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Jenifer Beckers Debüt über eine Auszeit von der digitalen Welt ist „eine literarische Granate, die ich gerne mit Schwung ins Silicon Valley werfen würde." (Philipp Winkler)
Mila, dreißig, geht offline. Zu groß ist plötzlich die Angst vor der öffentlichen Sichtbarkeit. Jede gelöschte Spur im Netz ist ein Akt der Befreiung, gleichzeitig gelingt es Mila nicht, sich einzureden, dass die neue Yogaroutine erfüllender ist als der morgendliche Smartphonecheck. Die nostalgisch wiederentdeckte Langeweile wird schnell zu tiefer Einsamkeit. Sie teilt ihr Leben nicht mehr, aber niemand teilt es jetzt so richtig mit ihr, seit ihr Lebensstil mehr Gemeinsamkeiten mit dem von Emily Dickinson als dem ihrer alten Freundinnen hat. Doch der Drang, den schwerelosen Zustand vollkommenen Verschwindens zu erreichen, wird immer zwanghafter.
Das Debüt einer Stimme, die mit hypnotischer Genauigkeit unsere Welt beschreibt und subtil mit der Sehnsucht nach Freiheit spielt.
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Jenifer Beckers Debüt über eine Auszeit von der digitalen Welt ist »eine literarische Granate, die ich gerne mit Schwung ins Silicon Valley werfen würde." (Philipp Winkler)Mila, dreißig, geht offline. Zu groß ist plötzlich die Angst vor der öffentlichen Sichtbarkeit. Jede gelöschte Spur im Netz ist ein Akt der Befreiung, gleichzeitig gelingt es Mila nicht, sich einzureden, dass die neue Yogaroutine erfüllender ist als der morgendliche Smartphonecheck. Die nostalgisch wiederentdeckte Langeweile wird schnell zu tiefer Einsamkeit. Sie teilt ihr Leben nicht mehr, aber niemand teilt es jetzt so richtig mit ihr, seit ihr Lebensstil mehr Gemeinsamkeiten mit dem von Emily Dickinson als dem ihrer alten Freundinnen hat. Doch der Drang, den schwerelosen Zustand vollkommenen Verschwindens zu erreichen, wird immer zwanghafter.Das Debüt einer Stimme, die mit hypnotischer Genauigkeit unsere Welt beschreibt und subtil mit der Sehnsucht nach Freiheit spielt.
Jenifer Becker
Zeiten der Langeweile
Roman
Hanser Berlin
Is it wise, to be casual
In the daylight, to be tangible
Maybe posthumous, is the best way
To get undressed, in the excess
The Hellp, Air BnB Sonnet, 2021
Wenn mir nachmittags langweilig wurde, machte ich Spaziergänge durch mein Viertel. Manchmal dämmerte es bereits, das Licht wurde blau und über den Dächern lag ein diesiger Schleier, der sich im Herbst vor Sonnenuntergang am Kanal materialisierte. Ich trug meine knöchellange Daunenjacke, die Pelzmütze, die ich bei Großtante Helgas Wohnungsauflösung mitgenommen hatte, außerdem wasserdichte Goretex-Schuhe. Ich sah mich aus der Perspektive einer Drohne, eine Gestalt mit schwarzer Mütze, die sich mit schnellen Schritten über die Bürgersteige bewegte, in einem Pac-Man-artigen Muster. Ich lief die Niedstraße runter, vorbei an den Vorgärten mit ihren metallenen Schmuckzäunen, beleuchteten Erkern und verwaisten Balkonen. In der Luft lag der Geruch nach verbranntem Holz, auf Höhe der U-Bahn-Station stank es nach Müll und chemischen Reinigungsmitteln. Hinter dem Schulgebäude durchquerte ich die Unterführung und lief in Richtung des Bahngeländes. Ich fand einen kleinen Park mit einem stillgelegten Brunnen, im vermoosten Becken lagen ein Schnuller und eine schwarze FFP2-Maske. Die Straßen wirkten hier weniger trist als in anderen Teilen des Viertels — vermutlich wegen des Efeus, der an den Hauswänden hochkroch. Am Innsbrucker Platz zählte ich vier Döner-Läden, zwei chinesische Imbisse, einen TEDi und einen Laden, in dem man Brettspiele und Warhammer-Figuren kaufen konnte. Ich umrundete die Grünfläche einer Wohnanlage. Am Woolworth begegnete mir ein Junge, der Sandalen mit gestrickten Socken trug. Südlich von der Autobahnbrücke gab es zwei Friedhöfe. Wenn es regnete, las ich die Namen der Verstorbenen an den Gewölbewänden, da der Teil des Friedhofs überdacht war. In dem opulenten Grab am Ausgang war Familie Falk begraben. Unter der Skulptur einer trauernden Frau befand sich eine Gruft. Das entnahm ich einer erodierten Inschrift. Ich fand jedoch nicht heraus, warum sie eine eigene Familiengruft hatten. Früher hätte ich solche Sachen ergoogelt, jetzt suchte ich hinter der moosbewachsenen Statue nach Indizien, fand aber weder eine Info-Tafel noch andere Beschriftungen, die Hinweise auf einen besonderen Familienstatus gegeben hätten. Wahrscheinlich waren sie einfach nur reich gewesen. Unmittelbar hinter dem Bundesplatz gab es zwei Teeläden und einen italienischen Feinkostladen, an dem ich sonst immer vorbeigelaufen war, ohne hineinzugucken. Hinter der Scheibe hingen Mailänder Salamis und Guanciale aus. Es überraschte mich, in wie vielen Geschäften Jalousien oder Artikel für Aquarien verkauft wurden. Nur eine Straße von meiner Wohnung entfernt befand sich ein poshes Geschäft für Haustiere, es gab Merino-Pollunder für Hunde mit Kurzhaarfell, Beißschienen und Eis mit Lachsgeschmack. Ich hatte keinen Hund, aber Hunde interessierten mich, vor allem interessierte mich, was Städter alles für ihre Hunde taten. Ich studierte die Rückseite eines Vital-Öls, danach nahm ich eins der hochwertigen Ledertäschchen in die Hand. Sie sahen aus wie Handyhüllen, waren aber Kotbeutelspender. Ich vermisste den Kanal von Chio, einem Papillon-Show-Rüden, der in Newcastle zwei Mal den Titel abgeräumt hatte, und den von Mímí, einer Pudel-Dame mit pinken Strähnen, gefärbt mit biologisch abbaubarer, ungiftiger Lebensmittelfarbe. Am Anfang hatte ich diese Kanäle ironisch abonniert, aber irgendwann waren es die Showhund-Accounts, die mich am wenigsten nervten und die mir am meisten gaben: glückliche Zerstreuungsmomente. Eigentlich das, was mir Social Media früher jeden Tag gegeben hatte, bis es sich irgendwann in ein Teratom mit Zähnen und Haaren verwandelt hatte, das mich von innen aufzufressen drohte.
