Zerrissen - Vanessa Maurer - E-Book

Zerrissen E-Book

Vanessa Maurer

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Beschreibung

Kriminologin Rebeka Michels steht seit zwei Jahren Kommissar Roman Winter beratend bei zahlreichen Fällen zur Seite. Sie kann die Geschehnisse gut verarbeiten, bis die Leiche einer jungen Frau gefunden wird. Unter Mordverdacht: der Exfreund. Das Verhör bringt nichts außer einem fraglichen Alibi und einem arroganten Mann zum Vorschein, der aber kurz darauf tot in einer Seitengasse aufgefunden wird. Die Ereignisse überschlagen sich, weitere Frauen kommen ins Kommissariat und berichten von Verbrechen, die ihnen angetan wurden. Rebeka wird in ihre Vergangenheit zurückversetzt, versteht das Leid der Frauen nur zu gut - und nach und nach nimmt die Geschichte ihren verheerenden Verlauf...

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 – Dienstag, 4. Mai

Kapitel 2

Kapitel 3

Vor fünf Jahren

Kapitel 4 – Dienstag, 4. Mai

Kapitel 5

Im Hier und Jetzt – Samstag, 15. Mai

Kapitel 6 – Mittwoch, 5. Mai

Kapitel 7

Vor drei Jahren

Kapitel 8 – Mittwoch, 5. Mai

Kapitel 9

Kapitel 10 – Donnerstag, 6. Mai

Vor drei Jahren Eine Woche nach dem Überfall auf Rebeka

Kapitel 11 – Donnerstag, 6. Mai

Kapitel 12

Im Hier und Jetzt – 16. Mai

Kapitel 13 – Freitag, 7. Mai

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18 – Samstag, 8. Mai

Kapitel 19

Kapitel 20 – Sonntag, 9. Mai

Kapitel 21

Kapitel 22

Im Hier und Jetzt – 17. Mai

Kapitel 23 – 10. Mai

Kapitel 24

Vor zwei Jahren

Kapitel 25 – Montag, 10. Mai

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28 – Dienstag, 11. Mai

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Im Hier und Jetzt – 18. Mai

Epilog

Prolog

Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. In dieser Geschichte geht es um mich, na ja, nicht nur um mich, aber ich spiele eine nicht unwichtige Rolle. Ja, ich weiß, bis jetzt klingt das nicht sehr spannend. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es das auf alle Fälle ist. Fangen wir von vorne an. Mein Name ist Rebeka Michels, ich bin Kriminologin und stehe dem Kommissariat bei den Ermittlungen, wenn es um Morde und Gewaltverbrechen geht, beratend zur Seite. Meine Aufgaben bestehen darin, bei Verhören zu beobachten und etwaige Auffälligkeiten der Mimik und Gestik der Verdächtigen zu analysieren, und Kommissar Roman Winter – nebenbei bemerkt ein sehr guter Freund von mir – zu Befragungen oder ab und zu auch zu Tatorten oder in die Gerichtsmedizin zu begleiten.

Ich weiß, was Sie jetzt denken: Wer nennt sein Kind schon Rebeka? Mit einem K, nicht mal zwei geschweige denn mit C. Tja, da müssen Sie meine Eltern fragen. Aber lassen wir das. Was Sie sich wahrscheinlich eher denken werden ist: Eine Frau in einem männerdominierten Berufsfeld, zudem in einem Bereich, wo viele Morde, vor allem auch an Frauen wie die Nachrichten zeigen, verübt werden. Das ist doch der absolute Traumberuf einer jeden Frau oder? Tja, was soll ich sagen? Mich hat dieser Beruf schon immer interessiert. Wusste ich, dass es mich auch in solche Fälle ziehen wird? Klar. Stört es mich? Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir nicht im Geringsten nahegeht, wenn ich Fotos einer Frauenleiche sehe, die Verletzungen und die Geschichte dahinter. Manchmal sogar vor Ort bin und alles hautnah mitbekomme: Den Geruch des noch nicht geronnenen Blutes, den Körper aus dem jegliches Leben gewichen ist. Den Mörder, der dann im schlimmsten Fall auch noch viel zu wenig Jahre im Gefängnis aufgebrummt bekommt oder gar nicht erst hinter Gitter kommt.

Aber genug davon. Auf den nächsten Seiten nehme ich Sie mit auf eine Reise. Eine ziemlich brutale, so ehrlich muss ich sein, also halten Sie sich fest. Nur eins vorweg, es wird Frauen auf den nächsten Seiten schreckliches Leid widerfahren. Leid, das tagtäglich praktiziert wird und im Jahr 2021 höchst präsent war, wenn man sich die Nachrichten so ansieht. Ich spreche hier auch gleich eine Triggerwarnung aus, für all jene, die mit dem Thema Gewalt an Frauen schon Erfahrung hatten und durch Momente in der Geschichte daran zurückerinnert werden.

Nun gut, ich will Sie nicht mit einem noch längeren Monolog aufhalten. Wir lesen uns am Ende der Geschichte wieder. Bis dahin, bleiben Sie stark!

Kapitel 1 – Dienstag, 4. Mai

Es war kurz nach acht Uhr morgens, als die ersten Sonnenstrahlen durch die fliederfarbenen Vorhänge der großen Fenster fielen und Rebeka Michels aus einem traumlosen Schlaf holten. Letzte Nacht war sie erst spät ins Bett gekommen. Viele Akten waren im Kommissariat liegen geblieben und mussten noch durchgesehen werden. Sie fuhr sich durch ihre braunen schulterlangen Haare und blinzelte der Sonne entgegen. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah auf ihre Uhr am Nachttisch – 8:06.

„Ach Scheiße“, raunte Rebeka mit verschlafener Stimme, richtete sich auf und streckte sich.

