Zeit, sich aus dem Staub zu machen - Andrea Petković - E-Book

Zeit, sich aus dem Staub zu machen E-Book

Andrea Petković

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Beschreibung

Andrea Petković ist einem breiten Publikum nicht nur als Weltklasse-Tennisspielerin bekannt, mit ihrem Debüt »Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht« hat sie sich auch als neue Stimme in der Literaturszene etabliert. In ihrem aktuellen Buch verarbeitet sie den großen Bruch in ihrem Leben: den Ausstieg aus dem Profisport. Und geht dabei existenziellen Fragen auf den Grund, die sich uns allen angesichts großer Veränderungen im Leben stellen. Wer ist man, wenn man das zurücklässt, dem man sein ganzes Leben gewidmet hat? Wie sich neuerfinden? Und wie vor allem weiß man, dass es Zeit ist für diesen lebensverändernden Einschnitt? »Zeit, sich aus dem Staub zu machen« erzählt literarisch stark verdichtet von einem Lebensereignis, das sich mal anfühlt wie der harte Ausstieg aus einer Sucht, mal wie ein schmerzlicher Abschied von dem Alltag, wie man ihn nicht anders kannte, mal wie der lustvolle Beginn eines neuen Lebens jenseits der Zwänge des Profisports. Ein Schritt, der für Andrea Petković exemplarisch ist für die großen Abschiede und Transformationen, die es in einem Leben zu bewältigen gilt.

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Seitenzahl: 242

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Andrea Petković

Zeit, sich aus dem Staub zu machen

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Andrea Petković

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September I

September II

Oktober

November

Dezember

Dank

Inhaltsverzeichnis

»Denn alles, was entsteht,

Ist wert, dass es zugrunde geht;

Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.«

Johann Wolfgang von Goethe

»Do not go gentle into that good night.

Rage, rage against the dying of the light.«

Dylan Thomas

Inhaltsverzeichnis

Januar

Es ist kalt. Australien im Sommer. Die Welt spielt verrückt. Ein Flugzeug, ein Rollfeld, dunkelgraue Wolken am Horizont. Ich stehe oben, die Flugzeugtreppe vor mir, gucke in die Landschaft, gucke ins Nichts. Hinter mir Tennisspielerinnen, vor mir Tennisspielerinnen. Eine der Chinesinnen hat die gleiche Handtasche wie ich.

Es ist verwirrend. Wir stehen mitten auf dem Rollfeld. Kein Flughafen zu sehen, keine Terminals, keine Gates. Weit und breit nichts als goldbraune, hügelige Felder, das hohe Gras wiegt sich im Wind. Ich folge den anderen, dumpf und übermüdet. Etwa 200 Meter entfernt steht ein niedriges Lagergebäude, daneben ein dreckiges weißes Zelt. Ich trotte gen Zelt, in einer Horde an Tennisspielerinnen, irgendwo in meiner Nähe, vielleicht hinter mir, spüre ich Jesse. Ich ziehe meine Maske über die Nase und rufe meiner chinesischen Kollegin die Marke unserer gemeinsamen Tasche zu, als wäre es ein Codewort, um in einen geheimen Club reinzukommen. Sie hat eine grüne Strähne im Haar, ist knapp acht Jahre jünger als ich, und ich fühle mich kurzzeitig, als hätte ich das mit der Jugend total kapiert.

Menschen in voller Schutzausrüstung säumen den Gang, den wir entlanglaufen, und grüßen nur, wenn man zuerst grüßt. Die unförmigen Overalls sind milchig-weiß, gesichtslose, planetenlose Astronauten stecken darin, stecken fest auf Erden. Im Zelt noch mehr von ihnen. Sie sind aufgeteilt in drei Stationen.

An der ersten müssen wir unseren Pass vorzeigen sowie die Ausnahmegenehmigung der australischen Regierung, die wir für diesen Besuch bekommen haben. Bei der Frage nach Covid-19-Symptomen schütteln wir den Kopf. An der zweiten Station erhalten wir unser Gepäck, und jede Dritte von uns wird zur Seite gebeten und von einem Menschen und zwei Hunden umstellt. Die Hunde betrachten die Koffer, als enthielten sie Knochen. Ich beantworte Fragen nach mitgebrachten Nahrungsmitteln, nach Obst und Nüssen, nach Setzlingen und Kräutern, rohem Fleisch und ganzen Hühnern. Ich frage mich in der Annahme, dass es die Präzedenzfälle rohes Fleisch oder Setzlinge oder ganze Hühner im Koffer schon gab, ob man das rohe Fleisch am Boden der Tasche aufbewahrt oder zwischen die Klamotten schiebt, um einen Puffer zu haben. Ich lüge, dass ich nichts dabeihabe, öffne offensiv alles, was ich greifen kann, klemme nur die Doppelgänger-Handtasche fest unter meine Achsel, die gut gefüllte Macadamia-Packung vor meinem inneren Auge immer größer werdend. Einer der Hunde riecht mit feuchter Schnauze an meinen Turnschuhen. Hinter der Schutzausrüstung kann ich keine Augen erkennen, aber der Trick funktioniert, und ich werde durchgewinkt. Die Hunde schauen mir enttäuscht hinterher. Später finde ich noch einen Apfel und Datteln in meiner Handtasche. Das ist Leben am Abgrund.

