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Reza Aslan

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Beschreibung

Das Christentum verehrt Jesus von Nazaret als sanften Hirten, dessen Reich nicht von dieser Welt sei. Aber entspricht dieses Bild der historischen Realität? Kann es den grausamen Kreuzestod plausibel erklären? Der amerikanische Religionswissenschaftler Reza Aslan meint: nein. Sein Buch, das in den USA für einen Skandal sorgte, versucht zu ergründen, wer Jesus war, bevor es das Christentum gab. Es ist das fesselnde, brillant erzählte Porträt eines Mannes voller Widersprüche, einer Epoche voll religiöser Inbrunst und blutiger Kämpfe und einer Weltreligion im Werden.

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Seitenzahl: 517

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Reza Aslan

Zelot

Jesus von Nazaret und seine Zeit

Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Karin Schuler (Fließtext), Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer (Anmerkungen)

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Reza Aslan

Inhaltsübersicht

WidmungMottoKarteTempelabbildungVorbemerkung des AutorsEinführungChronologieTeil IEin Opfer anderer ArtEin Loch im WinkelKönig der JudenIhr wisst, woher ich binDie Vierte PhilosophieWo ist die Flotte, mit der ihr die römischen Meere erobert?Jahr EinsTeil IIEifer für dein HausDie Stimme in der WüsteFolgt mir nachDurch den Finger GottesDein Reich kommeFür wen haltet ihr mich?Kein König außer dem KaiserTEIL IIIGott in FleischesgestaltWenn aber Christus nicht auferweckt worden istBin ich nicht ein Apostel?Der GerechteWahrer Gott von wahrem GottDankAnmerkungenEinführungTeil I Prolog: Ein Opfer anderer ArtKapitel eins: Ein Loch im WinkelKapitel zwei: König der JudenKapitel drei: Ihr wisst, woher ich binKapitel vier: Die Vierte PhilosophieKapitel fünf: Wo ist die Flotte, mit der ihr die römischen Meere erobert?Kapitel sechs: Jahr einsTeil II Prolog: Eifer für dein HausKapitel sieben: Die Stimme in der WüsteKapitel acht: Folgt mir nachKapitel neun: Durch den Finger GottesKapitel zehn: Dein Reich kommeKapitel elf: Für wen haltet ihr mich?Kapitel zwölf: Kein König außer dem KaiserTeil III Prolog: Gott in FleischesgestaltKapitel dreizehn: Wenn aber Christus nicht auferweckt worden istKapitel vierzehn: Bin ich nicht ein Apostel?Kapitel fünfzehn: Der GerechteBibliographieBücherAufsätzeWörterbücher und EnzyklopädienRegister

Für meine Ehefrau Jessica Jackley und den ganzen Jackley-Clan, dessen Liebe und Akzeptanz mir Jesus näher gebracht haben als all meine langen Lehr- und Forschungsjahre.

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

Matthäus 10,34

Vorbemerkung des Autors

Ich war 15 Jahre alt, als ich Jesus kennenlernte.

Den Sommer meines zweiten Highschool-Jahres verbrachte ich in einem evangelikalen Jugendcamp im Norden Kaliforniens mit seinen Wäldern, Feldern und dem weiten blauen Himmel, wo man mit genug Zeit und Stille und leise gesprochener Ermutigung gar nicht anders konnte, als die Stimme Gottes zu hören. Inmitten der künstlich angelegten Seen und majestätischen Kiefern sang ich mit meinen Freunden Lieder, spielte Spiele und tauschte Geheimnisse aus. In vollen Zügen genossen wir die Freiheit von den Zwängen, die uns Elternhaus und Schule sonst auferlegten. Abends trafen wir uns alle im Versammlungssaal in der Mitte des Camps, das Kaminfeuer prasselte, und ich hörte eine merkwürdige Geschichte, die mein Leben verändern sollte.

Vor 2000 Jahren, so erzählte man mir, wurde in einem Land namens Galiläa der Gott des Himmels und der Erde als hilfloses Kind geboren. Dieses Kind wuchs zu einem Mann ohne Sünde heran. Der Mann wurde zum Christus, zum Erretter der Menschheit. Durch seine Worte und Wundertaten provozierte er die Juden, die sich als das von Gott auserwählte Volk sahen, und dafür ließen ihn die Juden an ein Kreuz schlagen. Er hätte sich dieser grauenvollen Strafe entziehen können, doch er wählte aus freiem Willen den Tod. Sein Tod gab dem Ganzen erst einen Sinn, denn sein Opfer befreite uns alle von der Last unserer Sünden. Aber damit endete die Geschichte noch nicht, denn drei Tage später stand er wieder auf, erhöht und göttlich, sodass jetzt alle, die an ihn glauben und ihn in ihre Herzen aufnehmen, das ewige Leben haben werden.

Für ein Kind, das in einer zusammengewürfelten Familie aus lauen Muslimen und dezidierten Atheisten aufwuchs, war das wahrhaft die größte Geschichte, die es je gehört hatte. Nie zuvor hatte ich die Anziehungskraft Gottes so deutlich gespürt. In meinem Geburtsland Iran war ich Muslim etwa so, wie ich eben Perser war. Meine Religion und meine ethnische Herkunft waren eng miteinander verbunden. Wie den meisten Menschen, die in eine religiöse Tradition hineingeboren werden, war mein Glaube mir so vertraut wie meine Haut und etwa ebenso gleichgültig. Nachdem meine Familie durch die Revolution 1979 zur Flucht gezwungen worden war, wurde Religion im Allgemeinen und der Islam im Besonderen zu einem Tabu in unserem Haushalt. Der Islam stand stellvertretend für alles, was wir an die jetzt im Iran herrschenden Mullahs verloren hatten. Meine Mutter betete noch, wenn niemand es sah, und man stieß vielleicht mal auf einen Koran irgendwo ganz hinten in einem Schrank oder einer Schublade. Aber insgesamt waren alle Spuren Gottes gründlich aus unserem Leben getilgt.

Das war für mich ganz in Ordnung. Schließlich war ein Muslim im Amerika der achtziger Jahre etwa so fremd wie ein Marsianer. Mein Glaube war eine Art blauer Fleck, das auffälligste Symbol meiner Andersartigkeit; er musste verborgen werden.

Jesus dagegen war Amerika. Er war die zentrale Gestalt im nationalen Drama Amerikas. Wenn ich ihn in mein Herz aufnahm, konnte ich mich so wahrhaft amerikanisch fühlen wie nur möglich. Ich will damit nicht sagen, dass ich mit meiner Bekehrung einen bestimmten Zweck verfolgte. Ganz im Gegenteil, ich brannte mit absoluter Hingabe für meinen neu gefundenen Glauben. Ich bekam einen Jesus präsentiert, der weniger «Herr und Heiland» als bester Freund war, jemand, zu dem ich eine tiefe und persönliche Beziehung aufbauen konnte. Für mich als Teenager, der versuchte, einer nicht klar umrissenen Welt, deren ich mir gerade erst bewusst geworden war, einen Sinn abzugewinnen, war dies eine Einladung, die ich nicht ausschlagen konnte.

Sofort nach meiner Rückkehr aus dem Camp versuchte ich eifrig, die gute Nachricht von Jesus Christus weiterzutragen: zu meinen Freunden und meiner Familie, meinen Nachbarn und Klassenkameraden, Menschen, die ich gerade kennengelernt hatte, und Leuten, die ich auf der Straße traf; zu jenen, die gern zuhörten, und jenen, die überhaupt kein Interesse hatten. Doch während ich mich so heiß bemühte, die Seelen der Welt zu retten, geschah etwas Unerwartetes: Je gründlicher ich die Bibel studierte, um mich gegen die Zweifel der Ungläubigen zu wappnen, desto größere Diskrepanzen entdeckte ich zwischen dem Jesus der Evangelien und dem Jesus der Geschichte – zwischen Jesus dem Christus und Jesus von Nazaret. Und als ich im College begann, mich wissenschaftlich mit der Geschichte der Religionen zu beschäftigen, entwickelten sich aus diesem frühen Unbehagen bald ausgewachsene Zweifel an meinem neuen Glauben.

Die Basis des evangelikalen Christentums ist, so hat man es mir jedenfalls beigebracht, der bedingungslose Glaube, dass jedes Wort der Bibel von Gott kommt und wahr ist, buchstäblich und unfehlbar. Die plötzliche Erkenntnis, dass diese Überzeugung ganz offenkundig und eindeutig falsch ist, dass die Bibel voller eklatanter und augenfälliger Irrtümer und Widersprüche steckt – wie man es von einem Text, der von hunderten Händen über Jahrtausende hinweg geschrieben wurde, nicht anders erwarten kann –, ließ mich verwirrt und ohne spirituellen Anker zurück. Und so verwarf ich wie viele andere in dieser Situation wütend meinen Glauben, als sei er eine teure Fälschung, der ich aufgesessen war. Ich begann wieder über den Glauben und die Kultur meiner Väter nachzudenken und spürte als Erwachsener eine tiefere, engere Bindung zu beidem als früher in meiner Kindheit, eine Vertrautheit wie im Umgang mit einem alten Freund, den man nach vielen Jahren wieder trifft.

