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Als an einem Montagmorgen in einer Großkanzlei zwei Tote entdeckt werden, geht Kommissar Franz Kimbel von einem Fall wie jedem anderen aus – bis er vom Polizeipräsidenten gedrängt wird, am Ende der Woche ein Ermittlungsergebnis zu präsentieren. Pflichtbewusst taucht Kimbel ein, in diese eigene, verschlossene Welt, in der es für einen Anwalt nur einen Weg gibt: er muss Partner werden. Wie bei den Anwälten, zählt auch für Franz Kimbel zunehmend jede Stunde, bis auch er sich entscheiden muss …
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Seitenzahl: 205
Veröffentlichungsjahr: 2018
David Bonavita
Zeit oder Leben
Kriminalroman
© 2018 David Bonavita
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-9160-3
Hardcover:
978-3-7469-9161-0
e-Book:
978-3-7469-9162-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
I. Montag
Zwei Tote
Die Sekretärin
Die Putzfrau
Die Partner
Drei Anrufe
II. Dienstag
Anwalt 1
Anwalt 2
Paul
Anwalt 3
Die Sekretärin des toten Anwalts
III. Mittwoch
Der Aussteiger
Lunch
Der Managing Partner
Der Referendar
Die Spurensicherung
IV. Donnerstag
Paul zum Zweiten
Der Oberpartner
Die Anwältin
Der Alte
Die Tasse
V. Freitag
Spuren
Der Polizeipräsident
Die Staatsanwältin
Wochenende
I. Montag
Zwei Tote
Die Menschen um ihn herum begannen zu rennen und sich jeden Gegenstand über den Kopf zu halten, der ihnen versprach, sie bis zum nächsten Eingang oder Taxi trocken zu halten. Kommissar Franz Kimbel ging, Stufe für Stufe, zu dem Eingang des Hochhauses hinauf.
Nachdem er die Drehtür durchschritten hatte, blieb er stehen und strich sich, während er sich umsah, über die Ärmel seines erdbraunen Cordblazers.
„Kann ich Ihnen helfen?“, hallte eine Stimme durch den Raum, die so klang, als wollte sie dem Kommissar zu verstehen geben, dass er sich in der Tür geirrt habe.
Er tastete mit seinen Blicken den Raum ab, bis er den Kopf einer Schwarzhaarigen mit strengem Pferdeschwanz entdeckte, die gerade so über die Empfangstheke schauen konnte.
„Guten Tag. Mein Name ist Kimbel, ich werde im 18. Stock erwartet.“
Die Dame senkte ihren Kopf und ging offenbar eine Liste durch. „Ich gebe Bescheid, dass Sie da sind“, sagte sie höflich und griff nach dem Telefon, um ein paar Wörter hineinzuflüstern.
Kurz darauf war ein eiliges Tocken zu hören.
„Guten Morgen. Sie sind Herr Kimbel?“, fragte eine etwa dreißigjährige Blondine. „Ich bringe Sie zum Büro.“ Sie drehte sich ohne ein Lächeln um und ging voraus Richtung Aufzug.
Kaum hatte sich die Aufzugstür im 18. Stockwerk geöffnet, trat die Sekretärin hinaus, hielt eine Plastikkarte an eine gläserne Fliese an der Wand, zog die summende Tür auf und wartete auf den Kommissar, der gerade erst den Aufzug verließ.
Sie betraten eine geschäftige Stille. Überall geschlossene Türen; lediglich deren Oberlichter erhellten den Gang. Die Pfennigabsätze der Sekretärin hämmerten auf den aschgrauen Teppichboden ein, dass der Kommissar einen Moment brauchte, um aufzuholen.
„Verzeihung“, brach er das Schweigen, „haben Sie heute Morgen gemeldet, dass ein Anwalt tot aufgefunden wurde, oder war das eine Kollegin von Ihnen?“
„Das war ich.“
„Haben Sie ihn heute Morgen auch gefunden?“ „Ja.“
„Sie waren seine Sekretärin?“ „Ja.“
„Mein aufrichtiges Beileid.“
Sie schwieg.
Das Handy des Kommissars klingelte. Es war seine Geschäftsstelle.