An der dritten Station geben wir mit unseren Unterschriften in zwanzig Dokumenten unsere Menschenrechte ab. Nehme ich an. Ich starre auf die Blätter und Zettel, die Mahnungen und Warnungen, was ich darf und nicht darf, vor allem, was ich nicht darf, und unternehme den Versuch zu verstehen, was ich da unterschreibe. Aber eigentlich ist es mir egal, was draufsteht, solange ich nur wieder Tennis spielen kann. Gegen meine Kolleginnen, vorzugsweise gewinnend, nein: triumphierend, aber vor allem mit Schiedsrichtern, Ballkindern, Offiziellen, Preisgeld, Weltranglistenpunkten, Tränen und allem anderen, was zu einem echten Tennismatch dazugehört.

 

Ich falle erschlagen in den Bus, der uns ins Hotel bringen wird. Menschenrechte abgeben ist anstrengend. Vielleicht war es auch der vierzehn Stunden dauernde Flug.

Jesse telefoniert mit seinen Eltern in Amerika. Er kommt nicht über das Detention-Notice-Papier hinweg, das wir als Allererstes in die Hand gedrückt bekommen haben. In den USA geht es nach einer »Detention Notice« direkt ins Gefängnis, aber geht es in den USA nicht irgendwie immer direkt ins Gefängnis? Jesses Locken wiegen und zucken, dunkle Schatten umranden seine Augen. Ihr Grün ist heute konturlos, fahl, ins Bräunliche gehend. Mir macht das Wort Detention Notice keine Angst. Zwei Wochen Quarantäne mit fünf Stunden Ausgang am Tag fürs Training klingen für mich nach Urlaub statt nach Gefängnis. Wenn man ein obsessives Verhältnis zu seiner Arbeit und eine sensible Leitung zwischen Nicht-Arbeit und schlechtem Gewissen hat, dann sind folgende Sachen als Urlaub zu bewerten:

Lange Flugreisen.

Quarantäne.

Krankenhausaufenthalte.

Im vorangegangenen Jahr war mein Leben von lauter kleinen Urlauben durchzogen gewesen.

 

Der Bus setzt sich in Bewegung. Mir ist ein bisschen schlecht von den vielen Kurven. Es hilft nicht, dass ich hinten sitze. Wir sind mitten im Nirgendwo. Ich schließe die Augen. Mein schwindendes Bewusstsein empfängt Gesprächsfetzen aus der Ferne.

»… ungewöhnlich kalter Sommer in Australien … ja, ich kann mich nicht erinnern, jemals so wenig am Strand gewesen zu sein …«

»… draußen ist alles normal, genau, nur in manchen Restaurants muss man Masken tragen, aber auch nur auf freiwilliger Basis …«

»… keine Ahnung, warum, es ist seltsam, ständig bewölkt, ja …«

»… ich wette mit dir, dass Tom Brady es in den Superbowl schafft. Na ja, wäre schon krass in dem Alter …«

Ich öffne noch mal die Augen und sehe ein paar Kängurus in den vorbeiziehenden braunen Gräsern dösen und denke: wie klischeehaft, bevor ich selbst einschlafe.

 

Der Stillstand des Busses und Blaulicht von draußen wecken mich. Vier Polizeiwagen parken hintereinander vor dem Grand Hyatt. Fernsehkameras und Scheinwerfer stehen dazwischen, Reporter mit Sportsakkos und Frauen in fernsehbunten Kleidern und künstlich gewellten Haaren mit Mikrofonen in der Hand. Melbournes gesamte Presse hat sich versammelt, um ein paar Bilder davon zu machen, wie knapp hundert übermüdete Tennisspielerinnen und Tennisspieler mit ihren Taschen ins Hotel marschieren. Wie eine militärische Spezialeinheit, die bereit ist, in den Kampf zu gehen, ziehen sie sich allesamt simultan die Kapuzen über den Kopf, bevor sie aus dem Bus steigen. Meine Helmut-Lang-Lederjacke hat keine Kapuze wegen Fashion und so, deswegen ziehe ich nur meine Schultern hoch und meine Maske höher in die Augen, bis sie tränen, und wende meinen Kopf ab, als ich das Fernsehlicht auf meinem Gesicht spüre. Direkt am Eingang empfange ich meine Hotelkarte, desinfiziere dreimal meine Hände, einmal so, dass die Kameras es sehen, warte auf Jesse, steige in den Aufzug, laufe einen langen teppichgepolsterten, sanft beleuchteten Hotelgang entlang, stehe vor Zimmer 2506, öffne die Tür, hinein in die gute Stube, noch schnell Jesse reinziehen, die Tür fällt hinter uns zu, und wir sind da. 2506. Unser Zuhause für die nächsten vierzehn Tage. Dreißig Quadratmeter, ein Bad, keine zu öffnenden Fenster. May the detention begin.

