekommt er Sandalen und wird die kalte Treppe hinuntergeschickt, zittert in der klammen Luft, schließt sich im Zimmer ein, kriecht unter so viele Decken, wie er nur finden kann, liegt in der untröstlichen Finsternis, wartet auf den Morgen.

5.

Der Winter nähert sich seinem Ende, der Frühling kommt, der Schnee taut weg, und die Kühe werden bald wieder zum Grasen gebracht. Auf dem Bauernhof zeigt man ihm die Kühe, bringt ihm bei, wie man den Tieren Futter gibt und ihren Stall ausmistet, sie zum Melken führt, zum Grasen anbindet. Jeden Morgen muss Ajay hochlaufen und zwei Kannen Milch für den Haushalt holen. Der Rest wird von den Landarbeitern geliefert und dann von Ajay zu ghi verarbeitet oder für den Verkauf abgefüllt.

Die Arbeit ist schwer, und er ist immer müde, aber er isst drei Mahlzeiten pro Tag, und niemand misshandelt ihn oder droht damit, ihn umzubringen. Es ist ein besseres Leben, als er es sich jemals erhofft oder gekannt hatte. Jeden Morgen bekommt er sein Glas frische Milch und mehrere heiße, großzügig mit dem besten ghi bestrichene roti. Das Essen, das er nach Mummys Rezepten kocht, ist voll von frischem Gemüse, und der Reis geht nie aus.

In seinen freien Momenten, wenn niemand zusieht, liebt Ajay es, in dem terrassierten Garten herumzutollen, sich im Gras zu wälzen, von einer Stufe auf die nächste zu springen, genau wie das Haus zum Talboden hin abzusteigen, zu dem breiten und mächtigen Fluss. Immer wieder, jede Woche etwas mehr Fleisch auf den Knochen, ein paar mehr Wörter im Mund, ein Lachen, ein Grinsen. Dann kommen die Schuldgefühle, und er tröstet sich mit der Lüge, die Daddy ihn gelehrt hat. Seine Familie lebt seinetwegen jetzt gut. Er bastelt sich eine Vision ihres Tages zusammen. Sein Opfer hat ihnen den Weg zu Wohlstand geebnet. Er redet sich das immer wieder ein, bis er sich nicht mehr an die Wahrheit erinnert. Er kommt zu dem Schluss, dass es ihm hier gefällt. Es gefällt ihm, durch den Wald zu rennen, mit den Hofhunden zu spielen, sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, abends mit Mummy am Feuer zu sitzen. Und er entdeckt noch etwas: Es macht ihm Freude, anderen Freude zu machen, es macht ihm Freude, jeden möglichen Wunsch vorauszuahnen, nicht nur die von Mummy und Daddy, sondern von allen, den Landarbeitern, den Tieren, den Ladenbesitzern. Es ist nicht einfach nur Freude, nicht ganz, es ist mehr wie das Stillen einer Blutung, wie das Eindämmen einer Flut, ein Opfer, das Leugnen des Traumas seiner Geburt.

Zu Beginn des Sommers passiert etwas Unerwartetes: Die Ausländer kommen. Sie treffen in Bussen und auf Motorrädern ein, fremdartige, wilde, fröhliche Menschen mit langen Haaren, die herumsitzen und Pfeifen rauchen wie die sadhus und die Lärm machen und Musik hören und den Berg mit Chaos erfüllen, die dem Anschein nach ohne Struktur oder Ritual oder Regeln existieren. Als der erste Motorradkonvoi ankommt, ist es Nachmittag. Ajay schießt aus seinem Zimmer, um den Ursprung des Lärms zu finden. Er hört das Dröhnen von Weitem, hält es fälschlicherweise für eine Lawine oder ein Erdbeben, bis er die Fahrzeuge am Fuße des Tals erspäht, die die Flussstraße hinaufgleiten und hinter der Kuppe verschwinden.

Er wartet, horcht, wagt nicht loszulaufen, noch nicht bereit, enttäuscht zu werden.

Einen halben Kilometer entfernt sieht er sie wieder auftauchen.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, jagt er die Treppe hinauf, rennt zur Straße, als die ersten Motorräder vorbeibrummen, springt und jauchzt neben ihnen her, so schnell er kann, jubelt, als sie zurückwinken, ein Schemen der Freude.