„Verzeihen Sie, einen Moment, bitte“, sagte er an die Sekretärin gewandt, die erst nach ein paar Schritten stehen blieb und die Augen verdrehte.
„Kimbel“, nahm der Kommissar das Telefonat entgegen.
„Morgen, Franz“, war eine weibliche Stimme zu hören. „Hier gingen gerade ein paar Anrufe für dich ein. Es gibt eine Leiche in der Kanzlei Carpenter & Richman. Die sind in dem Hochhaus in der …“
„Weiß ich, bin schon da.“
„Wie? Die Meldung ist doch gerade erst reingekommen!?“
„Mir wurde das vorhin schon mitgeteilt, gegen neun.“
„Vor über einer Stunde? Seltsam. Eine Sekretärin von Carpenter & Richman hat mir eben erst am Telefon gesagt, dass eine Kollegin von ihr tot auf der Toilette …“
„Sekunde! Eine Frau ist tot? Kein Mann?“
„Nein – ich meine: Ja. Eine Frau, eine Sekretärin ist tot.“
„Und ich bin wegen eines toten Anwalts hierher gerufen worden – traumhaft.“
„Und deine Frau hat angerufen. Klang dringend.“
„Die muss jetzt warten. – Wie heißt die tote Sekretärin und wo ist sie?“
„Marlene Schuhmann, in der Herrentoilette im 18. Stock.“
„In der Herrentoilette …“, wiederholte Kimbel, als müsste er es noch einmal hören.
„So wurde es mir gesagt.“
„Und ebenfalls im 18. Stock …“ Der Kommissar hielt inne. „Okay, danke. Kannst du bitte noch ein paar Beamte nachschicken? Und die Staatsanwaltschaft informieren?“
„Da habe ich bereits angerufen. Die wussten schon Bescheid.“
„Ehrlich? Von der toten Sekretärin wussten die schon?“
„Ja.“
„Das finde ich seltsam. Na ja, wen haben wir denn diesmal?“
„Staatsanwältin Dr. Hernicht.“
„Ah, Susann! Gut!“
„Und dann hat noch das Sekretariat des Polizeipräsidenten angerufen.“
„Wie bitte?“
„Der Polizeipräsident wollte dich sprechen.“
„Er wollte mich … Moment: Wann haben die angerufen?“
„Was meinst du damit?“
„Na, wann hat der Polizeipräsident anrufen lassen: bevor oder nachdem der zweite Todesfall gemeldet wurde?“
„Das war – das war davor!“
„Davor? Traumhaft!“ Er legte auf und steckte sein Handy zurück in den Blazer.
Der Kommissar wandte sich wieder an die Sekretärin und machte Anstalten, weiterzusprechen, doch die Blondine stöckelte bereits davon.
Wieder brauchte er ein paar Schritte, um aufzuholen. „Sagen Sie, es gibt eine weitere Leiche hier im 18. Stock?“
„Hab ich erfahren, bevor ich Sie abholen durfte.“
„Und die Leiche ist …“
„Auf der Herrentoilette gegenüber von dem Büro, wo David Brenner gefunden wurde.“
„Herr Brenner, das war Ihr Chef. Richtig?“
„Ja.“
„Wann haben Sie ihn das letzte Mal lebend gesehen?“
„Gestern.“
„Sie haben am Sonntag gearbeitet?“
„Ja.“
Sie bogen um eine Ecke.
„Verzeihung“, fragte der Kommissar nach, „Sie haben am Wochenende gearbeitet und erst am Montagmorgen bemerkt, dass er tot ist?“
„Ja.“
„Okay. Wann, gestern, haben Sie ihn das letzte Mal lebend gesehen?“
„14 Uhr.“
„Ist er zu Ihnen ins Büro gekommen oder waren Sie bei ihm? Oder haben Sie ihn ganz woanders gesehen?“
„Ich habe ihm die Unterschriftenmappe gebracht.“ „Und danach? Hatten Sie danach noch einmal etwas mit ihm zu tun?“
„Gegen 16 Uhr hat er noch eine E-Mail an einen Mandanten geschickt.“
„Sie haben also Zugang zu seinem E-Mail-Account.“
Die Sekretärin nickte.
