Zimmer 103 - Simone St. James - E-Book

Zimmer 103 E-Book

Simone St. James

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Beschreibung

New York 1982. Viv Delaney arbeitet als Nachtwächterin im Sun Down Motel. Doch die Nächte dort sind lang. Und einsam. Und mit jeder Schicht wächst Vivs Angst. Angst vor einer ungreifbaren Bedrohung …
New York 2017. Carly Kirk zieht es in das in die Jahre gekommene Sun Down Motel, wo ihre Tante Viv vor mehr als 30 Jahren spurlos verschwand. Sie will endlich die Wahrheit herausfinden. Doch das Geheimnis, das das alte Motel hütet und dem nicht nur ihre Tante zum Opfer gefallen ist, übertrifft Carlys schlimmste Albträume ...

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New York 1982. Viv Delaney arbeitet als Nachtwächterin im Sun Down Motel. Doch die Nächte dort sind lang. Und einsam. Und mit jeder Schicht wächst Vivs Angst. Angst vor einer ungreifbaren Bedrohung …

New York 2017. Carly Kirk zieht es in das in die Jahre gekommene Sun Down Motel, wo ihre Tante Viv vor mehr als 30 Jahren spurlos verschwand. Sie will endlich die Wahrheit herausfinden. Doch das Geheimnis, das das alte Motel hütet und dem nicht nur ihre Tante zum Opfer gefallen ist, übertrifft Carlys schlimmste Albträume …

Weitere Informationen zu Simone St. James

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Simone St. James

Zimmer 103

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Anne Fröhlich

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Sun Down Motel« bei Berkley, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2021

Copyright © der Originalausgabe by Simone Seguin

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Arcangel/Benjamin Harte; Arcangel/Studio Benjamin

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

AKS · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter; Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26324-9V001

www.goldmann-verlag.de

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Für die Außenseiterinnen, die Nerds –

und alle True-Crime-Besessenen.

Dieses Buch ist für euch.

Fell, New York

November 1982

Viv

In der Nacht, in der alles endete, war Vivian allein.

Das war kein Problem für sie, es war ihr sogar lieber. Denn bei ihren Nachtschichten an diesem abgelegenen Ort hatte sie eins gelernt: In Gesellschaft zu sein war einfach, Alleinsein hingegen schwer. Vor allem bei Dunkelheit. Und derjenige, der wirklich allein sein konnte, allein mit sich selbst und seinen Gedanken – dieser Mensch war stärker als jeder andere. Bereit. Gewappnet.

Dennoch stieg wieder die alte Angst in ihr auf, als sie auf den Parkplatz des Sun Down Motel in Fell, New York, einbog und anhielt. Sie blieb in ihrem alten Cavalier sitzen, den Schlüssel im Zündschloss, Heizung und Radio aufgedreht, die Jacke eng um ihre Schultern gezogen, und schaute auf das gelb-blaue Leuchtschild, auf die zwei Ebenen des L-förmigen Gebäudes. Ich will da nicht reingehen. Aber ich werde es tun. Trotz ihrer Angst war sie bereit. Es war 22 Uhr 59.

Sie hätte weinen mögen. Oder schreien. Ihr war übel.

Ich will da nicht reingehen.

Aber ich werde es tun. Weil ich es immer tue.

Ein paar Tropfen Eisregen schlugen auf die Windschutzscheibe. Im Rückspiegel sah sie einen Lastwagen, der auf der Straße vorbeidonnerte. Die Uhr sprang auf 23 Uhr, und im Radio begannen die Nachrichten. Noch eine Minute, und sie käme zu spät, aber das war ihr egal. Niemand würde sie feuern. Niemanden kümmerte es, ob sie bei der Arbeit erschien. Im Sun Down Motel waren nur wenige Gäste, und keiner von ihnen würde es merken, wenn das Mädchen von der Nachtschicht zu spät kam. Oft war es so ruhig, dass Außenstehende denken könnten, hier passiere nie etwas.

Viv Delaney wusste es besser.

Das Sun Down sah zwar unbewohnt aus, aber das war es nicht.