Rebeka war eine Frühaufsteherin und hatte ein morgendliches Ritual, das sie auf den Tag vorbereitete. Es war Dienstag, die Woche hatte gerade erst begonnen und eigentlich sollte der Wecker um sieben Uhr klingeln. Rebeka wollte in Ruhe ihre Yogaübungen machen, die brachten sie langsam aus dem Schlaf und in die wirkliche Welt. Danach hatte sie Zeit für eine Dusche und ihren Kaffee, manchmal aß sie auch eine Kleinigkeit. Aber aus dem Yoga und einer längeren Dusche wurde heute wohl nichts mehr. Sie warf die Decke zurück, ging zum Kleiderschrank und suchte sich ein passendes Outfit für den Tag heraus. Sie schaltete den Fernseher im Wohnzimmer ein und ließ die Nachrichten laufen, während sie im Badezimmer verschwand. Sie nahm eine schnelle Dusche, auf das Haarewaschen verzichtete Rebeka kurzerhand, frisch genug waren sie noch. Nachdem sie das Wasser abgestellt hatte und aus der Dusche trat, wickelte sie sich in ein Handtuch. Vor dem Spiegel betrachtete sie sich kurz, legte etwas Wimperntusche und Lippenstift auf, lächelte und begann sich anzuziehen. Für heute wählte sie eine schwarze Jeans und ein weißes Oberteil, sie steckte es in ihre Hose, damit ihre Taille gut zur Geltung kam. Sie nahm sich den passenden Blazer und ging in die Küche. Die Kaffeemaschine war schnell funktionsbereit und Rebeka atmete durch. Mit dem ersten Schluck Kaffee spürte sie eine Welle des Erwachens über sie hereinbrechen und Zufriedenheit durchströmte sie.

„Das Neueste zum Tag: Heute Morgen wurde eine etwa 27-jährige Frau tot im Park aufgefunden.“ Rebeka verschluckte sich und hustete so laut, dass sie die nächsten Worte nicht verstand. Sie trank einen Schluck nach und ging zum Fernseher. Mit geweiteten Augen beobachtete sie die Tragödie: „… weist starke Würgemale am Hals auf. Es ist bereits der dritte Übergriff auf eine Frau in diesem Monat, allerdings das erste Mordopfer. Die Polizei ermittelt. Im Fokus der Ermittlungen steht ein 35-jähriger Mann, der mit dem Opfer vor kurzem noch liiert war.“ Ein Schauer lief Rebeka kalt den Rücken hinunter und mit einem Mal wurde ihr schwindlig. Wieder eine Frau, die ihr Leben lassen musste. Eines ihrer Augen begann leicht zu zucken und Rebeka musste dieses für einen Moment schließen. Mittlerweile sollte es ihr nicht mehr so nahe gehen, aber die Vergangenheit ließ sich nicht komplett aus ihrem Kopf löschen. Sie atmete langsam ein und wieder aus, öffnete ihre Augen und war wieder im Hier und Jetzt. Rebeka eilte zurück ins Schlafzimmer und suchte vergebens nach ihrem Handy.

„Wo ist denn dieses blöde Ding schon wieder?!“

Sie überlegte, wo sie es gestern noch hatte. Mit einem Mal spurtete sie zurück ins Wohnzimmer, kramte in ihrer Handtasche auf der Couch und fand es schließlich. Nachdem sie den Bildschirm entsperrt hatte, zeigte das Handy ihr zwölf verpasste Anrufe und zahlreiche SMS an. Alle von Roman – nein, nicht ihr Liebhaber, sondern ihr Kollege. „Scheiße!“ Sie nahm sich ihren Blazer, zog ihre Schuhe mit Absatz an und schnappte sich ihre Tasche. Den Fernseher ließ sie einfach laufen, er würde sich schon von alleine abdrehen. Mit den Schlüsseln in der einen und dem Handy in der anderen Hand eilte sie zur Tür hinaus und ließ sie ins Schloss fallen. Am Weg nach unten wählte sie Romans Nummer – ein Freizeichen, dann hörte sie bereits seine Stimme.

„Rebeka, wo verdammt steckst du?“, zischte er sie an.

„Ich hab verschlafen, bin am Weg“, gab Rebeka zurück und setzte sich hinter das Steuer ihres Alfa Romeos.

„Beeil dich! Wir sind im Park. Du musst dir das vor Ort ansehen.“

Nach diesen Worten legte sie auf, startete den Motor und fuhr aus der Parklücke.

------

„Jetzt fahr doch endlich!“, brüllte Rebeka und hupte.

Genau heute mussten auch noch die schlimmsten Sonntagsfahrer vor ihr fahren. Sie überholte den kleinen Golf, sah kurz hinüber und entdeckte eine alte Dame, die nicht mal mehr übers Lenkrad sehen konnte. Brillengläser so dick wie Aschenbecher und ein müder Blick. Sie reihte sich wieder ein.

„Das war ja so klar. Dass sowas überhaupt noch fahren darf“, schüttelte Rebeka den Kopf und bog die nächste Kreuzung links ab.

Neben ihr erstreckte sich schon der Park. Am Gehsteig standen zahlreiche Bürger, die neugierig versuchten, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Auch die Gewalt an Frauen-Bewegung war vor Ort. Sie hielten Schilder in die Höhe und riefen Parolen, die aber nur schwer zu verstehen waren, da die Dame mit dem Megafon es nicht sonderlich gut unter Kontrolle hatte. Das verhinderte die Polizei jedoch mit größter Anstrengung. Rebeka nahm die nahegelegenste Parkmöglichkeit, sprang aus dem Wagen und suchte nach Roman. Er stand bereits beim Absperrband und winkte ihr zu. Sie schloss ab und ging auf ihn zu. Roman Winter sah heute wieder besonders gut aus. Seine blonden längeren Haare hatte er sich zurückgegelt. Auch sein Outfit passte wie die Faust aufs Auge. Er sah nicht aus wie der typische Homosexuelle. Nicht wie einer, der jährlich auf der Pride Parade mitging und sich dementsprechend kleidete. Das machte ihm das Leben und die Arbeit als Kommissar leichter. Auch wenn er offen damit umging, waren einige trotz des Faktes, dass wir im 21. Jahrhundert leben, sehr hinterwäldlerisch, was Homosexualität anging. Aber Roman stand da definitiv drüber und sein Lebensgefährte Daniel ebenso.

„Du und dein vorwurfsvoller Blick. Es war keine Absicht!“, fing sie an und hob abwehrend die Hände.