Ich begann mich im Oktober 2021 aus dem Internet zu löschen. Ich fing mit meinen Social-Media-Accounts an, zuerst TikTok, das ich eh kaum benutzte, dann Facebook und schließlich Instagram. Auf dem irrgartenartigen Weg, den Facebook ausgelegt hatte, um zu vermeiden, dass man sich löschte, stieß ich auf Einstellungen für den eigenen Gedenkzustand. Sich zu löschen und sterben wirkte auf einmal sehr nah beieinander. Ich hatte mich 2007 bei der Plattform angemeldet, auf einem Work-and-Travel-Trip nach Australien. Auch wenn ich vor ein paar Jahren zu Instagram gewechselt war und aufgehört hatte, auf Facebook zu posten, spiegelte meine Timeline einen signifikanten Teil meines Lebens wider. Es gab ein Foto, auf dem ich mit gegelten Haaren am Steuer saß, der Smart hatte meinem Vater gehört, ich parkte aus einer engen Parklücke hinter dem Schulhof des Goethe-Gymnasiums aus. Es gab ein Foto, auf dem ich in Bikini am Bondi Beach stand, ich hatte glatte Haut, ein paar Sommersprossen und einen unvorteilhaften Haarschnitt. Dann gab es noch ein paar Bilder aus dem ersten Jahr, in dem ich studiert hatte. Ich saß mit Freundinnen und dunkel umrandeten Augen an einem Tisch und rauchte, im Hintergrund Regale, auf denen vierundzwanzig verschiedene Teesorten standen, halbleere Gin- und Wodkaflaschen, ein Glas mit Goji-Beeren, Linsen, Sojaprodukte, zusammengewürfelte Tassen und Teller, die alle vom Faust-Flohmarkt stammten. Schließlich noch die Selfies, die ich nicht veröffentlicht, aber trotzdem auf Facebook hochgeladen hatte, um sie mit einer Dating-App zu synchronisieren. Ich, in einem gerippten Unterhemd auf einem weiß bezogenen Bett. Ich, in einem Top ohne BH vor einer türkisfarbenen Wand. Eine Nahaufnahme von meinen New-Balance-Schuhen. Eine Nahaufnahme von meinen Augen, braun mit grünen Einsprengseln. Ich fand, dass ich mit sechsundzwanzig schön ausgesehen hatte. Der Button Konto löschen löste ein tiefgreifendes Gefühl geisterhafter FOMO in mir aus, obwohl ich seit Monaten auf keiner Party gewesen war und mir keine einzige digitale Live- Ausstellungseröffnung angeschaut hatte. Ich sagte mir, dass es nur vorübergehend sein würde. Eine Art Detox: sich einmal aus dem System rausnehmen, Süchte lokalisieren, klarer benennen können, danach wieder gemäßigter mit dem Stoff umgehen — ein Real-Life-Reset. Je nachdem, ob diese autotherapeutische Herangehensweise überhaupt funktionieren würde. Ich schrieb eine Nachricht an alle Leute, die mir wichtig schienen. Mein Abschiedsgruß lautete: CUbybyxx. Danach wartete ich zwei Tage. Nur Damla schrieb zurück. Sie wünschte mir eine erholsame Zeit und hoffte, dass wir uns irgendwann mal wiedersehen würden. Es klang so, als würde ich umziehen.
Vielleicht hätte sich der Transit in ein möglichst Social-Media-freies Leben weniger radikal angefühlt, wenn ich im Oktober mehr zu tun gehabt hätte. Es herrschte das für Berlin typische Down, das einsetzte, wenn die Sommer-Euphorie endgültig verflogen war. Corona war immer noch da, Trips auf die Kanaren fielen reihenweise ins Wasser, weil sich jemand mit Delta infiziert hatte. Senta schrieb, dass gerade alle pflanzliche Stimmungsaufheller bei irgendwelchen Start-ups bestellen würden, und Pradaschuhe, asymmetrische Tops und grau karierte Miniröcke bei Momox kauften. Meine Fashion-Inspiration kam aus den letzten Friends-Staffeln, ich machte manchmal Screenshots von Monica, kaufte aber generell kaum noch Kleidung. Alkohol trank ich seit zwei Jahren nicht mehr. Es war zwar kein Lockdown, doch das Leben war weitgehend runtergedreht, alle Veranstaltungen, die für Halloween geplant waren, fielen letztlich doch aus. Kein Tarot. Keine heidnischen Rituale, bei denen man Fotos von Ex-Freunden zusammen mit Palo Santo verbrannte. Die Clubs hatten geschlossen. Ins Kino wollte ich nicht, wegen der schlechten Belüftungsanlagen. Aufgrund von Omikron traf man sich nur noch in gefestigten Pärchen-Konstellationen — ich gehörte zu keiner. Einmal microdosete ich Pilze und schaute Bob Ross mit einer Gruppe von Freunden, die ich noch aus meiner Studienzeit in Offenbach kannte. Das einzige, was mir irgendwie das Gefühl vermittelte, dass es wieder bergauf gehen könnte, war der Release der neuen Euphoria-Staffel, der für März auf SkyTicket angekündigt war. Bis dahin streamte ich ziellos weiter. Ich war