Mit klammen Fingern klappte sie die Sonnenblende mit dem Spiegel herunter. Sie fuhr sich durch die Haare – kurz geschnitten bis knapp über die Ohrläppchen und mit Haarspray in Form gebracht – und überprüfte ihr Augen-Make-up; nicht die kalten Farben, die manche Mädchen benutzten, sondern ein sanftes Lila. Es sah ein bisschen so aus, als hätte ihr jemand ein Veilchen verpasst. Man konnte es mit Gelb und Orange verschmieren, um den Effekt eines mehrere Tage alten Blutergusses zu erzielen, aber so viel Mühe hatte sie sich an diesem Abend nicht gemacht. Nur das Violett auf der zarten Haut ihrer Augenlider über dem dunklen Strich, den Eyeliner und Wimpern bildeten. Warum sie sich überhaupt geschminkt hatte? Sie wusste es nicht mehr.

Im Radio sprachen sie über eine Leiche. Ein Mädchen war an der Melborn Road im Straßengraben gefunden worden, zehn Meilen von hier entfernt. Nicht, dass hier ein richtiger Ort gewesen wäre – nur ein Motel an einem zweispurigen Highway, der aus Fell hinaus ins Hinterland von New York und irgendwann nach Kanada führte. Aber wenn man eine Meile weiterfuhr und dann bei einer Lampe, die einsam über der Straße baumelte, rechts abbog und dieser Straße folgte und dann der nächsten und übernächsten – dann war man da, wo die Leiche des Mädchens gelegen hatte. Ein Mädchen namens Tracy Waters. Sie war zuletzt im Nachbarort gesehen worden, als sie das Haus einer Freundin verlassen hatte. Achtzehn Jahre alt. Zwei Tage, nachdem ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten, war ihre Leiche entdeckt worden, nackt im Straßengraben.

Die zwanzigjährige Vivian Delaney saß in ihrem Auto, und ihre Hände zitterten, als sie die Geschichte hörte. Sie dachte daran, wie es wohl war, hilflos und nackt im Eisregen zu liegen. Wie schrecklich kalt. Dass es immer Mädchen waren, die so endeten, tot im Straßengraben wie ein überfahrenes Tier. Selbst wenn man ängstlich und vorsichtig war – es konnte einen immer erwischen.

Vor allem hier. Man konnte immer die Nächste sein.

Sie schaute auf das Motel, auf das grelle blau-gelbe Leuchtschild in der Dunkelheit, das unaufhörlich blinkte. ZIMMER FREI. KABEL-TV! ZIMMER FREI. KABEL-TV!

Selbst nach drei Monaten an diesem Ort hatte sie immer noch Angst. Riesige, furchtbare Angst. Die Gedanken krochen in ihr hoch und setzten sich in ihrem Gehirn fest, bis die Panik ausbrach. Ich bin die nächsten acht Stunden allein, allein in der Dunkelheit. Allein mit ihr und den anderen.

Widerstrebend zog Viv den Zündschlüssel ab, sodass die Heizung ausging und das Radio – in dem es immer noch um Tracy Waters ging – verstummte. Sie reckte das Kinn und stieß die Fahrertür auf. Stieg aus in die Kälte.

Die Nylonjacke eng um sich gezogen, lief sie über den Parkplatz. Sie trug Jeans und marineblaue Turnschuhe mit weißen Schnürsenkeln, die Sohlen viel zu dünn für dieses feuchtkalte Wetter. Ihr Haar wurde nass vom Regen, der Wind brachte die Frisur durcheinander. Sie ging auf die Tür mit der Aufschrift REZEPTION zu.

In der Rezeption stand Johnny hinter dem Empfangstisch und zog schon den Reißverschluss seiner Jacke über seinem dicken Bauch zu. Wahrscheinlich hatte er sie durch das Fenster in der Tür gesehen. »Bist du zu spät?«, fragte er, obwohl hinter ihm an der Wand eine Uhr hing.

»Fünf Minuten«, gab Viv zurück, während sie ihre Jacke auszog. Nun, da sie hier drinnen war, war ihr flau im Magen, beinahe übel. Ich will nach Hause.

