Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Zwei Tage im Herbst. Ein Amoklauf in einem Hamburger Einkaufszentrum verschafft Felix Breidel eine zweifelhafte Premiere. Acht Tote. So viele hatte es noch nie gegeben, in fast 25 Jahren Polizeiarbeit nicht. Der Attentäter war Mitglied im Slow-Circle, einem Verein, der sich für ein bewussteres Lebenstempo in der schnelllebigen Gesellschaft einsetzt. Während Breidel mit den Ermittlungen seine Eheprobleme verdrängt, führt ihn die Spur zu BraInfluence, einem Pharma-Unternehmen, das eine besondere Methode entwickelt hat, leistungssteigernde Medikamente zu verabreichen. Im Wirtschaftsministerium stößt die Idee des optimierten Arbeitens auf großes Interesse. Aber die politischen Pläne haben nicht nur Befürworter ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über das Buch:
Montag, 26. Oktober
Stunde null
Neue Horizonte
Komfortzonenränder
Der Alltag unter Laborbedingungen
Erholungsentbehrung
Freie Bahn
Klimatische Veränderungen
Stumme Augen
Zeitverschwendung
Die Leere im Brennpunkt
Das träge Herz
Der große Lauf
Dienstag, 27. Oktober
Rettungsroutine
Keine Atempause
Luftholpropaganda
Nachtschattengewächse
Fehlerintoleranz
Vom Nutzen der ungewissen Zukunft
Stillstandsdynamik
Utopische Dämpfe
Der Sturm vor der Ruhe
Die Glut der abgebrannten Tage
Die Feinde des Neuen
Kalt und still
Im Gespräch mit dem Autor
Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
https://edelelements.de/https://www.facebook.com/EdelElements/
Copyright © 2016 Dirk Bathenwww.dirkbathen.detwitter.com/mentalreserven
Covergestaltung: Designomicon Lektorat: Dr. Rainer Schöttle Korrektorat: Susanne Schindler Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
The trouble with the rat race is
that even if you win,
you’re still a rat.
Lily Tomlin
Ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit, und auf einmal erscheint dieses Bild, diese Idee, die dich begreift, aber du sie nicht. Dieses Irgendwas, das deinen nächsten Schritt überwacht. Und bevor man die Escape-Taste drücken kann, installiert sich das Programm und schreibt sich in die persönliche Konfigurationsdatei. Ändert alles.
Robert Wagner starrte durch die verglaste Platte im Mauerwerk. Der hässliche Ausschnitt Betonbauästhetik auf der anderen Straßenseite war eine Beleidigung für die Augen. Wo hörte der Schmerz auf? Hier? Zwischen diesen Wänden? Der Wasserstrahl schoss aus dem Hahn und knallte ins Waschbecken, um sofort wieder im Abfluss zu verschwinden. Der Schmerz hörte immer da auf, wo er begann. Immer kehrte er zu seinem Ursprung zurück. Wenn er überhaupt je wanderte. Wagner drückte sich mit hohler Hand kaltes Wasser ins Gesicht. Weniger ein Waschen, mehr ein Klarwerden. Ein Blick in den Spiegel, nasse Strähnen klebten auf der Stirn, Tropfen liefen die Wangen hinunter. Um ihn herum war alles still und weiß. Im Spiegel starrte er in seine leeren Augen. Waren sie jemals voll gewesen? Keine Antwort. Stattdessen stellte das Spiegelbild die gleiche Frage. Er schloss die Lider und erhoffte sich eine universelle Ruhe, unbehelligt von Erinnerungsspuren und Erwartungsplänen. Sie kam nicht. Durchs Fenster verkündeten die Kirchturmglocken die nächste volle Stunde. Jeder Schlag eine Mahnung. Die Zahnbürste tötete die Bakterien der Nacht und stellte die innere Sicherheit wieder her. Zumindest im Mundraum.
Wagner atmete tief durch, strich die blonden Haare zurück auf den Kopf und ging in die Küche. Er zog die Teezange aus dem Becher und klopfte die aufgeweichten Blätterkrümel in den Müll. Das grüngelbe Wasser schwitzte. Die Uhr am Herd digitalisierte die aktuelle Zeit als symmetrisches Symbol: eins, null, Doppelpunkt, null, eins.
Der alte Holzstuhl wackelte. Wagner streckte die Füße aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, drückte seinen Rücken durch. Gleichmäßig ging die Luft in den Körper hinein, dann wieder hinaus. Die Nervosität hatte sich gelegt. Der Tee wärmte die große Ruhe, die durch ihn hindurchströmte. Er pustete sanft in seinen Becher und schloss die Augen. Der Duft von frischem Heu wickelte sich um die Gedanken an die anstehende Erneuerung, an das erwartbare Wunder, das er in die Welt zu tragen beabsichtigte.
Im stumm geschalteten Fernseher schlug der Bundeskanzler immer wieder mit der Faust auf das Rednerpult und wirkte sehr engagiert. Auf seiner Stirn und am Hals traten die Adern deutlich hervor. Ein surreales Bild, so ganz ohne Ton. Hinter ihm leuchtete ein grünes Banner, auf dem in weißer Schrift eine öffentlichkeitswirksame Parole prangte: „Gesellschaftliches Wohlergehen steigern, statt nur wirtschaftliches Wachstum fördern.“
Um halb elf stülpte Wagner die Kapuze seines Pullovers über den Kopf, schloss die Wohnung ab und ging drei Stockwerke nach unten. Der Hausflur roch nach Putzzeug und sozialer Vernachlässigung. Alles war wie immer. Ein dezenter Hauch von Alltag schob sich an den Wänden vorbei. Nur die Umhängetasche fühlte sich anders an als sonst.
Mit jeder Stufe verblassten die Nachrichten, die eben noch durch seinen Kopf schlichen. Jede Stufe rüttelte seine Pläne in die richtige Position, bis alles ganz fest saß. Die gute alte Zeit, es hatte sie nie gegeben. Er öffnete die klapprige Haustür, folgte dem Wind nach rechts und begann seine Wanderung zum Nullpunkt, die Tasche nach hinten geschultert. Durch den Stoff spürte er das Metall in der Nierengegend. Es gab kein Zurück mehr, keinen Zweifel und kein Morgen. Nur ein Ziel. Alle Trugbilder der Gegenwart verschmolzen zu dieser einen Vorstellung: Die Welt duldet kein Scheitern, mein Scheitern duldet keine Welt.