„Jaja, schon gut. Komm jetzt. Wir haben eine Frau hier, mit der du sprechen solltest. Sie hat die Tote gefunden und wirkt etwas verstört auf mich. Also, verstörter, als man eben wirkt, wenn man eine Leiche findet. Sie redet nicht mit uns. Vielleicht ja mit dir“, sagte Roman und brachte Rebeka zu der jungen Frau, die mit leerem Blick zum Tatort starrte.

Kapitel 2

Rebeka näherte sich nur langsam der jungen Frau und versuchte, so einfühlsam wie möglich auszusehen. Sie saß zusammengekauert neben einem Baum. Die Hände hatte sie in ihre blonden kurzen Haare verkrampft. Ihr Kleid war von der Erde am Tatort etwas dreckig geworden, aber auch ihre Knie zeigten, dass sie neben dem Ort gekniet hatte und das etwas länger.

„Hallo, mein Name ist Rebeka Michels. Ich bin Kriminologin“, sagte Rebeka und stellte sich neben sie und plötzlich entstand Blickkontakt. Sie sah Rebeka mit ihren haselnussbraunen Augen an und eine Träne rann ihr die Wange hinunter. Rebeka konnte noch nicht sagen, warum diese Frau erst jetzt mit jemandem sprach und warum dann ausgerechnet mit ihr. Sie zeigte ein leichtes Lächeln, um Sympathie aufzubauen und setzte sich neben sie unter die alte Linde, so sah der Baum jedenfalls aus.

Rebeka konnte anfangs eine leichte Verunsicherung in ihrem Blick erkennen, aber dann wurden ihre Züge weicher: „Ich bin Lara Reichhart.“

Rebeka nickte: „Wie geht es Ihnen?“

Laras Augen füllten sich mit Tränen und sie fiel Rebeka in die Arme. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber gut, immerhin würde sie so vielleicht ein wenig mehr von ihr erfahren.

„S-Sie ... ist ... t-tot. D-Dieses S-Schwein ha-at sie ...“, brach es aus Lara heraus.

„Lara, versuchen Sie sich etwas zu beruhigen. Ich weiß, das ist schwer, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Lara nickte, schluchzte weiter und machte keinerlei Anstalten, sich aus den Armen der Kriminologin zu bewegen.

„Sie kannten das Opfer?“

„Das Opfer. J-ja, ich kannte sie. Ihr Name war Sandrine. Sie war meine beste Freundin“, schluchzte Lara, „ich hätte sie nie mit diesem Arschloch alleine lassen sollen.“

„Mit welchem Arschloch?“

Lara richtete sich auf und sah Rebeka direkt in die Augen. Jegliche Tränen waren verflossen, sie konnte Wut in ihren Augen erkennen: „Mit Paul, diesem Dreckskerl!“

Rebeka antwortete nicht, wartete darauf, dass sie ihren Gedankengang von alleine weiterführte. Sie sollte Lara nicht zu einer Antwort drängen.

„Paul ist ihr Exfreund. Sie hatten sich vor zwei Wochen getrennt, weil Sandrine sich keine Zukunft mit ihm vorstellen konnte. Sie hätte gerne geheiratet, er nicht. Sie wollte über Kinder sprechen, er aber nicht. Also wollte sie ihm ein Leben schenken, dass er verdiente. Aber er hat es komplett falsch verstanden. Hat sie jeden Tag mit Anrufen und SMS bombardiert. Es ging sogar so weit, dass er plötzlich vor ihrer Tür stand oder bei ihrer Arbeit auftauchte.“

Lara suchte sich einen Punkt in der Ferne und fixierte ihn. Rebeka warf einen Blick zu Roman, der mit den Beamten sprach und voller Verblüffung das Gespräch zwischen den beiden Frauen beobachtete. Aber Rebekas Gedanken drifteten ab, fanden sich in der Vergangenheit wieder, die so nah in der Gegenwart passierte. Ihr Mund wurde trocken, sie schluckte und schloss für einen Moment die Augen. Laras Worte holten sie dann jedoch zurück aus ihren Gedanken.

„Er hat sie gestern noch sehen wollen. Ich hab ihr gesagt, dass es keine gute Idee ist, aber sie wollte ihm die Chance geben. Und j-jetzt ...“. Sie schluchzte wieder.

Rebeka wollte einen Arm um sie legen, doch Lara wirbelte herum, packte sie an ihren Schultern und sagte mit eisiger und emotionsloser Stimme: „Sie müssen dieses Arschloch finden und wegsperren.“

„Danke, dass Sie mit mir gesprochen haben. Ich schicke Ihnen einen Kollegen, dem Sie da-..“

„Nein! Kein Kollege! Kein Mann! Eine Kollegin. Ich traue Männern im Moment nicht.“

Rebeka nickte, legte Lara die Hand auf die Schulter und stand auf. Sie konnte die junge Frau verstehen. Gerade jetzt war ein Mann wahrscheinlich der Letzte, mit dem sie sprechen wollte. Rebeka hielt inne und drehte sich noch einmal um.

„Ich habe noch eine Frage an Sie, Lara. Wie haben Sie den Aufenthaltsort von Sandrine gefunden?“

Lara sah zu Rebeka hoch: „Wir hatten einen Deal. Wenn sie sich nicht bis heute Früh gemeldet hat, soll ich sie orten. Wir haben da so eine App am Handy, in der wir sehen können, wo wir uns befinden. Aus Sicherheitsgründen, bei all den Verrückten da draußen.“

Rebeka sah noch kurz zu der jungen Frau, während Lara ihren Blick wieder auf den Tatort wendete. Sie ging zu einer Kollegin, gab ihr die Details durch und brachte dann Roman auf den neuesten Stand.

„Alles klar. Immerhin wissen wir schon mal etwas. Nach dem Exfreund suchen wir bereits. Bei sich zu Hause ist er nicht. Wir klappern seine Freunde ab.“

„Woher wisst ihr das von dem Exfreund, wenn sie nicht mit euch gesprochen hat?“, fragte Rebeka verwirrt.

„Als wir sie von dem Opfer wegzerren wollten, hat sie um sich geschlagen und seinen Namen gebrüllt. Wir haben eins und eins zusammengezählt“, zuckte Roman mit den Schultern.