Gleichzeitig setzte ich meine akademische Beschäftigung mit der Religionswissenschaft fort und vertiefte mich wieder in die Bibel, nicht als bedingungslos Glaubender, sondern als wissbegieriger Forscher. Nachdem ich die Annahme, die Geschichten dort seien buchstäblich wahr, aufgegeben hatte, bemerkte ich eine tiefere Wahrheit in dem Text, eine Wahrheit, die absichtlich losgelöst war von den Bedingtheiten der Historie. Je mehr ich über das Leben des historischen Jesus erfuhr, über die turbulente Welt, in der er lebte, und über die Brutalität der römischen Besatzung, der er die Stirn bot, desto stärker fühlte ich mich ironischerweise zu ihm hingezogen. Ja, der jüdische Bauer und Revolutionär, der die Herrschaft des mächtigsten Reiches herausforderte, das die Welt je gesehen hatte, und daran scheiterte, stand mir viel realer vor Augen als jenes abgeklärte, überirdische Wesen, mit dem man mich in der Kirche bekannt gemacht hatte.

Heute kann ich mit Überzeugung sagen, dass zwei Jahrzehnte gründlicher akademischer Forschung zu den Ursprüngen des Christentums aus mir einen Anhänger des Jesus von Nazaret gemacht haben, leidenschaftlicher, als meine Begeisterung für Jesus Christus je war. Mit diesem Buch möchte ich die frohe Botschaft des historischen Jesus mit demselben Eifer verbreiten wie früher als Junge die Geschichte des Christus.

Auf einige Dinge möchte ich noch hinweisen, bevor wir mit unserer Untersuchung beginnen. Zu jedem gut belegten, intensiv erforschten und absolut maßgeblichen Argument in Bezug auf den historischen Jesus gibt es ein ebenso gut belegtes, ebenso intensiv erforschtes und ebenso maßgebliches Gegenargument. Statt die Leser und Leserinnen mit der jahrhundertelangen Debatte über das Leben und die Mission des Jesus von Nazaret zu belasten, habe ich meine Darstellung ausgehend von meiner langen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament und der frühchristlichen Geschichte auf den meiner Ansicht nach genauesten und einleuchtendsten Belegen aufgebaut. Wer sich für diese Debatte interessiert, findet ausführliche Forschungsdiskussionen und wo möglich auch die Argumente jener Wissenschaftler, die mit meiner Deutung nicht übereinstimmen, in den langen Anmerkungen am Ende dieses Buches.

Die Bibelpassagen sowie die Namensschreibweisen sind in der vorliegenden deutschsprachigen Ausgabe der Einheitsübersetzung entnommen.

Alle Bezüge auf das Material der Logienquelle Q (das Material, das nur das Matthäus- und das Lukas-Evangelium verwenden) werden so gekennzeichnet: (Mt|Lk), wobei die Reihenfolge der Bücher anzeigt, welches Evangelium ich genauer zitiere. Die Leser werden feststellen, dass ich mich bei meiner Skizze der Geschichte Jesu vor allem auf das Markus-Evangelium und das Q-Material stütze. Dies sind die frühesten und damit zuverlässigsten Quellen, die uns über das Leben des Nazaräers zur Verfügung stehen. Im Allgemeinen habe ich mich nicht allzu sehr in die sogenannten gnostischen Evangelien vertieft. Diese Texte sind unglaublich wichtig für das weite Meinungsspektrum der frühchristlichen Gemeinschaft zu der Frage, wer Jesus war und was seine Lehren bedeuteten, aber sie werfen kaum neues Licht auf den historischen Jesus selbst.

Obwohl fast einhelliger Meinung nach die Evangelien, mit der möglichen Ausnahme der Apostelgeschichte des Lukas, nicht von den Menschen geschrieben wurden, nach denen sie benannt sind, werde ich die Verfasser der Evangelien der Einfachheit und Klarheit halber weiter mit den Namen bezeichnen, die uns heute geläufig sind. Und schließlich bezeichne ich in diesem Buch das Alte Testament wissenschaftlich angemessener als die Hebräische Bibel oder die Hebräischen Schriften.

Einführung

Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt etwas über den Menschen Jesus von Nazaret wissen. Die Wanderprediger, die mit einer Schar zerlumpter Anhänger im Schlepptau von Dorf zu Dorf zogen und lautstark das Ende der Welt verkündeten, waren zu Jesu Zeiten ein vertrauter Anblick – so vertraut, dass sie in der römischen Elite zu einer Art Karikatur verkommen waren. In einem absurden Abschnitt über genau so eine Gestalt schildert der griechische Philosoph Kelsos einen jüdischen heiligen Mann, der in Galiläa übers Land zieht und ohne ein bestimmtes Gegenüber vor sich hin ruft: «Ich bin der Gott oder Gottes Knecht oder ein göttliches pneuma [Geist]. Aber ich komme, denn die Welt ist schon dem Untergang geweiht. Und ihr werdet mich bald kommen sehen mit der Macht des Himmels.»

Das 1. Jahrhundert war eine Ära apokalyptischer Erwartung unter den Juden des großen Territoriums, das die Römer inoffiziell als «Palästina» bezeichneten und das das moderne Israel/Palästina ebenso umfasste wie weite Teile Jordaniens, Syriens und des Libanon (das Territorium wurde erst nach dem Jahr 135 offiziell Palästina genannt). Zahllose Propheten, Prediger und Messiasse zogen durch das Heilige Land und kündeten vom nahen Gericht Gottes. Viele dieser sogenannten falschen Messiasse kennen wir namentlich. Einige wenige tauchen sogar im Neuen Testament auf. Der Prophet Theudas hatte nach Darstellung der Apostelgeschichte 400 Jünger, bevor die Römer ihn festnahmen und köpften. Eine mysteriöse charismatische Gestalt, die nur «der Ägypter» genannt wird, stellte in der Wüste ein Heer auf, das dann von römischen Soldaten ausgelöscht wurde. Im Jahr 4 v. Chr., dem Jahr, in dem nach Meinung der meisten Fachleute Jesus von Nazaret geboren wurde, setzte sich ein armer Schafhirte namens Athronges ein Diadem auf den Kopf und krönte sich damit selbst zum «König der Juden»; er und seine Anhänger wurden von einer Legion Soldaten niedergemetzelt. Ein weiterer messianischer Aspirant, der sich einfach «der Samariter» nannte, wurde von Pontius Pilatus gekreuzigt, obwohl er noch nicht einmal ein Heer aufgestellt und Rom in keiner Weise herausgefordert hatte – ein Fingerzeig darauf, dass die Behörden das um sich greifende apokalyptische Fieber spürten und extrem empfindlich geworden waren. Dann gab es da noch den Bandenführer Hiskia, Simon von Peräa, Judas den Galiläer, seinen Enkel Manaim, Simon bar Giora und Simon bar Kochba. Sie alle traten mit messianischen Ansprüchen hervor, und sie alle wurden deshalb getötet. Auf diese Liste gehört auch die Sekte der Essener, von denen einige in Abgeschiedenheit auf dem ausgedörrten Plateau von Qumran nahe dem Nordwestufer des Toten Meeres lebten; dann die Zeloten, eine revolutionäre jüdische Gruppierung des 1. Jahrhunderts, die einen blutigen Krieg gegen Rom mit anzettelte; und schließlich die Furcht einflößenden militanten Attentäter, die die Römer Sicarii (Dolchträger) nannten – Palästina durchlebte im 1. Jh. n. Chr. eine Ära intensiver messianischer Energie.

Man kann Jesus von Nazaret nur schwer direkt in eine der bekannten religiös-politischen Bewegungen seiner Zeit einordnen. Er war ein Mann tiefgreifender Widersprüche, predigte an einem Tag die ethnische Ausschließlichkeit («Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt», Mt 15,24), am nächsten den wohlwollenden Universalismus («Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern», Mt 28,19); einmal forderte er bedingungslosen Frieden («Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden», Mt 5,9), ein anderes Mal sprach er sich für Gewalt und Konflikt aus («Wer aber kein Geld hat, soll seinen Mantel verkaufen und sich dafür ein Schwert kaufen», Lk 22,36).

Der historische Jesus ist so schwer zu fassen, weil es außerhalb des Neuen Testaments kaum Spuren des Mannes gibt, der den Lauf der Menschheitsgeschichte so dauerhaft verändern sollte. Die früheste und verlässlichste nichtbiblische Erwähnung Jesu findet sich im 1. Jahrhundert bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus (†nach 100 n. Chr.). In einer kurzen, beiläufigen Passage in Jüdische Altertümer schreibt Josephus von einem teuflischen jüdischen Hohepriester namens Hannas, der nach dem Tod des römischen Statthalters Festus unrechtmäßig einen gewissen «Jakobus, Bruder des Jesus, den sie Messias nennen» als Gesetzesbrecher zur Steinigung verurteilen ließ. In dem Abschnitt wird weiter berichtet, was mit Hannas geschah, als der neue Statthalter Albinus schließlich in Jerusalem ankam.

So kurz und abschätzig diese Anspielung auch sein mag (die Erklärung «den sie Messias nennen» ist ganz offensichtlich spöttisch gemeint), besitzt er doch enorme Bedeutung für all jene, die nach irgendeiner Spur des historischen Jesus forschen. In einer Gesellschaft ohne Nachnamen erforderte ein so häufiger Name wie Jakobus einen besonderen Zusatz – einen Geburtsort oder Vatersnamen etwa –, um ihn von all den anderen Männern namens Jakobus in Palästina zu unterscheiden (daher auch «Jesus von Nazaret»). In diesem Fall lieferte Jakobus’ Verwandtschaft mit jemandem, der nach Meinung des Josephus seiner Leserschaft womöglich bekannt war, den Namenszusatz. Der Abschnitt belegt also nicht nur, dass «Jesus, den sie Messias nennen» wirklich gelebt hat, sondern auch, dass er im Jahr 94 n. Chr., als Jüdische Altertümer geschrieben wurde, weithin als Gründer einer neuen und fortbestehenden Bewegung anerkannt war.