Wagner bog auf die Große Bergstraße und umkurvte ein Werbeschild. „Body and Soul“ flüsterte das Display in harmonischer Schrift. Eine lächelnde Frau versprach Rundumregeneration beim Besuch des neuen Wellness-Centers, ihr linkes Auge nur ein Bild, ihr rechtes eine kleine Kamera. Das Auge verfolgte ihn. Wagners Ignoranz wurde in Datenbanken gespeichert, Profile abgeglichen, während die Algorithmen neue Botschaften suchten, um ihn an der nächsten Straßenecke mit besseren Argumenten zu treffen. Was einzig mir gehört, ist der Glaube an den Widerstand, dachte Wagner und fokussierte seine Schritte. Aber auch dieser Glaube war bereits vereinnahmt, half der Marktwirtschaft beim Überleben.
Zwecklos war die Suche nach einer passenden Stimmung. Jede Spur endete mit einer Fehlermeldung. Vom großen Fluss wehte der Duft der Freiheit herüber, der Hafen spülte zeitlose Basisgeräusche in sein Ohr. Ein Auto übersah die Grünphase der Fußgänger, bremste abrupt und kam wenige Zentimeter vor seinen Beinen zum Stillstand. Wagner blickte in das Gesicht des Fahrers, der hinter der Scheibe entschuldigend die Hände hob. Der Tod lauerte überall, man musste ihm nur begegnen.
Die letzten hundert Meter. Wagner reckte den rechten Arm in die Höhe, der Schweiß unter den Achseln roch nach Zorn und Taktik. Der rote Schriftzug bohrte sich in seine Augen. Ein Einkaufszentrum war vielleicht nicht besonders originell, aber als Hochburg des Überflusses hatte der Ort eine gewisse Symbolkraft. Und es gab genügend Öffentlichkeit. Wenn die Menschen Glück hatten, blieben sie nur Zuschauer. Wenn sie Pech hatten, würden sie bald namenloser Teil einer Titelgeschichte sein, die sich auf allen Kanälen rasant verbreitete.
Wolken schoben sich vor die kraftlose Sonne. Sofort kühlte die Luft ab. Das Neue trabte durch die Zeit und veränderte die stets unruhige Gegenwart. Wagner fühlte sich stark und bereit für alles, was kommen mochte. Selbst die Wolken konnten ihm nichts anhaben. Denn dahinter wartete die Sonne. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den Menschen wieder bunte Lichtflecken ins Gesicht wischen würde. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er auf die Eingangstür zu, die ihre glasigen Wände beiseiteschob. Sein Herz zuckte gleichmäßig. Innen war alles sauber und klar. Nirgendwo gab es Anzeichen für das bevorstehende Chaos. Aber jede Ruhe war nur eine Ruhe vor dem Sturm. Und er war derjenige, der frischen Wind brachte. Eine Minute noch, dann würde dieser Ort für immer von ihm besetzt sein, eine Gedenkstätte, auf ewig graviert mit seinem Namen.
Wenn man die Zeit umkehren will, muss man hinten anfangen, dachte Wagner und bewegte sich an den Geschäften und Marktständen vorbei, alle paar Meter eine andere Duftwelt. Zuerst die Penetranz süßlicher Parfümerie-Abgase, etwas weiter das Verwöhnaroma von frischem Kaffee, abgelöst durch den Kunstledermief billiger Schuhe, der unmerklich überging in den dichten Nebel italo-asiatischer Mittagstischangebote.
Er fühlte sich wie der Gründer einer neuen Zeitrechnung. Dieser Gedanke machte Mut. Vor dem Eingang zum Frischemarkt hörte er das Piepsen der Scannerkassen, das Rascheln der Papiertüten. Menschen nahmen sich Plastikkörbe vom Stapel oder ließen einen Einkaufswagen von der Kette. Andere hatten ihren Spaziergang beendet und parkten den Wagen wieder am Eingang, wo er auf die nächste Ladung wartete. Glücklich waren die, die jetzt mit ausgebeulten Tragetaschen fortschlichen. Sie wussten es nur noch nicht.
Von der neonbeleuchteten Decke tropften bedruckte Schilder an dünnen Seilen herab und versprachen einen Hauch von Überblick. Sonderaktionsinformationen und musikalische Belanglosigkeiten säuselten durch die Lautsprecher und wühlten sich in Kundenhirne. Die hintergründige Kraft des Beiläufigen. Die verborgene Macht aus der zweiten Reihe. Eine große Kunst, so eine Gratwanderung auf der Schwelle des Wahrnehmbaren.
Am Gemüseregal vorbei. Der Duft frischer Zitrusfrüchte drang in seine Nase. An der grauen Decke erkannte er neben den Schildern und Lampen auch Feuermelder, Lautsprecher, Belüftungsschlitze. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, sog er die Duftbotschaften in sich auf. Wagner beugte sich über die Orangen, Zitronen, Mandarinen. Sie rochen nach nichts. Ein Grinsen baggerte sich in das harte Gesicht. Interessant, wie sehr man es nicht schaffte, keine Erwartungen zu haben. Und immer, wenn die Welt von unseren Vorstellungen abwich, fühlten wir uns um die Wahrheit betrogen. Das Grinsen verschwand. Wagner kniff die Augen zu und musste mit ansehen, wie die Realität seine Erwartungen neu formatierte. Er holte tief Luft und atmete seinen Hass heftig zwischen die vollen Regale.