„Und wann sind Sie gestern nach Hause gegangen?“
„Gegen 18 Uhr“, antwortete sie und ergänzte, dass es sich um eine dringende Sache gehandelt habe.
„Okay, da war er also noch am Leben“, stellte der Kommissar fest.
Die Sekretärin blickte zu ihm und gleich wieder geradeaus. „Das weiß ich nicht.“
„Sie haben sich gestern nicht von ihm verabschiedet, bevor Sie nach Hause sind?“
„Seine Tür war zu.“
„Ja und?“
„Er hat fast immer die Tür offen, wenn er arbeitet. Aber wenn seine Tür zu ist, geht man nicht rein. Man klopft auch nicht.“ Die Sekretärin blieb stehen und sah den Kommissar an. „Glauben Sie mir: Selbst wenn es brennen würde, würden die meisten hier nicht an seine Tür klopfen, wenn sie zu ist.“
„Haben Sie sich abends nie bei ihm verabschiedet?“
Sie tockte weiter. „Das habe ich nur gemacht, als ich gerade angefangen hatte, für ihn zu arbeiten. Das Guten Morgen und Guten Abend, das wollte er nicht. Die erste Zeit habe ich zu Hause viel geweint.“
„Scheint ja ein toller Chef gewesen zu sein“, murmelte Kimbel laut genug, dass die Sekretärin es hören konnte. Sie schien es zu übergehen, indem sie ihre Schritte noch schneller werden ließ.
Sie bogen erneut um eine Ecke. Am Ende des Ganges, nach etwa zehn Türen, die meisten davon geschlossen, standen zwei Polizisten, die sich unterhielten.
Der eine bemerkte den Kommissar und unterbrach das Gespräch. „Morgen, Franz! Der tote Anwalt, Dr. Brenner, ist hier“, er wies auf die geschlossene Tür, vor der sie standen, „und Frau Schuhmann ist da drüben auf der Herrentoilette.“ Er zeigte auf eine Tür im dunkelbraunen Bücherregal schräg gegenüber, die ohne die Klinke wie eine zurückgesetzte Holzwand ausgesehen hätte.
Kimbel nickte. „Die Spurensicherung?“
„Ist auf dem Weg; sollte jeden Moment da sein.“
„Der Notarzt?“
„War schon da. Bei beiden: Todesursache unklar.“
„Temperaturen?“
„Wurden bei beiden schon genommen.“
„Na, das flutscht ja heute.“
Der Kommissar holte ein durchsichtiges Plastikbeutelchen aus seiner Blazertasche, in dem etwas Weißes, Filzartiges wie ein Einstecktuch feinsäuberlich zusammengefaltet war. Er zog den Stoff heraus, schüttelte ihn mit nur einer Hand zu einem Einteiler und zog ihn an. Ebenso flink wie vorsichtig schlüpfte er, jeweils auf einem Bein stehend, in weiße Überstiefel. Schließlich holte er blaue Gummihandschuhe aus der Plastiktüte hervor.
„Wer hat die Tote auf der Toilette entdeckt?“, fragte er, während er seine Hände in das klebrige Latex zwängte.
„Die Putzfrau“, warf die Sekretärin ein.
Der Polizist, mit dem Kimbel gesprochen hatte, sah erst zu ihr, dann zum Kommissar. „Genau. Sie ist noch im Haus und wartet auf dich. Hier schon mal das, was ich von ihr verstehen konnte.“ Er gab dem Kommissar einen Zettel.
„Okay. Danke.“ Kimbel zupfte den Gummi an seinen Händen zurecht. „Dann sehe ich mir jetzt mal den Anwalt an.“
Der Kommissar wandte sich an die Sekretärin des Verstorbenen, die immer noch vor dem Büro von Dr. Brenner stand. „Verzeihen Sie, ich habe Sie noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt, Frau …?“
„Patkovic. Simone Patkovic“, antwortete sie mit einem Lächeln.
„Frau Patkovic, würden Sie bitte hier auf der Schwelle stehen bleiben? Ich habe ein paar Fragen.“
„Ein, zwei Minuten habe ich.“
„Ich fasse mich kurz“, versprach der Kommissar und wandte sich an einen der Polizisten. „Könntest du dich bitte dazustellen?“
Die Sekretärin
Kimbel öffnete die Tür und riss seine linke Armbeuge vor die Nase. Mit jedem Schritt, den er in den Raum weiter hinein ging, nahm er sie wieder etwas herunter. Der tote Anwalt saß mit dem Rücken zur Tür an seinem Schreibtisch.
