Zhoh - Bob Hayes - E-Book

Zhoh E-Book

Bob Hayes

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Beschreibung

Bob Hayes erzählt vom Schicksal dreier junger Menschen in der kanadischen Tundra am Ende der letzten Eiszeit. Durch dramatische Ereignisse haben Kasan, Naali und Barik ihre Clans – Zhoh, den Wolfsclan, und Shii, den Bärenclan – verloren. Der erbarmungslosen Natur, dem Hunger und der unerbittlichen Kälte ausgesetzt, kämpfen die drei ums Überleben und gegen die wachsende Eifersucht und das Misstrauen untereinander. Ohne Naali, die Seherin, die mit den Tieren sprechen kann, wären sie längst verloren ... Der Roman des kanadischen Wolfsforschers Bob Hayes fasziniert mit authentischen Natur- und Tierschilderungen und einem absolut glaubwürdigen Abenteuer aus längst vergangenen Zeiten.

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Seitenzahl: 395

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Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz

Bob Hayes

ZHOH – Der Wolfsclan

Distanzierungserklärung: Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.

Für Ava und Caroline

© 2021 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: Adobe Stock

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8379-9

www.langenmueller.de

Zusammenarbeit

Am fernen Ende des grauen Sees

unter dunstigen Bergen

glänzt ein Feuersteinabschlag

auf seinem gepflasterten Bett

Endlich hat die schwarze Klinge

sich eine Pforte geschnitten

durch verdichtete Jahrhunderte

Hier treffen sich zwei Macher

berühren sich Finger

kalt von der Arbeit

im ewigen Nebel des Tals –

Gib es weiter

Erling Friis-Baastad – Wood spoken

PROLOG

DER WOLF

Stachelschwein-Fluss – vor vierzehntausend Jahren

Die Grizzlybärin schlängelt sich durch das Weidengehölz an der Biegung des Flusses. Riesige Eisblöcke taumeln stromabwärts, krachen gegen das Ufer, wirbeln zurück in die reißenden Fluten.

Die Bärin stoppt. Auf einer Scholle, die nahe am Ufer vorbeitreibt, balanciert ein Rentier. Sie hebt interessiert die Nase. Doch ihr Instinkt warnt sie, das Wasser ist zu gefährlich. Die Beute verschwindet in einem Wirrwarr kreiselnder Eisplatten.

Ein gekentertes Boot taucht auf. Seine hölzernen Rippen sind zerbrochen. Das Wrack gerät in einen schlammigen Strudel, verschwindet darin und taucht erst weit flussabwärts wieder auf. Ein lebloser Körper in Karibukleidern treibt hinter dem Boot her.

Die Bärin steht über den verschlungenen Wurzeln einer gestürzten Pappel. Ihre Klauen reißen die Rinde ab und dringen in das faule Holz. Sie senkt den Kopf, streckt ihre Zunge heraus und leckt eine Kolonie benommener Ameisen auf.

Plötzlich dringt ein vertrauter Geruch in ihre Nase. Sie ist aufgeregt, fühlt sich unbehaglich. Wolfsgeruch mischt sich mit dem Duft toten Fleisches. Der Grizzly tappt in eine enge Schlucht, stapft durch den Bach, der dem Fluss entgegenstürzt. Er platscht stromaufwärts, zu einem Weidengebüsch am Rande einer Wiese mit Gras und Salbei. Hier riecht es nach Gefahr.

»Sik-sik-sik-sik!« Ein verängstigtes Erdhörnchen verschwindet kreischend in seinem Bau. Die Bärin steht still, alle Muskeln entspannt. Sie atmet nicht. Sie lauscht. Sie riecht. Dann tritt sie auf die Wiese, die Schnauze hoch in der Luft. Wolfsgeruch. Feindgeruch! Die Ruheplätze der Grauen sind überall, die Wiese ist übersät mit Haaren, Kot und Knochen.

Die Bärin findet ein Pferdebein, an dem der bittere Geschmack von Wolfsspeichel haftet. Sie dreht es um und reißt das trockene Fleisch vom Knochen. Ein Loch in der Mitte der Wiese macht sie neugierig. Sie steigt auf einen frisch aufgeworfenen Erdhügel und schiebt den Kopf in die Öffnung. Der milchige, feuchte Geruch junger Wölfe schlägt ihr entgegen. In der Dunkelheit hört sie ein schwaches Rascheln.

Der Grizzly hebt den Kopf und schaut sich auf der Wiese um. Die erwachsenen Wölfe sind nicht da. Er gräbt sich in den Bau, schaufelt die Erde mit mächtigen Beinen hinter sich. Der Tunnel weitet sich zu einer Kammer voller Wolfsgeruch. Welpen krabbeln in alle Richtungen. Die Bärin schlägt mit der Tatze nach ihnen, tötet zwei auf der Stelle, schnappt einen dritten, der zwischen ihren Beinen wuselt.

Der letzte Welpe, ein Weibchen, versteckt sich unter einem Felsbrocken am Ende der Kammer. Er zwängt sich in einen engen Tunnel, gerade als die Bärin mit ihren Fangzähnen zuschnappt. Der Welpe drängt tiefer in das Loch, trifft auf ein Erdhörnchen, das sich drohend vor seinen neugeborenen Jungen aufbaut. Das Hörnchen schreit den Eindringling an, ändert aber schnell seine Meinung und flitzt aus dem Bau.

Die Bärin reißt und rüttelt an dem Felsen, aber er gibt nicht nach. Sie sammelt die drei toten Welpen mit dem Maul auf und legt sie ordentlich nebeneinander. Ihre messerscharfen Klauen reißen das Fell von den kleinen Körpern. Mit ein paar Bissen verschlingt sie die Welpen, die Knochen spuckt sie aus.

Ein Geräusch bricht die Stille der Wiese. Etwas bewegt sich in den Weiden am Fluss. Der Grizzly trollt sich. Er hat keine Lust, gegen die großen Wölfe zu kämpfen. Kurz blickt er in die Richtung, aus der das Geräusch näherkommt. Dann verschwindet er hinter einem Vorhang grünender Sträucher.

DAS MÄDCHEN

Blaufisch-Hügel

Das Mädchen sammelt am Rande eines kleinen Baches, den das Herbsteis überkrustet hat. Unter seinen Füßen liegt ein roter Teppich aus arktischen Zwergweiden und Moosbeeren. Naalis Finger gleiten die ledrigen Blätter entlang und schaufeln eine Handvoll roter Beeren in ihren Beutel. Irgendwo flussaufwärts hört sie ihre Mutter den Ruf eines Sterntauchers nachahmen: »Kwao – kwao kwao.« Das Mädchen hält die Hände um den Mund und pfeift wie eine Grauwangendrossel – weiche, rollende Flötentöne, die zum Ende ansteigen. Sie sagen der Mutter, dass alles in Ordnung ist. Naali verdreht den Hals, um nach ihrer Familie zu schauen. Die Mutter geht gebückt. Mal verschwindet sie, dann taucht sie wieder auf. Sie hat ihren eigenen Rhythmus beim Pflücken.