Überall lockten Glück und Wonne. Wer nicht danach griff, trug selbst die Schuld. Als Kind der vielen Möglichkeiten hatte der Mensch noch nie einen freien Willen. Er stoppte vor der Kühltheke am hinteren Ende des Marktes. Sein Blick fiel hinab auf die Milchpackungen. Die unteren Tetrapacks standen in einer weißen Pfütze. Eine zerstörte Hülle, irgendwo inmitten der kartonierten Armee, war schuld an dem Ausfluss. Die Milchtüten standen in ihrem eigenen Blut. Auslieferung, dachte er. Entleerung. Seine Gedanken reduzierten sich auf Stichworte.
Hier musste die neue Zeitrechnung beginnen. Er drehte sich um und schaute in die prall gefüllte Leere der Regalwände. Genau hier lag der Nullpunkt. Mit einer schnellen Bewegung glitt seine Hand in die Umhängetasche und ertastete den Griff. „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren“, flüsterte Wagner und zog die Glock 17 aus der Tasche. „Es ist die Zeit der Monster.“
Die Waffe lag fest in seiner Hand. Links neben ihm zwirbelte ein älterer Herr einen Becher Schlagsahne aus der Papppalette. Aus den Lautsprechern sang eine unnatürliche Stimme „What is love?“, unterlegt mit längst überflüssigen Eurodance-Beats.
Der erste Schuss.
Knallte durch die filtrierte Luft und zerrüttete die Befindlichkeit aller Umstehenden.
„Baby don’t hurt me. Don’t hurt me. No more.”
Ein dunkler Punkt breitete sich in Windeseile auf dem grünen Hemd aus, das braune Sakko blieb zunächst unbefleckt. Der Becher Schlagsahne knallte mit Plastikscheppern auf den Boden und zerplatzte. Der Mann sackte hinterher, fiel auf die Knie, hielt sich mit der Hand am Rand der Kühltheke fest und plumpste zu Boden.
Durch die Schreie hindurch begann Wagner seinen Marsch. Menschen versteckten sich hinter Tiefkühltruhen, rannten zwischen die Regale. Eine junge Mutter schob ihr Kind vor sich her und verschwand im Gang mit den Süßigkeiten.
„Oh I don’t know. Why you’re not fair.
I give you my love. But you don’t care.“
Wagner hob die Hand, ein Blick zur Waffe, mit Feuer in den Augen. Vor ihm stand ein Mann mit Hornbrille und starrte ihn an. Sein Mund war offen, aber er brachte keinen Ton heraus. Der letzte Atem wollte Stimme werden und konnte nicht.
Der dritte Schuss traf eine Frau, vielleicht Mitte vierzig, in die Schulter. Der Druck warf sie ins Gewürzregal. Dosen prasselten auf sie nieder. Wagner stieg über einen grauhaarigen Mann hinweg, dessen Jacke das Blut aufsaugte, das ihm aus dem Rücken lief. Die Kassen waren längst unbesetzt. Durch die engen Gänge drückten sich Menschen am Fließband vorbei nach draußen. Eine junge Frau in blauer Trainingsjacke hielt sich mit blutverschmierten Händen am Regal mit den Hygieneartikeln fest.
Raus aus dem Supermarkt. Auf der Galerie im Obergeschoss verfolgten Menschen aus sicherer Entfernung seine Schritte. Ein Schuss in ihre Richtung, eher ziellos. Schreiend liefen die Körper auseinander. Aus den überlasteten Stimmen ergoss sich eine unverdaulich große Dosis Abenteuer.
Wagner betrat das Modegeschäft und schoss einer Schaufensterpuppe in den Kopf. Das Plastik spritzte hoch. Die Kugel hinterließ ein unförmiges Loch in der gekräuselten Stirn. Aus den Umkleidekabinen kamen immer noch modebewusste Menschen, die schnell merkten, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Zwei bezahlten mit dem Leben. Durch die Herrenabteilung hindurch sah er den Ausgang, der alle Besucher wieder auf die Straße spuckte, hin zu neuen Möglichkeiten. Auf dem Glas bewegten sich Millionen kleiner Risse vom Einschussloch weg. Wagner stieß die Tür auf und ging ins Freie.
Die Wolken spuckten Regen, leicht wie Stecknadeln. Nach der Euphorie kam die Erschöpfung. Er blieb stehen, die Waffe noch fest in der Hand. Der Himmel wurde dunkler. Von einer Sekunde auf die andere schickten die Wolken alle Tränen der Engel auf einmal zur Erde, bis die Schaufenster zerliefen. Der Regen prasselte gegen das Glas, auf dem Weg nach unten verloren die Tropfen jede Hoffnung.
Ein Kribbeln auf der Kopfhaut, Feuchtigkeit im Gesicht. Der Regen lief die Stirn herunter, den Hals, kroch unter die Kleidung, kalt und mit einem Geruch wie das modrige Wasser, in dem schon viel zu lange tote Blumen verfaulten. Unter ihm öffnete sich der Boden. Das Wasser spülte die Erde weg und riss ihn mit sich, hinein in Sackgassen der Trauer. Umkehrung abgeschlossen. Jetzt konnte die neue Zeit beginnen. Wagner kniff die Augen zusammen, öffnete den Mund und führte den Lauf der Pistole ein. Stumm zählte er rückwärts. Drei, zwei, eins. Drückte ab.
Blutspritzer färbten den Regen. Rote Tropfen standen für einen kurzen Moment schwerelos in der Luft. Dann fielen sie herunter und klatschten auf die Steine, vermischten sich mit dem Wasser, das immer weiter aus allen Wolken fiel. In die Stille hinein drang das Heulen der Sirenen, das Quietschen der Reifen. Blaulicht spiegelte sich auf der Straße, in den Pfützen, in den Tränen. Alle Lichtreflexe verschmolzen zu einem bunten, grobkörnigen Schleier.
Stunde null.
Kurt Neumann saß auf dem alten Polstersessel und schaute durchs Fenster. Vom Meer keine Spur. Graue Wolken spuckten Wasser auf alles, was nicht rechtzeitig Schutz gesucht hatte. Die Kälte zog durch sämtliche Ritzen, und dieses alte Haus hatte nicht wenige davon. Das leise Heulen des Windes legte sich über die Stille im Zimmer, wurde selbst zur Stille, kaum wahrnehmbar. Neumann fror. Die Wolldecke lag über seinem Schoß. Wolldecke, dachte er, aus hundert Prozent Polyester.