Dieser Sommer besteht aus Staunen. In den Stunden, in denen er sich eigentlich ausruhen soll, schleicht er sich aus seinem Zimmer und wandert in das Dorf in der Nähe der heißen Quellen, wo die Ausländer ihre Tage verbringen, gafft diese wunderbaren Menschen an, die in Cafés sitzen, rauchen und reden und Musik hören, rennt weg, wenn sie mit ihm zu sprechen versuchen, kämpft mit seiner Schüchternheit. Sie sehen ihn und winken und laden ihn zu sich ein, und mit jedem Tag wächst sein Mut. Wenn er sich traut, sich ihnen zu nähern, lachen und scherzen sie mit ihm, sie lächeln ihn freundlich an. Und wenn jemand ein Getränk verschüttet, holt er ihm schnell eine Serviette. Wenn jemand Feuer braucht, rennt er mit der Streichholzschachtel hin, die er in der Tasche hat, und reißt eins an und beobachtet das Gelächter. Er beschließt, immer Streichhölzer dabeizuhaben. Zündet eine chilam und eine Zigarette an, wo immer er kann. Der Streichholzjunge. So nennen sie ihn.

Den ganzen Sommer lang sind die Cafés und Restaurants, die vorher geschlossen waren, nun voller Musik und Licht, dem Geruch eigenartigen und exotischen Essens, Männern und Frauen, die Blumen tragen und aufblühen. Noch ehe der erste Monat vorbei ist, hat Ajay eine Handvoll englischer Wörter gelernt. Bitte, danke, ja und nein. Sorry.

Daddy öffnet sogar ein paar Räume in den unteren Stockwerken, lässt sie rasch von Ajay putzen und vermietet sie für fünfzig Rupien die Nacht.

Aber als der lange Sommer zu Ende geht, verschwinden die Ausländer so schnell, wie sie gekommen sind, ein großer Exodus von Motorrädern und Bussen gen Süden, wieder hinein nach Indien; und die Herbstfarben explodieren, und die Kälte setzt ein, die Erde wird hart und bleich. Die Tiere werden vom Berg geholt und in die Winterställe gebracht, und als es zu schneien beginnt, zieht sich der Haushalt in den zentralen Raum mit dem Tag und Nacht brennenden Feuer zurück. Ajay schläft den Winter über in dem Hauptzimmer neben dem Ofen. Er fühlt sich hier einsamer denn je, und in dem orangefarbenen Schein, mit dem im Mondlicht dicht fallenden Schnee, erinnert er sich im Traum an seine Mutter und Schwester.

6.

Sieben Jahre verstreichen an diesem Ort, der nie zur Heimat wird, aber der einzige ist, den er kennt, zum Leben, zum Atmen, zum Wachsen, fest verbunden mit seinem Körper, der Ort, den er nicht verlassen kann. Ajay, der seine Pflichten ausübt, Ausländern nachläuft, Panjabi und Himachali zu seinem Hindi dazulernt, ein paar Brocken Englisch, Deutsch, Hebräisch und Japanisch aufschnappt, die Hohlräume seiner Existenz auffüllt, vielen Dingen einen Namen gibt, von Mummy gut behandelt – manchmal tränenreich oder grausam –, aber sie lehrt ihn sehr sorgfältig Lesen und Schreiben, auch seinen Namen auf Englisch zu buchstabieren.

Und im Haus und auf dem Hof wird er zu einem starken und gehorsamen Teenager, muskulös, schlank; er lernt schießen, lernt jagen, lernt Kälber auf die Welt zu bringen, füttert die Hunde und richtet sie ab, hält Ausschau nach Leoparden und Bären, wachsam wie eh und je, immer da, nie ganz da; die Körner des Lebens herausgeklaubt und eingeweicht; er ist ein Funktionsträger, loyal Daddy gegenüber, unentbehrlich, aber so bedeutungslos im Gesamtgefüge, dem Rhythmus und den unabänderlichen Unterströmungen seiner häuslichen Nische ausgesetzt, aber irgendwie auch behütet; er isst, er trinkt, trinkt seine Milch, schießt in die Höhe, lässt sich ein albernes Schnurrbärtchen wachsen, lernt, sich zu rasieren – seine Arbeit ist unerbittlich, wie kann er da nicht stark werden? Sein Körper ist im Erwachsenendasein angekommen, obwohl sein Gemüt noch etwas hinterherhinkt, manchmal Kind ist, immer bemüht, gebraucht zu werden, mehr als selbst wirklich jemanden zu brauchen. Jede Sommernacht schläft er allein in seinem Zimmer, lauscht den Partys in den Apfelplantagen, jede Winternacht oben, benommen vom Ofen. Bald ist er größer als Mummy, dann als Daddy, obwohl sie es nicht wahrnehmen. Und im Dorf, jeden Sommer, wenn die Hippies kommen, dicht an dicht mit ihnen im Labyrinth der Cafés und Guesthouses bei den heißen Quellen, übt er weiter Englisch, Ajay Streichholzschachtel, der Streichholzjunge, stummer Dienstleister, schweigsamer Clown, allzeit bereit, lernt nun, gegen Provision charas zu beschaffen, für eine Rupie Joints zu drehen, für fünf eine chilam zu stopfen, hat immer ein Tuch zur Hand; dieser Junge, der früher von einem zugedröhnten Deutschen, einem hartgesottenen Israeli, einem japanischen Acid-Freak, einem abgebrannten Engländer verspottet wurde, ist jetzt stark und wachsam und schöner, als er je zu werden das Recht gehabt hat. Aber vor allem ist er stets zu Diensten, zum Entzücken jener, die jeden Frühling zurückkehren und sagen: »Ajay, bist du das? Mein Gott, bist du gewachsen …« Und jene, die ihn vorher so zwanglos herumkommandierten, werden zögerlich und auch besitzergreifend, bemühen sich um seine Gunst. Und jene, die ihn noch nie vorher gesehen haben, möchten ihn gern beeindrucken. Frauen machen Witze darüber, wie gut er aussieht. »Es ist nur eine Frage der Zeit«, sagt eine, und sie lachen einander wissend an. Lustig, wie die Zeit vergeht. Lustig, dieser Körper. Aber Ajay ist nicht so gestrickt. Er ist ohne Arg und weiß, wie angreifbar der Körper sein kann.