Das Mädchen sammelt Beeren auf einer weitläufigen Wiese mit niedrigen Büschen. Naali bewegt sich gegen den Wind, wie ihr Vater es sie gelehrt hat: Die Luft wittern, lauschen, nach Raubtieren Ausschau halten. Sie erschrickt über die Löwenspuren am Ufer eines Teichs. Tote Blätter liegen in den Fußabdrücken. Das Untier muss vor ein paar Tagen hier vorbeigestreift sein. Das Mädchen weiß, dass es schnell zu seinem Vater laufen muss, wenn es einen Löwen, Wolf oder Bären sieht. Vater geht über die offene Ebene, sein Speer schaukelt vor dem braunen Horizont. Naalis Bruder ist vor ihr. Er jagt Erdhörnchen mit der Steinschleuder. Sik-Siks sind im Herbst am fettesten. Hörnchen sind Naalis Lieblingsessen. Als sie ihren Beerenbeutel der Mutter bringen will, fühlt sie sich beobachtet. Ihr Blick erhascht eine grau-gelbe Gestalt, die gerade hinter einem Anstieg verschwindet.

Löwe!

Naali steckt ihre Knochenflöte in den Mund, will den Raubtier-Warnpfiff blasen, als das Geschöpf wieder auftaucht.

Wolf.

Das Mädchen ist erleichtert – und besorgt. Es kennt die uralten Geschichten von Menschen, die von Wölfen getötet wurden. Doch in ihrem kurzen Leben hat Naali so viele Wölfe gesehen, dass sie ihr fast wie Verwandte vorkommen. Wölfe und Menschen folgen schon immer denselben Grasfresser-Herden.

Naali hat den Wolf jetzt besser im Blick, seinen breiten Kopf, die starken Schultern. Ein Rüde. Er ist jung, noch nicht ganz erwachsen. Der Wolf hüpft in die Luft und landet auf den Vorderpfoten. Jedem Sprung folgt ein schrilles »Sik-sik-sik«, Erdhörnchen flüchten in ihren Bau.

Als der Wolf das Mädchen entdeckt, ist er nur noch ein paar Schritte entfernt. Sie stehen sich gegenüber, sehen sich überrascht in die Augen. Beide warten auf den nächsten Schritt des anderen.

Schließlich bricht Naali das Schweigen. »Zhòh dinji, ich will dir nichts Böses.« Sie ist seltsam furchtlos, kann ihre Worte hören und weiß doch nicht, dass sie von ihren eigenen Lippen kommen.

Der Wolf bewegt leicht den Kopf, seine gelben Augen studieren dieses aufrechte Tier, das merkwürdige Geräusche macht. Das Mädchen greift langsam in seinen Parka, holt ein Stückchen Trockenfleisch heraus und bietet es dem Wolf an. Der tritt zurück. Natürlich erkennt er den Geruch des Karibus, aber er hält Distanz.

Naali vergisst, dass der Wolf gefährlich sein könnte; sie geht auf ihn zu, der Wolf weicht zurück. Sie rollt das Fleisch in ihrer Hand, lässt es vor die Füße des Wolfes fallen und macht einen Schritt zurück. Er stupst das Fleisch vorsichtig mit der Nase an und schlingt es dann hinunter. Das Mädchen nimmt noch ein Stück und wirft es ihm zu. Das Tier frisst es und schaut auf, begierig nach mehr. Als Naali ihm das nächste Stück hinhält, streckt der Wolf seinen Hals und schnappt nach dem Fleisch. Ein Reißzahn streift eine Daumenspitze.

»Ich teile mein Fleisch«, sagt das Mädchen mit leiser, beruhigender Stimme. Bald ist die Tasche leer. Der Wolf schaut auf ihre Hände. Er versteht nicht, wo das Futter geblieben ist.

Überwältigt von einem Gefühl des Vertrauens, streckt Naali ihm die leeren Hände entgegen. Eine innere Stimme mahnt sie, Schluss zu machen, sich zurückzuziehen. Aber das Vertrauen ist stärker. Ihre Finger fahren durch weiße Fellspitzen. Der Wolf stupst seine Nase gegen die Hand, die seinen Kopf streichelt.

Naali fällt in eine Art Trance. Sie kann die Gedanken des Wolfs lesen. Und sie erinnert sich an die Worte des Vaters: »Nur der Wolf ist so klug, dass die Seele der Menschen ihn verstehen kann.«

Der Wolf begrüßt das Mädchen in einer Sprache, die es nie gehört hat, aber trotzdem versteht. »Ich kenne deine Stimme, du sprichst meine Sprache.«

»Ich bin eine Geistreisende«, antwortet Naali. »Ich kenne die Sprache der Wölfe.« Die eigene Stimme klingt dünn und fremd in ihren Ohren.

Der Wolf sieht ihr in die Augen. »Alles Leben spricht, aber nicht alle hören es.«

»Ich bin ein Kind des Bärenclans. Ich bin mit meinen Leuten hier. Mutter und Vater und mein Bruder sind da drüben.« Sie zeigt mit dem Arm rüber zum Bach.

Der Wolf blickt über das Mädchen hinweg. Mit einem Mal sind seine Augen nicht mehr weich, sondern dunkel, gespannt, alarmiert. Naali fühlt Furcht durch das Wolfsherz strömen, fast so, als wäre es ihr eigenes.

Ein Pfeil schwirrt an ihrem Kopf vorbei. Er saust in die Erde, nur Zentimeter neben dem Wolf. Der springt zurück, dreht sich um und flüchtet hinter eine Bodenwelle, keine hundert Meter entfernt.

Die Stimme des Vaters bricht die Trance des Mädchens. »Naali! Was tust du!« Einen Moment später steht er vor ihr. »Wölfe sind gefährlich. Zhòh kann dich töten. Und du hast ihn gefüttert!« Er schlägt Naali gegen den Hinterkopf. Ihr Pelzhut fällt auf die Erde.

Sie sieht ihn an. »Er war hungrig«, sagt sie und bückt sich, um ihren Hut aufzuheben. Der Vater schlägt sie noch mal.

»Füttere nie ein Raubtier. Du kennst das Verbot. Würdest du auch Bären oder Löwen füttern?«

»Nein.« Naali hebt die Hand, um den nächsten Schlag abzuwehren. Aber ihr Vater ist fertig mit seiner Lektion. Seine Stimme wird ruhiger.

»Warum, glaubst du, haben wir Signale, Naali?«

»Ich weiß. Ich werde es nicht wieder tun.«

»Warum ist der Wolf zu dir gekommen?«

»Ich weiß nicht«, lügt sie.

Eigentlich möchte sie ihrem Vater erzählen, dass der Wolf mit ihr gesprochen hat. Aber das lässt sie besser bleiben. Sie sieht sich nach dem Wolf um, doch er ist fort.

Ihr Vater fasst sie sanft an der Schulter. »Komm.«

Sie gehen zu Naalis Mutter.

»Schau, Natl’at.« Stolz hält das Mädchen den Beerenbeutel auf, damit die Mutter sehen kann, wie viel es gepflückt hat. Der Bruder kommt und stibitzt eine Handvoll Beeren.

»Wolfsmädchen«, brummelt er mit dem Mund voll saftiger Früchte.

»Ich heiße Naali«. Sie sieht den Bruder strafend an, als sie den Inhalt ihres Beutels in den der Mutter füllt.

Der Vater untersucht die Steinspitze seines Pfeils. Sie ist heil geblieben. »Zhòh hätte ein schönes Parkafutter abgegeben«, sagt er. Naali erwidert nichts. Sie folgt ihrer Mutter den Bach entlang, sammelt Natl’at und denkt an den Wolf.