Aber wo war ihr Zuhause? Fell war es nicht. Auch nicht Illinois, wo sie herkam. Als sie ihr Zuhause endgültig verlassen hatte, nach der letzten lautstarken Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, hatte sie vorgegeben, nach New York zu fahren, um Schauspielerin zu werden. Aber das war nur eine Rolle gewesen, die sie gespielt hatte, eine ausgedachte Geschichte. Sie hatte keine Ahnung, wie man Schauspielerin in New York wurde – die Geschichte hatte ihre Mutter auf die Palme gebracht, das hatte gereicht. Was Vivian eigentlich wollte, mehr als alles andere, war Veränderung. Einfach weggehen.

Also war sie gegangen. Und war hier gelandet. Fell musste fürs Erste ihr Zuhause sein.

»Mrs Bailey ist in Zimmer 207«, sagte Johnny, der die Liste der wenigen Motelgäste durchging. »Sie hat schon einiges intus, also mach dich auf einen Anruf gefasst.«

»Na großartig«, sagte Vivian. Mrs Bailey kam nur ins Sun Down Motel, um sich volllaufen zu lassen, wahrscheinlich, weil sie Probleme bekommen würde, wenn sie es zu Hause täte. Wenn sie betrunken war, rief sie immer bei der Rezeption an, um Dinge zu verlangen, die sie dann meistens gleich wieder vergaß. »Noch jemand?«

»Das Pärchen, das nach Florida unterwegs war, hat ausgecheckt«, erklärte Johnny. »Wir hatten zwei Scherzanrufe, nur Atemgeräusche am anderen Ende. Dumme Teenager. Und ich habe Janice eine Nachricht geschrieben, wegen der Tür von Nummer 103. Mit der stimmt irgendwas nicht, ständig wird sie vom Wind aufgeweht, selbst wenn ich sie abschließe.«

»Das ist immer so«, sagte Viv. »Du hast es Janice schon vor einer Woche gesagt.« Janice war die Besitzerin des Motels, und Viv hatte sie seit Wochen nicht mehr gesehen. Vielleicht seit Monaten. Sie kam nur her, wenn es unbedingt sein musste, und ganz bestimmt nicht nachts. Ihre Lohnschecks fand Viv in einem Briefumschlag auf dem Empfangstisch, und alle Kommunikation fand in Form von schriftlichen Mitteilungen statt. Sogar die Besitzerin mied diesen Ort, wo sie nur konnte.

»Tja, sie sollte die Tür reparieren lassen«, sagte Johnny. »Ich meine, ist doch seltsam, oder? Ich hatte sie abgeschlossen.«

»Stimmt«, sagte Viv. »Das ist seltsam.«

Sie war daran gewöhnt. Niemand sonst, der im Motel arbeitete, sah, was sie sah, und erlebte, was sie erlebte. Denn diese Dinge passierten nur mitten in der Nacht. Die Leute von der Früh- und von der Abendschicht hatten keine Ahnung davon.

»Hoffentlich checkt sonst niemand ein«, sagte Johnny und zog sich seine Kapuze über den Kopf. »Hoffentlich bleibt es ruhig.«

Es ist niemals ruhig, dachte Viv, aber sie sagte: »Ja, hoffentlich.«

Viv sah ihm nach, als er das Büro verließ, hörte, wie er den Motor seines Wagens anließ und wegfuhr. Johnny war sechsunddreißig und wohnte bei seiner Mutter. Viv stellte sich vor, wie er nach Hause kam und vielleicht noch fernsah, bevor er ins Bett ging. Ein Typ, der keine großen Ziele hatte und ein relativ normales Leben führte, frei von der Angst, die Vivian spürte. Einer, der nicht an Tracy Waters dachte, außer flüchtig, wenn er ihren Namen im Radio hörte.

Vielleicht war nur sie es, die langsam verrückt wurde.

Stille breitete sich aus, nur gelegentlich unterbrochen von Motorgeräuschen auf der Road Six und dem Wind in den Bäumen hinter dem Motel. Jetzt war es 23 Uhr 12. Die Uhr an der Wand hinter dem Empfangstisch sprang auf 23 Uhr 13.