*

Um fünf Uhr morgens klopft es an der Tür. Zwei vermummte Gestalten stehen im Gang vor unserem Zimmer. PCR-Test. Ein Wattestäbchen kommt auf mich zu, entnimmt mir den Rest des noch funktionierenden Gehirns und etwas Spucke und verschwindet in einem Röhrchen mit meinem Namen drauf. Jesse steht neben mir und wartet darauf, ebenfalls getestet zu werden.

»Player Support Team?«

Jesse nickt.

Ich werfe »More like Player Hindrance Team!« ein und finde mich für fünf Uhr morgens wahnsinnig witzig. Draußen ist es dunkel. Die Gestalten verschwinden. Jesse schnieft und flucht.

Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon. Obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist, einen PCR-Test in einer halben Stunde auszuwerten (damals jedenfalls war es unmöglich), rutscht mir das Herz in die Hose. Ich bin mir sicher, dass ich positiv getestet wurde – das war’s, alles umsonst, alles für die Katz, ich werde des Landes verwiesen werden. Aber das australische Gesundheitsamt erkundigt sich bloß nach unserem physischen und psychischen Wohlbefinden. Wie aufmerksam.

Es wird die nächsten vierzehn Tage so gehen. Jeden Tag: der PCR-Test zu den willkürlichsten Tageszeiten und eine halbe Stunde später der Anruf des Gesundheitsamtes. Noch am vierzehnten Tag, an dem die Wahrscheinlichkeit in Prozent, das Virus ausgebrütet zu haben, bei exakt null liegt, rutscht mir beim Klingeln des Telefons das Herz in die Hose, und ich bin überzeugt, dass ich positiv getestet wurde.

An diesem ersten Tag lege ich mich zurück ins Bett und wandele zwischen Wachsein und Traumlandschaften, in denen ich in einer weiten weißen Leere, umgeben von gesichtslosen Astronauten, zu ersticken meine.

*

Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, für etwas Einordnung zu sorgen. Das Jahr 2021 sollte nach fünfzehn Jahren auf der Tour, dem Wanderzirkus des professionellen Tennis, und vielen Jahren vorbereitenden Trainings darauf mein letztes Jahr als professionelle Tennisspielerin werden. Ich würde einen Sport hinter mir lassen, der mir dabei geholfen hatte, mein gesamtes jetziges Leben aufzubauen. Einen Sport, der jeden meiner Atemzüge, jede Nacht meines Schlafes, jede meiner Mahlzeiten durchdrang, mich bestimmte, mich dominierte, mich strukturierte. Einen Sport, der stets für mich entschied, wo ich wann zu sein hatte. Um das letzte Jahr zum besten Jahr zu machen, hatte ich sechs Wochen geschuftet, jeden Tag wie besessen Yoga betrieben, war bei Minusgraden im Wald Intervalle gerannt, um fünf Uhr morgens aufgestanden, um die Tennishalle am frühen Morgen für mich zu haben, und war abends nach neun noch mal da, um Aufschläge zu machen. Ich hatte ausschließlich Früchte, Salate, Kräuter, grüne Säfte und mageres Fleisch gegessen. Ich hatte mein Bestmögliches getan, um zu verdrängen, dass es möglicherweise das letzte Mal in meinem Leben war, dass ich mich auf eine neue Tennissaison vorbereitete. Mit zwei Masken über Mund und Nase und beiden Händen im Schoß, um keine Freiflächen zu berühren, war ich nach Dubai geflogen. Ich hatte dort vor jedem Training mit anderen Spielerinnen Lampenfieber gehabt wie vor einem Match, weil ich nach einem Jahr Pandemie nicht mehr wusste, wo ich stehe. Und ich hatte schließlich einen Flug aus Abu Dhabi genommen mit knapp siebzig anderen Tennisspielerinnen, viele von ihnen ein Jahrzehnt jünger als ich, hatte mich tapfer an meinem Buch festgehalten und in meiner Lederjacke ausgeharrt, während ich sie heimlich und voller Neid dabei beobachtet hatte, wie sie durch Instagram und TikTok scrollten und dabei die Zeit ihres Lebens zu haben schienen. Noch einmal Schullandheim, noch einmal Ausflug mit allen zusammen, sich noch einmal mit den anderen vergleichen. Norman Mailer in meinem Schoß hatte mich finster angeschaut. Das Buch. Alles andere wäre unheimlich, scheint ihm aber ähnlich, dem Schuft.