DER JUNGE

Loch-im-Fels-Lager

Durch die Schlitze seiner Sonnenblende aus Karibuhaut kann der Junge kaum ausmachen, was sich auf der schneebedeckten Kuppe bewegt. Für einen Grasfresser ist es zu klein, auch für einen Bären oder Wolf. Die Kuppe liegt mitten in einem weiten Tal, umgeben von einem Höhenzug mit ein paar Klippen hier und da. Der Frühlingsschnee spiegelt das Sonnenlicht. Alles verschwimmt. Kasan kneift die Augen zusammen, um die Gestalt erkennen zu können.

Nehtr’uh – Vielfraß!

Der Junge kniet sich hin, lehnt seinen Speer gegen einen Felsen, nimmt seinen Rucksack ab und zieht ein sonnengebleichtes Karibufell heraus. Er faltet es auseinander und steckt seinen Kopf durch das Loch in der Mitte. Die weiße Haut reicht ihm bis unter die Knie.

Ich bin Schnee. Ich bin unsichtbar.

Kasan zieht seine Bisonfäustlinge aus. Sie hängen an einem Riemen, der um seinen Hals und durch die Ärmel seines Karibuparkas führt. Er greift über die Schulter und holt die Speerschleuder aus seinem Köcher, untersucht die ledernen Fingerschlaufen und den Sporn, vor den er den langen Jagdpfeil legen will. Der Vorderschaft des Pfeils ist aus Elfenbein, mit einem tödlichen Stein an der Spitze. Der Hinterschaft aus Weidenholz ist mit Sehnen daran befestigt und mit zwei Schneehuhnfedern bestückt. Kasan legt den Pfeil auf die Schleuder und schwingt probeweise den Arm, wie er es schon so oft getan hat. Er rückt seine Sonnenblende zurecht und pirscht die Kuppe hinauf, der Pfeil ist wurfbereit.

Kasans Herz rast. Er hat noch keinen Vielfraß erlegt. Nehtr’uh ist unberechenbar und gefährlich. Der Junge weiß, dass der große Marder einen Menschen töten kann. Sein Fell ist vom Feinsten. Die langen Haare halten den Frost besser ab als die jedes anderen Tiers.

Kasan überlegt, was sein Vater jetzt sagen würde. »Nehtr’uh. Ich jage dich wegen deines Pelzes. Dein Geist soll weiterziehen.«

Der Junge schaut auf, plant die Pirsch. Die Kuppe ist vereist. Er muss vorsichtig sein, um nicht auszurutschen und sich zu verraten. Doch seine Nerven sind zum Zerreißen gespannt.

Sein Pfeil muss den Vielfraß schnell erwischen. Wenn das Tier ihn kommen sieht, wird es sich umdrehen und wegrennen. Flüchtende Tiere sind schwer zu treffen. Falls Kasan den Vielfraß verfehlt, könnte der ihn angreifen. Kasan fasst an die Geweihkeule, die an seinem Gürtel hängt. Er ist unsicher. Auf dem Anstieg hat er die Beute aus den Augen verloren. Seine Besorgnis wächst. Er zieht das Cape aus und verstaut es in seinem Rucksack. Auf Knien wartet er und lauscht, hört aber nur sein Herz schlagen.

Es ist windstill. Kasans Schatten fällt hinter ihn, wird ihn nicht verraten. Nehtr’uh hat scharfe Augen. Der Junge hebt die Speerschleuder auf Schulterhöhe und späht den Schaft entlang. Er klettert weiter, bereit, sofort zu werfen. Sein Herz platzt fast vor Erregung, seine Finger zittern. Kasan fasst seine Schleuder fester, atmet tief ein und rennt die letzten Meter.

Oben bremst er abrupt. Drei Meter vor ihm dreht ihm ein Grizzly den Kopf zu. Der Schädel des Bären ist breiter als Kasans Schultern. Seine kleinen, dunklen Augen starren ihn ausdruckslos an. Plötzlich explodiert der Grizzly mit ohrenbetäubendem Gebrüll, Schnee und Eisbrocken fliegen, als er angreift. Der Junge taumelt zurück und fällt.

Kasan ist erstarrt, er kann keinen Muskel bewegen. Aber sein Hirn funktioniert, verarbeitet alles, was geschieht, ruhig und genau. Ein bitterer Bärengeschmack füllt Kasans Mund, legt sich auf seine Zunge. Überdeutlich steht ihm jedes Detail vor Augen.

Lange Schnauze, schmales Gesicht. Shih tri’ik. Es ist eine Bärin. Ihr schwarzer Buckel schimmert im Sonnenlicht. Das Fell kräuselt sich und funkelt wie Feuer. Ein schweres, milchgefülltes Gesäuge bebt unter ihrem Bauch.

Junge … Hier sind Bärenjunge.

Die Augen der Bärin fixieren ihn. Ihre Ohren liegen flach am Kopf an, das Maul steht offen, ihre Beine wirbeln durch den Schnee. Sie brüllt, aber der Junge hört es nicht. Sein Hirn rast auf der Suche nach irgendetwas, das ihn retten könnte.

Schütze deinen Kopf!

Kasan kann nicht mal die Hände aus dem Schnee heben. Er ist in Schockstarre. Das riesige Biest, das auf ihn zurast, wird ihn zerfetzen. Die Bärin ist über ihm, als ein verschwommener Umriss auftaucht und nach ihrem Kopf schnappt.

TEIL 1

KHAII: DIE DUNKLEN TAGE

Das Langnasen-Lager

Die Menschen wanderten langsam über die düstere Ebene, durch ein Labyrinth aus nackter Erde und verwehtem Schnee. Es war Mittag, die arktische Sonne stand unter dem Horizont, schuf nur ein Zwielicht aus blassem Blau und mattem Rosa. Schnee fiel in dichten Schleiern, man sah kaum die Hand vor Augen. Der Junge war genauso erschöpft wie der Rest der Gruppe. Er spähte durch das Schneetreiben zu den Gestalten vor ihm.

Kasan ging am Ende der Reihe, sollte darauf achten, dass niemand zurückfiel oder im Schneesturm verloren ging. Er war dreizehn Sommer alt und überragte schon alle Männer außer seinem Vater. Dank seiner schlanken Gestalt kam der Junge etwas leichter durch den Schnee als die kleinen, stämmigen Jäger. Ansonsten sah er aus wie der Rest: Hohe, starke Jochbeine rahmten sein herzförmiges Gesicht. Seine Nase war breit und flach, die Augen braun und halb verdeckt von störrischem, schwarzem Haar.

Eine Böe heulte, Schnee stach ihm in die Augen. Kasan barg sein Gesicht im Wolfspelz seiner Kapuze. Er trug einen Karibuparka mit dem Fell nach innen. So wärmte er am besten. Seine weißen Schaffellhosen waren fleckig und an den Knien vom Schneesturm blankgescheuert. Die Stiefel aus Rentierhaut hatte er sich mit Bändern um die Waden gewickelt. Trotz der Fellschichten drang die Kälte in seinen Körper. Er musste sich bewegen, um warm zu bleiben. Als der Wind sich legte, nahm Kasan die Kapuze ab. Durch treibende Flocken sah er seinen Vater Khon, der den Packschlitten an einem langen Geschirr zog.

Auch Khon streifte seine Kapuze zurück und lockerte den Zugriemen. Er war groß und kräftig, aber an diesem Tag fühlte er sich alt und müde. Er war Khehkai – Anführer – und wie alle anderen hungerte er. Hinter ihm lehnten vier Männer gegen den Schlitten. Ihre Zugriemen hingen locker. Am Morgen hatten sie den Weg gespurt und dabei gejagt. Als es zu schneien begann, waren sie zurückgegangen und hatten den Frauen geholfen, den schweren Schlitten zu ziehen.