bei vier verschiedenen OnDemand-Diensten angemeldet: Netflix, Amazon-Prime, SkyTicket und Mubi. Einen Monat lang meldete ich mich bei MagentaTV an, außerdem machte ich das Probeabo bei Disney+ mit. Ich schaute jeden Tag mindestens einen Film. Zwei Jahre Homeoffice hatten dazu geführt, dass ich E-Mails liegend beantwortete. Ich trug seit Anbruch der Pandemie überdurchschnittlich viel Jersey-Kleidung, lose sitzende Sporthosen, ausgestellte Yoga-Wear, weiße Oversize-T-Shirts, und, wenn es wirklich kalt war, eine Kapuze aus braunem Fleece. Vor den digitalen Sitzungen schälte ich mich aus den Kissen und setzte mich ungekämmt vor den Rechner. In letzter Zeit behauptete ich öfter, meine Kamera sei kaputt. Während der Sitzungen schnitt ich Gemüse oder schrubbte die Badewanne mit Badreiniger auf Sodabasis. Bei Abstimmungen oder Nachfragen postete ich ein + oder ein — in den Chat. Ich weiß nicht mal, ob das Kollegium überhaupt merkte, dass ich da war. Nachdem ich im Sommer meine Promotion abgeschlossen hatte, gab es für mich bis auf zwei Lehrveranstaltungen keine Verpflichtungen mehr. Ich hatte die letzten fünf Jahre an einer Dissertation zu Heldinnenreisen in der Populärkultur gearbeitet. Es ging um Romane und Filme, in denen Frauen nach einer Krise zu einer Healing-Journey aufbrachen. Jetzt stand meine dreihundertseitige Abhandlung im zweiten Stock der Universitätsbibliothek, vierte Reihe von rechts neben den Druckern, und fungierte fortan als Brutstätte für heimische Spinnenarten. Eat, Pray, Love konnte ich nach fünf Jahren Tiefenanalyse mitsprechen. Dass ich nun am gleichen Punkt angekommen war wie all die Figuren, die genötigt waren, eine Selbstfindungsreise nach Bali, Alderaan oder zum Pacific Crest Trail anzutreten, las ich an guten Tagen wie einen Witz, an anderen sah ich es als Erfüllung einer selbst herbeigeführten Prophezeiung.
Die Seminarthemen für meine beiden letzten Kurse, die ich digital gab, schusterte ich aus meiner Dissertation zusammen — Selbstfindungsreisen in der kontemporären Populärkultur und Chick Lit-Heldinnen post2010. Eigentlich bereitete ich mich aber bereits auf die Übergabe vor. Ich würde meiner Nachfolgerin alle Excel-Tabellen schicken, ein paar Vorlagen kopieren und dann wäre ich weg. Ich bekam noch vier Mal Gehalt, danach würde ich ALG1 beantragen und irgendwann auf Jobsuche gehen. Ich hatte ausgerechnet, dass ich mit dem ALG1-Satz gerade so über die Runden kommen würde, wenn ich meine viertausend Euro Ersparnisse dazurechnete. Man bekam sechzig Prozent des aktuellen Nettolohns, das waren bei meinem mickrigen Gehalt 1008 Euro. Ich hatte vor, das so lange wie möglich auszuschöpfen. Zuerst digitaler Detox und dann der Anfang eines analogen, eintönigen Lebens, wo ich in einem unaufgeregten Büro ohne Social-Media-Auftritt arbeiten würde, dem Druck enthoben, ständig irgendjemanden beeindrucken zu müssen. Als mich mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nie einhielt.
Was ich vor allem wollte: Die fundamentale Angst loswerden, gecancelt zu werden. Für irgendwas, was ich einmal getan oder gesagt hatte, oder einmal tun oder sagen würde. Ich hatte das Gefühl, dass meine öffentliche Bloßstellung nur noch eine Frage der Zeit war. Ich war weder berühmt, noch hatte ich irgendeine andere gesellschaftliche Relevanz. Persönliche Momente des öffentlichen Ruhms beschränkten sich auf einen Instagram-Post von einer Studierenden, der viral geteilt wurde, weil ich Bücher von J. K. Rowling wegen ihrer TERF-Ideologie aus einem Seminar für fantastische Literatur verbannt hatte. Dann gab es noch einen digitalen ZEIT-Artikel, der auf einen meiner alten Texte verwies. Mit Anfang dreißig hatte ich aufgehört zu schreiben, machte keine Videokunst mehr, ich postete verhältnismäßig wenig und hatte kaum Follower. Fakt war jedoch: Niemand wusste, zu welchem Zeitpunkt verschiedene Daten und Infos von mir oder über mich zu einem Ball des öffentlichen Interesses zusammenschmelzen könnten und ich in einem digitalen Inferno gelyncht werden würde.
Es war die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor dem Urteil der anderen.
Die Angst verfolgte mich wie eine Drohne, faustgroß, mit feinhaarigen Antennen und synthetischen Tastorganen, egal wohin ich ging oder wo ich mich aufhielt.
Senta schrieb ich: Ich nehme ein Sabbatical.