Nach und nach erfährt er vom Schicksal der anderen Jungen, derer, die mit ihm in seinem Käfig gereist sind. Einer verlief sich im Wald und wurde von Gott weiß was gefressen, einer ertrank beim Schwimmen, als der Fluss Hochwasser hatte. Vier liefen zusammen weg, nachdem sie ihre Arbeitgeber bestohlen hatten, und von diesen vieren wurden zwei wegen bewaffneten Überfalls und Mordes verurteilt und zwei nachweislich erschossen, bevor sie auch nur das Gefängnis erreichten.

»Und warum läufst du nicht weg?«, fragt Daddy immer, wenn wieder ein Bericht ankommt.

»Weil ich nicht dumm bin«, sagt Ajay.

»Genau. Weil du nicht dumm bist, weil du auch ein guter Junge bist. Sprich mir nach«, sagt er jetzt auf Englisch. »Zu Hause ist es am schönsten.«

Im Laufe der Jahre baut Daddy das große, tiefe, leere Haus aus, renoviert die ungenutzten Räume im unteren Teil, um sie gästetauglich zu machen, jedes Stockwerk nun gestrichen und hell, im Sommer einträglich. Eine weitere Aufgabe: Ajay führt jetzt neben den landwirtschaftlichen Tätigkeiten das Guesthouse, wechselt Bettwäsche, reinigt Zimmer, kocht für die Gäste, übernimmt alle erforderlichen Botengänge.

Manchmal stellen die Ausländer, die hier wohnen, Fragen: Woher kommst du? Wo ist deine Familie? Fährst du nach Hause? Wie ist das Leben in dem Dorf, aus dem du stammst?

Ihnen allen weicht er mit einem schüchternen Lächeln aus.

»Du gehen Schule?«, fragt der ledrig gebräunte Italiener, als Ajay fünfzehn ist.

Ajay schüttelt den Kopf.

»Was machen? Für Lernen?«

»Ich arbeite.« Er lächelt.

»Du vorher in Schule?«

»Als ich klein war.« Er durchdenkt jedes Wort.

»Wann aufhören?«

Schweigen. Ein Achselzucken.

»Seit wann hier?«

Der Italiener verfolgt ihn mit seinen Augen, bleibt hartnäckig, versucht, sich in seinen Geist zu bohren.

»Du kriegen das Geld, nein?« Der Mann macht die universelle Geste, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander, holt zur Verdeutlichung noch einen Zehn-Rupien-Schein heraus. »Geld. Rupien.«

Ajay gibt vor, nicht zu verstehen, kocht weiter.

»Hier, für dich.«

Ajay betrachtet das Geld und lächelt und schüttelt den Kopf.

»Nimm, nimm.«

Scheu nimmt Ajay das Geld an und steckt es in die Tasche.

Der Italiener lehnt sich zurück und beobachtet ihn. »Du nicht kriegen das Geld, nein. Oder?«

Es stimmt. Ajay wurde noch nie bezahlt. Daddy hat ihm gesagt, seine Mutter erhalte jeden Monat seinen Lohn. Er hat keinen Grund, daran zu zweifeln, er glaubt es einfach.

Doch jetzt möchte er die Einzelheiten wissen, so als hörte man jeden Abend dasselbe Märchen.

Eines Nachmittags kurz darauf, auf dem Heimweg vom Bauernhof durch den Wald, hin und wieder auf Daddy wartend, damit der aufholen kann, fragt Ajay leichthin, wie sein Lohn eigentlich zu seiner Mutter ins Dorf gelange.