Chii Tsal beobachtete seinen Bruder Khon, bereit, sich in den Riemen zu legen, wenn er das Signal gab. Neben ihm standen die drei jüngsten und stärksten Männer mit gesenkten Köpfen und schnappten nach Luft. Hinter dem Schlitten kamen vier Frauen heran. Zwei trugen in Schaffelle gewickelte Babys. Karun, Chii Tsals Frau, trug kein Kind. Als Khon sie ansah, wurde er traurig. Sie starrte in den fallenden Schnee. Karuns Tochter war vor zwei Nächten gestorben. Sie und Chii Tsal hatten den kleinen Körper in Hasenfell gewickelt, auf den gefrorenen Boden gelegt und mit Schnee bedeckt. Chii Tsal hatte ein Geweihstück neben das tote Kind gelegt, damit es in der Geisterwelt Grasfresser erkennen konnte. Ein wenig Ocker auf dem Geweih sollte seinem Geist Glück bringen. Nach dem Begräbnis hatte sich der Clan wortlos auf den Weg gemacht. Keiner sah zurück, und niemand nannte je wieder den Namen der Toten. Ein Kind sollte nicht vor seinen Eltern sterben. Das erschütterte die Ordnung der Geister und war ein schlechtes Omen. Sie hatten das Kind mit einem hohen Schneehügel bedeckt, aber Khon wusste, dass die Raubtiere es noch vor dem Frühling finden würden. Der Tod jedes Kindes grämte ihn, aber Mädchen waren die Zukunft des Clans.

Ist der Tod des Kindes ein Vorzeichen für das Ende unserer Leute?

Khon sah sich um. Tarin, Danach’I’ – der Alte Mann – hinkte am Stock. Eyak, Shanaghàn – die Alte Frau – folgte ein paar Schritte hinter ihm. Sie umklammerte einen geschwärzten Vielfraßschädel, in dem eine Weidenwurzel glomm. Khon sah, wie Eyak Holzschnitzel in den Feuertopf füllte. Vorsichtig blies sie auf die schwelenden Kohlen, bis sie Feuer fingen. Ein Rauchfähnchen stieg über ihr auf und mischte sich mit den Schneeflocken, die aus dem grauen Himmel fielen.

Assan, Khons erste Frau, ging hinter Eyak. Ihr folgten ihre Tochter So’tsal und Khons zweite Frau Dèzhòo. Aron und Korya, die Kinder von Chii Tsal und Karun, trotteten ein paar Schritte hinterher. Ihre kurzen Beine kämpften sich durch den Tiefschnee. Khons Sohn Kasan war der Letzte in der Reihe. Er hob seinen Vetter Aron über eine Schneewehe und setzte ihn sanft zurück in die Spur.

Erleichtert, dass alle da waren, wandte Khon sich wieder dem Schlitten zu. Mit geübtem Auge prüfte er die schwere Last, die mit dicken Rohlederriemen festgezurrt war. Oben auf der Ladung lagen lange Weidenpfähle für die beiden Zelte sowie Speere und Wurfpfeile. In die Zelthäute war der weltliche Besitz des Wolfsclans eingewickelt: Bettzeug aus Pelz, Kleider, Feuersteinklingen, Knochenwerkzeug, Schaber, Schädeltassen, Flechtkörbe, Stichel, Skalpelle, Hammersteine, Steinspitzen, Blasen, Zeltbodenhäute, Netze aus Weidenwurzeln, Rohlederschlingen, Ahlen und Knochennadeln, getrocknete Heilkräuter in Beuteln, Bärenblasen voller Knochenfett, Mammutelfenbein und Geweihe für Speere, gedörrte Beeren und der letzte, fast leere Beutel mit Trockenfleisch.

Khon drehte sich um, stemmte sich in den Zugriemen und schwenkte den Arm. Auf geschmeidiger Elchhaut glitt der schwere Schlitten voran. Khon sah in den grauen Horizont. Er stellte sich vor, wie das Tiefland im Sommer aussah: die Sonne hoch am Himmel, Herden von Karibus, Bisons, Mammuts, Pferden und Hirschen. Bunte Teppiche aus Tundrablumen. Vögel sangen und überall schwätzten Erdhörnchen. Der blaue Himmel voller Gänse, Schwäne, Enten. Shin – Sommer. Die Zeit, neugeborene Tiere zu jagen. Shin – wenn die Grasfresser fett wurden und der Wolfsclan stark.

Aber es war kein Sommer. Es war Khaii, die Zeit der Dunklen Tage. Die Wintersonne war unter den Horizont gerutscht und würde dort einen Mond lang bleiben. Das gefrorene Tiefland lag dunkel und leer vor ihm – so leer wie Khons eingefallener Bauch. Die Öde war beängstigend. Es war, als habe sich die Welt entleert. Sie waren seit einem Mond unterwegs und hatten noch kein Tier gesehen, das größer war als ein Hase.

Der Schlitten kroch vorwärts. Khons Stiefel stampften durch den Schnee. Er hörte die Erschöpfung in seiner Stimme. »Zieht … zieht.«

Eine Windböe trieb ihm Schnee in die Augen. Er barg sein Gesicht in der Kapuze und wartete, bis die Böe abflaute, rieb mit den Fäustlingen seine eisigen Wangen. Seine Nase war wie so oft so kalt, dass er sie nicht mehr spürte. Er atmete vorsichtig ein, testete die Kälte der Luft.

Zu kalt zum Reisen.

Aber sie hatten keine Wahl. Sie mussten Grasfresser finden, wenn sie nicht verhungern wollten.

Plötzlich hielt Khon an. Eine riesige Gestalt tauchte in den Schneeschleiern auf. Er fiel auf die Knie und winkte die anderen runter. Die Männer legten die Zügel ab, griffen zu den Speeren und krochen zu ihm.

»Langnase«, flüsterte Khon. Er wies ins Weiße. Sie rochen den Tod in der Luft.

Als die Sicht für einen Moment besser wurde, sahen sie in einer Schneewehe den Kadaver eines Mammutbullen. Er lag auf der Seite, sein Kopf ruhte auf langen, gebogenen Stoßzähnen. Die Männer krochen voran, stießen ihre Speere in die Flanken des Bullen. Khon strich den Schnee von den mehr als mannslangen Stoßzähnen. Er dachte an all die Jagdspitzen, das Nähzeug und die Vorderschäfte, die sie aus dem Elfenbein herstellen konnten.

Der Anführer drehte sich um und winkte Kasan. Mit der Hand machte er eine schneidende Bewegung. Sein Sohn stapfte zum Schlitten, zog seine Handschuhe aus und löste die Riemen. Er kramte in der Ladung, fand einen kleinen Ledersack und brachte ihn seinem Vater. Khon nahm handgroße Abschläge aus Obsidian heraus und verteilte sie an die Männer. Sie schnitten durch das armlange Mammuthaar, zogen die Haut ab und legten das rosafarbene Fleisch frei. Kasan hätte gern mitgemacht, aber er war noch kein Jäger. Bevor er nicht seinen ersten Grasfresser erlegt hatte, durfte er nur zuschauen – und lernen.

Khon hielt seine Nase nahe an das Mammutfleisch und schüttelte enttäuscht den Kopf. Chii Tsal roch als Nächster daran. »Verdorben«, sagte er knapp.