Rebeka sah sich im Park um und ihre Augen blieben beim Tatort hängen. Roman entging dieser Blick nicht. „Komm mit, ich erzähl dir alles.“

Die Leiche wurde direkt neben einem gepflasterten Weg gefunden, zwischen ein paar Bäumen. Gleich daneben war eine Parkbank. Vielleicht hatten sie sich auf dieser unterhalten. War er übergriffig geworden? War es ein Unfall gewesen oder geplant? Rebeka gingen tausend Dinge durch den Kopf. Was war Sandrine durch den Kopf gegangen, bevor sie getötet wurde? Was ging dem Mörder durch den Kopf, bevor und als er es tat?

„Rebeka? Alles klar?“

Romans Stimme drang nur gedämpft zu ihr durch, aber sie hörte ihn. Sie blickte ihn an und nickte: „Ja. Alles klar! Ähm, wissen wir schon was zum Tathergang?“

Roman bedachte sie mit einem besorgten Blick, seine blauen Augen schimmerten leicht, aber er fegte den Gedanken dann doch zur Seite und fuhr fort.

„Noch nichts Genaueres. Die Spurensicherung ist dran. Der Leichnam weist Würgemale am Hals auf, sonst nichts. Sie wurde nicht vergewaltigt und ist schließlich erstickt. Todeszeitpunkt ist grob geschätzt zwischen Mitternacht und vier Uhr früh. Die junge Dame hat sie gegen halb acht gefunden.“

„Mit einer Ortungsapp, wie sie mir erzählt hat. Durch all die Morde wollten die beiden Freundinnen sicher gehen und sich im schlimmsten Fall finden“, fügte Rebeka hinzu.

Roman nickte. Die Leiche der jungen Frau war kurz nach dem Eintreffen von Rebeka abgeholt worden – für weitere Untersuchungen.

Nach und nach leerte sich der Tatort. Nachrichtensender und Schaulustige gingen nach einiger Zeit, als sie sahen, dass nichts mehr passieren würde. Die Gewalt an Frauen-Bewegung blieb etwas länger, genau so lange, bis alle Polizisten sich auf den Weg machten, um, wie sie es ausdrücken würden, „das Arschloch so schnell wie möglich zu finden und in ein Loch zu schmeißen, wo es niemand mehr suchen würde“. Lara saß noch einige Zeit bei einem Baum, ging dann aber auch. Rebeka und Roman waren die letzten im Park.

„Also gut, dann warten wir jetzt auf die Meldung, dass sie den Freund gefunden haben.“

Rebeka nickte und sah sich etwas um. Ohne Absperrband wirkte der Park vollkommen friedlich. Keine Anzeichen eines Mordes. Die Vögel zwitscherten und die Sonne fiel durch die Blätter der Bäume. Kein Wölkchen war am Himmel. Es hätte ein wunderschöner Tag werden können.

Mittlerweile war es schon Mittag und Rebeka hatte immer noch nichts gegessen – das bemerkte sie aber erst jetzt, als das Adrenalin etwas nachließ. Roman war mit einem Kommissar mitgefahren und hatte daher kein Auto vor Ort. Deshalb fuhren sie gemeinsam zum Kommissariat. Dem Vorschlag, auf dem Weg etwas zum Essen mitzunehmen, war Roman nicht abgeneigt. Sie hielten beim Chinesen, bestellten sich etwas und fuhren weiter. Als sie im Kommissariat ankamen, setzten sie sich an ihre Schreibtische. Rebeka beobachtete das Treiben der Kollegen für einen Moment: Zahlreiche Polizisten eilten von einem Tisch zum anderen, waren in Unterlagen vertieft oder telefonierten. Sie riss sich von der Szenerie los und öffnete die Essensverpackungen. Der Hunger war jetzt noch größer. Rebeka freute sich schon auf eine Frühlingsrolle und Avocado-Maki, allerdings mussten die noch auf sie warten. Denn im selben Augenblick als sie in die Frühlingsrolle biss, betrat ein großer dunkelhaariger Mann, flankiert von zwei Kommissaren, das Kommissariat.

Kapitel 3

Regelrecht grotesk bot sich Rebeka die Situation dar, welche sich im Gang des Kommissariats abspielte. Der festgenommene Paul Ulmer stolzierte an dem großen Büroraum vorbei, der mit vereinzelten Fenstern von dem Gang abgetrennt war, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen, zum Verhörraum. Er war 35 Jahre alt und der Exfreund der getöteten Sandrine Reiter, welche vor ein paar Stunden im Park aufgefunden wurde. Selbstsicher und mit einem leicht verschmitzten Grinsen schritt er den Gang entlang, um dann im Verhörraum Platz zu nehmen. Rebeka wusste auf Anhieb, dass er Probleme machen würde und dass es nicht leicht werden würde, ihm den Mord nachzuweisen. Aber das gehörte nun mal zum Beruf. Eine ihrer Aufgaben war es, zu beobachten und einzuschreiten, sollte sie etwas an ihm entdecken, sei es Mimik oder Gestik, das eigenartig wirkte.

Roman warf ihr einen vielsagenden Blick zu, das Essen musste warten. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Verhörraum, der mit zwei Türen ausgestattet war. Eine für die Verdächtigen über den Gang und eine für die Kommissare, die das Zimmer mit dem Büro verband. Rebeka nahm auf der anderen Seite des Einwegspiegels Platz, um alles beobachten zu können. Roman war dabei, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Rebeka konnte sofort erkennen, dass sich Paul, ein sehr muskulöser Mann mit Bart, kurz geschorenen schwarzen Haaren und einem Drachen-Tattoo, das über seinen gesamten linken Arm schlängelte, sich zu sicher war. Das sagte allein schon seine Gestik, denn er baute sich selbstsicher auf dem Sessel auf.

Roman hatte von einem Kollegen die wichtigsten Infos erhalten und betrat anschließend den Raum.

„Herr Ulmer. Sie waren gar nicht so leicht zu finden.“

Paul hob den Kopf und fixierte Roman mit seinen blaugrauen Augen. Er lächelte den Kommissar an. „Man hat mich gesucht? Weswegen denn, Herr Kommissar?“

„Falls Sie heute noch keine Nachrichten gesehen oder gehört ha-..“

„Hab ich nicht, nein. Ich hab bei einem Freund auf der Couch gepennt. Wir waren die ganze Nacht unterwegs, wenn Sie verstehen“, unterbrach er ihn.