Neumann nahm seine Brille ab, legte sie auf die Plastikdecke, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Juli 1993. Der erste Urlaub hier. Flitterwochen. Seine Frau und er hatten beim Postamt extra noch die neuen Postleitzahlen erfragt, um die Urlaubsgrüße korrekt zu adressieren. Zwei Wochen später hatte er seinen neuen Job angetreten. Ein Vierteljahrhundert war das jetzt her. Dieser Sessel war schon damals da gewesen, das Polster noch frisch, die Lehnen nicht zerkratzt. Das Postamt gab es nicht mehr. Der Supermarkt im Nachbardorf beherbergte seit einigen Jahren auf fünf Quadratmetern die einzige Poststelle im Umkreis von zehn Kilometern. Erst vorgestern war er dort gewesen, um die Postkarte abzuschicken. Neues wird so schnell alt, dachte Neumann, dachte an die Aufbruchstimmung jenes Sommers, an den Enthusiasmus, mit dem er im Labor gestanden hatte, alles zum Wohle der Menschen. Er dachte an die vielen Urlaube seit jener Zeit, die im Laufe der Jahre viel zu schnell vergangen waren und ihn wieder zurückgeschleudert hatten in die Routine, die diese Urlaube erst möglich machte. Eine Routine, die in mehr als zwei Jahrzehnten langsam gewachsen war. Neumann konnte es exakt zurückdatieren. Er wusste, wann die Routine umgekippt war in eine blasse Wiederkehr der täglichen Langeweile. Vier Jahre und zwei Monate war das jetzt her. Wie hatte er das überhaupt so lange durchgehalten? Er mochte seinen Job nicht mehr. Die Zeit veränderte vieles. Neumann hatte über alles genau nachgedacht. Diese Routine würde es nicht mehr geben. Sie war ab jetzt nicht mehr Teil seines Lebens.
Seit der alte Chef abgedankt und sein schnöseliger Sohn die Geschäfte übernommen hatte, war nichts mehr wie vorher. Der Senior war schon immer konsequent gewesen, bei allem, was er tat, und er mischte sich nach seinem Rückzug auch konsequent nicht in die Pfuschereien seines Nachfolgers ein. Er hatte Neumann gegenüber einmal erwähnt, dass es nun nicht mehr seine Firma sei, und er würde seinem Sohn gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen, wenn dieser darum bat. Tat er aber nicht. Also musste der Alte zusehen, wie der Sohn sein Lebenswerk ruinierte, erst das Unternehmen an den Rand der Insolvenz brachte, dann für einen Spottpreis an einen chinesischen Investor verkaufte. Er musste mit ansehen, wie die Firma umbenannt wurde. Der Freitagnachmittag, an dem das neue Logo am Firmengebäude feierlich enthüllt wurde und der Chef voller Selbstherrlichkeit die vielen Fragezeichen in den Gesichtern der Angestellten ignorierte, sie mit noch mehr Fragezeichen ins Wochenende entließ. Dieses hässliche kreisrunde Gelb, dieses zittrige rote „B“ in der Mitte, das aussah wie ein Gehirn. Dieser künstliche Name, den kaum jemand verstand. BraInfluence. Am Montag lag auf allen Schreibtischen die neue Geschäftsausstattung, neue Visitenkarten, ein Leporello, der über die wichtigsten Veränderungen aufklärte und mit unverständlicher Sprache das neue Mission Statement des Unternehmens in die Köpfe der Mitarbeiter zu hämmern versuchte.
„Re-Inventing the Corporate Culture“, hatte Klamberg junior das in der Betriebsversammlung genannt, und drei Viertel der Beschäftigten verstanden nicht mal seine Worte, geschweige denn deren Bedeutung. Neumann weigerte sich so vehement, dieses unsägliche Corporate-Wellness-Armband zu tragen, dass eines Tages sogar eine Abmahnung auf seinem Schreibtisch lag. Das Schreiben war an Ironie nicht zu überbieten, ein Gefasel über Gesundheitsoptimierungen und die Verringerung der Krankenstände, über neue datengestützte Coachingprogramme und unglaublich tolle Zusatzleistungen, die auf Kosten der Firma gingen. Die Einrichtung eines Corporate-Health-Teams war Klambergs viel zu offensichtlicher Versuch, Kontrollwahn und Effizienzoptimierung als Arbeitgeberfürsorge zu verkaufen. Es war so lächerlich.
Der Seniorchef musste all das mit ansehen, und Neumann wunderte sich, wie der Alte das so stoisch ertragen konnte. Neumann hingegen war mittendrin, und er fragte sich seitdem immer öfter, ob das noch das Unternehmen war, bei dem er damals angefangen hatte. Nichts hielt ewig, das wusste er, aber der Wandel, den diese Firma in den letzten Jahren durchgemacht hatte, der erinnerte ihn doch sehr an die Häufungen, mit denen heutzutage neue Produkte auf den Markt kamen, ohne Tradition und ohne Qualität. Man hatte sich noch nicht ganz an eines gewöhnt, da gab es schon wieder eine Nachfolgeversion. Updates erschienen in immer kürzeren Abständen. Jedes Produkt war nur der Vorgänger des nächsten. Alles war, und das war noch so eine Lieblingsfloskel des jungen Klamberg, in einem „permanenten Beta-Stadium“. Ein ständiger Übergang, ohne roten Faden, ohne Orientierung. Wie sollte ein Unternehmen dabei zur Ruhe kommen, Bodenhaftung gewinnen, Routine und Kontinuität aufbauen, die für langfristigen Erfolg so wichtig waren? Klamberg junior machte gar nicht erst den Versuch, den Beschäftigten eine Unternehmensvision zu vermitteln, geschweige denn eine nachvollziehbare Strategie. Er redete nur über Profit, Quartalszahlen, das Überleben der Firma im globalen Wettbewerb. Das sogenannte Mission Statement, das, so stand es im Vorwort, „die Mitarbeiter mit jedem Atemzug inhalieren und damit die DNA des Unternehmens zu ihrer eigenen machen sollen“, bestand nur aus inhaltsleeren Phrasen.