*
Die ersten Tage ohne Social Media liefen überraschend unkompliziert. Wahrscheinlich war es der Anfangsoptimismus. Ich schaute mir verschiedene YouTube-Videos an, in denen es darum ging, als toxisch bezeichnete Verhaltensweisen zu verlernen und bewusster mit der »Droge« Internet umzugehen, wie es in einem Clip hieß. Man sollte sich feste Zeiten einrichten, in denen man surfen durfte, in den internetfreien Phasen gegebenenfalls zu drastischen Maßnahmen greifen und Programme installieren, die den Netzzugriff für bestimmte Anwendungen sperrten. Das hielt ich erst mal für unnötig. Ich abonnierte zwei neue Kanäle von Frauen, die aus der Blogosphäre ausgestiegen waren, eine davon lebte jetzt in Kenia, die andere in einem Tiny House auf dem Grundstück ihrer Eltern in der Pfalz. Ich fand, dass ein erhöhter YouTube-Konsum in Ordnung war, schließlich postete ich hier nichts, und ich kannte niemanden persönlich; es war eher wie Fernsehen. Erst später realisierte ich, dass YouTube auch Social Media war. Sadia, das Gesicht des veganen Lifestyle-Kanals PickupLimes, empfahl, schädliche Verhaltensmuster gegen bewusst gewählte Routinen auszutauschen. In der ersten Oktoberwoche begann ich also, diese neuen Routinen zu entwickeln. Nach dem Aufwachen blieb ich nicht mehr im Bett liegen, um mir Storys anzuschauen, sondern stand auf und trank meinen grünen Tee auf dem Sessel vor meinem Fenster. Ich wickelte mich in eine Wolldecke und versuchte mich nicht von der Ungewissheit nervös machen zu lassen, ob mir jemand eine wichtige Nachricht geschrieben hatte oder Sebastian Kurz endlich zurückgetreten war. Mir fiel auf, dass mein Sessel nach Mottenkugeln roch und sich eine Staubwolke bildete, wenn ich auf das Polster klopfte. Sie verflüchtigte sich im Sonnenlicht, einige Partikel blieben für einige Sekunden in der Luft schweben, es sah aus wie ein glitzerndes Sternensystem. Mein iPhone ließ ich auf Flugmodus. Das Licht veränderte sich jeden Tag ein bisschen, es wurde früher hell, Tauben gurrten auf dem gegenüberliegenden Fenstersims, um halb neun rauchte mein Nachbar seine erste Zigarette, ich roch den Rauch durch die zugigen Fensterschlitze. Die ersten vier Tage fand ich das Morgenritual noch idyllisch, danach wurde mir unfassbar langweilig, also erlaubte ich mir, ausgewählte Nachrichtenseiten zu besuchen. Während ich im Schneidersitz mit der Decke um die Schultern meinen ersten Tee trank, durfte ich die Headlines der Tagesschau und des Guardian überfliegen, außerdem einen Artikel aus dem JACOBIN-Magazin lesen. Wenn mir die Meldungen über Aufrüstungen an der ostukrainischen Grenze, Putins »großrussische« Bestrebungen und die Infektionszahlen zu viel waren, las ich stattdessen zwei kurze oder einen längeren Wikipedia-Artikel. Ich lernte etwas über lauretanische Litaneien. Und dass Digiskopie ein Verfahren der Bilderstellung war, bei der man Teleskope und Spektive benutzte. Mir fiel jetzt erst auf, wie viel Zeit ich in den letzten Jahren scrollend verbracht hatte. Auf einmal erstreckte sich der Tag vor mir wie eine fünfte Dimension, die ich eigentlich irgendwann in meiner Kindheit verlassen hatte. Wann hatte ich mich das letzte Mal länger als zwei Minuten gelangweilt, ohne dass ein flüchtiges, virtuelles Antidot zur Verfügung stand? Ich fing an, mich abgekapselt zu fühlen, weil ich nicht mehr wirklich wusste, was bei Leuten, mit denen ich mich zum Teil seit Jahren nicht getroffen oder die ich nie persönlich gekannt hatte, täglich passierte.
Mittwoch regnete es. Ich ging vormittags Zutaten für Ceviche einkaufen: Kabeljau, Zitronen, Chilis, Koriander und rote Zwiebeln. Zu Hause würfelte ich den Fisch und marinierte ihn. Ich aß eine Maiswaffel, machte einen Vormittagsschlaf, masturbierte zwei Mal hintereinander, stand wieder auf — es war immer noch hell, der Fisch war weitgehend durchgegart, hatte in der Mitte aber immer noch einen rohen Kern. Um sechzehn Uhr fing mein digitales Seminar an. Ich schaltete kurz mein Mikro ein, um alle zu begrüßen und mich von der Anwesenheit der Referatsgruppe zu überzeugen. Während des Referats machte ich heimlich ein fünfzehnminütiges HIIT-Training. Es ging um Dramastrukturen und ihre Adaption für das Hollywoodkino nach Syd Field. Während meiner sechsjährigen Universitätskarriere hatte ich nie mit Referaten gearbeitet, ich fand, dass das immer nur faule Profs machten, die sich seit fünfundzwanzig Jahren auf ihren entfristeten Stellen ausruhten. In meinem letzten Semester ohne Vertragsverlängerung war mir das egal. Nach dem Seminar aß ich eine Portion Ceviche mit einem im Wasserbad aufgewärmten Maiskolben und klickte mich durch Netflix, aber auch das ging irgendwann vorbei. Den Rest des Tages kreisten meine Gedanken um die letzten Jahre und darum, wie mein zukünftiges Leben aussehen würde.
Im Hinblick darauf, dass ich nichts davon mehr online preisgeben müsste, fühlten sich die meisten Sachen gar nicht mehr so fatal an — die Tatsache, dass ich keine künstlerischen Ambitionen mehr hatte, zum Beispiel.
Dass ich vierunddreißig war und mir den falschen Job ausgesucht hatte.
Dass meine Akne immer schlimmer wurde.
Dass ich nicht wusste, ob ich Kinder kriegen sollte — wenn ja, mit wem? Und wie sollte ich das finanzieren?
Dass ich in Berlin fast nichts mehr mit den Leuten zu tun hatte, mit denen ich in Offenbach befreundet gewesen war.
Dass ich nicht wusste, ob Nicki seine Fluoxetins regelmäßig nahm — vielleicht war er in einer Klinik? Ich überlegte eine Weile, ob ich wieder Instagram runterladen sollte. So wichtig war mir der Zustand meines Ex-Freundes dann aber doch nicht.
Was mich ernsthaft belastete, war die Sache mit meinem kleinen Bruder, der mir Links zu Artikeln über Spike-Proteine und Impf-Shedding schickte. Heute bekam ich zwei Fotos von Leuten mit blau angelaufenen Gesichtern. Er schickte sie über Signal. Ich zoomte an die Gesichter heran. Die Adern zeichneten sich bedrohlich unter der Haut ab. Es konnten Aufnahmen von vergifteten Menschen sein, die jemand auf irgendeinem Imageboard gepostet hatte. Oder Photo-Ops von Impfgegnern. Vielleicht hatten die Boomer unter ihnen dafür ihre Ehefrauen, Kinder oder Eltern geschminkt und auf einer Massageliege im Keller drapiert?