Roman nickte: „Es geht um Ihre Exfreundin, Sandrine Reiter. Sie wurde heute Morgen tot im Park am Fluss aufgefunden.“

Paul verzog keine Miene. Es wirkte, als würde er darauf warten, dass Roman ihm auf die Nase band, warum er hier war. Roman seufzte.

„Wir haben Zeugenaussagen, dass Sie sich mit Frau Reiter in der Nacht getroffen haben. Somit wären Sie der Letzte, der sie lebend gesehen hat.“

„Jetzt kommen wir endlich zur Sache“, sagte Paul und lachte heiser. „Ich habe mich mit Sandrine getroffen, ja. Das war so gegen zweiundzwanzig Uhr. Wir haben geredet und sind dann wieder jeder seiner Wege gegangen.“

„Ist das so. Wo haben Sie sich getroffen?“

„Na, in diesem Park am Fluss.“

„Und warum wollten Sie sich mit ihr treffen?“

Jetzt war es Paul, der seufzte und seine Augen verdrehte. Bis jetzt war er viel zu gelassen gewesen, es war auch keinerlei Regung zu erkennen, die etwas Gegenteiliges bewies. Rebeka runzelte die Stirn und beobachtete ihn ganz genau.

„Wir haben uns vor ein paar Wochen getrennt und sind nicht wirklich im Guten auseinander gegangen ...“

„Stimmt, wir haben da so etwas gehört. Dass Sie sie mit Nachrichten und Anrufen bombardiert haben.“

„Das stimmt so nicht. Ja, ich habe ein paar Mal angerufen, aber nur, weil ich ihr sagen wollte, dass sie uns nochmal eine Chance geben soll.“

„Und wie lief das Gespräch? Wann haben Sie sich wieder getrennt?“

Paul lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner muskulösen Brust. Er war auf Abwehr. Jetzt wurde es interessant.

„Sie hat es sich nicht anders überlegt und gemeint, ich solle meinen Weg gehen. Und das bin ich auch. Wir haben uns gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig voneinander verabschiedet.“

„Und für die restliche Nacht haben Sie ein Alibi?“

Von einer auf die andere Sekunde begann Paul lauthals zu lachen. Roman blieb unbeeindruckt. Rebeka notierte sich einiges zu Pauls Persönlichkeit – egozentrisch, selbstbewusst, sich seiner Sache mehr als nur sicher, sarkastisch.

„Ja, ich war mit meinen Kumpels unterwegs.“

„Montagnacht? Was hat denn da großartig geöffnet?“

„Nur die guten Clubs. Wir sind jeden Montag-, Dienstag- und Mittwochabend in unserer Stammbar. Sie heißt ‚Romi‘s Bar’, falls Sie sie kennen. Dort ist jede Menge los, die Leute kennen uns mittlerweile und jeder weiß, wo wir an diesen Abenden sind. Gibt auch ein paar scharfe Miezen“, zwinkerte er dem Kommissar zu.

„Also kann das jemand bezeu-...“

„Herr Kommissar, na klar kann das wer bezeugen. Die gesamte Bar kennt uns.“

„Aber wenn dort so viel los ist, werden sie Sie doch nicht zu jeder Sekunde im Auge behalten, oder?“

„Die Mitarbeiter nicht, aber meine Kumpels können Ihnen da sicher weiterhelfen“, sagte Paul, stützte seine Ellbogen auf dem Tisch ab und sah Roman herausfordernd und mit funkelnden Augen an.

Rebekas Herz ging schneller. Solche Typen hatten sie öfters. Selbstsichere Täter, die sich ihr Alibi von Freunden holten, weil sie eine eingeschweißte Truppe waren. Typisch. Was ihr jedoch nicht gefiel, war der Blick in seinen Augen. Er ließ Rebeka die Haare auf den Armen zu Berge stehen. Sie kannte diesen Blick nur zu gut. Lange hatte sie ihn vor sich gesehen. Ihm versucht auszuweichen. Es war nicht der Blick direkt von Paul, sondern der Blick im Allgemeinen, der Schlimmes vermuten ließ. Rebeka wusste, dass Paul Dreck am Stecken hatte und dass er definitiv etwas mit dem Mord an Sandrine Reiter zu tun hatte. Allerdings mussten sie es zuerst beweisen. Sie holte tief Luft, schloss die Augen und atmete anschließend wieder langsam aus. Das beruhigte sie, vor allem, wenn ihr etwas nahe ging oder sie an die Zeit damals erinnert wurde.

Rebeka verließ die eine Seite des Verhörraums und begab sich zu ihrem Schreibtisch. Die Frühlingsrollen waren mittlerweile kalt geworden, aber das machte ihr nichts. Roman führte Paul Ulmer bei der anderen Tür des Verhörraums hinaus, man nahm noch seine Fingerabdrücke und er begab sich zum Ausgang. Roman setzte sich zu Rebeka und atmete laut aus. Sie schob sich ein Avocado-Maki in den Mund und reichte Roman eine Frühlingsrolle. Er musste grinsen, nahm sie an sich und biss ab.

„Anstrengender Typ. Lass mich später deine Notizen lesen. Aber ich glaube, dass ich diesmal mit meinen Gedanken ziemlich nah an deinen dran bin.“

„Das glaube ich auch. Dieser Typ ist ja ein richtiger ...“

Mit einem Mal hörten sie Schreie im Gang: „Du verdammtes Schwein!“ Sie wandten sich um und drei Polizisten rannten zum Ausgang des Kommissariats. Rebeka und Roman folgte ihnen, während Rebeka bei der Tür zwischen Gang und Büroraum stehen blieb, half Roman den Polizisten. Anscheinend war in dem Moment, als Paul Ulmer das Kommissariat verlassen wollte, Sandrines beste Freundin Lara Reichhart hereingekommen. Sie erkannte ihn auf Anhieb und schrie ihn an. Die Stimmen überschlugen sich. Lara warf sich Paul entgegen, trommelte mit ihren Fäusten auf seine muskulöse Brust. Viel ausrichten konnte sie mit ihrem zierlichen Körper nicht. Aber bevor Paul handgreiflich wurde, zerrten sie die beiden auseinander.

„Bist du komplett bekloppt?! Was denkst du dir eigentlich?!“, schrie Paul Lara entgegen.