Spoiler Alert: Es sollte nicht das letzte Jahr meiner Karriere werden. Ich sollte noch ein Turnier in diesem Jahr gewinnen. Ich sollte noch mal zu den Besten der Weltrangliste vordringen. Ich sollte noch mal meinen, dass ich den Alterungsprozess transzendiert hatte. Ich sollte denken, dass ich das Leben begriffen hatte und dass Dinge, die man liebte, wenn man sie nur stark genug liebte, niemals zu Ende gingen. Und ich sollte mich täuschen. Aber das kommt ein Jahr später. Im Januar 2021 denke ich, dass es erst der Anfang ist, nicht wissend, dass es das letzte Hurra einer Sterbenden ist.

*

Es wird Zeit aufzustehen. Es ist zwölf Uhr mittags. Jetlag und ein Tag ohne Struktur, ohne Ortswechsel lassen den Sinn für Zeit schwinden. Nach dem Test wurde noch dreimal an die Tür geklopft. Frühstück, Mittagessen, ein Obstkorb, der fast ausschließlich aus Bananen besteht. Ich sitze in der Sofaecke. Die ganze Einrichtung des Zimmers ist in beigebraunen Farbtönen gehalten, diskret, unverbindlich, unaufdringlich, tut keinem weh. Aus unserem Panoramafenster gucke ich über die Hochhäuser Melbournes. Wir sind auf der Seite, wo der Ausblick stoisch urban ist, dystopisch, eine stehen gebliebene Zukunft. Der Yarra River liegt hinter uns. Licht reflektierende Oberflächen, Werbebanner, Leuchtreklamen, Metallschluchten, moderne anthrazitfarbene Türme, die den Himmel jagen, aber nicht ganz erlegen, denn ich war gerade in Dubai, und dort können die vielleicht Türme bauen.

Jesse hat Kaffee gemacht. Er hat Wasser aufgekocht, ein Päckchen lösliches Kaffeepulver in braune Pappbecher geschüttet und mit heißem Wasser übergossen. Er beschwert sich bei jedem Schluck, wie grässlich es schmeckt. Dass er die zwei Wochen Quarantäne auf sich nimmt, um bei mir zu sein, empfinde ich als Liebesbeweis. Dass er löslichen Kaffee trinkt, als Heiratsantrag. Ich sage nichts, nippe, finde den Geschmack nicht so schlimm und schäle eine Banane. Heute scheint die Sonne. Sie steht mittags direkt vor unserem Fenster.

*

Um fünfzehn Uhr am ersten Tag der vierzehntägigen Quarantäne für Tennisspieler und Tennisspielerinnen vor den Australian Open ist der Plan des australischen Tennisverbandes, über tausend von uns aus allen Herren Ländern während einer Pandemie per Charterflug einzufliegen und streng abgeschottet während der verpflichtenden Quarantäne trotzdem trainieren zu lassen, grandios gescheitert. Auf drei der siebzehn Flüge sind Reisende positiv getestet worden. Die Regierung verbannt alle Passagiere der betroffenen Flugzeuge in harte Quarantäne. Craig Tiley, der Turnierdirektor der Australian Open, ein mächtiger Mann in der Tenniswelt, hatte es irgendwie geschafft, mit der australischen Regierung fünf Stunden Ausgang am Tag für die Spieler und Spielerinnen zu verhandeln. Zwei Stunden Tennis, neunzig Minuten Gym, eine Stunde Nahrungszuführung und eine halbe Stunde für die An- und Abreise zur Anlage. Die 130 Personen, die jetzt in harte Quarantäne geschickt werden, sind dieses Privileg los. Es scheint abstrus in Zeiten, in denen australische Bürger in den verschiedenen Regionen der Welt gestrandet bleiben, weil sie sich die teure Quarantäne in den australischen Health Hotels nicht leisten können, dass Tennisspieler und Tennisspielerinnen eingeflogen werden und obendrein Spezialwünsche erfüllt bekommen. Der australische Tennisverband weiß, dass niemand zu diesem Turnier anreisen würde – egal, wie viel Preisgeld sie ausschütten –, wenn die Teilnehmenden vierzehn Tage in strenger Isolation sitzen müssten.

Wenn »normale« Menschen Sport treiben und am nächsten Tag Muskelkater haben oder ihr Körper sich von der Belastung erholen muss, so sind Sportler und Sportlerinnen das genaue Gegenteil. Ein Sportlerinnenkörper in Ruhe ist ein Sportlerinnenkörper in Verletzungsgefahr. Wie ein Auto, das in der Garage vor sich hin rostet. Mit anderen Worten: Die Spielerinnen und Spieler und ihre Betreuer und Betreuerinnen, die nun vierzehn Tage vollständig isoliert sind, wandeln auf einem Pfad der Verzweiflung. Ununterbrochen klingeln um uns herum Telefone in Nebenzimmern. Man kann die Unruhe im Hotel durch die Wände hindurch spüren. Über uns schimpft jemand aufgebracht. Auf dem Gang vor unserem Zimmer hört man Schritte und Wagen rollen. Unser direkter Nachbar zur Linken schlägt Tennisbälle gegen die Zimmerwand. Ich hoffe zumindest, dass es Bälle sind und nicht der Schädel. Ich scrolle durch mein Handy. Wieder und wieder. Eine WhatsApp-Gruppe sammelt die wütendsten Stimmen meiner Kolleginnen ein.