Es ist jene Bewegung, nicht ihr Gründer, die die Aufmerksamkeit von Historikern des 2. Jahrhunderts wie Tacitus (†118) und Plinius dem Jüngeren (†113) erregt. Beide erwähnen Jesus von Nazaret, berichten aber abgesehen von seiner Verhaftung und Hinrichtung kaum etwas über ihn – es sind wichtige historische Belege, wie wir sehen werden, die aber wenig Licht auf die Einzelheiten des Lebens Jesu werfen. Wir alle sind deshalb auf die Informationen angewiesen, die wir aus dem Neuen Testament zusammentragen können.

Das erste schriftliche Zeugnis überhaupt stammt aus den Briefen des Paulus, eines frühen Anhängers Jesu, der um 66 n. Chr. herum starb (man kann Paulus’ ersten erhaltenen Brief, den 1. Brief an die Thessalonicher, auf die Jahre zwischen 48 und 50 n. Chr. datieren, also etwa auf die Zeit zwei Jahrzehnte nach Jesu Tod). Paulus zeigt allerdings bemerkenswert wenig Interesse am historischen Jesus. Nur drei Szenen aus dem Leben Jesu finden überhaupt in seinen Briefen Erwähnung: das Letzte Abendmahl (1 Kor 11,23–26), die Kreuzigung (1 Kor 2,2) und, besonders wichtig für Paulus, die Auferstehung, ohne die, wie er sagt, «unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos» wäre (1 Kor 15,14). Paulus mag eine hervorragende Quelle für all jene sein, die sich für die frühe Geschichte des Christentums interessieren, aber er ist ein schlechter Führer, wenn man sich auf die Suche nach dem historischen Jesus begibt.

Damit bleiben uns nur die Evangelien, die ihre eigenen Probleme mit sich bringen. Zunächst einmal wurde keines von ihnen – mit der möglichen Ausnahme des Lukas-Evangeliums – von dem Mann geschrieben, nach dem es benannt ist. Das trifft im Übrigen auf die meisten Bücher des Neuen Testaments zu. Solche sogenannten pseudepigraphischen Werke, also Werke, die einem bestimmten Autor zugeschrieben, aber nicht von ihm verfasst wurden, waren in der antiken Welt sehr häufig und sollten ganz sicher nicht als Fälschungen aufgefasst werden. Ein Buch nach einer Person zu benennen war ein üblicher Weg, um die Glaubensüberzeugungen dieser Person wiederzugeben oder ihre Denkschule zu repräsentieren. Davon einmal abgesehen sind die Evangelien keine historische Dokumentation des Lebens Jesu und waren auch nie als solche gedacht. Es sind keine Augenzeugenberichte über Jesu Worte und Taten von Menschen, die ihn wirklich kannten, sondern vielmehr Glaubenszeugnisse von Glaubensgemeinschaften, die viele Jahre nach den Ereignissen, die sie schildern, niedergeschrieben wurden. Einfach gesagt, die Evangelien erzählen uns von Jesus Christus, nicht vom Menschen Jesus.

Die weithin akzeptierte Theorie zur Entstehung der Evangelien, die sogenannte Zweiquellentheorie, besagt, dass Markus’ Bericht erstmals irgendwann nach 70 n. Chr. niedergeschrieben wurde, also etwa vier Jahrzehnte nach Jesu Tod. Markus stand eine Sammlung mündlicher und vielleicht auch eine Handvoll schriftlicher Überlieferungen zur Verfügung, die schon seit Jahren unter Jesu frühesten Anhängern kursierten. Indem er diesem Überlieferungswust ein chronologisches Gerüst gab, schuf Markus das ganz neue literarische Genre des Evangeliums, griechisch für «gute Nachricht». Doch das Markus-Evangelium ist in den Augen vieler Christen zu kurz und irgendwie unbefriedigend. Die Kindheitserzählungen fehlen; Jesus taucht einfach eines Tages am Ufer des Jordan auf, um sich von Johannes dem Täufer taufen zu lassen. Und auch die Erscheinungen nach der Auferstehung fehlen. Jesus wird gekreuzigt. Sein Leichnam wird in ein Grab gelegt. Ein paar Tage später ist das Grab leer. Schon die frühesten Christen vermissten so einiges in Markus’ knappem Bericht über Jesu Leben und Wirken, und so blieb es dessen Nachfolgern Matthäus und Lukas überlassen, den ursprünglichen Text zu überarbeiten.

Zwei Jahrzehnte nach Markus, zwischen 90 und 100 n. Chr., brachten die Verfasser des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums, die unabhängig voneinander und mit Markus’ Text als Vorlage arbeiteten, die Geschichte des Evangeliums auf den neuesten Stand, indem sie ihre eigenen, besonderen Überlieferungen einarbeiteten, darunter zwei verschiedene und einander widersprechende Kindheitserzählungen sowie eine Reihe ausgeschmückter Auferstehungsgeschichten, um ihre christlichen Leser zufriedenzustellen. Matthäus und Lukas stützten sich auch auf eine wohl frühe und ziemlich weit verbreitete Sammlung von Jesusworten, die die Wissenschaft als Logienquelle (abgekürzt Q für Quelle) bezeichnet. Wir haben diesen Text zwar heute nicht mehr vorliegen, aber wir können seine Inhalte erschließen, indem wir jene Verse zusammenstellen, die sich bei Matthäus und Lukas finden, nicht aber bei Markus.

Zusammen werden diese drei Evangelien – Markus, Matthäus und Lukas – als die synoptischen (griechisch für «zusammenschauen») Evangelien bezeichnet, weil sie eine mehr oder weniger gleiche Darstellung und Chronologie des Lebens und Wirkens Jesu liefern, die wiederum der des vierten, des zwischen 100 und 120 n. Chr. entstandenen Johannes-Evangeliums, in vielem widerspricht.

Damit hätten wir die kanonischen Evangelien. Aber sie sind nicht die einzigen. Heute haben wir Zugang zu einer ganzen Bibliothek nichtkanonischer Schriften, die meist aus dem 2. und 3. Jahrhundert stammen und einen ganz anderen Blick auf das Leben des Jesus von Nazaret werfen. Dazu gehören das Thomas-Evangelium, das Philippus-Evangelium, das Apokryphon des Johannes, das Evangelium der Maria Magdalena und eine Menge anderer sogenannter gnostischer Schriften, die 1945 in Oberägypten nahe der Stadt Nag Hammadi entdeckt wurden. Diese Bücher fanden keine Aufnahme in die Sammlung, die schließlich das Neue Testament bildete, aber sie sind von Bedeutung, weil sie dramatische Meinungsverschiedenheiten offenbaren, wenn es darum ging, wer Jesus war und was Jesus bedeutete – und das selbst unter jenen, die von sich behaupteten, sie seien mit ihm gezogen, hätten das Brot mit ihm geteilt und mit ihm gespeist, hätten seinen Worten gelauscht und mit ihm gebetet.

Letztendlich sind es nur zwei harte historische Fakten in Bezug auf Jesus von Nazaret, auf die wir uns wirklich verlassen können: zum einen, dass Jesus ein Jude war, der eine jüdische Volksbewegung in Palästina zu Beginn des 1. Jh.s n. Chr. anführte, und zum anderen, dass Rom ihn deshalb ans Kreuz schlug. Für sich genommen können diese beiden Fakten kein vollständiges Porträt eines Mannes bieten, der vor zweitausend Jahren lebte. Wenn wir sie aber mit allem anderen kombinieren, was wir über die unruhige Zeit wissen, in der Jesus lebte – und dank der Römer wissen wir eine Menge darüber –, können diese beiden Fakten helfen, ein Bild des Jesus von Nazaret zu zeichnen, das vielleicht historisch genauer ist als das der Evangelien. Tatsächlich hat der Jesus, dessen Bild bei dieser historischen Fingerübung entsteht – ein eifernder Revolutionär, der wie alle Juden jener Zeit in die religiösen und politischen Wirren Palästinas im 1. Jahrhundert hineingezogen wurde –, wenig Ähnlichkeit mit dem Bild des guten Hirten, das die frühchristliche Gemeinde pflegte.

Man muss bedenken, dass die Strafe der Kreuzigung in römischer Zeit fast ausschließlich Aufständischen vorbehalten war. Die Tafel, die die Römer über Jesu Kopf anbrachten, während er sich in Schmerzen wand – «König der Juden» –, wurde titulus genannt und war, anders als man gemeinhin annimmt, nicht sarkastisch gemeint. Jeder Verbrecher, der an einem Kreuz hing, bekam eine Tafel, auf der das genaue Verbrechen verzeichnet war, für das er hingerichtet wurde. Jesu Verbrechen bestand in den Augen Roms darin, dass er eine Königsherrschaft angestrebt (sich also des Verrats schuldig gemacht) hatte, genau wie fast alle anderen messianischen Aspiranten, die deswegen getötet wurden. Und Jesus starb nicht allein. Die Evangelien behaupten, dass links und rechts von Jesus Männer hingen, die auf Griechisch lestai genannt wurden, ein Wort, das im Deutschen oft mit «Diebe» wiedergegeben wird, eigentlich aber «Banditen» oder «Straßenräuber» bedeutet und die häufigste römische Bezeichnung für Aufständische oder Rebellen war.