„Wer“, murmelte Kimbel, „stellt seinen Schreibtisch so, dass er die Tür im Rücken hat? Damit die anderen jederzeit sehen können, ob er arbeitet?“
„Wie bitte?“, fragte Simone Patkovic nach.
„Es gibt da eine Karikatur, die mir gerade eingefallen ist.“ Der Kommissar begann, sich Dr. Brenners Leiche näher anzusehen. „Alle möglichen Tiere, von denen jedes einen Eimer Wasser vor der Brust hält, stehen hintereinander in einer langen Schlange. Sie kommen nur langsam voran. Als einziger neben der Reihe läuft der Skorpion.“ Kimbel ging um den Schreibtisch herum, ohne den Blick von dem Toten zu nehmen. „Er läuft pfeifend in die entgegengesetzte Richtung und trägt den Eimer Wasser auf seinem Kopf.“
„Ja, und?“
Kimbel beendete die Runde und bückte sich vor, um Dr. Brenner über die Schulter schauen zu können.
„Frau Patkovic, warum, glauben Sie, hat er den Tisch so hingestellt und die Tür, wie Sie gesagt haben, meistens offen gelassen?“
„Keine Ahnung.“
„War er der Typ, der nur unter den Argusaugen der anderen arbeiten konnte? Oder wollte er ein Vorbild sein?“
„Ein was? Nein! Dafür ist er, na ja, zu anders.“
Der Kommissar blickte kurz Richtung Tür. „Ist?“
Sie atmete durch. „Er war anders. Er wollte zeigen, dass er mehr arbeitet als alle anderen!“
„Er machte es anders, um es anders zu machen“, murmelte Kimbel vor sich hin und richtete sich auf.
„Wie der Skorpion.“
„Wie bitte?“
„Frau Patkovic“, er wandte sich zögernd um, „wann sind Sie heute Morgen ins Büro gekommen?“
„Um viertel vor neun.“
„Erzählen Sie, der Reihenfolge nach: Als Sie im 18. Stock angekommen sind, was haben Sie da gemacht?“
„Ich bin in mein Büro.“
„Und dann?“
„Dann bin ich wie jeden Morgen in seins.“
„Warum?“
„Wegen der Unterschriftenmappe.“
„Ah, okay. Und seine Tür war offen?“
„Äh, nein, die war zu.“
„Ach ja, richtig. Warum sind Sie dann rein?“
„Die Deckenlampe war an, wie ich am Oberlicht über der Tür gesehen habe. Das hat mich stutzig gemacht.“
„Stutzig?“
„Normalerweise kommt er erst um halb zehn, wissen Sie. Also habe ich geklopft und langsam die Tür etwas geöffnet. Es roch nach Urin und Erbrochenem. Wie jetzt. Und er saß da, wie er jetzt da sitzt: zum Schreibtisch gedreht, Kopf angelehnt, die Arme seitlich abgelegt …“
„Hat er die Brille immer getragen, wenn er am Schreibtisch saß, oder hat er sie abgenommen?“
„Verzeihung, wie bitte?“
„Ich meine, weil er sie noch auf hat.“
„Ach so. Äh, also ich habe ihn nie ohne Brille gesehen.“ Die Sekretärin spitzte auf ihre Armbanduhr.
„Nie ohne … Hm …“, Kimbel blickte zu dem Toten. „Okay“, wandte er sich an die beiden Polizisten, „ich möchte einen Beamten die Nacht über hier haben.“ Er drehte sich wieder zu der Sekretärin: „Frau Patkovic, Sie sagten, Sie haben geklopft und die Tür geöffnet. Was haben Sie dann gemacht?“
„Ich habe vorsichtig gefragt, ob ich störe. Keine Antwort. Also bin ich rein, habe seinen offenen Mund gesehen, die leicht offenen Augen, und, na ja, dass er so war wie jetzt, so besudelt.“
„Sie beschreiben das so nüchtern. Mochten Sie ihn nicht?“
Die Sekretärin überlegte kurz. „Es gibt angenehmere Chefs.“
Der Kommissar nickte und ließ seinen Blick mit zusammengekniffenen Augen über den Schreibtisch des Verstorbenen wandern: Bücher, alle aufgeschlagen, einzelne Blätter und kleine Papierstapel, alles neben-, unter- und übereinander; das Telefon auf einem armbreiten Stapel geöffneter Briefe. Er sah sich weiter um und ging auf das Bücherregal zu, das links neben dem Schreibtisch stand. Es hatte noch Platz für gut zwei Dutzend Aktenordner; sie befanden sich rechts vom Schreibtisch auf dem Boden, bündig nebeneinander an die Wand geschoben.