Jesse macht den Fernseher an. Dort schauen wir gebannt dabei zu, wie ein Übertragungswagen nach dem anderen vor unsere Hotelauffahrt fährt. Es fühlt sich an, als wären wir mitten in einem Katastrophenfilm. Nur die Katastrophe finde ich nicht.

*

Es gibt viele Gründe, das Turnier durchzuziehen. Die noblen gehen in die Richtung »Zeichen setzen, dass es noch Gutes auf der Welt gibt«, »zeigen, dass Australien es geschafft hat, das um sich greifende Virus einzudämmen« und »den Menschen Ablenkung und Freude bereiten in Zeiten von Not und Monotonie«. Denn wie Michel Houellebecq es treffend beschrieben hat: Das Corona-Virus hat es geschafft, beängstigend und langweilig zur gleichen Zeit zu sein.

Andere Gründe, die weniger noblen, die wirtschaftlichen, haben damit zu tun, dass die Australian Open der lokalen Regierung in Victoria Jahr für Jahr weit über 350 Millionen Dollar einbringen. Weitere 300 Millionen bekommt der australische Tennisverband für den Fünf-Jahres-Fernsehvertrag mit dem Sender Channel 9. Ich bin nicht gut in Mathe, aber ich sehe 650 Millionen gute Gründe, das Ganze durchzuziehen. Es ranken sich Gerüchte darum, dass das ausgeklügelte Quarantäne-System mit den fünf Stunden Ausgang am Tag für Training etc. an weitere große Sportevents verkauft werden soll. Die Olympischen Spiele in Japan stehen an. Fußball-Europameisterschaften. Aber vor allem herrscht, seit wir australischen Boden betreten haben, die allgemeine, unausgesprochene Abmachung, dass ab jetzt nichts mehr hinterfragt wird.

*

Seit vier Tagen sitzen wir mit gepackten Taschen vor der Tür, aber das erlösende Klopfen ist bisher nicht gekommen. Jesse sitzt in der Sofaecke und starrt die Tür an, als könne er sie so dazu bringen, sich zu rühren. Wir dürfen unsere Zimmer nicht verlassen, es sei denn, wir werden ausdrücklich von Sicherheitskräften dazu aufgefordert. Aufgrund der positiven Fälle und der somit auf einen Schlag 130 Personen weniger, die das Zimmer verlassen dürfen, ist das Computersystem, das alles aufeinander abgestimmt hatte, abgestürzt und im Abgrund liegen geblieben. Craig Tiley sieht im ersten Zoom-Call zwanzig Jahre älter aus. Mit geschwollenen Augen blickt er ausdruckslos in die Frontkamera seines Computers. Selbst sie kann die Müdigkeit auf seinem Antlitz nicht weichzeichnen. Seine Falten wirken tiefer, der Witz im Blick ist weg. Mit näselnder Stimme und südafrikanischem Akzent erklärt er, dass seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seit zwei Tagen alle Daten per Hand in eine Excel-Tabelle eintragen. Er spricht monoton und geht am Ende seiner Sätze mit der Stimme hoch, was jede Aussage wie eine Frage klingen lässt.

»Tomorrow everything should be up and working again?«

»Fragt er uns das, oder …?«, sage ich zu Jesse.

»In Südafrika spricht man so«, sagt er.

 

Jesse ist fasziniert von Tennisspielern und Tennisspielerinnen, vom Drama, das vonstattengeht. Er will jeden Abend in den Call. Er ist tagsüber klaustrophobisch und voller vom Ausnahmezustand aufgewirbelter Ängste. Der abendliche Call ist die einzige Routine, die unserem Tag Struktur gibt. Ich fühle mich, als hätte ich meinen Körper verlassen und würde uns von außen dabei zusehen, wie wir vor dem Computer sitzen, Craig Tiley zuhören und nebenher die Fragen im Chat lesen, die nicht aufhören, immer mehr werden, immer länger werden, bis sie alle vor meinen Augen verschwimmen.