Drei Rebellen auf einem mit Kreuzen überzogenen Hügel, wobei jedes Kreuz den gepeinigten und blutbefleckten Leib eines Mannes trug, der es gewagt hatte, dem Willen Roms zu trotzen. Schon dieses Bild allein kann Zweifel an der Darstellung der Evangelien aufkommen lassen, denen zufolge Jesus ein Mann des bedingungslosen Friedens war, der fast völlig isoliert von den politischen Unruhen seiner Zeit agierte. Die Vorstellung, dass der Kopf einer populären messianischen Bewegung, die für die Errichtung des «Gottesreiches» eintrat – ein Begriff, der in den Augen von Juden wie von Heiden eine Revolte gegen Rom beinhaltete –, von dem religiösen Eifer, der fast alle Juden in Judäa erfasst hatte, unbeeinflusst bleiben konnte, ist schlichtweg lächerlich.

Warum also gaben sich die Verfasser der Evangelien solche Mühe, das Revolutionäre in Jesu Botschaft und Bewegung abzuschwächen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst klar machen, dass fast alle Evangeliengeschichten über das Leben und die Mission des Jesus von Nazaret nach dem Jüdischen Aufstand gegen Rom im Jahr 66 n. Chr. niedergeschrieben wurden. In jenem Jahr rief eine Gruppe jüdischer Rebellen, angespornt durch den Eifer für Gott, ihre Glaubensbrüder zu einer Revolte auf. Wie durch ein Wunder gelang es den Aufständischen, das Heilige Land von der römischen Besatzung zu befreien. Vier ruhmreiche Jahre lang war die Stadt Gottes wieder in jüdischer Hand. Doch 70 n. Chr. kehrten die Römer zurück. Nach einer kurzen Belagerung Jerusalems durchbrachen die Soldaten die Stadtmauer und gingen in einer Gewaltorgie gegen die Bewohner vor. Sie ermordeten alle, die ihnen in die Hände fielen, und häuften die Leichen auf dem Tempelberg auf. Das Blut floss in Strömen die gepflasterten Straßen hinab. Als sie ihren Blutdurst gestillt hatten, steckten die Soldaten den Tempel Gottes in Brand. Das Feuer verbreitete sich über den Tempelberg hinaus, verschlang Jerusalems Weiden, die Gehöfte, die Ölbäume. Alles brannte. Die Heilige Stadt war so verheert, dass es, wie Josephus schreibt, kein Zeugnis mehr gab, dass Jerusalem je bewohnt gewesen war. Zehntausende Juden waren gestorben. Der Rest verließ die Stadt in Ketten.

Das seelische und geistliche Trauma der Juden infolge dieser Katastrophe kann man sich kaum vorstellen. Vertrieben aus dem ihnen von Gott verheißenen Land, gezwungen, als Ausgestoßene unter den Heiden des Römischen Reiches zu leben, trennten die Rabbinen des 2. Jahrhunderts allmählich und planvoll das Judentum vom radikalen messianischen Nationalismus, der zum verhängnisvollen Krieg mit Rom geführt hatte. Die Tora ersetzte den Tempel als Mittelpunkt des jüdischen Lebens, und das rabbinische Judentum entstand.

Auch die Christen verspürten die Notwendigkeit, sich von dem revolutionären Eifer zu distanzieren, der zur Plünderung von Jerusalem geführt hatte, nicht nur, weil dies der frühen Kirche erlaubte, den Zorn des überaus rachsüchtigen Rom abzuwenden, sondern auch, weil die Römer, nachdem die jüdische Religion zur Außenseiterreligion geworden war, die vorrangigen Adressaten ihrer Missionstätigkeit waren. So begann der lange Prozess, in dem Jesus sich von einem revolutionären jüdischen Nationalisten in einen friedlichen geistlichen Anführer ohne jedes Interesse an irdischen Dingen verwandelte. Dies war ein Jesus, den die Römer akzeptieren konnten und tatsächlich auch drei Jahrhunderte später akzeptierten, als der römische Kaiser Flavius Theodosius (†395) die Bewegung des jüdischen Wanderpredigers zur offiziellen Staatsreligion erhob.

Dieses Buch ist ein Versuch, den Jesus der Geschichte, den Jesus vor dem Christentum, so weit wie möglich zurückzuholen: den politisch bewussten jüdischen Revolutionär, der vor 2000 Jahren durch die Dörfer Galiläas zog und Anhänger für eine messianische Bewegung mit dem Ziel, das Reich Gottes zu errichten, sammelte, dessen Mission jedoch scheiterte, als er nach einem provokanten Einzug in Jerusalem und einem dreisten Angriff auf den Tempel von den Römern wegen Aufruhrs festgenommen und hingerichtet wurde. Es untersucht auch, wie Jesu Anhänger nach dessen Scheitern bei dem Versuch, die Herrschaft Gottes auf Erden zu errichten, nicht nur Jesu Mission und Identität neu interpretierten, sondern auch das ganze Wesen und die Definition des jüdischen Messias an sich.

Es gibt Menschen, die ein solches Unterfangen für Zeitverschwendung halten, weil sie glauben, dass der Jesus der Geschichte unwiederbringlich verloren und nicht mehr zu rekonstruieren sei. Lange vorbei sind die aufregenden Tage der «Suche nach dem historischen Jesus», als Wissenschaftler zuversichtlich verkündeten, dass moderne naturwissenschaftliche Methoden und die historische Forschung uns erlauben würden, Jesu wahre Identität zu enthüllen. Der wirkliche Jesus, so meinen manche Fachleute, spielt heute keine Rolle mehr. Wir sollten uns stattdessen auf den einzigen Jesus konzentrieren, der uns zugänglich ist: auf Jesus den Christus.

Zugegeben, eine Biographie des Jesus von Nazaret zu schreiben ist etwas anderes, als eine Lebensbeschreibung von Napoleon Bonaparte zu verfassen. Die Aufgabe ähnelt einem gewaltigen Puzzle, von dem nur einige wenige Stücke existieren; man hat keine andere Wahl, als den Rest auf der Grundlage der bestmöglichen, auf Sachkenntnis gestützten Vermutungen darüber, wie das Gesamtbild aussehen sollte, selbst auszufüllen. Der große christliche Theologe Rudolf Bultmann pflegte zu sagen, dass die Suche nach dem historischen Jesus letztendlich eine innere Suche sei. Wissenschaftler neigen dazu, den Jesus zu sehen, den sie sehen wollen. Allzu oft sehen sie sich selbst – ihr eigenes Spiegelbild – in ihrem Bild von Jesus.

Und doch genügen jene bestmöglichen, auf Sachkenntnis gestützten Vermutungen vielleicht, um wenigstens unsere grundlegendsten Annahmen über Jesus von Nazaret zu hinterfragen. Wenn wir die Aussagen der Evangelien der Hitze der historischen Analyse aussetzen, können wir die Schriften von ihren literarischen und theologischen Ausschmückungen reinigen und ein weitaus genaueres Bild des historischen Jesus schmieden. Und wenn wir uns vornehmen, Jesus fest im gesellschaftlichen, religiösen und politischen Kontext der Zeit, in der er lebte, zu verankern – einer Zeit, die geprägt war von einer schwelenden Revolte gegen Rom, die den Glauben und die Praxis des Judentums für immer verändern sollte –, dann schreibt sich seine Biographie sogar in mancher Hinsicht von selbst.

Der Jesus, der in diesem Prozess zutage tritt, ist vielleicht nicht der Jesus, den wir erwarten; er ist sicher nicht der Jesus, den die meisten Christen heute zu kennen meinen. Doch letztendlich ist er der einzige Jesus, den wir mit historischen Methoden fassen können.

Alles andere ist eine Sache des Glaubens.

Chronologie

164 v. Chr. Makkabäer-Aufstand

140 Gründung der Dynastie der Hasmonäer

63 Pompeius Magnus erobert Jerusalem

37 Herodes der Große wird zum König der Juden ausgerufen

4 Herodes der Große stirbt

4 Revolte des Judas des Galiläers

4 v. Chr.–6 n. Chr. Jesus von Nazaret wird geboren

6 Judäa wird offiziell römische Provinz

10 Sepphoris wird erster Königssitz des Herodes Antipas

18 Josef Kajaphas wird zum Hohepriester ernannt

20 Tiberias wird zweiter Königssitz des Herodes Antipas

26 Pontius Pilatus wird Statthalter (Präfekt) in Jerusalem

26–28 Beginn des Wirkens von Johannes dem Täufer

28–30 Beginn des Wirkens von Jesus von Nazaret

30–33 Tod des Jesus von Nazaret

36 Revolte des Samariters

37 Bekehrung des Saulus von Tarsus (Paulus)

44 Revolte des Theudas

46 Revolte des Jakobus und des Simon, der Söhne von Judas dem Galiläer

48 Paulus schreibt seinen ersten Brief, den 1. Brief an die Thessalonicher

56 Ermordung des Hohepriesters Jonatan

56 Paulus schreibt seinen letzten Brief, den Brief an die Römer

57 Revolte des Ägypters

62 Tod des Jakobus, des Bruders Jesu

66 Tod des Paulus und des Apostels Petrus in Rom

66 Jüdischer Aufstand

70 Zerstörung von Jerusalem

70–71 Abfassung des Markus-Evangeliums

73 Die Römer nehmen Masada ein

80–90 Der Jakobusbrief wird geschrieben

90–100 Abfassung des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums

94 Josephus schreibt sein Buch Jüdische Altertümer

100–120 Abfassung des Johannes-Evangeliums

132 Revolte des Simon bar Kochba

300 Die Pseudoklementinen werden zusammengestellt

313 Kaiser Konstantin gibt das Edikt von Mailand heraus

325 1. Konzil von Nikaia (Nizäa)

393 Konzil von Hippo Regius

Teil I

Wach auf, wach auf, Zion, zieh an deine Stärke!