Einer nach dem anderen schnupperte an dem Fleisch und schüttelte den Kopf. Das lange Haar und die dicke Haut hatten das Mammutfleisch zu lange warm gehalten, nachdem das Tier gestorben war.

Khon kletterte auf die Stoßzähne und häutete den Nacken, wo das Fleisch im Wind schneller erkaltet war. Es war nicht sonderlich frisch, roch aber noch nicht schlecht. Die Männer folgten Khon auf den riesigen Schädel, die Frauen und Kinder standen daneben und sahen zu. Khon schnitt eine Scheibe Fleisch ab und kostete es. Er nickte, zeigte auf den Nacken und grinste.

Chii Tsal klopfte ihm auf die Schulter und rief: »Es ist gut!« Dann sprang er herunter und begann, ein Bein aufzuschneiden. Die langen Knochen würden eine Menge Fett abgeben.

Assan sah zu ihrem Mann auf und lächelte. Sie legte ihren Arm um Eyaks schmale Schultern. »Das Fleisch ist gut. Wir werden hier lagern.« Die Alte Frau lächelte still, drehte sich um und begann den Schlitten abzuladen.

Während die Männer sich ans Metzgern machten, schwärmten die Kinder aus und suchten die Gegend nach Dung fürs Feuer ab. Die Frauen bauten zwei Zelte auf, jedes groß genug für zehn Leute. Das Dach bestand aus einem Kreis gebogener Weidenstämme, die mit Karibu- und Hirschhäuten abgedeckt wurden. In der Mitte blieb ein Loch als Rauchabzug frei. Ein Rentierfell wurde vor den Eingang gehängt. Die Innenseite der Felle war mit roten und blauen Abdrücken von Adlerfedern verziert, die Säume mit Beerenpigment versiegelt. Häute verschiedener Art und Größe bedeckten den kalten Boden.

Bald wärmten kleine Feuer die beiden Zelte. Der ganze Clan versammelte sich in Khons Familienzelt und wartete ungeduldig auf das gebratene Mammutfleisch.

Ein Schneehuhn warnt

Kasan saß in einem Haufen Pelze hinten im Zelt und genoss die Mammutmahlzeit zusammen mit Aron. Parkas, Stiefel und Hosen waren an Leinen entlang der Zeltwände aufgehängt. Alle trugen nur leichte Karibukleider. Gilgan stillte ihr Baby Jak, Teekai sang dem kleinen Yukaih etwas vor. Das Schwatzen der Männer und Frauen mischte sich mit dem Kichern der Kinder und dem Knistern der Kohlen. Die nimmermüden Männer spalteten Mammutelfenbein in lange Stücke für die Vorderschäfte, klopften Feuerstein zu Pfeilspitzen, lösten abgenutzte Federn von Weidenschäften und banden neue daran. Jeder Jäger passte die Wurfgeschosse seiner Armlänge an, verband Vorder- und Hinterschaft mit Sehnen, die er mit Ocker gefärbt hatte. Rot brachte Jagdglück.

Die Männer saßen nahe beim Feuer, Tarin rechts neben Khon. Er war der kleinste der sechs erwachsenen Männer, ging Khon nur bis zur Brust. Den Rücken des Alten Mannes hatten fast fünf Jahrzehnte harten Lebens in der Kältesteppe gebeugt. Er hinkte heftig. Vor langer Zeit hatte ihm der Tritt eines Bisons das Bein gebrochen und sein Leben als Jäger abrupt beendet. Dat’san, Jovan und Yogh, die Jüngsten der sechs, hockten rechts von Tarin. Chii Tsal saß allein, abseits von Khon.

Hinter den Männern waren die Frauen dabei, das Essen zuzubereiten. Eyak bewegte sich mit der Ruhe des Alters. Der graue Star hatte sie fast blind gemacht. Sie fütterte das Feuer mit Dung, während Assan frisches Fleisch schnitt und mit Moosbeeren in einen Hirschpansen füllte, der über den Flammen hing. Mit einem Stück Haut in den Händen nahm sie vorsichtig Steine von der Feuerstelle und ließ sie in die Fleischbrühe gleiten, bis sie dampfte. Dèhzhòo, Khons zweite Frau, füllte die heiße Brühe in Tassen aus Vielfraß- und Fuchsschädeln. Während Kasan ungeduldig auf eine weitere Tasse Brühe wartete, lauschte er den Männern.

Khon hielt ein Stück Fleisch hoch. »Kein Fett. Die Langnase ist verhungert. Es war schieres Glück, dass wir sie gefunden haben, bevor alles Nilli verdorben war.«

Er riss das Fleisch mit den Fingern auseinander und kaute es langsam. »Morgen werden wir mit dem Zerlegen fertig. Das Fleisch wird nur ein paar Tage reichen. Die Beine bringen uns Knochenfett, aber kein Mark mehr.« Khon dachte nach. »Dies ist der erste Grasfresser, seit der Schnee fällt. Er ist verhungert. Das ist kein gutes Omen. Gibt es überhaupt noch lebende Grasfresser hier im Tiefland?«

Kasan merkte, dass sein Vater Tarin ansah. Der Alte Mann schwieg und blickte nachdenklich über seine Tasse hinweg. Tarin hatte gewusst, dass man ihn um Rat fragen würde, aber er hätte gern erst zu Ende gegessen.

»Leben ist Bewegung«, sagte er trocken. Tarin war Medizinmann, ein Geistreisender. Er hatte die Gabe, mit der Welt der Tiergeister in Verbindung zu treten. Im Traum konnte er Grasfresser ausmachen. Wenn er erwachte, erinnerte er sich manchmal an den Weg dorthin, wie weit es war und wie viele Köpfe die Herde zählte. In seinen mächtigsten Visionen konnte er Tiere dazu überreden, zu den Jägern zu kommen. Aber Tarins beste Tage waren längst vorbei. Seine Zauberkraft war mit den Jahren geschwunden. Wenn er jetzt träumte, wusste er allenfalls, in welche Richtung er die Jäger schicken musste. Ein Tier hatte er seit einem Jahr nicht mehr anlocken können.

In letzter Zeit hatte er überhaupt nicht mehr von Grasfressern geträumt und keine einzige Geistreise erlebt. Nirgendwo auf der großen Ebene spürte er die Gegenwart von Grasfressern. Die wenigen frischen Fährten, auf die sie stießen, verschwanden unter dem endlosen Teppich aus Schnee und Eis. Es war, als sei jede lebende Kreatur vom Angesicht der Erde verschwunden. Tarin wollte gerade sprechen, als ihn eine Vision überwältigte. Er hörte sich selbst aufschreien.

Die Zeltwände um ihn sind blutgetränkt. Die Flecken drehen sich, vereinen sich zu einem seltsamen Gebilde. Es wirbelt umher, blitzt unter der Decke, rast ins Feuer, peitscht die Flammen in einen Strudel, der hoch durch den Rauchabzug des Zelts lodert.

Tarins Blicke irrten durch das Zelt, wollten die Gestalt einfangen. Aber alles, was er sah, waren die entspannten Gesichter seiner Leute, die darauf warteten, dass er zu ihnen sprach. Verwirrt und voller Angst starrte er ins Feuer und wägte seine Worte sorgfältig.

»Wir müssen jetzt gehen. Wir müssen diesen Platz verlassen.« Seine Stimme klang dunkel und unheilvoll. Bevor er weiterreden konnte, landete ein Schneehuhn auf dem Zelt und stieß seinen schnellen, trommelnden Ruf aus: Tuk-tuk-tuk-tuk. Alle schauten zur Decke und schwiegen.