„Du hast sie getötet, du Bastard! Ich weiß, dass du es warst!“ Lara war völlig außer sich, wollte den Polizisten abschütteln und auf Paul losgehen. Doch dieser hatte sie fest im Griff. Roman ging dazwischen.

„Werte Kollegen, bringen Sie Herrn Ulmer unverzüglich nach draußen, solange er das noch darf. Und Sie bringen Frau Reichhart ins Büro. Sofort!“

„Du Arschloch, du Mörder. Dafür wirst du bezahlen! Ich bring dich um! Hörst du!“, schrie Lara hysterisch, während der Polizist sie ins Büro führte.

Roman warf einen Blick vor das Kommissariat, denn dort herrschte lauter Tumult. Die Gewalt an Frauen-Bewegung hatte hier ihre Zelte aufgeschlagen. Banner und Plakate ragten in die Luft und als sie Paul Ulmer von Polizisten flankiert nach draußen gehen sahen, brach das Chaos aus. Sie versuchten auf ihn zuzustürmen, wollten ihm am liebsten gleich den Garaus machen. Roman rannte hinein, um Verstärkung zu holen. Gemeinsam drängten sie die Meute zurück. Rebeka hatte das Schauspiel von weitem beobachtet, war dann kurz zum Fenster gegangen, um die Lage draußen zu beurteilen, und erkannte sogar drei Frauen wieder, die lange bei der Bewegung dabei waren und ihr damals sehr geholfen hatten. Rebeka wusste, was diese für andere Frauen tun und hoffte, dass sie es nicht mehr taten und ihnen die Arbeit überließen. Sie ging wieder zu ihrem Schreibtisch und als Lara hereinkam, deutete sie dem Polizisten und er verfrachtete sie auf den Sessel neben Rebekas Schreibtisch. Sie hatte sich mittlerweile etwas beruhigt. Die junge Frau wirkte aber keineswegs entkräftet oder ausgelaugt. Sie loderte vor Wut und ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen. Rebeka sah sie an und legte ihre Hand auf ihre. Lara erschrak und sah auf.

„Wollen Sie einen Kaffee? Danach können wir über alles reden.“

Vor fünf Jahren

Es war eine stürmische Nacht, der Regen peitschte an die großen Fenster im Wohnzimmer. Rebeka hatte sich eine Komödie eingeschalten, um den grauen, nassen Tag von der Seele zu bekommen. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Nicht zuletzt, weil sie glaubte, eine Prüfung vermasselt zu haben, sondern auch, weil sie heute wieder eine SMS bekommen hatte – von ihm.

Rebeka war mitten in ihrem Kriminologie-Studium, wollte sich nur mehr darauf konzentrieren und hatte beschlossen, ihre zweijährige Beziehung mit Lucas zu beenden. Lucas war ein unglaublich leidenschaftlicher und liebevoller Mann. Aber er wollte nicht das Gleiche wie Rebeka. Rebeka wollte ihr Studium beenden, um dann als erfolgreiche Kriminologin zu arbeiten. Lucas wollte in spätestens einem Jahr verheiratet sein, Haus bauen und sich dann an die Familienplanung machen. Rebeka wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen, denn all das war bei ihr noch in einer weiteren Zukunft als bei Lucas. Also hatte sie den Schlussstrich gezogen. Lucas sollte mit einer Frau glücklich werden, die genau das wollte, was er suchte. Allerdings hatte er es nicht so gut aufgenommen.

Tagtäglich schrieb er ihr SMS, rief sie an oder schickte ihr Blumen. Anfangs fand sie es noch süß, man merkte, dass die Liebe echt war. Aber nach der hundertsten SMS, dem hundertsten Anruf und dem zwanzigsten Blumenstrauß samt Gib uns noch eine Chance-Karte, war es nicht mehr süß. Es war beängstigend. Sie hatte ihm gesagt, er solle sie in Ruhe lassen, aber das tat er nicht. Eines Tages stand er vor ihrer Wohnungstür, samt Blumenstrauß. Rebeka hatte ihn angeschrien und die Blumen die Treppen hinuntergeschleudert. Er ging. Am gleichen Abend erhielt sie aber eine Nachricht mit einem Foto – von ihrer Wohnung. In diesem Moment, müsste er direkt vor ihrer Wohnung gestanden haben. Rebeka überkam Panik, sie verriegelte ihre Tür und schloss alle Vorhänge. Sie sank zu Boden, rang nach Luft und versuchte, sich zu beruhigen. An diesem Abend hatte sie ihre erste Panikattacke. Gleich am nächsten Tag holte sie sich eine neue Nummer, mit der Hoffnung, es wäre vorbei. Doch das war es nicht. Zwar blieben die Nachrichten aus, allerdings waren Panikattacken wöchentlich auf ihrem Tagesplan. Beim Klingeln des Telefons, einem Klopfen an der Tür oder einem Geräusch, das sie in der Wohnung vernahm. Ab und zu fand sie einen Brief in ihrem Postkasten, von Lucas. Sie zerriss ihn auf der Stelle und stürmte in ihre Wohnung, verriegelte die Tür. Die Panik war nun ihr Begleiter und Rebeka versuchte sich so gut es ging damit zu arrangieren, auch wenn das schwierig war.

Aber heute, zwei Monate nach dem Nummerntausch und ihrer ersten Panikattacke, kam wieder eine Nachricht. Rebeka saß in der Bibliothek, nahm ihr Handy und erkannte die Nummer sofort, da brauchte es keinen Namen am Ende der Nachricht. Sie war von Lucas. Mit einem Mal war alles wieder da. Die SMS, Anrufe, Besuche, Fotos – das Stalking. Sie griff sich an den Hals, ihr Atem ging schnell und hektisch. Rebeka sprang auf, ließ alles stehen und liegen und rannte los. Viele sahen sie auf dem Weg verwirrt an. Die Bibliothekarin zischte sie an, schließlich sollte man in einer Bibliothek weder laut sein, geschweige denn rennen. Sie rannte ins nächstgelegene WC und schloss sich in einer Kabine ein. Sie keuchte und ihr wurde schwindelig. Mit einer Hand auf der Brust und dem Rücken an der Kabinenwand, rutschte sie zu Boden. Ihr wurde schwarz vor Augen und Panik stieg in ihr hoch. Zusammengekauert saß sie in der Kabine, versuchte sich zu beruhigen. Immer wieder fragte jemand, ob sie ihr helfen könne, aber Rebeka antwortete nicht. Sie war in ihrem Kopf gefangen und versuchte, die Panik zu besiegen.