Schmücke dich herrlich, Jerusalem, du Heilige Stadt!

Denn es wird hinfort kein Unbeschnittener oder Unreiner zu dir hineingehen. Schüttle den Staub ab, steh auf, Jerusalem, du Gefangene! Mach dich los von den Fesseln deines Halses, du gefangene Tochter Zion!

Jesaja 52,1–2

Prolog

Ein Opfer anderer Art

Der Krieg gegen Rom beginnt nicht mit Schwerterklirren, sondern mit dem Blitzen eines Dolches, den ein Attentäter unter seinem Mantel hervorzieht.

Festzeit in Jerusalem: die Zeit, in der Juden aus dem ganzen Mittelmeerraum in die Heilige Stadt strömen, um dem Gott duftende Opfer zu bringen. Es gibt in der alten jüdischen Religion eine ganze Menge jährlicher Rituale und Feiern, die man nur hier, im Tempel von Jerusalem, vollziehen kann, in der Gegenwart des Hohepriesters, der sich die heiligsten Feiertage – Pascha-, Wochen- und Laubhüttenfest – vorbehält und in dieser Zeit saftige Gebühren, den Zehnten, wie er es nennt, für seine Mühen einstreicht. Und was für Mühen das sind! An solchen Tagen kann die Bevölkerung der Stadt auf über eine Million Menschen anwachsen. Die Pförtner und rangniedrigeren Priester müssen ihre ganze Kraft einsetzen, um die drängelnden Pilger durch die Hulda-Tore an der Südwand des Tempels zu schleusen, sie durch die dunklen, höhlenartigen Tunnel unter dem Tempelplatz zu treiben und sie schließlich die beiden Treppen hinauf zum sogenannten Heidenvorhof zu geleiten, einem öffentlichen Platz, auf dem auch Markt gehalten wird.

Der Tempel von Jerusalem ist eine grob rechteckige Anlage, etwa 500 Meter lang und 300 Meter breit. Er liegt auf dem Berg Morija am Ostrand der Heiligen Stadt. Seine Außenmauern sind von überdachten, blendend weißen Säulengängen umgeben, die die Massen vor der gnadenlos herunterbrennenden Sonne schützen. An der Südflanke des Tempels liegt die größte und schönste dieser Portiken, die sogenannte königliche Säulenhalle – ein hoher, zweistöckiger, basilikaähnlicher Versammlungssaal im römischen Stil. Dies ist das Verwaltungszentrum des Sanhedrin, der höchsten religiösen Körperschaft und gleichzeitig obersten Gerichtsinstanz der jüdischen Nation. Dort warten aber auch Scharen von Händlern und zwielichtigen Geldwechslern, sobald man von den Treppen im Untergrund in das Licht der großen, sonnendurchfluteten Platzanlage tritt.

Die Geldwechsler haben eine sehr wichtige Funktion im Tempel: Gegen eine Gebühr tauschen sie schlechte ausländische Münzen in hebräische Schekel ein, die einzige Währung, die im Tempel zählt. Die Geldwechsler sammeln auch den halben Schekel Tempelsteuer ein, den alle erwachsenen Männer zahlen müssen, um den Pomp und das Spektakel zu finanzieren, das Sie um sich herum sehen: die Berge glimmenden Weihrauchs und die nicht abreißenden Opfer, den als Trankopfer vergossenen Wein und die ersten Feldfrüchte, den Chor der Leviten, der laut Lobpsalmen singt, und das Begleitorchester, das Leiern schlägt und Zimbeln klingen lässt. Irgendjemand muss dieses nötige Beiwerk schließlich bezahlen. Irgendjemand muss die Kosten für die Brandopfer tragen, die dem Herrn so gefallen.

Mit der neuen Währung in der Hand haben Sie nun die Möglichkeit, all die Stände unter die Lupe zu nehmen, die sich an den Außenmauern entlangziehen, und Ihr Opfer zu kaufen: eine Taube, ein Schaf – das hängt von der Größe Ihrer Geldbörse ab oder von der Schwere Ihrer Sünden. Aber auch wenn die Letzteren größer sind als die Erstere, müssen Sie nicht verzweifeln. Gern gewähren die Geldwechsler Ihnen den Kredit, den Sie brauchen, damit Ihr Opfer etwas üppiger ausfällt. Es gibt strenge gesetzliche Regeln, die festlegen, welche Tiere für diesen geheiligten Anlass gekauft werden dürfen. Sie müssen makellos sein. Domestiziert, keine Wildtiere. Und sie dürfen nie als Lasttiere im Einsatz gewesen sein. Sei es nun ein Ochse oder ein Bulle, ein Widder oder ein Schaf – sie alle müssen speziell zu diesem Zweck aufgezogen worden sein. Sie sind nicht billig. Warum sollten sie auch? Das Opfer ist der vorrangige Zweck des Tempels. Es ist der eigentliche Grund für die Existenz des Tempels. Die Lieder, die Gebete, die Lesungen – alle Rituale, die hier stattfinden, umrahmen eigentlich nur dieses einzigartige und wichtigste Ritual. Das kultische Vergießen von Blut wäscht nicht nur Ihre Sünden ab, es reinigt die Erde. Es nährt die Erde, erneuert sie, gibt ihr Kraft und schützt uns so alle vor Trockenheit, Hungersnot und Schlimmerem. Der Kreislauf von Leben und Tod, den der Herr uns in seiner Allmacht auferlegt hat, hängt ganz und gar von Ihrem Opfer ab. Geiz ist hier also wirklich fehl am Platze.

Kaufen Sie also Ihr Opfer, und zwar ein gutes. Übergeben Sie es einem der weißgekleideten Priester, die auf dem Tempelhof herumlaufen. Sie sind die Nachfahren von Moses Bruder Aaron und verantwortlich für die täglichen Riten im Tempel: das Verbrennen des Weihrauchs, das Anzünden der Lampen, den Klang der Trompeten und natürlich das Darbringen der Opfer. Die Priesterwürde ist eine erbliche Position, aber es herrscht kein Mangel an Priestern, schon gar nicht zur Zeit der Feste, in der sie in Scharen aus fernen Ländern kommen, um bei den Feierlichkeiten zu helfen. Sie umlagern den Tempel in 24-Stunden-Schichten, um sicherzustellen, dass die Opferfeuer Tag und Nacht brennen.

Der Tempel besteht aus einer Reihe von Höfen, jeder kleiner, höher gelegen und im Zugang beschränkter als der vorhergehende. Der äußerste Hof, der Heidenvorhof, wo Sie Ihr Opfertier gekauft haben, ist eine weite Piazza, die allen offensteht, ungeachtet ihrer Herkunft oder Religion. Wenn Sie Jude oder Jüdin sind – und frei von allen körperlichen Gebrechen (keine Aussätzigen, keine Gelähmten) sowie ordnungsgemäß durch ein rituelles Bad gereinigt –, dürfen Sie dem Priester mit Ihrer Opfergabe durch einen Steingitterzaun in den nächsten Hof, den Frauenhof, folgen (eine Tafel am Zaun warnt alle anderen bei Androhung der Todesstrafe davor, weiterzugehen). Hier werden das Holz und das Öl für die Opfer gelagert. Jüdische Frauen dürfen nicht weiter in den Tempel hinein, jüdische Männer hingegen dürfen über eine kleine halbrunde Treppe und durch das Nikanor-Tor den Israelitenhof betreten.

Näher werden Sie der Gegenwart Gottes nicht kommen. Dem Gestank der blutigen Tieropfer können Sie sich einfach nicht entziehen. Er liegt auf der Haut, hängt im Haar, wird zu einer lästigen Bürde, die Sie nicht allzu bald abschütteln werden. Die Priester verbrennen Räucherwerk, um den Geruch und die Krankheiten fernzuhalten, doch die Mischung aus Myrrhe und Zimt, Safran und Weihrauch kann den unerträglichen Gestank des Schlachtens nicht überdecken. Dennoch ist es wichtig, dort zu bleiben und zuzuschauen, wie Ihre Opfergabe im nächsten Hof, dem Priesterhof, dargebracht wird. Der Zutritt zu diesem Hof ist nur den Priestern und Tempelbeamten gestattet, denn dort steht der Altar des Tempels: ein Podest aus Bronze und Holz – fünf Ellen lang, fünf Ellen breit –, mit vier Spitzen an den Ecken, von dem dicke schwarze Rauchwolken aufsteigen.