Unter dem Bild stand in weißer Blockschrift mit schwarzem Rand: Wir wollen dich so nicht beerdigen.
Ich wusste nicht, ob mein Bruder die theatralischen Untertitel selbst schrieb oder ob die Bilder samt eigenem Sprachduktus aus dem Meme-Komplex der deutschen Querdenkerszene stammten. Mittlerweile blickte ich mit einer analytischen Distanz darauf, wie auf Untersuchungsmaterial, das ich hermeneutisch auslegen wollte.
Wer ist wir?, schrieb ich zurück.
Oma und ich. Meine es ja auch bildlich.
Lieb, dass du dir Sorgen machst. Und dann? Keine Ahnung. Ich wartete eine halbe Minute. Dann tippte ich: Wovor hast du wirklich Angst?
Ich sah ihn vor seinem Gaming-Computer, hinter ihm verschiedene Glasmöbel und Fitnessgeräte, vom Fenster aus blickte man auf die Anlage mit den Kastanien, dahinter der Hügel, der zum Wald führte. Er war vor ein paar Jahren mit seinem Golden Retriever bei Oma A. eingezogen, hatte das obere Stockwerk ausgebaut und das Bad neu gefliest. In Oma A.s muffigem Haus mit dem düsteren Speicher und der grün gekachelten Küche hatte ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht. Im Flur roch es immer nach Kohl und Desinfektionsmittel. Das Haus stand in einem Waldstück zwischen Laufdorf und Grävenwiesbach. Eigentlich hatte ich letzten Sommer für ein paar Tage vorbeischauen wollen, aber mein Bruder hatte Angst, dass ich das Virus mitbringen würde. Jetzt hatte er Angst, dass ich Spike-Proteine über Hautkontakt übertragen könnte. Das Haus hatte sich seit Beginn der Pandemie verändert, mein Bruder hatte mir Fotos geschickt. Die beiden hatten achttausend Euro ausgegeben, um den Garten mit einem schulterhohen Maschendrahtzaun und Sichtschutz auszustatten. Den Kirschbaum gab es nicht mehr, im Gartenhäuschen standen jetzt Proteinpräparate und Wassertanks.
Ob Oma A. geimpft war, wusste ich nicht.
Wenn ich sie fragte, redete sie entweder von Schneckenplagen in ihrem Salatbeet oder den Bewässerungsanlagen ihrer Nachbarn. Sie war mit Anfang achtzig immer noch fit, verfolgte Nachrichten, mähte den Rasen und kommentierte hin und wieder Artikel in der Wetzlarer Allgemeinen mit Leserbriefen. Dass sie irgendwann anfangen würde, die sozialpolitischen Bestrebungen der Linken abzutun und nur noch Wagenknechts Kommentare zur Situation der Geflüchteten abzunicken, hatte ich nicht erwartet. Als wir vor ein paar Wochen telefonierten, sprach sie von den Bestrebungen der chinesischen Regierung, den Westen zu unterjochen. Sie hatte aufgehört, bei Asia Mekong — dem einzigen chinesischen Imbiss, der von Asslar aus nach Laufdorf lieferte — gebratene Nudeln zu bestellen. Ich hatte versucht, ihr zu erklären, dass sie da falschlag, das Virus nicht aus einem Labor kam, sondern höchstwahrscheinlich über eine Fledermaus auf einem Wochenmarkt in Wuhan übertragen worden war. Daraufhin warf sie mir vor, naiv zu sein, und legte auf. Ich sah sie auf einem beige gemusterten Chesterfield-Sofa sitzen, im Hintergrund lief der Schlagerherbst oder eine Sendung mit Florian Silbereisen. Wahrscheinlich drückte sie mit ihren dicken Daumen auf dem Telefon herum. Es war nicht unrealistisch, dass sie das Telefon auf die Fensterbank knallte oder in die Kissen des Sofas schmiss, wo es abprallte und dann auf dem Boden zerschellte — das hätte erklärt, warum sie danach zwei Wochen nicht erreichbar war. Dann würde sie sich aus dem Sofa stemmen, mit ihren nackten, verhornten Füßen in ihre Schlappen gleiten und zum Porträt meines Großvaters murmeln, warum er sie mit diesem »Schiss« alleingelassen hatte. Ihr »Schiss« klang immer nach Vogelkacke oder Durchfall, nichts, was abstrakt war, sondern eine widerliche Haptik hatte. Zwei Wochen nach unserem Streit rief sie mich an, um mir zu erzählen, dass es mit ihrem Reizdarm besser lief, seit sie sich Fenchel-Kümmel-Öl gekauft hatte. Oma A. war zwar hitzig, hatte die Tendenz, Obszönitäten zu schreien und Gegenstände zu zerstören, genauso schnell war sie aber wieder zu besänftigen. Sie ließ sich beeinflussen. Es hatte einen Nachmittag gedauert, bis ich sie davon überzeugt hatte, nicht die AfD, sondern die Linke zu wählen.
Mein Bruder war anders.
Als er ganz klein gewesen war, hatte er seine Stofftiere streng nach einer bestimmten Reihenfolge sortiert. Zuerst die Diddl-Braut, in ihrem Brautkleid, dann der Diddl-Ehemann mit dem schwarzen Zylinder, daneben ein blauer Brachiosaurus, dem ein Auge fehlte, dazwischen ein paar Pokémon, deren Namen ich nicht kannte, weil ich dafür zu alt war. Schließlich Hoppel, der zerfledderte Hase, der nur noch durch einen Strampelanzug zusammengehalten wurde. Bevor er schlafen ging, folgte er einer spezifischen Routine, die Decke musste dabei senkrecht zur Bettkante arrangiert werden, und wenn es nicht nach Plan lief, wurde er zornig und fing an so heftig zu schreien, dass sich auf seiner Stirn eine Y-förmige Ader abzeichnete. Heute wäre sein Verhalten wahrscheinlich anders eingeordnet worden, vielleicht hätte man ihm Techniken beigebracht, mit diesen Situationen und Ängsten umzugehen. Stattdessen hatte mein Vater ihn regelmäßig als missraten bezeichnet. Das störrische Festhalten an Routinen und Meinungen setzte sich bis heute fort.