»Es bedeutet Unglück, wenn Daagoo auf einem Nèevyaa zheh landet, in dem Menschen sind.« Tarin stand auf. Seine Augen fixierten die Geräuschquelle. »Daagoo warnt uns. Wir müssen gehen.«

Khon wärmte seine Hände am Feuer. Er hörte das Schneehuhn rufen. »Daagoo ist ein Omen. Es frisst Beeren, die Grasfresser aus dem Schnee gegraben haben. Dagoo könnte uns sagen, dass Tiere nahe sind.« Er beobachtet die Gesichter seiner Leute, suchte darin nach einer Reaktion.

Kasan hatte aufgehört zu essen, als er den Stakkato-Ruf des Vogels hörte. Etwas Wichtiges passierte. Er rückte näher.

Tarin drehte sich langsam um, seine Augen waren auf die Zeltkuppel gerichtet, an der der Wind rüttelte.

Es ist hier – wir schweben in großer Gefahr.

Seine Kehle wurde trocken und sein Herz klopfte wild. So eine verstörende Warnung hatte er erst einmal gefühlt. Es war lange her, aber die Erinnerung daran überfiel ihn, als wären seitdem erst Augenblicke vergangen. Er war ein junger Mann, kniete auf einer Schotterbank an einem reißenden Fluss und bereitete sein Essen vor. Er hatte einen Hasen in der Schlinge gefangen und briet ihn über dem Feuer, als er plötzlich eine beklemmende Kälte spürte. Er schaute den Fluss rauf und runter, überzeugt, dass da etwas war. Aber er sah nichts. Der Wind blies Wolkenfetzen über den Himmel. Irgendetwas warnte ihn vor dem Tod, seinem eigenen Tod. Er kam, drang in sein Hirn – der Tod. Er glitt durch die Flusskiesel, griff nach seinen Füßen. Tarin stieß den Hasen ins Feuer, warf seinen Rucksack über die Schulter, ergriff seinen Speer und rannte. Während er das Steilufer erklomm, drehte er sich um und sah, was ihn so erschrocken hatte. Ein Bär – der größte, den er je gesehen hatte – stand neben dem Feuer und schnüffelte. Dann drehte er sich um und sah ihn direkt an. Tarin erstarrte, er wagte es nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen. Der Bär kam auf ihn zu, wurde mit jedem Schritt schneller. Tarin kletterte das Ufer hoch, so rasch ihn seine zitternden Beine trugen. Er rannte, bis er zwischen niedrigen Weiden an einem Bach stand. Während er durchs Wasser platschte, warf er den Rucksack aufs andere Ufer. Dann watete er gegen die Strömung zu einem Wasserloch unter überhängenden Büschen. Er versank bis zum Hals im kalten Wasser und wartete. Als der Bär auftauchte, erschrak er so sehr, dass er fast aufschrie. Der Bär sprang mit einem Satz über den Bach. Das Tier umkreiste den Rucksack und schnüffelte. Mit einem Hieb seiner Vorderpranke zerfetzte er ihn, dass der Inhalt durch die Gegend flog. Der Bär drehte sich um, guckte den Bach rauf und runter und streckte seine Nase in die Luft. Tarin hielt den Atem an und tauchte so tief ins Wasser, dass nur noch seine Augen herausschauten. Er starrte auf den Bären und traute sich nicht einmal zu zwinkern. Gerade als er glaubte, der Bär habe ihn entdeckt, verließ das Tier den Bach und verschwand. Tarin blieb untergetaucht, sicher, dass der Bär ihm außer Sicht auflauerte.

Irgendwann fühlte er seine Arme und Beine nicht mehr und konnte nicht länger im Wasser bleiben. Taumelnd kam er heraus, zog seine nassen Sachen aus und legte sich ausgestreckt auf die Erde, um sich in der Sonne zu wärmen. Er erzählte niemandem von dem großen Bären, denn er fürchtete, das brächte dem Clan Unglück.

Jetzt fühlte er wieder diese kalte Todesdrohung, den Befehl, den Ort zu verlassen, an dem er sich befand. Dieses Mal würde er reden. Er schlug mit der Faust gegen die Zeltplane. Das Schneehuhn flatterte davon. »Wir müssen weggehen. Der Ort ist vom bösen Geist verflucht.« Seine Stimme war kaum zu hören. »Ich weiß nicht, welche Gestalt der Geist annimmt, aber er ist hier.« Tarin schwankte. Khon hielt ihn fest, als er sich wieder auf den Zeltboden setzte.

Eyak, die Alte Frau, brach das lastende Schweigen. »Gerade erst haben wir das Lager aufgeschlagen. Die Zelte stehen, die Feuer brennen. Das Mammut muss geschlachtet werden und wir sind alle müde. Bevor wir weiterziehen, brauchen wir Fleisch zur Stärkung. Teekai und Gilgan haben kaum Milch für ihre Babys. Ohne Milch werden Jak und Yukaih sterben.«

Sie deutete in die Runde und ließ ihren Blick über den Clan schweifen. »Wenn wir ohne das Fleisch weggehen, werden noch mehr von uns sterben. Wir haben schon ein Kind verloren.« Sie sah Karun an. »Wir dürfen nicht noch eins verlieren.« Mit einem Blick auf Tarin setzte sich die Alte Frau.

Chii Tsal stand auf und räusperte sich. »Der Wolfsclan ist noch nie übers Tiefland gezogen. Es ist größer, als wir dachten. Wir sind Nantsaii, die ersten Menschen der Welt. Hier haben wir keine Erinnerungen, die uns leiten. Niemand von uns hat das Land im Sommer erkundet. Wir wandern ohne die Augen der Ahnen, die uns den Weg zeigen.«

Seine erregte Stimme übertönte den Wind.

»Seit der Schnee fällt, haben wir noch keinen Grasfresser erlegt. Wir essen Aas von einem alten Mammutkadaver. Aber wir sind Jäger, keine Raben! Wir sind der Clan der Wölfe. Wir jagen Grasfresser. Das war immer unser Leben.«

Chii Tsal wurde leiser. »Unser Kind ist im Tiefland gestorben.« Verzweifelt sah er seine Frau an. »Das Tiefland ist kein Ort für den Wolfsclan. Es gibt kaum Wald. Nichts bietet Schutz vor dem Wind. Und es gibt keine Grasfresser.«

Er drehte sich zu Khon um. »Wir hätten in den Bergen bleiben sollen. Die Ebene gibt uns nichts. Keine Grasfresser, keinen Wald, keinen Schutz. Wir hätten in den Bergen auf Beute warten sollen. Alle haben die abgeworfenen Karibu- und Hirschgeweihe gesehen. Sie lagen in den Bergtälern. Das ist der Winterplatz der Grasfresser.« Seine dunklen Augen wurden schmal. »Wir hätten das Winterlager nicht verlassen sollen.«

Kasan spürte, wie die Spannung im Zelt wuchs. Chii Tsal machte Khon verantwortlich für eine Entscheidung, die der ganze Clan getroffen hatte. Es waren keine Grasfresser zum Winterlager in den Bergen gekommen. Die Männer hatten jeden Tag in den Tälern gejagt, in jede Richtung, und kein Wild gefunden. Kein Karibu, kein Mammut, kein Pferd, keinen Hirsch, keinen Bison. Die Frauen warteten geduldig im Camp, doch die Trockengestelle blieben leer. Schnee fiel, und immer noch kein Nin. Ohne frisches Fleisch würden sie verhungern. So hatten sie sich entschlossen zu gehen. Viele Abende hatten sie die Lage beraten. Am Ende hatte niemand widersprochen. Sie würden weiterziehen, um Grasfresser aufzuspüren. Jeder wusste um das Risiko einer Winterreise, sogar die Kinder. Unterwegs mussten sie Holz und Dung fürs Feuer finden, Anhöhen, in deren Windschatten sie lagern konnten. Und sie mussten Grasfresser erlegen.