Doch am vierten Tag klopft es an der Tür. Zwei Männer führen uns den Hotelgang entlang und halten uns an, uns die Hände zu desinfizieren. In den Aufzug dürfen wir alleine, aber in der Lobby angekommen, erwarten uns zwei Frauen, die uns ebenfalls bitten, uns die Hände zu desinfizieren, und uns anschließend zu einem Wagen eskortieren. Wir müssen warten, bis uns die Tür aufgemacht wird, dürfen nichts außer dem Sicherheitsgurt anfassen, und ich fühle mich nach fünf Minuten in der Freiheit bereits ein wenig überfordert. Die Autotüren öffnen sich, und neben uns drücken sich Garbiñe Muguruza und ihre Trainerin Conchita Martínez hinein. Es sind die einzigen zwei Menschen, mit denen wir in den nächsten zwei Wochen Kontakt haben dürfen. Um den Kreis der direkten Berührungspunkte so klein wie möglich zu halten, bekamen wir vor der Australienreise eine feste Trainingspartnerin zugewiesen, mit der wir die ersten zwei Quarantänewochen verbringen würden. Wir beide, Garbiñe und ich, waren mit Spielerinnen verbandelt gewesen, die in einem der von positiven Fällen betroffenen Flugzeuge gesessen hatten, und wurden – plötzlich partnerinnenlos – einander zugeteilt.

Die Begrüßung ist kühl. Ich kenne Garbiñe nur aus der Ferne und mag sie nicht besonders. Sie ist eine der Spielerinnen in der Umkleide, die den Kopf wegdreht, wenn man »Hallo« sagt. Die Abneigung reicht aber tiefer. Garbiñes Karriere verläuft bisher in einer exakt gegensätzlichen Kurve zu meiner. Wir werden oft miteinander verwechselt, weil wir beide groß und dunkelhaarig sind, eine ähnliche Spielweise und den gleichen Haarschnitt haben und zudem noch in den gleichen Adidas-Kollektionen stecken. Das heißt, sie, sechs Jahre jünger als ich, wurde anfangs, als ich zu den zehn besten Tennisspielerinnen der Welt gehörte, mit mir verwechselt. Nachdem sie zwei Grand Slams gewonnen hatte und die Nummer eins der Welt geworden war und ich eine durchschnittliche Saison nach der nächsten spielte, begannen die Fans, mich für sie zu halten. Ich mag Garbiñe nicht, und ich mag nicht, dass sie auf einer ungreifbaren Ebene für meinen Niedergang steht. Unschuldig zwar, ja, aber Abneigungen kümmern sich nicht um Komplexität. Zusammengefasst: Ich bin neidisch.

 

Tennis ist ein auf dem Fundament Hoffnung aufgebauter Sport. Das System ist körperlich, mental und emotional herausfordernd, aber gleichzeitig dafür prädestiniert, Selbsttäuschung zu fördern. Die Saison zieht sich vom Januar bis tief in den November hinein. Das heißt, dass man wöchentlich mit Niederlagen umgehen muss, aber es heißt auch, dass die nächste Chance ein paar Tage später wieder vor der Tür steht. Jeden Montag des Jahres erhältst du einen Blankoscheck an Möglichkeiten, deine Saison herumzudrehen, dein Schicksal in die Hand zu nehmen, alles anders und besser zu machen. Ich ahne, dass ich in meinen besten Jahren Woche für Woche solide auf hohem Niveau gespielt habe und aus der Konstanz heraus das eine Turnier bekam, das den ganz großen Unterschied machte. Aber in der Gegenwart und mithilfe reichlicher Selbsttäuschung erinnere ich nur die eine Woche, die mich nach vorne katapultierte, nicht die Konstanz zuvor, die sie überhaupt erst ermöglicht hatte. Ich warte auf diese eine Woche, dieses eine Turnier, seit nunmehr fünf Jahren. Ich warte auf Godot. Aber Godot kommt und kommt nicht. Verdammter Godot!

 

Es gibt viele Gründe, warum es in den letzten fünf Jahren nicht so lief, wie es mal gelaufen war. Ich bin älter geworden. Die ersten Verschleißerscheinungen in meinen Knien. Nach Kreuzbandriss und OP mit neunzehn fingen vor etwa vier Jahren die chronischen Schmerzen an. Die Regenerationsphasen sind länger geworden. Nach zwei harten Trainingstagen muss ich Pause machen oder die Belastung herunterfahren, sonst entstehen neue Verletzungen. Das Selbstverständnis, immer weitermachen zu können, wenn ich nur will, ging verloren. Mein Selbstbewusstsein schrumpfte. Ich war auf einmal unsicher, wenn ich gegen jüngere Spielerinnen antrat, ob ich noch genug Kraft und Power hatte dagegenzuhalten. Die Zweifel an meinem Körper machten meinen Körper zusätzlich schwächer.

Die Mittel, die dich nach oben bringen, sind nicht zwangsläufig die Mittel, die dich oben halten. Oben angekommen, musst du dich neu erfinden und anders arbeiten, um oben zu bleiben. Das hatte ich versäumt.