Daddy schweigt ein Weilchen, als hätte er ihn nicht gehört. Endlich sagt er: »Ich zahle deinen Lohn auf ein Bankkonto ein. Und deine Mutter holt es bei sich wieder raus.«

»Bei einer Bank?«

»Ja.«

»Sie hat eine Bank?«

»Genau. Die in deinem Dorf«, sagt Daddy.

»Die kenne ich nicht.«

»Als du da warst, gab es noch keine. Sie hat gerade erst aufgemacht.«

»Wie hat meine Mutter das Geld vorher gekriegt?«

»Der Mann, der dich hergebracht hat, hat sie bezahlt.«

»Wie viel kriegt sie?«

»Jeden Monat«, erwidert Daddy, »bekommt sie fünfhundert Rupien.«

Ajay überschlägt die Summe im Kopf, errechnet, was sie damit alles kaufen könnte.

Sie laufen weiter. In der Sonne scheinen die Äste Feuer zu fangen. Der süße Duft von Harz erfüllt die Luft.

»Darf ich sie besuchen?«, fragt Ajay.

»Aber natürlich«, sagt Daddy ohne jedes Zögern. »Du kannst fahren, wann du willst.«

»Ich würde sie gern besuchen«, gibt Ajay zurück.

»Aber wenn du fährst«, spricht Daddy weiter, »muss ich dich ersetzen, und du kannst nicht zurückkommen, das ist dir schon klar?«

Die Vorstellung, dass ein anderer Junge seinen Platz einnimmt, flößt ihm Furcht ein.

»Ich kann mich nicht an den Weg nach Hause erinnern«, sagt Ajay schließlich.

Stille.

»Aber darf ich mit ihr telefonieren?«

»Vielleicht«, sagt Daddy, als wäre er auf diese Idee noch nie gekommen. »Hat sie ein Telefon?«

»Weiß ich nicht.«

»Selbst wenn, haben wir ihre Nummer nicht.«

Darüber sinnieren sie beide schweigend.

»Was ist mit den Männern, die mich hergebracht haben?«, sagt Ajay. »Können wir die fragen?«

»Die kommen seit Jahren nicht mehr«, erwidert Daddy. Der Pfad wird breiter, sie kommen an einer zurückgelassenen Maschine vorbei, der Geruch von Rost und altem Öl hängt in der Luft. »Bist du nicht glücklich hier?«

»Doch, bin ich.«

»Du hast alles, was du brauchst. Keinen Hunger, keine Sorgen. Du bist umgeben von Natur.«

»Manchmal denke ich an meine Mutter.«

Daddy seufzt. »Das ist normal.«

»Manchmal träume ich von ihr.«

»Deine Mutter wollte, dass du arbeitest.«

»Manchmal überlege ich, hinterher zurückzugehen.«

»Wann hinterher?«

»Wenn ihr mit mir fertig seid. Ich möchte zurückgehen und ein wichtiger Mann werden.«

»Ach ja?«

»Wenn ich älter bin.«

»Das tut mir leid, dass du weg willst.«

»Ich gehe nicht weg«, sagt Ajay.

Sie treten aus dem Wald und laufen das restliche Stückchen an der Straße entlang.

»Ich mach dir einen Vorschlag«, sagt Daddy in einem liebevollen Tonfall. »Bald erzähle ich dir alles, was ich über deine Mutter und dein Dorf weiß. Und dann kannst du selbst entscheiden, ob du hier wegwillst. Okay?«

»Okay.«

»Du weißt ja, dass niemand dich hier gegen deinen Willen festhält.«

Sie gehen weiter. Der Himmel verändert sich im Tal.

Die Gletscher Richtung Ladakh schmelzen.

»Wann wird das sein?«, fragt Ajay. »Wann erzählst du mir alles?«

Stirnrunzelnd betrachtet Daddy die Wolken.

»Sagen wir mal, nächstes Jahr, wenn du sechzehn wirst.«

Daddy stirbt ein paar Monate später, als sein Mahindra Armada spätabends in einer unübersichtlichen Kurve der Straße von Bhuntar nach Manikaran mit einem Regionalbus zusammenstößt. Sechsundzwanzig Menschen kommen ums Leben. Der Fahrer hatte ein nicht verschreibungspflichtiges Amphetamin genommen; der Fahrkartenkontrolleur war im gleichen Alter wie Ajay.

Daddys Leiche wird am nächsten Tag gefunden, in der Schlucht, zwanzig Meter unterhalb der Unfallstelle in die Äste eines Baums geschmiegt, durchweicht vom Regen, die Gedärme abgewickelt wie ein Kassettenband.