Der Priester trägt Ihr Opfer in eine Ecke und reinigt sich in einem Bassin ganz in der Nähe. Dann schlitzt er die Kehle des Tieres auf und spricht dabei ein einfaches Gebet. Ein Helfer fängt das Blut in einer Schale auf, um damit die vier Spitzen des Altars zu besprengen, während der Priester sorgfältig den Kadaver ausweidet und zerteilt. Die Haut des Tieres darf er behalten; sie bringt auf dem Markt einen hübschen Preis. Die Eingeweide und das Fettgewebe werden herausgerissen, über eine Rampe zum Altar hinaufgetragen und direkt auf das ewige Feuer gelegt. Das Fleisch wird sorgfältig tranchiert und zur Seite gelegt – nach der Zeremonie wird man es auf der Festtafel der Priester wiederfinden.

Die gesamte Zeremonie findet vor dem innersten Hof des Tempels, dem Allerheiligsten, statt – ein vergoldetes, hoch aufragendes Heiligtum ganz im Herzen des Tempelkomplexes. Das Allerheiligste ist der höchste Punkt in ganz Jerusalem. Vor seinen Türen hängen purpurne und scharlachrote Teppiche, die mit einem Tierkreis und einem Himmelspanorama bestickt sind. Dort ist der Glanz Gottes körperlich anwesend. Es ist der Berührungspunkt zwischen dem irdischen und dem himmlischen Reich, der Mittelpunkt der gesamten Schöpfung. Die Bundeslade mit den Geboten Gottes stand einst dort, ist aber schon seit Langem verloren gegangen. Jetzt befindet sich nichts mehr im Heiligtum. Dieser riesige leere Raum ist die Verbindung zur Gegenwart Gottes. Hier sammelt sich der vom Himmel herabsteigende göttliche Geist, strömt in konzentrischen Kreisen durch die Kammern des Tempels, den Priester- und den Israelitenhof, durch den Frauenhof und den Heidenvorhof, über die von Portiken gesäumten Mauern des Tempels und hinab in die Stadt Jerusalem, über das judäische Land nach Samarien und Idumäa, Peräa und Galiläa, durch das grenzenlose und mächtige Römische Reich zum Rest der Welt, zu allen Völkern und Nationen, die allesamt – ob Juden oder Heiden – genährt und erhalten werden durch den Geist des Herrn der Schöpfung, einen Geist, der nur eine einzige Quelle hat: das innere Heiligtum, das Allerheiligste, tief drinnen im Tempel, in der Heiligen Stadt Jerusalem.

Der Zugang zum Allerheiligsten steht nur dem Hohepriester offen, der zu dieser Zeit, 56 n. Chr., ein junger Mann namens Jonatan, Sohn des Hannas, ist. Wie die meisten seiner Vorgänger in jüngerer Zeit hat Jonatan sein Amt direkt von Rom gekauft, und zwar sicher zu einem happigen Preis. Das Amt des Hohepriesters ist einträglich, beschränkt auf eine Handvoll adliger Familien, die die Position untereinander weitergeben wie ein Erbe (die rangniederen Priester stammen im Allgemeinen aus einfacheren Familien).

Die Rolle des Tempels im jüdischen Leben kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Er dient den Juden als Kalender und Uhr; seine Rituale prägen den Jahreslauf ebenso wie die alltäglichen Tätigkeiten jedes einzelnen Bewohners von Jerusalem. Er ist das Handelszentrum von ganz Judäa, dessen wichtigste Finanzinstitution und größte Bank. Der Tempel ist nicht nur die Wohnstatt des Gottes Israels, sondern auch der Mittelpunkt der nationalistischen Sehnsüchte Israels; er beherbergt neben den heiligen Schriften und Gesetzesrollen, die die jüdische Religion regeln, auch die wichtigsten Rechtsdokumente, historischen Aufzeichnungen und genealogischen Urkunden der jüdischen Nation.

Anders als ihre heidnischen Nachbarn haben die Juden keine Vielzahl von im ganzen Land verteilten Tempeln. Es gibt nur ein Kultzentrum, nur eine einzige Quelle der göttlichen Präsenz, es gibt keinen anderen Ort, an dem ein Jude mit dem lebendigen Gott kommunizieren kann. Judäa ist im Grunde ein Tempelstaat. Der Begriff «Theokratie» wurde sogar geprägt, um Jerusalem damit zu beschreiben. «Die einen haben die höchste politische Regierungsgewalt an Monarchien übertragen», schrieb der jüdische Historiker Flavius Josephus im 1. Jahrhundert, «andere an Oligarchien, wieder andere an die Massen [Demokratie]. Unser Gesetzgeber hingegen fühlte sich von keiner dieser Verfassungsformen angesprochen, sondern gab seinem Staatsgebilde die Form – wenn man einen etwas gewaltsam formulierten Begriff gebrauchen darf – einer ‹Theokratie› [theokratia], indem er alle Herrschaft und Macht in die Hände Gottes legte.»

Sie können sich den Tempel als eine Art Feudalstaat denken, der tausende Priester, Sänger, Pförtner und Diener beschäftigt und fruchtbare Ländereien bewirtschaftet, die von Tempelsklaven im Auftrag des Hohepriester und zu seinem Nutzen bestellt werden. Dazu kommen die Einnahmen aus der Tempelsteuer und der ständige Strom der Geschenke und Gaben von Besuchern und Pilgern – ganz zu schweigen von den gewaltigen Summen, die durch die Hände der Händler und Geldwechsler gehen und von denen der Tempel einen Teil erhält. Wenn Sie das alles zusammennehmen, verstehen Sie sicher, warum so viele Juden den gesamten Priesteradel und den Hohepriester im Besonderen einfach als eine Bande habgieriger «Freunde des Luxus» sahen, um Josephus zu zitieren.

Stellen Sie sich den Hohepriester Jonatan am Altar vor; Räucherwerk glimmt in seiner Hand, und man kann leicht sehen, warum er solche Feindseligkeit erregt: Schon seine Priestergewänder, die er von seinen ebenso wohlhabenden Vorgängern geerbt hat, bezeugen den immensen Reichtum. Die lange, ärmellose Robe, purpurn (in der Farbe der Könige) gefärbt, mit zarten Troddeln und zierlichen Goldglöckchen am Saum; der mächtige Brustharnisch, besetzt mit zwölf kostbaren Edelsteinen, einen für jeden Stamm Israels; der makellose Turban, der auf seinem Kopf sitzt wie eine Tiara, mit einer Goldplatte vor der Stirn, auf der der unaussprechliche Name Gottes eingraviert ist; urim und thummim, so etwas wie heilige Würfel aus Holz und Stein, die der Hohepriester in einem Beutel nahe dem Herzen bei sich führt und durch die er den Willen Gottes offenbart, indem er eine Art Orakel wirft – dieses ganze Gepränge soll den exklusiven Zugang des Hohepriesters zu Gott symbolisieren. Durch all das unterscheidet sich der Hohepriester von allen anderen Juden auf der Welt.

Deshalb darf nur er das Allerheiligste betreten, und auch das nur an einem Tag im Jahr, an Jom Kippur, dem Versöhnungstag, wenn alle Sünden Israels ausradiert werden. An diesem Tag tritt der Hohepriester vor die Präsenz Gottes, um für die ganze Nation Sühne zu leisten. Wenn er des Segens Gottes würdig ist, sind Israels Sünden vergeben. Ist er es nicht, sorgt ein Seil um seine Taille dafür, dass er, falls Gott ihn erschlägt, aus dem Allerheiligsten gezogen werden kann, ohne dass irgendjemand sonst das Heiligtum entweihen muss.

Der Hohepriester stirbt tatsächlich an diesem Tag, wenn auch wohl nicht durch die Hand Gottes.

Nachdem die priesterlichen Segen gesprochen und das Sch’ma Jisrael gesungen ist («Höre Israel! Der Ewige [ist] unser Gott; der Ewige [ist] einzig!»), tritt der Hohepriester Jonatan vom Altar zurück und geht die Rampe hinunter in die äußeren Höfe des Tempels. Im Heidenvorhof wird er sofort von einem Taumel der Begeisterung geschluckt. Die Tempelwachen bilden eine Barriere der Reinheit rund um ihn, sie schützen den Hohepriester vor den befleckenden Händen der Massen. Und doch ist es für den Attentäter ein Kinderspiel, ihn zu finden. Er muss nicht dem blendenden Glanz seiner mit Juwelen besetzten Kleider folgen. Er muss nur auf den Klang der Glöckchen hören, die am Saum seiner Robe baumeln. Diese seltsame Melodie ist das sicherste Zeichen, dass der Hohepriester kommt. Der Hohepriester ist nahe.

Der Attentäter drängt sich durch die Menge, schiebt sich nahe genug an Jonatan heran, um seine Hand unbemerkt auszustrecken, die heiligen Gewänder zu fassen, ihn von den Tempelwachen wegzuziehen und ihn dort zu halten, nur einen Moment lang, aber lange genug, um einen kurzen Dolch aus der Scheide zu ziehen und ihn quer über seine Kehle gleiten zu lassen. Ein Opfer anderer Art.

Bevor das Blut des Hohepriesters sich auf den Boden des Tempels ergießt, bevor die Wachen auf den abbrechenden Rhythmus seiner Bewegungen reagieren können, bevor irgendjemand auf dem Hof merkt, was geschehen ist, verschwindet der Attentäter wieder in der Menge.

Sie sollten nicht überrascht sein, wenn er der Erste ist, der laut «Mord!» ruft.