*
Ich weiß nicht, ob ich so viel mit meinem Bruder geschrieben hätte, wenn ich noch auf Instagram gewesen wäre. Ich nutzte jetzt nur noch Signal. In der Messenger-App konnte man einstellen, dass Nachrichten nach vier Wochen automatisch gelöscht wurden. Es fühlte sich richtig an, die eigene Kommunikation nicht mehr dauerhaft zu speichern. Dadurch beschränkte sich der Radius an Leuten, mit denen ich texten konnte, erst mal auf die Personen, die die App eh schon nutzten. Das waren zu dem Zeitpunkt mein Bruder und Milan, ein entfernter Bekannter aus Offenbach, mit dem ich einmal high über Drummaschinen geredet hatte.
Nach fünf Tagen ohne Social Media fing ich an, in Geschäften Smalltalk zu führen, weil ich es nicht gewohnt war, so wenig zu kommunizieren. Wem erzählte ich jetzt, was ich aß? Trank? Wenn ich Bauchschmerzen hatte oder gerade Bridgerton streamte? Wem schickte ich die Videoaufnahme von drei Tauben, die um eine Kotzpfütze herumhüpften und gelegentlich Dinge aufpickten, die aussahen wie die Reste einer Portion Mapo Tofu?
In meiner Verzweiflung schickte ich das Video an Milan. Drei Stunden später blockierte ich ihn, ohne eine Antwort bekommen zu haben. Danach schickte ich über die Einstellungsfunktion Einladungen raus, um doch noch ein paar Leute zu animieren, Signal runterzuladen — ich wusste, dass das irgendwie heuchlerisch war, fühlte mich aber ernsthaft alleine und isoliert. Es war frustrierend zu merken, dass sich seit meinem »Drop-out« niemand mehr für mich interessierte, wie auch — ohne Insta und Telegram war ich praktisch nicht mehr erreichbar, wer schickte eine E-Mail? Oder eine SMS? Um von meiner Mitteilungssucht runterzukommen, ließ ich den ganzen Tag mein Notizprogramm offen und tippte darin Nachrichten an mich selbst. Gerade gefrühstückt, Dinkelflocken, Hanfsamen, Flohsamenschalen, Heidelbeeren, Kurkuma und ein halber Apfel. Oder: Gerade einen Infoclip über den Detonationsradius von Atombomben geschaut. Sollte man abseits der Großstädte wohnen? Irgendwann las sich das Ganze wie ein Tagebuch.
Um mich weniger allein zu fühlen, ging ich mittags in das Stehcafé hinter der Unterführung am Bundesplatz. Vor der Unterführung hingen wieder irgendwelche Kids ab und kifften. Ich hatte Lust auf Eistee, aber es gab hier nur den überzuckerten von Lipton. Zuckerfrei trank ich nicht, wegen des Aspartams, also nahm ich mir ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank und kaufte ein Rubbellos. Mit einer Zehncentmünze kratzte ich es an der Theke frei. Heute arbeitete hier wieder die junge Frau, die aussah, als hätte sie eine Jugend in der Antifa hinter sich. Ich begann das Gespräch mit der Beobachtung, dass seit einer Woche nicht mehr die Sonne geschienen hatte. »Ich wollte eigentlich mal wegfahren«, sagte die Frau. »Ist aber ausgefallen, weil meine Vertretung Corona hatte.« Wir redeten über das Wetter oder darüber, was wir mit einem Lottogewinn machen würden. Sie würde sich davon eine Kart-Bahn kaufen. Außerdem etwas fürs Klima spenden. Ich mochte Karts nicht, Autos auch nicht, Flugzeuge noch weniger, weil ich Höhenangst hatte — U-Bahn war okay, solange es nicht stank und niemand Gitarre spielte. Ich fuhr entweder Rad oder blieb zu Hause. »Ich glaub an Zen und Ying und Yang und so was«, sagte sie. Ich sagte ihr, dass ich an Horoskope glaubte. »Echt jetzt? Du siehst gar nicht aus wie ne Eso-Tante.« »Liegt wahrscheinlich am Lippenstift.« Sie wollte, dass ich ihr Sternzeichen errate. Als ich dazu ansetzte, sie zu fragen, ob sie die Co-Star-App kannte, kam ihr Freund in den Laden, er hatte einen Fünfjährigen auf dem Arm, außerdem einen pinkfarbenen Tretroller in der Hand. Ich trank mein Wasser aus und ließ zehn Cent in der Trinkgelddose.
Zu Hause wartete eine Signal-Nachricht auf mich. Es war eine automatisierte Benachrichtigung — Senta Thews ist jetzt auf Signal! Sie war die einzige, die sich erbarmt hatte, meiner Einladung zur neuen Kommunikationsplattform nachzukommen. Ich schickte ein Emoji und ein hello, dann eine Sprachnachricht hinterher. Früher waren meine Sprachnachrichten immer kurz gewesen, wenn ich denn überhaupt eine schickte. Diesmal überschritt ich die Acht-Minuten-Marke.
Senta reagierte abends mit einem Herz. Kurz darauf schickte sie eine Sprachnachricht, die ich in der Küche anhörte, während ich Wasser für eine Wärmflasche heiß machte, ich war barfuß. Sentas Date war bedrückend mittelmäßig gewesen. Kennst du das, wenn dich Leute an deinen Vater erinnern?, fragte sie. Dann ging es um eine verpatzte Deadline. Und ob ich schon die Petition unterschrieben hatte, in der die BVG wegen eines rassistischen Übergriffs zur Verantwortung gezogen werden sollte. Kein pressure, wär nur ne wichtige Angelegenheit.