Ich verdrängte andere Gründe für meinen Niedergang. Gründe, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen wollte, weil sie für mich – viel mehr als körperliche Einschränkungen – Eingeständnisse der Schwäche waren. Ich war des ständigen Drucks, gegen die besten der Welt bestehen zu müssen, müde geworden. Der Druck, der vorher Anspannung bedeutet und meine Überlebensinstinkte befeuert hatte, der mich weiterrennen ließ, wenn ich nicht mehr konnte, der mich dazu brachte, mich dem Bären für den Kampf entgegenzustellen, statt wegzurennen, funktionierte jetzt anders. Derselbe Druck, dieselbe Situation erschöpften mich nun und sorgten dafür, dass ich mich lieber verkroch. Die Ironie an der Sache ist, dass man genau das einem Menschen empfiehlt, wenn er einem angriffsbereiten Bären ausgesetzt wird: hinlegen, tot stellen. Doch war es Ironie? Vielleicht war das meine Überlebensstrategie im Angesicht der High-Performance-Umgebung, in der ich mich befand.

Ich ahnte, dass ein Eingestehen dieser Müdigkeit, des Erlahmens der Synapsen, die dafür zuständig waren, unter Druck zu funktionieren, mich mental für den Wettkampfsport zerstören würde. Es war nicht so, dass die Härte, die mich ausgemacht hatte, weg war. Es war nur so, dass ich sie immer öfter suchen musste. Und hier kommt die Pandemie ins Spiel. Der Leben anhaltende, Leben auslöschende Sturm der Pandemie, der Systeme in eine Zerreißprobe trieb, Familien entzweite, die Gesellschaft an den Rand des Kollapses brachte, der alles anhielt, ein verzerrtes Bild, das springt und zetert, aber nicht vorangeht, ein Sprung in der Platte – der Sturm der Pandemie, der mir neuen Atem einhauchte. Ein Jahr, in dem mein Körper sich erholte, ein Jahr, in dem meine Synapsen sich neu verschalteten, ein Jahr, in dem all die kleinen Entzündungen, die ein Sportlerinnenleben mit sich bringt, verheilten, ein Jahr, in dem alle Beleidigungen vergessen wurden. Das Jahr, das alles auf Pause setzte, war genau das Jahr, das ich gebraucht hatte, um meine Karriere wiederzubeleben. Wenn auch nur für einen kurzen, flüchtigen Moment.

*

Wir steigen aus dem Auto aus. Der Tennis-Small-Talk – wann seid ihr angekommen, wo habt ihr trainiert, in welchem Hotel seid ihr? – ist durch Corona-Small-Talk ersetzt worden – wer ist infiziert, warst du schon krank, wie schwer war dein Verlauf? Wir sind übertrieben nett zu allen Australierinnen, die uns umgeben, zu den Sicherheitsleuten und Fahrern und Fahrerinnen, alle maskiert, alle in Schutzanzügen, milchig-weiße Astronauten, wir dagegen Außerirdische. Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich dermaßen gegen uns gewendet, dass wir ihre Verachtung für uns auf dem Gesicht durch die Maske hindurch erahnen können.

Arrogante Tennisspieler. Verwöhnte Gören. Werden hier eingeflogen. Sind in den besten Hotels. Beschweren sich übers Essen.

Sogar Jesse sagt jedem Hallo, lächelt gar. Jesse, der alte Griesgram, für den ich morgens bis zum ersten Schluck Kaffee inexistent bin.

 

Die Sonne scheint auf den Tennisplatz, es ist heiß und trocken, und nach dem langen Flug und drei Tagen im Hotelzimmer stottern unsere Körper wie Stroboskoplicht. Nichts fließt, die Bewegungen sind eckig. Ich schaue zu Garbiñe rüber. Sie sucht nach jedem Ballwechsel Zuflucht im Schatten eines Baumes am seitlichen Zaun. Sie ist größer und massiver als ich, stärker, eindrücklicher. Doch ich kann mich des niederträchtigen Gedankens nicht erwehren, dass sie nicht fit ist. Nach jedem zweiten Ballwechsel rennt sie in den Schatten. Pff. Währenddessen pfeift und keucht es aus meiner Lunge wie ein Zug aus dem 19. Jahrhundert. Ich habe bestimmt Corona, denke ich, huste trocken auf den Ball und spiele ihn an.

Wir spielen alle Schläge einmal durch. Vorhand, Rückhand, Volleys, Aufschläge. Wir tippen unsere Schläger aneinander und werden vom Platz in ein Zelt eskortiert, in dem drei Paar Freihanteln und ein Fahrrad stehen. Zwischen den Freihanteln und dem Fahrrad ist ein Netz hochgezogen, und die einzelnen Parteien (ich und Jesse sowie Garbiñe und Conchita) dürfen sich immer nur auf jeweils einer Seite aufhalten. Wenn Conchita eine Freihantel braucht, müssen Jesse und ich aus dem Zelt hinausgehen, warten, bis sie sie geholt hat, und dürfen dann erst wieder zurück. Ich wundere mich über nichts mehr. Ich nehme gelassen hin, dass mich zwei Wärter auf einmal zur Toilette begleiten. Popstar oder Gefängnisinsasse: It’s a fine line.