Kapitel eins

Ein Loch im Winkel

Wer tötete Jonatan, den Sohn des Hannas, auf seinem Weg über den Tempelberg im Jahr 56 n. Chr.? Zweifellos gab es viele Menschen in Jerusalem, die den habgierigen Hohepriester nur zu gern erschlagen hätten, und nicht wenige, die am liebsten gleich die ganze aufgeblähte Tempelpriesterschaft mit ausgelöscht hätten. Denn wenn man über Palästina im 1. Jahrhundert spricht, darf man nie vergessen, dass dieses Land – dieses geheiligte Land, von dem der Geist Gottes zum Rest der Welt strömte – besetztes Gebiet war. Überall in Judäa waren römische Legionen stationiert. Etwa 600 römische Soldaten standen sogar auf dem Tempelberg selbst, innerhalb der hohen Steinmauern der Burg Antonia, die die Nordwestecke der Tempelmauer stützte. Der unreine Zenturio mit seinem roten Umhang und polierten Harnisch, der mit der Hand am Heft seines Schwertes durch den Heidenvorhof stolzierte, war eine nicht gerade dezente Erinnerung daran, wer wirklich über diesen heiligen Ort herrschte – wenn es einer solchen Erinnerung überhaupt bedurfte.

Die römische Herrschaft über Jerusalem begann 63 v. Chr., als Roms Meistertaktiker Pompeius Magnus mit seinen Legionen als Eroberer in die Stadt einzog und den Tempel belagerte. Damals hatte Jerusalem längst seinen wirtschaftlichen und kulturellen Zenit überschritten. Die kanaanitische Siedlung, die König David zum Sitz seines Reiches gemacht, die Stadt, in der sein eigensinniger Sohn Salomo Gott den ersten Tempel errichtet hatte – der von den Babyloniern 586 v. Chr. geplündert und zerstört worden war –, die Stadt, die der jüdischen Nation ein Jahrtausend lang als religiöses, wirtschaftliches und politisches Zentrum gedient hatte, war, als Pompeius einzog, weniger für ihre Schönheit und Größe als für den religiösen Eifer ihrer störrischen Bevölkerung bekannt.

Jerusalem auf dem südlichen Plateau des zerfurchten Gebirges Juda zwischen dem Doppelgipfel des Skopus und des Ölbergs, flankiert vom Kidrontal im Osten und dem tiefen, unwirtlichen Hinnomtal im Süden, war zur Zeit der römischen Besatzung die Heimstatt von etwa 100000 Menschen, die ihren festen Wohnsitz dort hatten. In den Augen der Römer war die Stadt ein unbedeutender Fleck auf der Karte des Imperiums, ein Ort, den der wortreiche Staatsmann Cicero als ein «Loch im Winkel» abtat. Für die Juden jedoch war dies der Nabel der Welt, die Achse des Universums. Es gab in der ganzen Welt keine Stadt, die einzigartiger, heiliger, verehrungswürdiger war als Jerusalem. Die purpurroten Weingärten, deren Ranken sich über die flachen Ebenen wanden, die sorgfältig bestellten Felder und grünen Obstgärten, die vor Mandel-, Feigen- und Olivenbäumen strotzten, die Papyrusflächen, die sich sanft am Jordan wiegten – die Juden kannten und liebten nicht nur jede Einzelheit dieses geheiligten Fleckchens Erde, sie erhoben auch Anspruch auf all diese Dinge. Alles von den Hofstätten Galiläas bis zu den niedrigen Hügeln Samariens und den letzten Ausläufern Idumäas, wo der Bibel zufolge einst die verfluchten Städte Sodom und Gomorra gestanden hatten, war den Juden von Gott gegeben worden, ungeachtet der Tatsache, dass die Juden über keine dieser Stätten herrschten, nicht einmal über Jerusalem, wo doch der wahre Gott verehrt wurde. Die Stadt, die der Herr in Glanz und Ruhm gekleidet und, wie der Prophet Ezechiel erklärte, «mitten unter die Völker und die Länder ringsum gesetzt» hatte (Ez 5,5) – der ewige Sitz von Gottes Reich auf Erden –, war zu Beginn des 1. Jh.s n. Chr. nur eine eher unwichtige und dazu noch eine ziemlich nervige Provinz in der allerletzten Ecke des mächtigen Römischen Reiches.

Nun war Jerusalem an Invasionen und Okkupationen durchaus gewöhnt. Ungeachtet ihres besonderen Status in den Herzen der Juden war die Heilige Stadt durch die Hände einer langen Reihe von Königen und Kaisern gegangen, die sie auf dem Weg zu weit größeren Zielen praktisch nebenbei ausplünderten und beraubten. So wüteten im Jahr 586 v. Chr. die Babylonier – die Herren von Mesopotamien – in Judäa und machten Jerusalem inklusive seines Tempels dem Erdboden gleich. Die Babylonier mussten sich den Persern geschlagen geben, die den Juden erlaubten, in ihre geliebte Stadt zurückzukehren und ihren Tempel wieder aufzubauen, nicht, weil sie dieses Volk bewunderten oder seine Religion ernst nahmen, sondern weil Jerusalem in ihren Augen ein unwichtiges Provinznest ohne großen Nutzen für ein Reich war, das ganz Mittelasien umfasste (allerdings dankte der Prophet Jesaja dem persischen König, indem er ihn zum Messias salbte). Das Perserreich und Jerusalem mit ihm unterlag den Heeren Alexanders des Großen, dessen Nachfahren der Stadt und ihren Bewohnern griechische Kultur und griechisches Denken brachten. Nach Alexanders frühem Tod im Jahr 323 v. Chr. ging Jerusalem als Kriegsbeute an die Dynastie der Ptolemäer über und wurde, wenn auch nur kurz, vom fernen Ägypten aus regiert. Im Jahr 198 v. Chr. entwand der Seleukidenkönig Antiochus der Große die Stadt der ptolemäischen Herrschaft. Sein Sohn Antiochus Epiphanes sah sich selbst als Mensch gewordener Gott und wollte der Verehrung der jüdischen Gottheit in Jerusalem ein für alle Mal ein Ende machen. Die Juden jedoch antworteten auf diese Blasphemie mit einem gnadenlosen Guerillakrieg unter der Führung der beherzten Söhne des Hasmonäers Mattatias – nach Judas Makkabäus Aufstand der Makkabäer genannt –, die die Stadt 164 v. Chr. den Seleukiden entrissen und zum ersten Mal seit vier Jahrhunderten wieder eine jüdische Vorherrschaft über Judäa einsetzten.

Hundert Jahre lang regierten jetzt also die Hasmonäer Gottes Land mit eiserner Faust. Sie waren Priesterkönige, die jeweils als König der Juden wie auch als Hohepriester des Tempels fungierten. Als jedoch zwischen den Brüdern Hyrkanus und Aristobul ein Bürgerkrieg um den Thron ausbrach, waren beide so dumm, Rom um Hilfe anzurufen. Pompeius verstand die Appelle der Brüder als Einladung, Jerusalem für sich selbst zu beanspruchen, und machte so der kurzen Phase direkter jüdischer Herrschaft über die Stadt Gottes ein schnelles Ende. Im Jahr 63 v. Chr. wurde Judäa römisches Protektorat, und die Juden waren wieder ein unterworfenes Volk.

Natürlich begrüßten sie die römische Herrschaft nach einem Jahrhundert der Unabhängigkeit nicht gerade begeistert. Die Königsdynastie der Hasmonäer war beseitigt, doch Pompeius ließ Hyrkanus die Funktion des Hohepriesters. Das passte den Anhängern des Aristobul überhaupt nicht. Sie zettelten mehrere Revolten an, auf die die Römer mit auffälliger Brutalität reagierten – sie brannten mehrere Orte nieder, töteten Rebellen, versklavten die Einwohnerschaft ganzer Städte. Unterdessen wuchs die Kluft zwischen den hungernden und verschuldeten Armen, die auf dem Lande schufteten, und der reichen Oberschicht in Jerusalem weiter. Die römische Politik war immer auch darauf ausgerichtet, Allianzen mit der Aristokratie eingenommener Gebiete zu schmieden, sodass deren Macht und Reichtum vom Wohlwollen der römischen Oberherrschaft abhing. Indem Rom seine Interessen mit denen der herrschenden Klasse verband, sorgte das Imperium dafür, dass die lokalen Anführer interessiert daran waren, das imperiale System aufrechtzuerhalten. In Jerusalem war der «Adel» natürlich mehr oder weniger mit der Priesterschicht gleichzusetzen, vor allem mit jener Handvoll reicher Priesterfamilien, die für den Tempel verantwortlich waren und infolgedessen auch von Rom beauftragt wurden, die Steuern und Tribute einzutreiben und die Ordnung unter der unruhigen Bevölkerung aufrechtzuerhalten – Aufgaben, für die sie reich belohnt wurden.

Weil der Übergang zwischen der religiösen und der politischen Macht in Jerusalem fließend war, musste Rom den jüdischen Kult und vor allem den Hohepriester streng überwachen. Als Leiter des Sanhedrin und «Anführer der Nation» war der Hohepriester eine Gestalt mit religiösem wie auch politischem Einfluss, mit der Macht, Entscheidungen in allen religiösen Angelegenheiten zu treffen, Gottes Gesetz durchzusetzen und sogar Verhaftungen vorzunehmen, wenn auch nur in der Umgebung des Tempels. Wenn die Römer die Juden kontrollieren wollten, mussten sie den Tempel kontrollieren. Und wenn sie den Tempel kontrollieren wollten, mussten sie den Hohepriester kontrollieren, weshalb Rom selbst, kurz nachdem es die Herrschaft über Judäa erlangt hatte, die Verantwortung für die (direkte oder indirekte) Ernennung und Absetzung des Hohepriesters übernahm und ihn damit im Wesentlichen zu einem römischen Handlanger machte. Rom behielt sogar die heiligen Gewänder des Hohepriesters in Gewahrsam, gab sie nur zu den religiösen Feiern und Festtagen heraus und beschlagnahmte sie sofort nach Abschluss der Zeremonien wieder.