„So unangenehm, dass Sie kündigen wollten?“
„Am Anfang: Ja! Zwischenzeitlich, nach über drei Jahren, habe ich mich damit arrangiert.“
Kimbel stellte sich neben den Schreibtisch. „War er beliebt?“
Die Sekretärin zuckte mit den Schultern. „Wenn jemand mit ihm etwas zu tun hatte, dann nur flüchtig. Den Meisten hier ist er egal, glaub ich. Aber da müssen Sie die anderen Anwälte fragen, was die von ihm halten. Hier bleiben die Meisten doch unter ihresgleichen, wissen Sie.“
Der Kommissar stützte seinen rechten Ellbogen auf dem linken Unterarm ab, strich sich über den Dreitagebart und starrte auf den Toten.
„Brauchen Sie mich noch?“, fragte Frau Patkovic vorsichtig.
Als hätte Kimbel sie nicht gehört, wanderte sein Blick wieder über den Schreibtisch. „Sie haben vorhin gesagt, es sei etwas Dringendes gewesen, weswegen er Sie am Wochenende gebraucht hat. Was war denn so wichtig?“
„Ein Strafverfahren, in dem die Frist für eine Stellungnahme bis zum heutigen Montag gesetzt wurde. Der Mandant hatte versucht, die Sache selbst zu klären, und kam erst am Freitag auf die Idee, dass es vielleicht doch besser wäre, einen Anwalt einzuschalten.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Sonst noch etwas?“
„Haben Sie hier etwas angefasst, mitgenommen, hergebracht, seitdem Sie ihn gefunden haben?“
„Nur die Unterschriftenmappe. Die wollte ich ja mitnehmen, so wie jeden Morgen. Ich hatte sie schon in der Hand, als ich seinen Tod bemerkt habe. Ich habe sie aber gleich wieder hingelegt und die Polizei gerufen.“
Der Kommissar sah sie an und kniff die Augen zusammen.
„Ah, die Spurensicherung“, sagte Kimbel an der Sekretärin vorbei zu drei Männern in weißen Schutzanzügen, „hier ist der Anwalt, meine Herren. Die tote Sekretärin ist auf der Herrentoilette schräg gegenüber.“
Die drei nickten, wobei das Nicken mehr dem Schutzanzug des Kommissars als ihm selbst zu gelten schien.
„Ich komme auch gleich rüber“, fuhr Kimbel fort, „aber warten Sie bitte noch einen Moment.“ Er wandte sich wieder an die Sekretärin. „Frau Patkovic, wenn Sie bitte den Herren der Spurensicherung vorher noch mitteilen könnten, was Sie mir gerade gesagt haben. Also, was Sie angefasst, hergebracht oder mitgenommen haben. Und wenn Sie bitte die Herren auch gleich Ihre Fingerabdrücke abnehmen lassen könnten, das wäre gut.“
Sie nickte wortlos.
Die Putzfrau
Mit verschränkten Armen stand der Kommissar vor der hintersten der drei weiß gefliesten Kabinen der Herrentoilette und betrachtete die tote Sekretärin. Wie eine Plastik saß Marlene Schuhmann auf dem Boden, umgeben von Erbrochenem. Ihr Rücken war links neben dem Toilettensitz an die Wand gelehnt, ihr Kopf ruhte zur Tür gedreht auf der rechten Schulter.