Nichts ist mehr, wie es war, dachte Neumann, und nichts ist so, wie es mal wird. Er dachte an seine Frau, die für all seine Launen und Missstimmungen der letzten Jahre Verständnis aufbrachte, die er liebte, seit über fünfundzwanzig Jahren. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Wenigstens im Privaten hatte er so etwas wie Kontinuität, einen Hafen, der ihm bei den tosenden Wellen da draußen eine vertraute Schutzzone bot. Der Regen schrieb den Namen seiner Frau ans Fenster, der Wind blies ihn wieder weg. Was blieb, war ein verschwommener Blick auf die Welt. Und Kälte. Zitternde Finger, die die Polyesterdecke zurechtzogen.
Am Ende lief alles auf den Kampf zweier Fragen hinaus: Was will ich selbst, und was wird von mir erwartet? Ein großer Konflikt, den jeder Mensch für sich alleine lösen muss. Immer wieder. Und selten genug ließen sich beide Fragen miteinander versöhnen. Rückgrat zeigen oder Marionette sein? Die endgültige Entscheidung war vor einer Woche gefallen, als er Klamberg und Dr. Stranzel im Konferenzraum erwischt hatte, wie sie die Ergebnisse eines Blindtests diskutierten, von dem er nichts wusste, den er niemals gutgeheißen hätte. Sowieso war diese ganze Idee der aspirativen Distanzverabreichung komplett aus dem Ruder gelaufen. Die Kündigung war der einzige Weg. Trotz aller Unsicherheit, die dieser Entschluss nach sich zog. Der Leidensdruck war größer als sein Sicherheitsbedürfnis, größer als jede Utopie sowieso. Und größer auch als die Angst vor dem Unbekannten, das seiner Zukunft bald eine neue Struktur geben würde.
Gestern Abend hatte er Klamberg angerufen, aber nur die Mailbox erreicht. Er wusste nicht einmal, ob Klamberg die Nachricht überhaupt schon abgehört hatte. Dieses Schweben in der Grauzone verursachte ihm ein flaues Gefühl im Magen. Neumann stand auf, sammelte ein paar Sachen zusammen und brachte sie ins Schlafzimmer. Der Koffer lag geöffnet auf dem Bett. Dunkelgrünes, abgewetztes Leder. Die Schnallen dehnten sich auf der Matratze, streckten sich über die Bettmitte hinaus. Daneben stapelten sich Hemden, Socken, Unterwäsche, teils getragen, teils frisch gefaltet. Er sortierte seine Sachen und legte sie sorgsam in den Koffer, stopfte die zusammengerollten Socken in die Rillen zwischen Hemden und Hosen. Die Tagungsmappe legte er ganz oben auf die Kleidung. „International Neuroscience Society. 24th Annual Symposium. Cogniceuticals and Psychopharmacology: Impact on Time Perception, Productivity and Decision Making.“ Er klappte den Koffer zu, ohne die Schnallen zu verschließen.
Der Regen hatte aufgehört, Neumann stand in der Küche und trank ein Glas Milch, als sein Telefon auf dem kleinen Tisch im Flur zu vibrieren begann. Das Klingeln kam erst später hinzu, aus der programmierten Angst heraus, etwas Wichtiges zu verpassen.
„Klamberg. Tag, Herr Neumann.“
„Guten Tag, Herr Klamberg“, sagte Neumann, stellte das leere Milchglas in die Spüle.
„Ich habe Ihre Nachricht bekommen. Ist das Ihr Ernst?“
„Ja, das ist mein Ernst“, antwortete Neumann. Noch immer spürte er keine Befreiung. Noch immer hatte er das flaue Gefühl im Magen. Es drückte von unten gegen seine Stimmbänder. „Herr Klamberg, Sie haben das wirtschaftliche Wohlergehen der Firma im Sinn, und das ist gut und richtig. Sie haben allerdings auch etwas anderes im Sinn, das ist in unseren letzten Gesprächen sehr deutlich geworden.“
„Wovon reden Sie, Neumann?“, fragte Klamberg gereizt.
Neumann hasste es, wenn ihn jemand nur mit Nachnamen ansprach. Und von einem, dessen Vater er hätte sein können, musste er sich so etwas schon gar nicht gefallen lassen, auch wenn er sein Chef war. Neumann blieb besonnen. Die jahrzehntelange Arbeit im Labor hatte ihn zu einem geduldigen Menschen gemacht. Herbe Rückschläge und grandiose Erfolge gingen Hand in Hand, das eine war ohne das andere nicht möglich. Und für einen grandiosen Erfolg musste man vor allem eines haben: Geduld.
„Ich denke, Sie wissen, wovon ich rede. Ich habe mehr als zwanzig Jahre all mein Wissen und meine ganze Kraft in die Forschung gesteckt. Ich habe die Abteilung zu dem gemacht, was sie jetzt ist. Ihr Vater hat damals ein Team aufgebaut, das zutiefst davon überzeugt war, durch diese Grundlagenforschung zum Wohlergehen der Menschheit beizutragen. Medikamente zu entwickeln, die Probleme lösen. Ihre Strategie, wenn man überhaupt von Strategie sprechen kann, löst keine Probleme. Sie schafft neue Probleme. An diesem Vorhaben möchte ich nicht länger beteiligt sein.“
„Neumann, jetzt hören Sie auf mit dem Gerede. Sie leisten gute Arbeit, und das kommt nicht nur dem Unternehmen, sondern auch Ihnen zugute. Wenn Sie mehr Geld wollen, dann sagen Sie das doch einfach.“
„Es geht mir nicht ums Geld, es geht um die Sache.“
„Die Sache, die Sache“, sagte Klamberg schroff. „Die Sache ist die, dass wir mit Ihrer Methode einen Meilenstein gesetzt haben. Den jetzt nicht zu kapitalisieren, wäre kompletter Blödsinn. Überlegen Sie doch mal, was wir damit alles erreichen können!“
„Dass es unserer Abteilung gelungen ist, die Nebenwirkungen auszuschalten und modulierbar zu machen, ist ein Erfolg, der uns wirtschaftlich weit genug bringen wird, Herr Klamberg. Dass Sie aber das ADiV-System zur Manipulation der Menschen einsetzen wollen, ist für mich nicht vertretbar.“
„Ich bitte Sie, Neumann, die Atemwegs-Distanzverabreichung ist Ihr Baby. Da würden wir uns ohne Sie doch gar nicht herantrauen. Sie sind der Forschungsleiter. Wir würden niemals hinter Ihrem Rücken …“
„Aufputschexperimente“, fuhr Neumann dazwischen.