Sie schloss ihre Sprachnachricht mit:
Denkst du, ich sollte zu meinem Dad fahren? Ich glaube, es ist schwer für ihn gerade, seit der OP ist er nur noch zu Hause. Fühl mich irgendwie verantwortlich, kann aber auch gerade nicht weg, weil ich zwei Schichten übernommen hab.
Ich legte mich mit Wärmflasche ins Bett und ging ausführlich auf alle Punkte ein. Meine Sprachnachricht war über zehn Minuten lang. Bevor ich anfing, eine Dokumentation über die Rajneesh-Kommune zu streamen, schickte ich Senta noch vier Links hinterher. Ein Link zu einem Rezept mit Tahini, eine Publikation über »Witchcraft and Feminism«, ein Link zu einem Caroline-Polachek-Song, den Link zum Trailer der Doku, die ich jetzt schauen wollte. Ich ließ noch fallen, dass mein Bruder sich gemeldet hatte, ich aber nicht mehr wusste, wie ich auf ihn reagieren sollte — Sentas Vorschlag: Vielleicht distanzieren? Meine nur, damit du dich schützt …? Sie schickte mir einen Link zu einem Podcast, den ich vor zwei Tagen gehört hatte, als ich meine Decken entstaubte. Es ging um Leute, deren Familienmitglieder in den letzten eineinhalb Jahren Impfgegner geworden waren. Ich hatte einen halben Nachmittag recherchiert, in der Hoffnung, Lösungen zu finden, zumindest Strategien. Letztlich lief es darauf hinaus, wie hoch man die Chancen einschätzte, die andere Partei überzeugen zu können. Ein Großteil der Leute war zwar angstgesteuert, ließ aber noch mit sich reden. Hatte man allerdings Pech, stand man vor einer Granitwand neuer Glaubenssätze. Verhältnismäßig war zwar nur ein kleiner Teil in einen Zustand abgedriftet, der mit religiösem Fanatismus zu vergleichen war, dieser Teil war jedoch — und das unterstrichen Psychologinnen — völlig logikresistent.
Ich schrieb thx. Dann schickte ich Senta noch ein Meme mit Rory Gilmore, außerdem ein HDGDL. Danach schaltete ich auf Flugmodus. Ich hatte genau vor einer Woche Instagram gelöscht.
*
Nachdem ich wieder mit Senta schreiben konnte, stieg der Content, den ich an sie schickte, um 1050 Prozent. Ich schickte ihr alles. Guten-Morgen-Selfies, Gute-Nacht-Grüße, verschiedene Outfit-Optionen, weil ich nicht entscheiden konnte, welche der Secondhandklamotten, die ich momentan bei Momox bestellte, ich behalten sollte. Jeansjacke mit Riemchen? — Auf jeden Fall behalten. Anzughose mit ausgestellten Beinen? — Auch. Fake-Leder-Blouson? Auch. Rosa kariertes Kostüm zwischen Margaret Thatcher und Avril Lavigne? Hm. Könnte man zurückschicken … fühlst du dich darin wohl? Letztlich behielt ich alles, weil ich keine Motivation hatte, das Haus zu verlassen und zum DHL-Shop zu gehen. Die Kleidungsstücke waren ein Hoffnungsschimmer auf ein anderes Leben — ein Leben, in dem Sommer sein würde, ich nicht mehr auf das Internet angewiesen wäre, meine Akne verschwunden und Senta und ich auf einem Outdoor Rave mit Öko-Toilette in Südbrandenburg eine halbe Ecstasy nahmen.
Senta hatte sich vor Weihnachten mit fast allen ihren Freundinnen in Berlin gestritten — »Abstreifen toxischer Beziehungsmuster«, nannte sie das. Ich fragte nicht, warum. Ich war froh, dass sie da war. Sie hatte in Frankfurt Curatorial Studies studiert, daher kannten wir uns überhaupt, und überlegte, sich im nächsten Semester für einen PhD in Practice in Brighton einzuschreiben. Nachts schickte sie mir Links zu Artikeln über Themen, von denen sie dachte, dass sie mich interessieren könnten, die Geschichte feministischer Bewegungen in Polen, Reviews über neue Sci-Fi-Titel, den Trailer der neuen Bridgerton-Staffel, Rezepte ohne Gluten, Screenshots von attraktiven Leuten, die sie auf OkCupid gesichtet und in der Tennisbar getroffen hatte. Vor zwei Monaten war sie für eine Woche auf den Malediven gewesen, mit einem Banker, der angeblich eine Poly-Beziehung hatte. Momentan arbeitete sie in einer Galerie, an der Garderobe eines Clubs und in einem Medienstatistik-Institut — was sie dort genau machte, wusste ich nicht. Manchmal schrieb sie Artikel für Popkultur-Magazine, die sich auf Ostberlin spezialisiert hatten, oder legte auf. Sie war in zwei feministischen Lesekreisen und einem Kollektiv organisiert, in dem FLINTAS einen Raum in digitalen Kunst-Diskursen einforderten. Keine Ahnung, ob sie irgendwas aus meinen Sprachnachrichten rausbekam. Vielleicht gab ihr mein eintöniger Alltag, der sich wahrscheinlich kaum von dem einer Rentnerin unterschied, ein Gefühl von Sicherheit.