„Was für eine Verschwendung!“, sprach Kimbel zu sich selbst. Er öffnete seinen Schutzanzug, holte einen handgroßen Notizblock aus der Innentasche seines Blazers und schrieb auf: Tote Sekretärin: Keine Anzeichen für Gewalt – Leiche hierher gebracht unwahrscheinlich (Risiko, gesehen zu werden), also freiwillig?! – Warum nicht Damentoilette (um die Ecke, ca. zehn Meter entfernt)? Notfall? Jemanden getroffen? Nähe zum Büro des toten Anwalts!
„Franz“, brummte ein Mann der Spurensicherung in Kimbels Gedanken hinein, „die Putzfrau wartet.“
„Ich komme“, rief der Kommissar und überflog auf dem Weg zur Tür den Zettel, den ihm der Polizeibeamte vorhin gegeben hatte: Name unverständlich; etwa dreißig; aus Sri Lanka; seit drei Jahren Putzfrau in der Kanzlei; schickt Geld nach Hause zu ihren Eltern und ihren Kindern; spricht gebrochen Deutsch.
Eine kleine, schwarzhaarige Frau wartete auf ihn. Er reichte ihr die Hand, doch sie starrte an ihm vorbei in den weiß gefliesten Raum hinter seinem Rücken. Jede ihrer Hände begann Halt an der jeweils anderen zu suchen.
„Kommen Sie“, sagte Kimbel, legte ihr eine Hand auf den Rücken und schob sie in ein Zimmer schräg gegenüber der Herrentoilette. Wortlos wies er auf einen Stuhl vor einem frei stehenden Schreibtisch und ging selbst auf die andere Seite des Tisches.
Die Putzfrau blieb stehen.
„Schon in Ordnung“, versuchte Kimbel sie zu beruhigen, „setzen Sie sich ruhig.“
Zögerlich nahm sie auf der vorderen Stuhlkante Platz. Ihre Hände suchten unter der Tischplatte weiterhin aneinander Halt, wie ihre unruhigen Arme verrieten.
„Es ist alles in Ordnung. Sie haben alles richtig gemacht. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Die Putzfrau zögerte mit einer Antwort.
„Gut, ich hole Ihnen einen Kaffee. Einen Moment, bitte.“ Kimbel verließ den Raum und kam kurz darauf mit einer dampfenden Tasse zurück. Er stellte das weiße Porzellan auf den Tisch und schob sie zur Putzfrau hinüber. Ihr Blick sprang zwischen Tasse und Kommissar hin und her. Er schob ihr den Kaffee noch etwas näher hin und nickte ihr zu. Endlich griff sie mit beiden Händen zu und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck.
„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen“, begann der Kommissar mit langsamen Worten. „Sie haben die tote Sekretärin entdeckt?“
„Ja.“
„Wann haben Sie sie entdeckt?“
„Meinen Uhr?“
„Ja.“
„Ohh, senn.“
„Um zehn?“
„Ja, senn.“
„Sie haben die Toiletten sauber gemacht. Richtig?“
Die Putzfrau nickte mit etwas Verzögerung.
„Werden die Toiletten immer morgens geputzt?“
„Montag imme acht füh saube mache. Wocheend schmutzig.“
„Ah, verstehe. Am Montag werden die Toiletten immer in der Früh sauber gemacht, weil sie am Wochenende überhaupt nicht sauber gemacht werden. Richtig?“
Die Putzfrau nickte wieder.
„Sie haben die Tote um zehn Uhr entdeckt.“
„Senn Uhr ich entdeckt, ja.“
„Aber die Toiletten werden immer um acht Uhr sauber gemacht.“
„Acht Uhr ich saube mache.“
„Um acht Uhr haben Sie die Herrentoilette sauber gemacht und zwei Stunden später haben Sie die tote Sekretärin entdeckt?“
Die Putzfrau hielt mit beiden Händen die Tasse fest. „Ja.“
„Warum haben Sie die tote Sekretärin zwei Stunden später entdeckt?“
„Ja.“
Der Kommissar schloss seine Augen und atmete durch. „Um acht Uhr haben Sie angefangen. Zwei Stunden für eine einzige Toilette?“
„Ah. Nein. Ich andere Toilette putze. Frauetoilette in achsennte und neunsennte Stock. Dann Erretoilette fertig putze.“
„Aha. Sie haben also die Herrentoilette hier im 18. Stock geputzt, dann haben Sie woanders geputzt und sind danach zurück, um die erste fertig zu putzen.“
„Ja.“
„Warum?“
Die Putzfrau sah den Kommissar mit gerunzelter Stirn an.