„Professor“, sagte Klamberg langsam. Aus seiner künstlichen Stimme quoll Verachtung für jede Art von Idealismus, der sich nicht am globalen Wettbewerb orientierte.
Neumann ließ ihn nicht weiterreden. „Mit diesem fremdbestimmten Hirndoping greifen Sie in die Natur des Menschen ein. Sie verändern ihn. Sie nehmen ihm seinen freien Willen.“
Es war hoffnungslos. Hatte Neumann wirklich „freier Wille“ gesagt? Jetzt reichte es aber. Klamberg bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. Was bildeten sich diese selbstherrlichen, Produktivität zerstörenden Theoriebolzen nur ein? Wer erlaubte diesen Leistungsparasiten und unzulänglichen Low-Performern eigentlich, sich zum Retter der Menschheit aufzuschwingen? Wer hatte schon das Recht, die Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Hilfsmitteln zu ziehen? War das die Freiheit, die Neumann meinte? Das war doch vielmehr eine neue Art von Bevormundung, dieser alte Glaube, man müsste die Menschen vor sich selbst schützen. Diese sogenannte ethische Grundhaltung brachte nie Geld, sie brachte im Höchstfall Reputation. Aber ein gutes Image allein erzielte keine Deckungsbeiträge. Klamberg wusste für einen kurzen Moment nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Neumann hatte anscheinend endgültig geistige Insolvenz angemeldet. So viel Naivität in einem so klugen Kopf. Er spürte ein warmes Rauschen in seinem rechten Ohr, das Blut schoss ihm in den Schädel. Die Adern dehnten sich aus und machten dem schnellen Strom Platz. Ruhig bleiben, Nils, befahl er sich, bleib ruhig.
„Professor Neumann“, begann Klamberg, „zunächst einmal: Wenn Sie dieses Vorgehen so lapidar als Hirndoping beschreiben, schließe ich daraus, dass Sie diesem Thema nicht objektiv gegenüberstehen. Lassen sie uns doch den Begriff ‚Neuro-Enhancement‘ verwenden. Der ist wertneutraler und für eine unvoreingenommene Diskussion zuträglicher. Das sollten gerade Sie als Wissenschaftler doch beherzigen. Und außerdem …“ Seine Stimme wurde lauter. „Mit Ihren Argumenten müssten dann auch Zigaretten, Alkohol, Kaffee, Schokolade, Meditation, Sport oder andere Substanzen oder Praktiken, die physisch oder psychisch stimulieren oder entspannen, verboten werden.“
„Das ist nicht das Gleiche, Herr Klamberg. Und das wissen Sie auch.“ Mehr konnte Neumann nicht sagen. Mehr wollte er nicht sagen. Es hatte keinen Sinn, noch mal in die inhaltliche Diskussion einzusteigen. Er wusste, worauf das hinauslief. Klamberg war verbohrt, er wiederholte immer und immer wieder die gleiche Meinung. Eine Meinung, die weit davon entfernt war, ein Argument zu sein. Das ständige Wiederholen des eigenen Standpunktes machte aus einer Lüge noch lange keine Wahrheit.
Klamberg seufzte, zögerte kurz, sprach dann ruhig und unaufgeregt weiter. „Herr Neumann, niemand hat die Absicht, diese Substanzen den Menschen gegen ihren Willen zu verabreichen. Das können Sie mir glauben.“
„Ich habe genug gehört und gesehen. Das, was Sie vorhaben, kann und will ich nicht länger unterstützen. Und ich denke auch nicht, dass die Öffentlichkeit ein solches Vorgehen gutheißen würde.“
„Drohen Sie mir etwa, Neumann?“
„Nein, ich drohe Ihnen nicht. Ich sage lediglich, dass die meisten Menschen Ihnen nicht zustimmen würden. Ich halte Ihre Pläne für grundfalsch und stehe für eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zur Verfügung.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Ja, Herr Klamberg. Ich werde heute Abend kurz ins Labor kommen und meine bisherigen Arbeiten dokumentieren. Morgen haben Sie meine schriftliche Kündigung auf dem Tisch. Ich werde die Kollegen informieren und mit den anderen Projektleitern Termine für eine ordnungsgemäße Übergabe machen.“
„Ihre Entscheidung, Neumann. Aber glauben Sie nicht, dass Sie mit einer Abfindung rechnen können.“
„Es geht mir nicht ums Geld, das sagte ich bereits.“
„Denken Sie, in Ihrem Alter haben Sie noch die Chance, irgendwo neu anzufangen?“
Neuanfang, dachte Neumann, ein schönes Wort. Er spürte einen leichten Druck im Herzen, wie ein Knoten, der nach oben wanderte, bis in den Hals, sich dort löste und mit einem kurzen Husten nach draußen verschwand. War das die Befreiung? War das das Gefühl, von dem er gelesen hatte? Er hatte es sich ganz anders vorgestellt, wenn einem ein Stein vom Herzen fiel. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich habe mehr Zeit für mich, so kann man es auch sehen. Und ich muss mich nicht weiter verbiegen.“
„Sie sind altmodisch“, sagte Klamberg abwertend. „Sie sollten lernen, sich auf die neuen Umstände einzustellen. Anpassung, Herr Neumann, war und ist eine Eigenschaft, die die Menschen schon immer vor dem Aussterben gerettet hat. Nur wer sich anpasst, überlebt.“
Neumann kochte innerlich. Vielleicht gehörte es zu dem Gefühl der Befreiung, vielleicht musste das so sein. Vielleicht reinigte es die Seele, wenn man in Wallung geriet. Er versuchte trotzdem, sich zu beruhigen. „Ihre Ideen sind moralisch höchst fragwürdig und haben nichts mit dem zu tun, was die Humanitas Pharma AG auszeichnet.“
Klambergs Lachen drang als metallisches Scheppern in Neumanns Ohr. Es war weniger ein Lachen, mehr eine Mahnung, denn schließlich waren die letzten Gegner der Veränderung immer die ersten Opfer der neuen Zeitrechnung. Seine Worte krochen abschätzig durch die Leitung. „Genau das meine ich, Neumann. Wir sind nicht mehr die Humanitas Pharma AG. Das war das Werk meines Vaters, das ist Jahre her. Die Zeiten haben sich geändert.“
„Ja, das haben sie wohl. Auf Wiedersehen, Herr Klamberg“, sagte Neumann, beendete das Gespräch und legte sein Telefon auf den Esstisch. Das flaue Gefühl im Magen war immer noch da, nicht ganz so intensiv wie vorher, aber es war immer noch da. Und es war nicht zu erklären. Als Naturwissenschaftler beunruhigte ihn das besonders.