Sie hängte ihre Jacke an den Haken in der Ecke. Von einem anderen Haken nahm sie die marineblaue Polyesterweste, die links über der Brust den gestickten Schriftzug Sun Down Motel trug, und streifte sie über. Dann zog sie den unbequemen Holzstuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Sie warf einen schnellen Blick auf die verschrammte, fleckige Schreibtischplatte: das schwarze, viereckige Gerät, das ein klackendes Geräusch machte, wenn man den Griff über einer Kreditkarte hin und her bewegte, um einen Kohlepapierdurchschlag zu machen, das Wählscheibentelefon in der Farbe von Erbrochenem. In der Mitte des Tischs lag ein großes, flaches Buch, in dem die Gäste beim Einchecken ihre Namen und Adressen eintragen und unterschreiben mussten. Es war bei November 1982 aufgeschlagen.

Viv holte ein Notizbuch aus ihrer Handtasche, nahm den Stift, der zwischen den Seiten steckte, und schrieb.

29. Nov.

Tür von Nummer 103 geht wieder auf. Scherzanrufe. Niemand da. Tracy Waters ist tot.

Von draußen kam ein Geräusch, und sie hielt inne, hob den Kopf. Ein Knall, dann noch einer, ein wilder Rhythmus. Die Tür von Nummer 103, die im Wind aufging und gegen die Wand schlug. Und wieder.

Viv schloss kurz die Augen. Die Angst brach wie eine Welle über sie herein, aber sie steckte schon zu tief drin. Sie war schon hier. Sie musste bereit sein. Das Sun Down verlangte heute Nacht wieder nach ihr.

Sie ließ den Stift sinken.

Was, wenn alles, was ich gesehen habe, und alles, was ich denke, wahr ist? Denn das glaube ich.

Sie schaute in das Gästebuch, las die Namen darin. Sie wartete, bis die Uhr an der Wand hinter ihr weitertickte, dann fuhr sie mit dem Schreiben fort.

Die Geister sind heute Nacht wach. Sie sind unruhig. Ich glaube, es wird bald vorbei sein. Ihre Hand zitterte, und sie versuchte, sie ruhig zu halten. Es tut mir so leid, Tracy. Ich habe versagt.

Ein Laut entwich ihrer Kehle, aber sie zwang sich, still zu sein. Sie legte den Stift hin und rieb sich die Augen. Ein wenig lilafarbener Lidschatten landete auf ihren Fingerspitzen.

Es war der 29. November 1982, 23 Uhr 24.

Um drei Uhr in der Nacht war Viv Delaney verschwunden.

Das war der Anfang.

Fell, New York

November 2017

Carly

Dieser Ort war fremd. Ich öffnete die Augen und starrte panisch in die Dunkelheit. Ein fremdes Bett, ein fremder Lichteinfall durch das Fenster, ein fremdes Zimmer. Einen Augenblick fühlte ich mich wie im freien Fall – es war beängstigend und berauschend zugleich.

Und dann erinnerte ich mich: Ich war in Fell, New York.

Ich war Carly Kirk, zwanzig Jahre alt, und sollte eigentlich nicht hier sein.

Ein Blick auf mein Handy auf dem Nachttisch sagte mir, dass es vier Uhr morgens war. Durchs Fenster fiel das Licht von Straßenlaternen und dem rund um die Uhr geöffneten Denny’s Diner und malte ein verschwommenes Viereck an die Wand.

Ich konnte nicht wieder einschlafen, also schwang ich die Beine aus dem Bett, nahm meine Brille vom Nachttisch und setzte sie auf. Ich war gestern hier angekommen und nach der langen Fahrt von Illinois so müde gewesen, dass ich in diesem faden Kettenhotel in der Innenstadt von Fell geschlafen hatte wie eine Tote.

Es war kein besonders aufregender Ort – so viel hatte mir bereits Google Earth verraten. Im Zentrum gab es ein paar Cafés, Waschsalons, schäbige Antiquitätenläden, Apartmenthäuser und Antiquariate, die sich ehrfürchtig um einen großen Supermarkt und eine Drogerie scharten. Die Straße mit meinem Kettenhotel und dem Denny’s Diner führte geradewegs durch die Stadt, vermutlich fuhren die meisten Leute einfach durch, ohne einen Abstecher in die Seitenstraßen zu machen. Auf das Schild mit der Aufschrift WILLKOMMEN IN FELL, an dem ich gestern Abend vorbeigekommen war, hatte irgendein Witzbold die Worte KEHR UM gesprüht.