„Warum sind Sie später wieder gekommen?“, fragte Kimbel nach.
„Kabine zu. Ich warte, dann andere Toilette putze.“
„Verstehe. Die hintere Toilettenkabine war besetzt. Richtig?“
Die Putzfrau nickte.
„Also sind Sie später wieder gekommen.“
„Ja. Toilette wieder besetzt. Ich warte. Ich klopfe. Nix. Klopfe noch mal. Nix. Ich öffne.“
„Und dann?“
„Tür schwer auf. Ich drücke. Da liege …“ Die Putzfrau wurde kurz starr, nahm dann einen großen Schluck Kaffee und stellte die Tasse wieder ab, ohne sie jedoch loszulassen. Erst, als sie wieder den Kommissar ansah, nahm sie ihre Hände vom Tisch.
„Ich nix mache. Nur putze.“
„Ich glaube Ihnen.“
Gleich nachdem die Putzfrau gegangen war, schloss Kimbel die Bürotür und drückte auf eine Kurzwahltaste.
Eine sanfte, weibliche Stimme meldete sich: „Hernicht.“
„Hallo Susann. Franz hier. Du, ich bin gerade in der Kanzlei Carpenter & Richman. Mir wurde gesagt, dass du für diesen Fall zuständig bist.“
„Bin ich.“
„Du weißt schon grob, um was es geht?“
„Ja. Hat sich der Arzt die beiden Toten schon angeschaut?“
„Todesursache unklar.“
„Bei beiden?“
„Ja!“
„Also Leichenschau. Ordne ich an, Franz.“
„Danke.“ Er hielt kurz inne. „Susann, der Anwalt hatte seine Brille noch auf!“
„Du meinst, die beiden wurden …“ Sie ließ den Satz offen.
„Ja!“
„Franz, bitte halte …“ Die Verbindung brach ab.
Kimbel drückte auf Wahlwiederholung – besetzt. Er versuchte es noch einmal – ohne Erfolg.
Sein Magen knurrte Punkt 13 Uhr. Kimbel stieg aus dem Schutzanzug und machte sich auf den Weg zum Lift.
Auf halbem Weg ertönte hinter ihm ein schnell lauter werdendes Tocken. „Herr Kimbel? Herr Kimbel!“, rief ihm jemand hinterher.
Er drehte sich um und wartete, bis die Sekretärin des toten Anwalts vor ihm stand.
„Sie wollen in die Mittagspause?“, fragte sie atemlos. „Könnten Sie bitte kurz mit mir kommen?“ Sie zwinkerte. „Die Partner haben sich oben im Besprechungssaal versammelt und würden gerne mit Ihnen sprechen.“
„Na klar doch. Um 13 Uhr ist die Mittagszeit ja auch schon lange vorbei.“
„Wie bitte?“
„Ach nichts“, antwortete der Kommissar und bat Simone Patkovic mit einer Handbewegung vorauszugehen.
Kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, fiel Kimbels Blick auf ihren Po, der in einem dunkelgrauen Hosenanzug vor ihm hin und her tänzelte. Plötzlich blieb sie stehen und räusperte sich. Kimbel riss seinen Blick nach oben. Sie lächelte ihn über die Schulter an, als ob nichts gewesen wäre, und ging, nicht mehr ganz so schnell, weiter, um einen Aufzug nach oben anzufordern.
Die Partner
Die Sekretärin tockte über weißen Marmor geradeaus zu zwei deckenhohen Flügeltüren. „Bitte schön, Herr Kimbel“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.
„Danke schön, Frau Patkovic“, erwiderte er, ebenfalls mit einem Zwinkern, und betrat einen mit hellem Holz vertäfelten Raum.
Von einer Seite drängte sich das Licht eines grauen Tages durch die gut fünf Meter hohe Fensterfront. Gleich rechts neben dem Eingang stand wie ausgestellt ein aufgeklappter, fast drei Meter langer Konzertflügel von Steinway & Sons. Mitten durch den Saal zog sich ein schwarzer Tisch, an den ebenso schwarze Stühle wie Soldaten herangeschoben waren.