Und jetzt saß sie hier. Vor dem Fernseher mit einer Komödie. Rebeka hatte es nach ihrer Panikattacke in der Uni nach Hause geschafft. Die Tür verschlossen und sich auf der Couch verkrochen. Im Internet suchte sie nach Therapiemöglichkeiten und machte sich sogleich einen Termin für ihre erste Sitzung aus. Das musste aufhören. Es war an der Zeit, dass sie wieder Herrin über ihre Gefühle, Gedanken und über ihr Leben wurde. Das ging nun mal nur mit Hilfe eines Außenstehenden, so wie es aussah, und das war für Rebeka vollkommen in Ordnung. Man konnte ihr zumindest helfen und das war das Wichtigste. Morgen würde sie auch gleich zur Polizei gehen und ihnen von Lucas erzählen. Ihnen die Nachrichten zeigen und sie ins Bilde setzen, was alles passiert war. Für Rebeka war es ein Anfang. Doch ein Anfang wovon?

In der Nacht hatte Rebeka kaum geschlafen, war immer wieder hochgeschreckt und hatte danach die komplette Wohnung nach einem Eindringling durchsucht. Daher stand sie besonders früh auf, machte sich fertig und auf den Weg zur Polizei. Gestern Abend hatte sie keinen Parkplatz vor ihrer Wohnung bekommen, sie stand ein paar Straßen weiter. Wenn sie umziehen sollte, würde sie sich definitiv einen Parkplatz mieten – direkt vor der Wohnung. Es war kurz vor sieben Uhr Früh und um diese Zeit war in ihrer Wohngegend eher weniger los. Trotzdem fühlte sie sich beobachtet, sie sah sich ab und zu um, aber niemand war zu sehen. Rebeka versuchte sich zu beruhigen, atmete langsam ein und wieder aus. Sie ging weiter, schneller als zuvor. Da vernahm sie Schritte hinter sich. Sie kamen näher und Rebeka ging noch schneller. Sie wollte sich nicht umdrehen, wollte nicht wissen, ob es Lucas war oder nicht. Sie stürmte los, rannte so schnell sie konnte und bog in die nächste Gasse ein, um gleich danach in einem Treppenabgang zu einem Wohnhaus zu verschwinden. Sie setzte sich auf den Boden, umklammerte ihre Beine und Tränen rollten ihre Wangen hinunter. Rebeka blickte nach oben und erkannte ein junges Mädchen, das verwirrt zu ihr hinabsah und weiterging. Die Panik, da war sie wieder.

Kapitel 4 – Dienstag, 4. Mai

Ganze drei Stunden hatten Rebeka und Lara im Konferenzraum des Kommissariats geredet. Über Sandrine, die Tat, das Verhältnis zwischen dem Opfer und ihrem Exfreund Paul. Auch über die Beziehung zwischen Lara und Paul. Aber so viel hatten sie nicht miteinander zu tun. Ein paar Mal war sie mit dem Paar ausgegangen, aber das war's. Sie wusste allerdings belanglose Dinge, wie den Fakt, dass er an den angegebenen Abenden immer in seiner Stammbar war. Rebeka konnte sich allerdings schwer vorstellen, dass sich bei einer gewissen Menge an Leuten im Lokal, die Mitarbeiter an jeden einzelnen erinnern konnten. Lara war nach einiger Zeit ruhiger geworden, hatte wieder geweint. Als die beiden jedoch über Paul sprachen, erkannte Rebeka die Wut in ihren Augen, eine plötzliche Wesensveränderung Laras. Rebeka war verwundert, wie viel Wut ein so zierlicher Körper aushalten konnte.

Gegen siebzehn Uhr verließ Lara das Kommissariat. Sie hatte sich bei Rebeka für ihre Zeit bedankt und ihr versprochen, nichts Dummes zu tun und die Arbeit der Polizei zu überlassen. Roman hatte an seinem Schreibtisch neben Rebeka Platz genommen und war die Unterlagen zum Fall noch einmal durchgegangen.

„Und, was meinst du?“, fragte Roman mit einem Blick in Richtung verlassende Lara.

Rebeka sah ihr nach und mit einem Mal fröstelte es sie: „Ich weiß nicht. Sie ist absolut am Boden, was den Tod ihrer Freundin angeht. Diesen Paul hasst sie abgrundtief. Ich hoffe nur, dass sie nichts Dummes anstellt.“

Roman nickte. Bevor er etwas erwidern konnte, läutete sein Handy. Es war die Gerichtsmedizin.

Er hob ab, meldete sich mit seinem Namen und stand wenige Sekunden später auf: „Wir sind auf dem Weg.“ Roman legte auf, nahm die Unterlagen, welche er vorher gründlich durchgelesen hatte, und gab Rebeka ein Zeichen.

Das Gebäude der Gerichtsmedizin war von außen unscheinbar, nur ein Schild wies darauf hin, worum es sich hier handelt. Im Inneren wirkte es ganz genauso wie von außen. Kahle Wände, es war kühl und auf dem neuesten Stand der Technik sowie der Einrichtung war es auch schon lange nicht mehr. Rebeka und Roman zeigten beim Eingang ihre Ausweise und durften dann weiter. Durch einen schmalen Gang ging es an den Büroräumlichkeiten vorbei. Um diese Uhrzeit waren jedoch so gut wie keine Mitarbeiter mehr hier. Am Ende des Ganges war eine Treppe, die in den Keller und zu den Räumen führte, wo die beiden hin wollten.