 

Die erste Annäherung zwischen Garbiñe und mir passiert durch das Sicherheitsnetz im Fitnesszelt. Eine halbe Stunde lang haben wir leise vor uns hingearbeitet und starrsinnig versucht, in die andere Richtung zu gucken, wenn wir den Blick der anderen gespürt haben. Sie hat ihren Fitnesstrainer per Facetime auf ihrem Handy zugeschaltet, und er erklärt ihr mit argentinischem Akzent, welche Übungen sie mit drei Paar Freihanteln und einem Fahrrad machen kann. Ich klicke mich durch meine Notizen auf meinem Telefon und suche die Übungen meines Trainers raus, die mit dem vorhandenen Gerät ausführbar sind. Ich versuche mich gerade an einer Kniebeuge mit zwei Hanteln in einer Hand, verrenke mir Daumen und Mittelfinger, um alles beieinanderzuhalten, als ich ein synthetisches Rauschen höre. Den scheppernden Akkord einer elektrischen Gitarre. Eine mit der rechten Hand gespielte Melodie auf dem Synthesizer. Das kenne ich! Klavierakkord. Päng. Kurzer Drumfill. Klavierakkord. Pang.

Im Sturz durch Raum und Zeit

Richtung Unendlichkeit

Fliegen Motten in das Licht

Genau wie du und ich

»That’s German!«, sage ich.

Ziemlich originell, wie ich finde. Ich drücke meine Nase ans Netz.

»Nena! I love thiss sssong«, sagt Garbiñe.

Als der Refrain einsetzt, nicken wir alle gleichzeitig zum Beat. Jesse spielt imaginäres Schlagzeug auf seinen Beinen.

»Do you like German music?«, frage ich.

»Thiss ssong is cool«, sagt Garbiñe, »I alsso like the one where they ssay Aha a lot.«

»You mean Da Da Da?«

»Essactly!«

»Do you know Falco?«, frage ich.

Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »I don’t think sso.«

»Wait, let me play it for you.«

Ich jogge zu meinem Handy und suche Jeanny raus.

»I think you might like this one.«

Entschuldigend erkläre ich die Handlung und sage, das sei aber total provokativ und genau so gewollt, und Falco wäre ein Genie, und er hätte genau gewusst, was er macht, subversiv und so. Ich rede zu viel, erkläre zu viel. Sie guckt mich ausdruckslos an. Als der Refrain einsetzt, leuchten ihre Augen.

»I LIKE THISSS«, sagt sie mit süßem spanischem Akzent und fügt den Song zu einer ihrer Playlisten hinzu.

Sie spielt ihn noch dreimal hintereinander, und beim vierten Mal Hören wird mir der Text unangenehm, als würde ich ihn das erste Mal richtig verstehen. Mein Mund zieht sich sauer zusammen.

»Play some Spanish music!«

Ich rufe so laut, dass ich den Nachrichtensprecher im Song übertöne.

Sie scrollt lange Zeit durch ihr Handy und findet schließlich eine Reggaeton-Playlist. Es ertönen Bad Bunny und Rosalía und J Balvin, und ich kenne die meisten Songs, tue aber so, als würde ich sie zum ersten Mal hören. Und irgendwann teilt Garbiñe ihre Playlist per Airdrop mit mir, und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir jetzt fest zusammen sind.

Abends beim Duschen brennt es auf meinem Rücken. Als ich mich vor dem Spiegel drehe, entdecke ich an einer Stelle, wo mein Top ausgeschnitten war, einen runden Fleck, den ich nicht eingecremt hatte und der mir jetzt grellrot entgegenleuchtet. Sonnenbrand. Ich bin offiziell in Australien angekommen.

*

Alles, was anfangs neu und anders und bizarr erschien – das Eingesperrtsein, die Abholungen im Zimmer, die täglichen Tests, die Wärter um den Trainingsplatz, die nicht uns vor den Fans schützen, sondern die Menschen vor uns, das Sich-nicht-bewegen-Dürfen, es sei denn, jemand fordert dich explizit dazu auf –, wird nach bloß ein paar Tagen zur Normalität. Wir absolvieren die Tätigkeiten wie Schlafwandler, die nichts hinterfragen, wie Dauermeditierende, die gelernt haben, alles zu akzeptieren.

Wenn es mir zu eng und zu viel wird, setze ich mich mit dem Rücken zu Jesse mit Kopfhörern in die Sofaecke und stelle mir vor, alleine in einem Raum zu sein, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Ich gaukle mir vor, dass der einzige Mensch, der zählt, ich selbst bin. Nach fast zehn Jahren in Einzelzimmern muss ich mich an die Präsenz dieses zusätzlichen, wenn auch geliebten Menschen, das Mehr an Bewusstsein und eigenem Willen und eigenen Wünschen noch gewöhnen.