Zehn Tage nachdem ich Instagram gelöscht hatte, stand Senta unangekündigt vor meiner Haustür. Sie trug eine fliederfarbene Maske und einen knöchellangen Jeansmantel, in der Hand hielt sie eine gelbe Plastiktüte. Sie hatte fünf Tütensuppen, einen Smoothie, Dinkel-Toast und eine kleine Flasche Cola dabei. Senta kam so gut wie nie nach Südberlin. Sie hatte ihre Augenbrauen dunkelblau nachgemalt und verströmte einen Geruch, der mich an Kölnischwasser erinnerte. »Soll ich die Sachen einfach vor die Tür stellen? Wie geht’s dir, Maus?« Sie dachte, ich hätte Covid. Ich ließ sie rein. »Hast du in deiner Sprachnachricht nicht permanent von Isolation geredet?«, fragte sie entgeistert. Senta hatte eine ADHS-Diagnose. Ich war froh, dass sie mich falsch verstanden hatte. Ich gab ihr eine kurze Wohnungsführung. Sie fragte, warum in allen Zimmern auffüllbare Tempo-Boxen standen. Eine stand neben dem Bücherstapel links von meinem überdimensionalen Bett mit dem weißen, geriffelten Bezug. Im Wohnzimmer neben meinem Flachbildschirm und dem Lavendelduftöl. Im Flur zwischen dem FFP2-Masken-Vorrat. Ich sagte, wegen meiner Hausstaubmilben-Allergie. Danach sichtete sie mein Bücherregal. »Stört dich die Kita da unten nicht?«, fragte sie, wahrscheinlich in der Hoffnung, Dinge zu finden, die an meiner Wohnung scheiße waren. Um ihr entgegenzukommen, sagte ich, dass es im Winter eiskalt war und ich nachts mit einer Kapuze schlief. Ich entsperrte mein iPhone und suchte das Selfie, auf dem ich die braune Fleecekapuze trug. Ich hatte es dem Screenshot von einem Ewok, der auch eine braune Kapuze trug, gegenübergestellt. Senta lachte und gab mir mein iPhone zurück. Sie meinte, dass sie unbedingt aus Neukölln rausmusste. Sie hatte heute eine Katze mit einer Art Elefantitis am Hinterbein gesehen und fand es grauenhaft, dass das Tier von vier E-Boys gefilmt worden war. Ich war mir nicht sicher, ob die Katze als Metapher gemeint sein sollte. Sie bot mir eine Mozartkugel an. Ich lehnte ab. »Wegen der Histamine.« »Was heißt das?« »Ich krieg davon Pickel.« Es war nett, dass sie aus Rücksicht behauptete, meine Akne sei viel besser geworden.
An dem Tag redeten wir viel über Social Media, Instagram und unsere digitale Sozialisierung. Senta hatte keine Geschwister, sie war alleine mit ihrem Vater aufgewachsen. Ihre frühe Kindheit hatte sie in anti-hierarchisch organisierten naturheilkundlichen Gruppenseminaren in der Nähe vom Chiemsee verbracht. Es war immer jemand da gewesen, der sich mit ihr beschäftigt hatte — ihre Mutter hatte sie nie vermisst. Sie meinte, es sei eine gute Kindheit gewesen. Wir bestellten Samosas und teilten uns die Cola, die sie mitgebracht hatte. Senta rauchte alle zwanzig Minuten eine Zigarette auf meinem Fensterbrett, momentan waren es die dünnen von Vogue. Ihren ersten SchülerVZ-Account hatte sie mit zwölf eröffnet, sie war sechs Jahre jünger als ich. Wir fanden beide, dass das einen signifikanten Unterschied machte, es war so, als wären wir in gänzlich unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen. Ich war siebzehn, als die Plattform sich an meiner Schule ausbreitete, aber letztlich nutzten es dann doch nur wenige, machten schale Lehrerwitze, gruschelten — niemand interessierte sich so richtig dafür. Davor war mein einziger Kontakt mit dem Internet ICQ, wo ich abends mit Philipp und Ilona chattete. Die Leute, die Ende der Achtziger geboren wurden, waren Zwischenwesen, Kinder ohne Smartphones und Reddit-Foren, die in den Büros ihrer Väter heimlich Modems hochfahren ließen. Senta hingegen hatte ihre komplette Pubertät im Internet verbracht, fand es aber zu kurz gegriffen, ihre Teen-Angst nur auf Social Media zu schieben. Sie fragte, ob ich ein Foto für sie machen konnte, für eine Story. Ich machte vierzehn verschiedene Bilder, bis sie zufrieden war.
Dass Senta jünger war als mein kleiner Bruder, fand ich schwer zu greifen. Es war nicht nur das geschwisterliche Gefälle, das über die Kindheit hinaus ins Erwachsenenalter reichte, es lag daran, dass Senta ein ganz anderes Leben führte als er, sie war unabhängig, hatte ihren Geburtsort verlassen, sie war im Gegensatz zu ihm ein gänzlich autonomes Individuum. Ich kam mir schlecht vor, so zu denken. Anders als ich hatte mein Bruder kein soziales Netz, das ihn nach dem Tod unseres Vaters aufgefangen hatte. Die einzigen Leute, mit denen er damals hin und wieder in unserem Keller abhing, waren Dorfjungs, die sich gegenseitig beleidigten und Red Bull tranken. Dann löste sich auch noch seine World of Warcraft-Community auf und er verlor den Kontakt zu seinen digitalen Freundinnen. Er war gerade mal fünfzehn gewesen. Ich hatte mir eingeredet, dass ich die Depressionen, vielleicht sogar die Psychose hätte verhindern können, wenn ich nicht sofort ausgezogen wäre, aber der Tod hatte diese Kluft in unsere Familie gerissen und uns alle — meine Mutter, meinen Bruder, mich — in hermetisch abgeriegelte Zonen geworfen.
Mir fiel auf, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wie er sich im Internet verhielt. Hatte er einen Discord-Account? Auf welchen Dating-Apps war er angemeldet? War er überhaupt auf Dating-Apps angemeldet? Trieb er sich auf Incel-Boards rum? Bisher ging ich davon aus, dass er in den Telegram-Gruppen nur zuschaute, passiv teilnahm — aber woher sollte ich das wissen, vielleicht war er einer der Leute, die anonym reihenweise einschlägige Memes produzierten, oder jemand, der eine Facebook-Seite hostete. Ich machte mir Sorgen.
»Wer weiß«, sagte Senta, »vielleicht würde es wirklich alle Probleme lösen, sich aus dem Internet zu löschen.« Sie spielte gedankenverloren mit ihrer Zigarettenschachtel und erwähnte Marx’sche Entfremdung im digitalen Raum. Ich sagte, dass ich mich zu Tode langweilte, mich ausgeschlossen fühlte, dafür jetzt wusste, welche Produkte bei EDEKA