Nils Klamberg überprüfte die GPS-Daten, die unter Neumanns Telefonnummer auf dem Bildschirm erschienen. Wie ein letztes Weltgeheimnis drückten sich die Pixel in hellwache Erwartungsaugen, die immer größer wurden. Die Informationen schossen durch den Kopf und suchten sich den Weg dorthin, wo ein normales Gehirn sie verarbeiten konnte. Mit voller Wucht knallten sie gegen die hinterste Ecke des visuellen Kortex und wurden innerhalb von hundertfünfzig Millisekunden verarbeitet. Nur unwesentlich später schüttete die Nebenniere eine große Dosis Adrenalin ins Blut. Die Hormone verbreiteten ihre Lügen im Körper. Klamberg klickte sich durch die Wegbeschreibung. Er schaute auf seine Uhr: halb zwölf, das musste zu schaffen sein, um den Zug nach Berlin rechtzeitig zu erreichen. Dann verließ er sein Büro, fuhr drei Stockwerke runter ins Labor. In der obersten Schublade von Dr. Stranzels Schreibtisch fand er den Schlüssel zu den Schränken mit den Testpräparaten. Klamberg schnappte sich zwei Sprühfläschchen mit flüssigem Conago-Dephretalin und, wo er schon dabei war, ein Päckchen mit Kapseln. Seine Gesichtsmuskeln zauberten ihm ein kleines Lächeln um die Mundwinkel. Es hatte auch seine Vorteile, dass das Präparat noch nicht ganz ausgereift war, und zwei mal zwanzig Milliliter sollten ausreichen für das, was er vorhatte. Klamberg machte sich nicht die Mühe, den Schrank wieder zu schließen. Stattdessen schloss er kurz die Augen und holte einmal tief Luft. In diesem Moment sah er den albernen Duftbaum, der in Neumanns Auto am Rückspiegel baumelte. Sein Lächeln verhärtete sich, als er das Labor verließ. Fünf Minuten später war er auf dem Parkplatz, stieg in seinen Wagen und fuhr los.
Mit leisem Ticken ragten die Sekunden in den Tag hinein. Es gab nichts, woran man sich festhalten konnte. Nur die Zeit versprach etwas Struktur. Sie schubste die Zeiger ohne Unterlass nach vorne, zerstörte jede Stille und knallte wie zwei Flugzeuge hinein in die Wochenanfangsruhe der zivilisierten Welt. Manchmal entfaltete der Tag sein zögerliches Potenzial gar nicht, manchmal entfaltete er es schneller, als einem lieb war. Die unfassbare Wiedereingliederungshärte eines durchschnittlichen Montags. Für jeden kam sie anders.
Felix Breidel blickte auf unzählige Monitore an der riesigen Bildschirmwand. Einige zeigten Vollbilder, andere waren in kleinere Felder unterteilt. Jedes Feld zeigte das grausame Geschehen aus einer anderen Perspektive. Eine kontrastarme Wiederholung dessen, was von den Kameras aufgezeichnet wurde. Schüsse und Schreie ohne Ton. Die Stille ließ das Gesehene surreal erscheinen. Die Luft war zum Schneiden. Noch so jung, die Woche, und schon so grau. Die Bilder frästen sich durch seine Augen und gesellten sich zu den schlechten Träumen, die matt in der hintersten Ecke des Kopfes lagen und nicht verschwinden wollten.
Breidel vertrieb die Gedanken an den Streit, mit dem er diesen Tag begonnen hatte. Es war eigentlich sein freier Tag gewesen, aber die Wirklichkeit hatte ihn wieder zurückgeholt. Simone hatte ihn nur fassungslos angeschaut, als sein Telefon klingelte, als er überstürzt aufstand, die Küche verließ, das Haus, das klärende Gespräch, das gar nicht erst zustande gekommen war. Er wusste noch nicht einmal, was genau sie mit ihm hatte besprechen wollen. Es musste etwas Wichtiges gewesen sein, sonst hätte sie nicht die Kaffeetasse hinter ihm hergeworfen. Es war etwas Wichtiges. Er wollte es nur noch nicht wahrhaben. Breidel seufzte. Das also war der Montag. Neun Tote und, wenn es schlecht lief, eine zukünftige Ex-Ehefrau. Das Wochenende, diese kurzzeitige Knautschzone zwischen zwei beschleunigten Weltbewältigungswochen, war schon lange vorbei. Jetzt ging es weiter in die nächste Woche, durch den neuen Alltag, kaum erholt, immer noch zerknittert. Das Böse hatte immer Konjunktur.