Ich war nicht umgekehrt.

Mit meiner Brille auf der Nase nahm ich noch einmal das Handy und scrollte durch die E-Mails und Textnachrichten, die über Nacht angekommen waren.

Die erste E-Mail war von unserem Familienanwalt. Die verbliebenen Geldmittel sind auf Ihr Konto überwiesen worden. Bitte beachten Sie die Aufschlüsselung im Anhang.

Ich las nicht weiter und öffnete auch den Anhang nicht: Es war nicht nötig, denn ich wusste bereits, dass ich von Mom etwas Geld geerbt hatte, zusammen mit meinem Bruder Graham. Ich wusste, dass es keine Reichtümer waren, aber es würde genügen, um eine Weile über die Runden zu kommen. Ich wollte keine Zahlen, und ich konnte es nicht ertragen, sie anzusehen. Wenn man seine Mutter an den Krebs verloren hatte – sie war erst einundfünfzig Jahre alt gewesen –, kamen einem Dinge wie Geld dumm und unwichtig vor.

Tatsächlich fing man an, sein ganzes Leben infrage zu stellen. Und genau das tat ich, auf meine verrückte Art, nach vierzehn Monaten in einem Nebel der Trauer. Und ich konnte nicht damit aufhören.

Da waren ein paar Zeilen von Graham. Und was hast du jetzt vor, Carly? Das College aufgeben? Wie lange? Meinst du, das hältst du durch? Wenn deine ganze Schulausbildung umsonst war, bist du auf dich allein gestellt. Das weißt du, oder? Egal, was du machst, viel Glück dabei. Versuch, dich nicht umbringen zu lassen.

Ich klickte auf Antworten und tippte: Hey, Drama Queen. Es ist doch nur für ein paar Tage, und ich habe alles im Griff. Ich mach nur einen Ausflug, aus Neugier. Das ist schließlich kein Verbrechen. Mir geht’s gut. Hab nicht vor, mich umbringen zu lassen, aber danke für deine Fürsorge.

In Wirklichkeit hoffte ich, länger hierzubleiben als nur ein paar Tage. Seit ich Mom verloren hatte, erschien es mir sinnlos, weiter aufs College zu gehen und meinen Wirtschaftsabschluss zu machen. Als ich aufs College gekommen war, hatte ich geglaubt, ich hätte alle Zeit der Welt, um herauszufinden, was ich tun wollte. Aber Moms Tod hatte mir gezeigt, dass das Leben nicht so lang war, wie man annahm. Und ich hatte Fragen, auf die ich Antworten suchte. Es wurde Zeit, sie zu finden.

Hailey, Grahams Verlobte, hatte mir auch eine Nachricht geschickt. Hey! Alles klar?? Mach mir Sorgen. Bin für dich da, wenn du reden willst. Vielleicht brauchst du noch mal eine Trauerbegleitung? Ich kann eine für dich suchen! OK? LG!

Oh Gott, sie war so nett. Ich hatte schon eine Trauerbegleitung gehabt. Psychotherapie. Spirituelle Gesprächskreise. Yoga. Meditation. Achtsamkeit. Und wenn ich bei alldem eins gelernt hatte, dann, dass ich keine Therapie mehr brauchte. Was ich wirklich brauchte, waren endlich Antworten.

Ich legte das Handy weg und klappte meinen Laptop auf. Ich klickte einen Ordner auf dem Desktop an, dann scrollte ich durch die Dateien. Schließlich öffnete ich die mit dem eingescannten Artikel aus einer Zeitung von 1982, mit der Überschrift POLIZEI SUCHT NACH VERMISSTER FRAU. Unter der Schlagzeile war ein Foto abgedruckt, ein Ausschnitt aus einem Schnappschuss. Die junge Frau war schön und lebendig. Sie lächelte in die Kamera, hatte toupierte Haare und den Pony mit Haarspray aus der Stirn frisiert, während die restlichen Haare glatt herunterhingen, ein typischer Achtzigerjahre-Look. Sie hatte helle Haut und funkelnde Augen, sogar auf dem Schwarz-Weiß-Foto. Unter dem Foto stand: Die zwanzigjährige Vivian Delaney ist seit dem Abend des 29. November verschwunden. Wer sie gesehen hat, möge bitte die Polizei benachrichtigen.