»Chii Tsal, hast du vergessen, dass du dafür gestimmt hast, das Bergcamp zu verlassen?« Es war wieder Eyak, und dieses Mal klang ihre Stimme empört. »Der Wolfsclan hat beschlossen, ins Tiefland zu ziehen. Wir haben alle gewusst, dass wir etwas Neues wagen. Es war eine Clan-Entscheidung.«

Chii Tsal wurde rot.

Khon hatte mit der Kritik seines Bruders gerechnet. Wann immer die Lage schwierig wurde, war Chii Tsal schnell dabei, es Khon anzulasten. Chii Tsal war nicht klug. Er hatte kein Gespür für Stimmungen im Clan, er wusste nicht, wie schwierig es war, die Gruppe zu führen. Chii Tsal war ein starker Mann und ein guter Jäger – ein Anführer war er nicht. Entscheidungen traf er oft vorschnell, er war eher launisch als besonnen.

Khon sah ihn an. »Die Vergangenheit führt nur zu dem Ort, an dem wir stehen. Hierhin. Man kann die Vergangenheit nicht ändern.« Mit jedem Wort wuchs sein Selbstvertrauen. »Was zählt, ist das, was wir jetzt tun. Den Weg, den wir gegangen sind, können wir nicht ändern. Wir können nur wählen, wohin er von hier aus führt. Hinter uns sind keine Grasfresser. Wir haben im Berglager auf sie gewartet, und unsere Trockengestelle sind leer geblieben.«

Er schwieg einen Moment. Hatte er seinen Bruder besänftigen können? »Du hast recht, Chii Tsal. Wir reisen in den Dunklen Tagen, wenn wir eigentlich in warmen Zelten sitzen sollten, mit Fleisch und viel Feuerdung, um die Kälte aus unseren Betten zu vertreiben. An den langen Abenden sollten wir Geschichten erzählen, statt an Hunger zu denken. Wir haben uns gemeinsam entschlossen, im Winter weiterzuziehen. In den Bergen haben wir nichts zurückgelassen.« Er hob ein Stück Fleisch in die Höhe. »Weggehen, ohne alles Nilli mitzunehmen, wie Tarin vorschlägt? Das wird dem Wolfsclan Unglück bringen! Essen zu vergeuden ist nicht unsere Art.«

Chii Tsal schlug die Augen nieder. »Mein leerer Magen hat die Worte gesprochen«, sagte er knapp, rieb seine Hände und starrte ins Feuer. Um Entschuldigung bat er nicht. Dann stand er auf und verließ das Zelt, ohne jemanden anzusehen.

Khon beobachtete seine Leute. Er sah das Unbehagen in ihren Gesichtern, die hängenden Köpfe, ihre gesenkten Blicke. Eine lebhafte Diskussion war gut, aber Kritik führte zu Rissen im Clan. Spannungen unter den Leuten brachten Ärger. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind trug zum Überleben der Gruppe bei. Die Männer jagten und töteten Grasfresser. Die Frauen hüteten das Lager, gerbten Häute, schlugen Steinmesser, kochten, heilten Wunden und zogen die Kinder groß. Die Kinder fingen Kleintiere in Schlingen, sammelten Feuerholz und pflückten Beeren. Jeder Mensch hatte eine Rolle im Clan, einer war so wichtig wie der andere. Zusammenhalt sicherte das Überleben aller. Jedes Spiel, jede Geschichte, jedes Essen, jede Jagd förderte die Harmonie. Der sicherste Weg, das einende Band zu zerschneiden, war, einen anderen offen zu kritisieren.

»Ein einzelner Grashalm ist schwach. Ein Bündel Gras aber kann man nicht zerreißen«, sagte Khon. »Der Wolfsclan ist stark, wenn wir zusammenstehen.« Er hob seine Stimme, übertönte den Wind, der an Zeltkuppel rüttelte. »Wir jagen nicht nur, um zu essen.« Er tippte mit dem Fuß auf die Teppiche. »Die Felle sind alt und das Haar ist dünn. Im Winter ist die Haut dick und das Haar voll. Wir jagen Grasfresser auch wegen der Felle für unsere Betten und Zelte.«

Tarin stand plötzlich auf. »Wir lagern neben einem toten Mammut. Löwen und Wölfe werden den Tod riechen und kommen. Wir können hier nicht bleiben.« Seine Stimme klang scharf und schrill.

Kasan merkte, dass Tarin tief verstört war. Er hatte den Alten noch nie so aufgeregt gesehen.

Khon kam dem Alten entgegen. »Wir werden weggehen, Tarin. Sobald wir das Mammut zerlegt haben, ziehen wir weiter. Mammut-Nilli gibt uns die Kraft, den Schlitten zu ziehen.«

Der Anführer sah in die Runde. Alle nickten still.

»Dann ist es so. Nach dem Schlachten brechen wir auf.«

Tarin machte den Mund auf, sagte dann aber doch nichts. Lass sie in Frieden essen, dachte er, hob eine Schädeltasse an die Lippen und schlürfte seine Brühe.

Ist dieser dunkle Geist aus meinem leeren Magen gekommen? Hatte ich zu viele Tage nur Knochenbrühe?

Überzeugt war er nicht. Etwas war ins Zelt gekommen – eine Geistwarnung, ein Omen. Er wusste nicht, welche Gestalt es annehmen würde. Er wusste nur, dass die Angst in seinem Herzen echt war.

Chii Tsal kehrte ins Zelt zurück. Auf seiner Schulter trug er eine Scheibe Fleisch, die er aus dem Schneespeicher geholt hatte. Alle klatschten und jubelten, als er sie präsentierte. Offensichtlich versuchte er, seinen Ausbruch vergessen zu machen. Khon beobachtete, wie er feierlich durch das Zelt schritt. Die Brüder nickten einander zu.

Als das Fleisch verspeist war, gingen die Familien von Chii Tsal, Dat’san und Jovan ins Nachbarzelt. Kasan schlüpfte in das Pelzbett neben So’tsal und dachte an Tarins Warnung. Was hatte der Alte Mann gesehen? Es war etwas Gefährliches, so viel war ihm klar. Löwen waren die gefährlichsten Tiere. Sie töteten Menschen. Gewöhnlich lauerten sie einzelnen auf, nur selten griffen sie einen Clan an. Wenn Löwen sich näherten, schrien die Frauen hoch und schrill, die Männer brüllten, schwenkten ihre Speere und schlugen die Schäfte aneinander. Dann verzogen sich die Löwen. Meistens.

Wölfe waren nicht so gefährlich. Kasan wusste, dass sie manchmal Menschen töteten, aber nur solche, die allein unterwegs waren. Der Junge drehte sich auf den Rücken und schlief ein. Er träumte von Löwen, Wölfen und Mammuts.