„Ah, Roman. Da bist du ja!“

Rebeka und Roman drehten sich um und erkannten im schwachen Neonlicht der Lampen Doktor Fuchs. Der Name war allerdings nicht Programm, denn der Doktor war nicht so schlank wie ein Fuchs, wobei einiges wieder auf ihn zutraf: Glatze, runde Brille, ein großer Bauch, der hinter dem Kittel hervorragte, kurze Beine. Allgemein war Doktor Fuchs ein kleiner Mann, er ging Rebeka gerademal bis zum Kinn und die Kriminologin war nicht allzu groß – keine 1,70 Meter. Aber eines musste man dem Doktor lassen, er war immer gut gekleidet. Unter seinem Kittel erkannte sie ein schwarzes Hemd samt roter Krawatte, eine Stoffhose und Schuhe aus Leder, die bestimmt ein Vermögen gekostet hatten. Rebeka war jedes Mal aufs Neue von seiner Schnelligkeit verblüfft, trotz der kurzen Beine und dem Gewicht, das sie tragen mussten.

„Frau Michels, auch wieder mit dabei. Na, dann gehen wir mal“, gab Fuchs die Richtung vor.

Er quetschte sich zwischen Roman und Rebeka hindurch, was beiden kurz den Atem raubte, um voranzugehen. Auch bei der Treppe war er zu Rebekas Überraschung unglaublich flott am Ende angekommen. Rebeka hingegen hatte Mühe, die schmalen Stufen hinunterzugehen und sie trug Schuhgröße 38, Doktor Fuchs hatte sicher Größe 42. Unten angekommen war es im Vergleich zu der oberen Etage noch düsterer. Allerdings waren die Gänge breiter und auch im Allgemeinen wirkte der Bereich hier unten größer als der obere. Doktor Fuchs führte sie in die Leichenhalle. Rebeka sah sich um und speicherte jeden Eindruck, den sie durch diesen makabren Ort bekam. In dem großen Raum gab es drei Tische, auf denen die Leichen abgelegt wurden, um untersucht zu werden. An der Wand gegenüber waren die Kühlzellen, wahrscheinlich waren gut ein Drittel davon gerade belegt. Rechts waren die Utensilien für die Untersuchung penibel aufgelegt – Doktor Fuchs hatte einen kleinen Perfektionsfimmel. Auf der linken Seite hingen Plakate des menschlichen Körpers an der Wand sowie einige Schränke.

„Frau Michels, leisten Sie uns Gesellschaft oder wollen Sie eine kurze Führung?“, fragte Doktor Fuchs und begann zu lachen.

Rebeka kannte ihn bereits ziemlich gut und wusste, dass das sein Humor war. Andere würden es wahrscheinlich missverstehen, es ihm übelnehmen. Aber der Gerichtsmediziner war eben so. Bei diesem Beruf hatte man nicht so oft etwas zu lachen. Da war man über jeden Scherz, den man anbringen konnte, froh. Also gesellte sich Rebeka zu den beiden Männern und der Frau auf dem Tisch. Sandrines Körper war nur mit einem Tuch bedeckt, gerade einmal ihr Gesicht kam zum Vorschein. In diesem Licht erkannte man die Würgemale am Hals ohne Probleme. Zwar waren diese auch schon im Park zu sehen, allerdings war Sandrines Haut mittlerweile noch blasser geworden und die Würgemale stachen förmlich heraus. Unter ihren Augen erkannte sie eine leichte Verfärbung, hier waren ihr ein paar Adern geplatzt. Die Lippen waren bläulich gefärbt.

„Also Doc, erzähl uns etwas, das wir noch nicht wissen“, forderte Roman ihn heraus.

Die beiden stichelten sich jedes Mal gegenseitig, wie zwei kleine Kinder, die ihre Spielsachen verglichen und meinten, ihre wären viel cooler.

„Sie hat ein Tattoo auf ihrer linken Rippenseite“, gab Doktor Fuchs trocken zurück.

„Etwas Relevantes für den Fall“, verdrehte Roman spielerisch die Augen.

„Die Würgemale sind ja nichts Neues. Ersticken war auch definitiv die Todesursache. Allerdings gibt es da noch etwas, das ihr euch ansehen solltet.“

Doktor Fuchs holte Sandrines Hände unter dem Tuch hervor. Auf beiden Handgelenken hatte sie leichte Blutergüsse.

„Sind die von der Nacht, in der sie starb?“, fragte Rebeka und beugte sich über die Verletzungen, um sie genauer zu betrachten.

Doktor Fuchs nickte. Rebeka und Roman sahen sich an. Wurde sie im Park gefesselt? Hatte man sie mit Gewalt am Gehen hindern wollen? Fragen türmten sich in ihren Köpfen auf. Roman machte sich Notizen.

„Wurde sie vergewaltigt?“

Es war mucksmäuschenstill nachdem Roman diese Frage gestellt hatte. In Rebeka rumorte es, ihr wurde etwas übel. Sie musste schlucken und machte unbewusst einen Schritt zurück.

„Wurde sie nicht. Ich habe allerdings auch keine fremde DNA an ihrem Hals gefunden. Es wirkt mehr so, als wäre sie nicht mit Händen erwürgt worden.“

„Soll das heißen, der Täter hat eine Schnur oder sowas verwendet?“

Doktor Fuchs verneinte: „Nein, zu dünn. Es sieht mehr nach einem dünneren Gürtel aus.“

Rebeka starrte ihn mit großen Augen an. Mittlerweile war es nicht nur mehr ein Schritt, der sie vom Tisch trennte, sondern drei. Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln. Stechende Kopfschmerzen meldeten sich, direkt hinter ihrem linken Auge – dieser Schmerz kam ihr vertraut vor.

„Ansonsten haben wir zwei verschiedene DNA-Spuren an ihrem Gewand und den Blutergüssen an den Handgelenken entdeckt. Die müssen wir noch abgleichen.“

„Alles klar, Doc. Schick mir die Unterlagen bitte zu. Und wenn es noch was Neues gibt, dann meld’ dich sofort“, sagte Roman abschließend.

„Immer doch, Herr Kommissar“, nickte Doktor Fuchs, „Wiedersehen, Frau Michels!“

„Hoffentlich nicht“, murmelte Rebeka vor sich hin und sagte dann aber lauter: „Schönen Feierabend!“

Als Rebeka und Roman die kalten Mauern der Gerichtsmedizin hinter sich ließen, wollte sie nur noch nach Hause. Nein, sie musste nach Hause. Es war ein mehr als anstrengender Tag gewesen. Im Kommissariat angekommen, ging sie schnurstracks zu ihrem Schreibtisch.