Das war es. Darauf brauchte ich eine Antwort.

Ich war mein Leben lang ein Nerd gewesen, ein Bücherwurm. Aber nachdem ich die Lektüre von Blitz, der schwarze Hengst hinter mich gebracht hatte, waren alle Bücher, die ich las, von der düsteren Art – über gruselige Dinge wie verschwundene Menschen und Mordfälle, vor allem reale. Während andere Kinder Joanne K. Rowling lasen, verschlang ich Stephen King. Während die anderen Geschichtsaufsätze über den Amerikanischen Bürgerkrieg verfassten, schrieb ich über Lizzie Borden. Dieser Aufsatz – gespickt mit Details darüber, an welcher Stelle genau Lizzies Vater und ihre Stiefmutter von der Axt getroffen worden waren – hatte dazu geführt, dass meine Lehrerin besorgt meine Mutter anrief. Ist alles in Ordnung mit Carly? Meine Mutter hatte sie abgewimmelt, weil sie wusste, was für eine dunkle Persönlichkeit ihre Tochter besaß. Ihr geht es gut. Sie liest eben gerne über Mordfälle, das ist alles.

Was meine Mutter nicht erwähnte – sie hasste es, darüber zu sprechen –, war, dass es einen guten Grund dafür gab. Wir hatten nämlich einen ungelösten Mordfall in der Familie, und davon war ich besessen, seit ich denken konnte.

Ich schaute noch einmal auf den Zeitungsausschnitt. Viv Delaney, das Mädchen auf dem Foto, war die Schwester meiner Mutter. 1982 war sie verschwunden, während ihrer Nachtschicht im Sun Down Motel, und war nie gefunden worden.

Die Sache, von der jeder wusste und über die niemand sprach, war eine riesige klaffende Lücke in meiner Familie. Vivs Verschwinden war ein Verlust wie ein fehlender Zahn. Frag deine Mutter niemals danach, hatte mein Vater in dem Jahr, bevor er uns alle verließ, zu mir gesagt. Es regt sie auf. Sogar mein Bruder, die ewige Nervensäge, ging vorsichtig mit dem Thema um. Moms Schwester ist ermordet worden, erklärte er mir. Jemand hat sie entführt und umgebracht, so wie dieser Typ mit der Hakenhand. Das ist so gruselig! Kein Wunder, dass Mom nicht darüber spricht.

Seit fünfunddreißig Jahren wurde meine Tante vermisst. Meine Großeltern – die Eltern von Mom und Viv – waren tot. Es gab keine Fotos von Viv bei uns zu Hause, keine Andenken an sie. In dem Jahr vor Moms Tod, als ich in den Sommerferien zu Hause war, hatte ich im Internet einen Artikel gefunden und zum ersten Mal Vivs Gesicht gesehen. Ich fand, dass inzwischen genug Zeit vergangen war. Deshalb hatte ich den Zeitungsausschnitt ausgedruckt und war nach dem Abendessen zu meiner Mutter gegangen, um ihn ihr zu zeigen. »Schau, was ich gefunden habe«, sagte ich.

Mom saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und sah fern. Sie nahm den Artikel und las ihn. Dann starrte sie lange Zeit auf das Foto.

Als sie wieder zu mir aufblickte, hatte sie einen seltsamen Gesichtsausdruck, den ich vorher noch nie bei ihr gesehen hatte und auch nie wieder sehen würde. Schmerz vielleicht, Erschöpfung und eine uralte, zermürbende Angst. Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass sie Krebs hatte, dass ich sie innerhalb eines Jahres verlieren würde. Vielleicht hatte sie es bereits gewusst und wollte es mir nicht sagen, aber das glaubte ich nicht. Dieser Gesichtsausdruck, diese Angst in ihren Augen, galt Vivian.