Er löste seine Augen von den Monitoren, fuhr sich mit der Hand durchs furchenreiche Gesicht, weiter über die kurz geschnittenen Haare, betrachtete den kargen Raum. An der hinteren Wand hing ein Jahreskalender in Übergröße, beschrieben mit Einträgen, Strichen, Sternchen, Namenskürzeln. Daneben vier ebenso große Poster, die Lagepläne der Stockwerke. Geometrische Formen in verschiedenen Farben, unterbrochen durch die weißen Gänge. Jedes Kästchen hatte eine andere Nummer, darunter prangte das Logo des jeweiligen Ladens. Graue Pfeile markierten Ein- und Ausgänge, kleine Piktogramme zeigten die Standorte von Toiletten, Rolltreppen, Aufzügen, Geldautomaten.
„Ich denke, das reicht fürs Erste.“ Breidel drehte sich um, blickte in das blasse Gesicht eines Mannes in dunkelblauem Anzug, der mit offenem Mund auf die Monitore starrte, den Kopf schüttelte und dabei abwechselnd seine Glatze rieb und die Krawatte mit der Hand am Hemd feststrich. Breidel verabschiedete sich von den leeren Augen im Kopf des Center-Managers, ging vorbei an den anderen menschlichen Augen im Raum, die die technischen Augen überwachten, und trat hinaus in den Flur. Auf der Galerie lehnte er sich über die Brüstung. Sein Blick fiel auf die Dächer der Marktstände im Erdgeschoss. Es war still. Viel zu still für einen Ort wie diesen. Unten leuchteten vereinzelt die orangefarbenen Uniformen der Rettungssanitäter. Hin und wieder blitzten die Fotoapparate der Kollegen von der Spurensicherung. In ihren Ganzkörperanzügen sahen sie aus wie weiße Blutkörperchen, die sich durch die Adern des Organismus bewegten und versuchten, die Krankheitserreger zu entfernen. Sie kamen immer zu spät, genau wie er.
Fünfundzwanzig Jahre. Seit fast fünfundzwanzig Jahren in diesem Laden. Jubiläum im Januar. Breidel graute vor der Vorstellung, dass er morgens ins Büro kommen würde und ihn alle mit Kuchen und Sekt erwarteten. Dass sie ihm gratulierten, zu fünfundzwanzig Jahren erfolgreicher Verbrechensbekämpfung, zu einer überdurchschnittlich hohen Aufklärungsquote, zu seinem stets vorbildlichen Verhalten gegenüber Kollegen. Ihm graute davor, dass sein Chef ihm eine silberne Anstecknadel an den Anzug heften würde, den er extra zu diesem Tag hätte anziehen müssen. Oder ihm eine Uhr mit Gravur überreichte. Ein Vierteljahrhundert im Dienst von Recht und Ordnung, durch die Scheiße waten, drin rumwühlen, immer auf der Suche nach der stecknadelgroßen Wahrheit, die immer anders aussah, wenn man den Blickwinkel änderte. Jeden Tag aufs Neue. Die Scheiße war immer die gleiche, nur die Eimer waren andere. Aber noch nie hatte es mehr als vier Tote auf einmal gegeben. In fünfundzwanzig Jahren nicht. Vier Tote, das war sein trauriger Rekord, damals, am Abend vor Paulas Geburt, als er mit Glöckner in den Mittelweg gerufen wurde, vier männliche Leichen im dritten Stock. Als Glöckner im Auto noch Witze machte. „In der allergrößten Not führt der Mittelweg zum Tod“, hatte Glöckner auf dem Weg nach Pöseldorf gesagt und dabei laut gelacht. Eine halbe Stunde später wäre er fast der fünfte Tote gewesen. „Unkraut vergeht nicht“, hatte Glöckner im Krankenwagen schwach gemurmelt, während der Arzt notdürftig die Schussverletzung behandelte. Vier Tote. Und jetzt neun. Es gab doch noch Überraschungen.
Aus Breidels Manteltasche ertönten Geräusche. Als würde ein Vorschulkind ohne Notenkenntnis die obersten Tonlagen eines Xylophons durchprobieren. Er fingerte sein Telefon aus der Tasche. „Fink! Wo steckst du?“
„Ich bin unten vorm Kaffeeladen“, sprach eine dynamische Stimme am anderen Ende der Funkverbindung, noch mutig, ohne die Patina des Zweifels. „Wo bist du denn?“
Breidel sah nach links zu der großen goldenen Kaffeebohne über dem Eingang des Ladens, dessen Schaufensterauslage aus Winterkleidung und Küchenutensilien bestand und kaum auf den Verkauf von Kaffee schließen ließ. Er erkannte die roten Haare. Zusammen mit der hellbraunen Jacke sah Fink von hier oben aus wie ein riesiges Streichholz. Ein Streichholz mit Handy am Ohr. „Zweiter Stock. Guck mal hoch, rechts hinten.“
Fink setzte sich in Bewegung. „Alles klar, ich komme hoch.“
Breidel legte den Kopf in den Nacken, schaute durch die Glaskuppel in den grauen Himmel und atmete tief ein und aus. Die beste Atemtechnik konnte keine Zigarette ersetzen. Mit einem Griff in die Seitentasche vergewisserte er sich, dass die Schachtel noch da war.
„Das hat ja was von Tribüne hier oben“, sagte Fink und schaute an Breidel vorbei ins Erdgeschoss.
„Ich habe mir gerade die Videoaufzeichnungen angeschaut.“
„Wir wissen, wer der Täter ist.“
Breidel hob die Augenbrauen. „Respekt, Lennart. Das ging schnell. Wer?“
„Robert Wagner, neunundzwanzig Jahre, wohnt in der Schumacherstraße. Keine fünf Minuten von hier. Hat’s uns leicht gemacht, sein Ausweis war in der Tasche.“
„Na dann.“ Breidel stieß sich vom Geländer los, ging an Fink vorbei und klopfte ihm auf den Rücken. „Das machen wir zu Fuß, ich brauche frische Luft.“
„Ich sage Anja Bescheid.“
Draußen warf Fink sich einen Kaugummi in den Mund und hielt Breidel die Packung unter die Nase: „Auch einen?“
Breidel schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an.
„Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass du immer sofort rauchst, wenn du sagst, du musst an die frische Luft?“