Dennoch erging es den Juden besser als manchen anderen römischen Untertanen.

Zumeist hielten die Römer sie bei Laune, indem sie sie die jüdischen Rituale und Opfer ohne Einmischungen vollziehen ließen. Die Juden waren sogar von der Pflicht zum Kaiserkult befreit, die Rom praktisch allen anderen religiösen Gemeinschaften in seinem Herrschaftsgebiet auferlegt hatte. Rom verlangte von Jerusalem nichts weiter als zweimal täglich die Opferung eines Bullen und zweier Lämmer für den Kaiser und seine Gesundheit. Man ließ die Juden, ihren Gott und ihren Tempel in Ruhe, solange sie die Opfer darbrachten, Steuern und Tribute zahlten und sich an die Gesetze in der Provinz hielten.

Die Römer konnten übrigens ziemlich gut mit den religiösen Überzeugungen und Praktiken unterworfener Völker umgehen. In den meisten eroberten Ländern blieben die Tempel unangetastet. Rivalisierende Götter wurden nicht besiegt oder vernichtet, sondern oft in den römischen Kult eingegliedert (so wurde zum Beispiel der kanaanitische Gott Baal mit dem römischen Gott Saturn verbunden). In manchen Fällen nahmen die Römer mit einer sogenannten evocatio einen Tempel des Feindes in Besitz – und damit auch dessen Gott, denn beide waren in der antiken Welt untrennbar miteinander verbunden – und übertrugen ihn nach Rom, wo er mit Geld und üppigen Opfern überschüttet wurde. Solche Riten sollten das klare Signal senden, dass die Feindseligkeiten sich nicht gegen den Gott des Feindes richteten, sondern gegen die Kämpfenden; der Gott würde in Rom weiter geehrt und angebetet, wenn nur seine Anhänger ihre Waffen niederlegten und sich in das Reich eingliedern ließen.

So tolerant die Römer im Allgemeinen schon gegenüber fremden Kulten gewesen sein mögen – noch nachsichtiger begegneten sie den Juden und ihrer Treue zu dem Einen Gott, von Cicero als «barbarischer Aberglaube» des jüdischen Monotheismus verunglimpft. Die Römer verstanden die jüdische Religion mit ihren seltsamen Gesetzen und ihrer so unnachgiebigen Besessenheit mit der rituellen Reinheit vielleicht nicht – «Die Juden betrachten alles, was wir heilig halten, als gottlos», schrieb Tacitus, «während sie alles zulassen, was wir verabscheuen» –, aber sie duldeten sie dennoch.

Verblüffend waren für die Römer jedoch nicht nur die seltsamen Riten der Juden oder ihre strikte Einhaltung der religiösen Gesetze, sondern vor allem ihr in den Augen der Römer völlig unverständliches Überlegenheitsgefühl. Die Vorstellung, dass ein unbedeutender semitischer Stamm in einer fernen Ecke des mächtigen Römischen Reiches eine Sonderbehandlung beim Kaiser einforderte und tatsächlich auch bekam, war für viele Römer einfach unfassbar. Wie konnten sie es wagen, ihren Gott für den einzigen Gott im Universum zu halten? Wie konnten sie es wagen, sich von allen anderen Völkern abzusondern? Was glaubten diese rückständigen und abergläubischen Stammesangehörigen denn, wer sie eigentlich waren? Der stoische Philosoph Seneca war nicht der Einzige in der römischen Elite, der sich fragte, wie es hatte passieren können, dass in Jerusalem «die Besiegten den Siegern Gesetze gegeben haben».

Für die Juden allerdings war dieses Gefühl der Einzigartigkeit kein arroganter Stolz. Es war ein direktes Gebot eines eifersüchtigen Gottes, der keine ausländische Präsenz in dem Land duldete, das er für sein auserwähltes Volk vorgesehen hatte. Deshalb hatte Gott auch, als die Juden 1000 Jahre zuvor zum ersten Mal einen Fuß in dieses Land setzten, befohlen, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, auf die sie stießen, niederzumachen, jeden Ochsen, jede Ziege und jedes Schaf zu schlachten und jedes Gehöft, jedes Feld, jede Erntefrucht und alles Lebendige ohne Ausnahme niederzubrennen, um so sicherzustellen, dass das Land nur jenen gehören würde, die diesen einen Gott und keinen anderen anbeteten.

Gott befahl den Israeliten: «Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat.» (5 Mos 20, 16–17)

Die Bibel berichtet, dass die Juden sich erst im Lande ansiedeln durften, nachdem die jüdischen Heere alles, «was Atem hat», in den Städten Libna und Lachisch und Eglon und Hebron und Debir, im Bergland und im Negeb, in den Ebenen und an den Hängen völlig vernichtet hatten – erst nachdem wirklich jeder einzelne vorherige Bewohner dieses Landes ausgerottet war, «wie es der Herr, der Gott Israels, befohlen hatte» (Jos 10,28–42).

Und doch fand sich eben dieser Stamm, der so viel Blut vergossen hatte, um das Gelobte Land von allen fremden Elementen zu reinigen, damit er es dann im Namen seines Gottes regieren konnte, jetzt unter der Knute einer imperialen heidnischen Macht wieder, gezwungen, die Heilige Stadt mit Galliern, Spaniern, Römern, Griechen und Syrern – alle Fremde, alle Heiden – zu teilen, verpflichtet, in Gottes eigenem Tempel Opfer darzubringen für einen römischen Götzenanbeter, der mehr als 1000 Kilometer entfernt lebte.

Wie hätten Helden früherer Tage auf eine solche Demütigung und Herabsetzung reagiert? Was würden Josua oder Aaron oder Pinhas oder Samuel den Ungläubigen antun, die das Land befleckten, das Gott seinem erwählten Volk vorbehalten hatte?

Sie würden das Land in Blut baden. Sie würden die Köpfe der Heiden spalten, ihre Götzen verbrennen, ihre Frauen und Kinder abschlachten. Sie würden die Götzenanbeter erschlagen und ihre Füße im Blut ihrer Feinde baden, genau wie der Herr es befohlen hatte. Sie würden den Gott Israels anrufen, auf dass er auf seinem Streitwagen aus den Himmeln hervorbräche, die sündigen Völker zertrample und die Berge mit seinem Zorn erschüttere.

Und was den Hohepriester anging – den Unglückseligen, der Gottes erwähltes Volk für ein paar Münzen und das Recht, in seinen mit Edelsteinen besetzten Gewändern herumzutänzeln, verraten hatte –, schon seine bloße Existenz war eine Beleidigung Gottes. Sie lag wie ein Schandfleck auf dem ganzen Land.

Sie musste ausgelöscht werden.

Kapitel zwei

König der Juden

In den Jahre des Aufruhrs, die der römischen Besetzung Judäas folgten, als Rom in einen kräftezehrenden Bürgerkrieg zwischen Pompeius Magnus und seinem früheren Verbündeten Julius Cäsar verstrickt wurde und die Reste der Hasmonäer-Dynastie um die Gunst beider Männer buhlten, verschlechterte sich die Situation der jüdischen Bauern, die Gottes Land bestellten, immer weiter. Die kleinen Familienbauernhöfe, die jahrhundertelang die Basis der ländlichen Wirtschaft gebildet hatten, wurden allmählich von großen Gütern geschluckt, die der mit frisch geprägten römischen Münzen reichlich bedachte Landadel verwaltete. Die schnelle Urbanisierung unter römischer Herrschaft förderte eine massive Binnenwanderung vom Land in die Städte. Die Landwirtschaft, die früher die arme Dorfbevölkerung ernährt hatte, konzentrierte sich jetzt fast nur noch darauf, die gewaltig gewachsenen urbanen Zentren zu versorgen. Die Bauern blieben hungrig und mittellos zurück. Sie waren nicht nur verpflichtet, weiterhin ihre Steuern und Zehnten an die Tempelpriesterschaft zu zahlen, sondern mussten jetzt auch noch einen hohen Tribut an Rom leisten. Beides zusammen konnte fast die Hälfte des Jahresertrags ausmachen.

Zudem lagen weite Flächen nach mehreren Dürreperioden brach, während zugleich ein großer Teil der jüdischen Kleinbauern in die Sklaverei gezwungen wurde. Wer es schaffte, sich auf dem eigenen mageren Acker zu halten, musste sich oft zu exorbitanten Zinssätzen beim Landadel verschulden. Dabei spielte es keine Rolle, dass das jüdische Gesetz das Zinsnehmen verbot; die schweren Strafen, die die Armen für eine verspätete Rückzahlung zu entrichten hatten, kamen im Grunde auf das Gleiche heraus. Jedenfalls rechnete der Landadel fest damit, dass die Kleinbauern ihre Schulden nicht bezahlten, und wenn die Schulden nicht prompt und vollständig beglichen wurden, konnte man das Bauernland beschlagnahmen, und der Bauer musste auf dem Hof als Pächter für den neuen Besitzer schuften.