Nach einer Weile sagte sie mit tonloser Stimme: »Vivian ist tot.« Dann legte sie den Zeitungsausschnitt weg, stand auf und verließ das Zimmer.

Ich hatte sie nie wieder danach gefragt.

Erst nach ihrem Tod war ich wütend geworden. Bei Weitem nicht auf Mom – sie war ein Teenager gewesen, als Viv verschwunden war, und es gab nicht viel, was sie hätte tun können. Aber was war mit allen anderen? Der Polizei? Den Nachbarn? Vivs Eltern? Warum hatte es keine landesweite Suche gegeben? Warum hatte man zugelassen, dass Viv sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand?

Der erste Mensch, den ich danach fragte, war Graham. Er war älter als ich und hatte mehr mitbekommen. »Grandma und Granddad waren damals geschieden«, erklärte er. »Als Viv verschwand, war Grandma alleinerziehend.«

»Ach ja? Und deshalb hat sie nicht nach ihrer Tochter gesucht? Und Grandad auch nicht?«

Graham zuckte die Achseln. »Grandma hatte nicht viel Geld. Und Mom hat mir erzählt, dass sie und Vivian ständig Streit hatten. Sie haben sich so gar nicht verstanden.«

Ich starrte ihn schockiert an. Wir saßen in Moms Wohnung, wo wir ihre Sachen in Kisten packten. Gerade hatten wir uns etwas zu essen geholt und machten eine Pause. »Das hat Mom gesagt? Mir hat sie nie etwas davon erzählt.«

Mein Bruder zuckte wieder die Achseln, während er sich an eine Kiste lehnte und auf seinem Smartphone scrollte. »Damals gab es noch kein Internet oder DNA-Tests. Wenn man eine vermisste Person finden wollte, musste man sich ins Auto setzen und durch die Gegend fahren, um sie zu suchen. Grandma konnte sich nicht freinehmen und nach Fell fahren. Und Grandad war bereits neu verheiratet. Ich glaube nicht, dass ihn seine alte Familie noch groß kümmerte.«

Das stimmte. Mom hatte kein gutes Verhältnis zu ihrem Vater gehabt, der die Familie ohne mit der Wimper zu zucken verlassen hatte. Sie war noch nicht mal zu seiner Beerdigung gegangen. »Und was ist mit der Polizei?«, fragte ich.

Graham ließ kurz sein Handy sinken und dachte darüber nach. »Tja, Viv war schon von zu Hause ausgezogen, und sie war zwanzig«, sagte er. »Wahrscheinlich dachte man, sie hätte sich einfach irgendwohin abgesetzt.« Er sah mich an. »Es ist dir wirklich wichtig, oder?«

»Ja, es interessiert mich. Man hat nicht mal ihre Leiche gefunden. Außerdem befinden wir uns nicht mehr im Jahr 1982. Inzwischen gibt es doch das Internet und DNA-Tests. Vielleicht kann man ja was machen.«

»Du?«

Ja, ich. Sonst schien es ja niemanden zu geben. Und nun, da Mom nicht mehr da war, konnte ich alles fragen, was ich wollte, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Mom hatte ihre Erinnerungen an Viv mit ins Grab genommen, und ich würde nie davon erfahren. Daher kam meine hilflose Wut. Die Therapeuten und Trauerbegleiter sagten, ich müsste diesen Groll gegen alle anderen verarbeiten. Aber meine Empörung darüber, dass die wahrscheinliche Entführung und Ermordung meiner Tante als etwas abgeschrieben wurde, das eben einfach passiert war, konnte ich nur verarbeiten, indem ich nach Fell fuhr. Und meine Antworten bekam.