Khons Sorgen

Yogh rüttelte Khon wach und schlüpfte dann in die Felle neben seiner Frau Teekai. Er schlief schon, als Khon aus dem Bett stieg. Der Anführer übernahm die Nachtwache. Die Wärme hatte das Zelt verlassen. Kälte kroch herein, griff mit eisigen Händen nach den schlafenden Menschen. Der Sturm drehte auf. Die Zeltkuppel knarrte unter den Böen. Khon horchte nach draußen. Nichts. Er legte einen dicken Klumpen Mammutdung aufs Feuer, starrte in die Flammen und grübelte.

Alles veränderte sich. Das Grasland verschwand, jedes Jahr wuchsen mehr Weidenbüsche. Die einstmals großen Pferdeherden wurden immer kleiner. Als Junge hatte er Herden gejagt, die sich über die Ebene erstreckten, so weit das Auge reichte. Jetzt gab es nur noch kleine Gruppen hier und da. Mammuts, früher allgegenwärtig, waren noch seltener geworden als Pferde. Seit einem Jahr hatten sie keine Langnase mehr erlegt.

Die Winter wurden wärmer und der Schnee tiefer. Er erinnerte sich an die kalten Wintertage seiner Jugend mit ihrem blauen Himmel. Die stillen, sternklaren Nächte waren taghell gewesen. Jetzt blies ständig der Wind, brachte Wolken und Schnee. An manchen Tagen war es so warm, dass der Schnee schmolz. Das Land änderte sich und seine Leute kämpften ums Überleben. Mit jedem Tag wurde der Clan schwächer, Khon konnte nichts dagegen tun.

Chii Tsal hat recht, dachte er. Wir sind Aasfresser geworden. Laben uns an Kadavern wie Raben. Dabei sind wir Pfeiljäger, Speerjäger!

Ihm war unwohl, wenn er an den letzten Abend dachte. Es war lange her, dass sie sich so gestritten hatten. War Hunger der Grund für Chii Tsals Ärger? Oder war er – Khon – dabei, seinen Platz als Anführer zu verlieren? Die jungen Männer, Yogh, Dat’san und Jovan, liefen schneller und warfen ihre Pfeile weiter als er. Aber keiner traf sicherer als Khon, und niemand plante eine Jagd besser. Nicht einmal Chii Tsal.

Khons Können hatte ihm Dèhzhòo eingebracht, seine Zweitfrau. Assans Tage als Gebärerin gingen zu Ende. Im Sommer war sie zu ihm gekommen und hatte ihm geraten, sich eine zweite Frau zu nehmen. Er entschied sich für Dèhzhòo, Aniks jüngere Schwester. Sie war nur halb so alt war wie er. Dèhzhòo war stark und schön und arbeitete hart. Khon war erleichtert, dass sie noch kein Kind gemacht hatten. Die Winterreise war schwierig genug. Für eine Frau mit Neugeborenem wäre sie zu viel gewesen.

Nach seinen Frauen dachte Khon an seinen jüngeren Bruder. Seit einiger Zeit zweifelte Chii Tsal Khons Führerschaft offen an. War es Zeit, beiseite zu treten? Er war Anführer, seit Kasan laufen gelernt hatte. Das war eine lange Zeit an der Spitze des Clans. Hätte der Wolfs-Clan im Berglager bleiben sollen, wie Chii Tsal meinte? Waren die Grasfresser jetzt dort und streiften durch die verlassene Gegend? Wie alle anderen hatte er mit einer kurzen Reise gerechnet. Bisher hatten sie immer Grasfresser gefunden.

Dann dachte er an Tarins Warnung. Der Alte war Medizinmann, doch das hieß nicht, dass die Dinge, die er sagte, auch eintrafen. In letzter Zeit waren seine Voraussagen oft nicht wahr geworden. Und was hatte er eigentlich gesagt? Der Ort sei schlecht. Im Stillen hatte Khon den Glauben an Tarins Medizin verloren. Er legte seine Hände auf den gefrorenen Boden unter den Fellen. Da war nichts als Kälte.

Tiergeister waren oft verstörend, und Tarin wurde langsam tüdelig. War er zu alt? Konnte er nicht mehr mit Tiergeistern reden? Khon strich über seinen vollen Bauch, verärgert, dass er den Medizinmann nicht besser verstand. Dann schlüpfte er zurück ins Bett, döste und horchte mit einem Ohr auf den Wind.

Das rauchende Ding

Das Rudel bewegt sich über die frostige Ebene am Rand der verschneiten Weidenbüsche. Fast blind kämpfen sich die Wölfe durch den Wintersturm. Es dringt kaum Licht durch den Vorhang aus treibendem Schnee. Der erwachsene Rüde führt das Rudel an. Sein Fell ist silberblau, langes, weißes Deckhaar über einer dicken Schicht schwarzer Unterwolle. Mit der Brust schiebt sich Blau durch den Schnee, seine Schnauze gleitet über die Oberfläche, die Nase immerzu auf der Suche nach Beute. Ein Dutzend weiße Wölfe folgt ihm, einer nach dem anderen furchen sie den Schnee. Blaus Gefährtin läuft dicht hinter ihm. Ihre Augen sind nicht gelb wie die von Blau und ihren Nachkommen, sondern grau. Grauauge hält an und schüttelt sich den Schnee vom Rücken. Das Land schweigt, nur der Wind wispert in den Weiden. Es schneit so stark, dass die Spur der Wölfe nach wenigen Minuten verschwindet.

Blau wittert die Fährte, bevor er sie sieht. Er steckt die Nase in die Spur. Pferdegeruch! Tiefer dringt seine Schnauze in den Schnee, erschnüffelt Alter und Richtung der Fährte. Sorgfältig studiert er den Rand, an dem der Huf den Schnee etwas stärker zusammengedrückt hat. Blau wechselt zur nächsten Spur. Die Pferde ziehen auf die offene Ebene. Die Wölfe verteilen sich auf die Fährten, schwanzwedelnd graben sie ihre Schnauzen in den süßen Duft der Beute. Sie folgen den Pferden ins Tiefland, viel schneller jetzt.

Schneewehen drosseln das Tempo der kleinen Steppenpferde. Sie ziehen gegen den Wind, riechen nicht die Gefahr, die sich von hinten nähert. Die Wölfe kommen in den Fährten der Pferde rasch voran und schließen die Lücke.

Zuerst muss das Leitpferd sterben. Blau sieht den verschreckten Hengst erst, als er mit ihm zusammenstößt. Das kleine Pferd bäumt sich auf und taucht dann kopfüber in den Tiefschnee. Blau packt es am Hals und zerbeißt die Drosselvene. Dann schnappen seine Zähne nach der Luftröhre, klemmen den Lungen die Luft ab. Die anderen Wölfe rennen vorbei und verschwinden im Sturm. Weiter vorn klappern Hufe auf Eis.

Die Pferde haben die Gefahr erkannt und galoppieren blindlings über eine Kette zugefrorener Weiher. Der dunkle Rand eines Dickichts taucht auf. Es blockiert den Fluchtweg der Herde. An der Spitze zögern die Pferde, erkennen die Falle vor ihnen. Zum Umdrehen bleibt keine Zeit. Sie rauschen in die Büsche, springen kopfüber in eine Wand aus Schnee und Weiden, versinken darin bis zum Widerrist. Die Pferde trampeln und kraxeln vorwärts, ihre Vorderläufe wühlen im weichen Tiefschnee. Ein paar kleinere Tiere versinken völlig.