Etwa vierzig Herren standen am anderen Ende des Raumes in mehreren Grüppchen beieinander. Grauhaarige Männer unterhielten sich. Daneben hatten sich überwiegend Grauhaarige und eine Frau mit noch blondem Haar versammelt. Sie alle lachten. Andere mit vollem Haar schienen sich lautlos miteinander zu unterhalten. Ein paar dunkelhaarige Anwälte hatten einen Halbkreis gebildet und tranken abwechselnd aus ihren Tassen, als hätten sie vorher vereinbart, sich immer nur verstohlen zu beäugen, ohne sich wirklich in die Augen zu sehen. Weitere sieben Männer schienen nur beieinander zu stehen, um auch zu einer Gruppe zu gehören. Die übrigen Partner, darunter eine Frau, standen allein oder zu zweit, den Kopf auf das Mobiltelefon gesenkt.
„Ah, Herr Kommissar“, ergriff ein braunhaariger Mann aus der überwiegend grauhaarigen Gruppe das Wort, die soeben noch gelacht hatte, und ging mit ausgestreckter Hand auf Kimbel zu. „Sie können gehen“, sagte der Partner am Kommissar vorbei zu Frau Patkovic, ohne die Sekretärin eines Blickes zu würdigen, und wartete, bis sie die Flügeltüren geschlossen hatte. „Nun, Herr Kommissar, danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Thomas ist mein Name, Dr. Thomas.“
„Kimbel.“
Dr. Thomas nickte. „Herr Kommissar, ich habe diese Versammlung kurzfristig einberufen. Das ist eine ganz furchtbare Geschichte für unsere Kanzlei. Wir müssen das so schnell wie möglich über die Bühne bringen.“
Der Kommissar nahm die Visitenkarte des Anwalts entgegen und sah sie sich an.
„Egal, was Sie brauchen, rufen Sie mich an.“ Dr. Thomas legte Kimbel eine Hand auf den Rücken und drehte sich mit ihm zum Konferenztisch. Die Anwälte saßen bereits.
„Es ist eine äußerst – bedauerliche Situation“, sagte Dr. Thomas an die Runde gewandt. „Wir haben mit unserem lieben Kollegen David Brenner einen herausragenden Anwalt und einen tollen Freund verloren.“ Er presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf. „Wir hatten keine Ahnung, dass er psychisch so labil war, dass er … Sie wissen schon, Herr Kommissar. Sagen Sie, um das alles so schnell und so leise wie möglich aufzuklären, wie lange glauben Sie, werden Sie brauchen?“
„Wenn eine Fremdeinwirkung vorliegen sollte, können die Ermittlungen länger dauern.“
„Wie meinen Sie das?“
„So, wie ich es gesagt habe.“
„Wollen Sie unterstellen, einer von uns wäre zu einem … zu so etwas in der Lage?“, fragte Dr. Thomas empört nach.
„Zum jetzigen Zeitpunkt ist es zu früh, um irgendetwas sagen zu können“, erwiderte Kimbel ruhig.
Dr. Thomas atmete durch. „Wie“, sprach er gefasst weiter, „können wir Ihnen helfen?“
Der Kommissar blickte in die Runde der still da sitzenden Anwälte. „Eine Liste mit allen Personen, die am Wochenende in der Kanzlei waren, ihre Anwesenheitszeiten laut ihren Schlüsselkarten, wenn das gespeichert wird, und ihre Personalakten.“
„Bekommen Sie! Was noch?“
„Aufnahmen von den Sicherheitskameras im 18. Stock, wenn es da welche gibt.“
„So etwas“, Dr. Thomas schien ein Lachen zu unterdrücken, „haben wir im Bürobereich bestimmt nicht!“
„Okay. Können Sie mir …“
„Für Gespräche, Herr Kommissar, die Sie mit unseren Mitarbeitern führen wollen, stellen wir Ihnen das Referendarszimmer zur Verfügung. Der Raum ist gegenüber von der Herrentoilette, in der die Sekretärin gefunden wurde; der Bereich ist ohnehin von Ihnen abgesperrt worden.“
„Danke, aber Befragungen führen wir auf dem Präsidium durch.“