Ich öffnete den anderen gescannten Artikel auf meinem Laptop. Er trug die simple Überschrift: VERMISSTES MÄDCHEN IMMER NOCH NICHT GEFUNDEN. Die Informationen waren skizzenhaft: Vivian war zwanzig, hatte drei Monate in Fell gewohnt, nachts im Sun Down Motel gearbeitet. Sie war zur Arbeit gegangen und irgendwann mitten in der Nacht verschwunden, hatte ihr Auto, ihre Handtasche, ihre persönlichen Sachen zurückgelassen. Ihre Mitbewohnerin, ein Mädchen namens Jenny Summers, sagte, Viv sei »ein nettes Mädchen, mit dem man gut auskam«. Sie wurde auch – von jemandem, dessen Name nicht genannt wurde – als »hübsch und lebhaft« beschrieben. Von einem festen Freund war nichts bekannt. Soweit die Leute wussten, hatte sie nichts mit Drogen, Alkohol oder Prostitution zu tun. Ihre Mutter – meine Großmutter – wurde mit den Worten zitiert, sie sei »krank vor Sorge«.

Ein schönes Mädchen, das verschwunden war.

Zu Fuß. Ohne Geld.

Vivian ist tot.

Vivians Fall hatte keine nationale oder auch nur über Fell hinausgehende Medienaufmerksamkeit bekommen. Die Lokalzeitungen von Fell waren bisher nicht digitalisiert worden – sie wurden immer noch in der städtischen Bibliothek physisch archiviert. Bei meiner Internetrecherche hatte ich nur True-Crime-Blogs und Postings von Schreibtischdetektiven gefunden. In keinem der Blogs oder Postings ging es um Vivian, aber in vielen ging es um Fell. Denn wie sich herausstellte, gab es in Fell mehr als nur einen ungelösten Mordfall. Gemessen an seiner Größe war es ein wahres Paradies für True-Crime-Fans.

Den zweiten Artikel hatte ich bei Moms persönlichen Sachen gefunden, als ich nach ihrem Tod ihre Kommode durchgesehen hatte. Er hatte in einem Briefumschlag ganz hinten in einer Schublade gesteckt. Der Umschlag war makellos weiß und neu. Darauf hatte in Moms sauberer Handschrift gestanden: Greville Street 27, Apartment C.

Vivs Adresse vielleicht? Der Artikel im Umschlag fiel schon beinahe auseinander, deshalb scannte ich ihn ein und speicherte ihn, wie auch den anderen, auf meinem Laptop.

Vivian ist tot.

Mom hatte keine Erinnerungen an ihre Schwester zugelassen, kein Gespräch über sie, und dennoch hatte sie den Artikel fünfunddreißig Jahre lang aufbewahrt, zusammen mit der Adresse. Sie hatte ihn sogar erst vor kurzer Zeit in einen neuen Umschlag gesteckt und die Adresse neu aufgeschrieben. Also hatte sie den Artikel zumindest noch einmal in der Hand gehabt, vielleicht hatte sie ihn auch erneut gelesen.

Viv war Wirklichkeit. Keine Gruselgeschichte, kein Schauermärchen. Sie war real gewesen, Moms Schwester – und als ich den makellos weißen Umschlag betrachtete, wusste ich irgendwie, dass sie Mom wichtig gewesen war, sogar sehr, und dass ich die Gelegenheit versäumt hatte zu verstehen, auf welche Weise.

Das war alles, was ich hatte: zwei Zeitungsartikel und die Erinnerung an einen tiefen Schmerz. Aber jetzt war noch etwas dazugekommen: ein bisschen Geld und eine sehr übersichtliche Landkarte von Illinois bis Fell, New York. Ich hatte die Adresse von Vivs Wohnung – vielleicht – und die vom Sun Down Motel. Ich hatte keinen Freund und eine College-Laufbahn, an der mir nichts lag. Ich hatte ein Auto und so wenige Habseligkeiten, dass sie alle auf dem Rücksitz Platz fanden. Ich war zwanzig, und mein Leben hatte immer noch nicht begonnen. Genau wie das von Vivian.

Also hatte ich das College sein lassen – was Graham völlig überbewertete –, mich ins Auto gesetzt und war losgefahren. Und hier war ich nun. Ich würde mich in der Stadt umsehen und in der Bibliothek die Artikel aus den Lokalzeitungen aufstöbern. Ich würde zum Sun Down Motel fahren und es mir ansehen – meine Internetrecherchen hatten ergeben, dass es noch immer in Betrieb war. Vielleicht hatte irgendjemand, der hier wohnte, Viv gekannt und erinnerte sich noch an sie, konnte mir irgendetwas über sie erzählen. Dann hätte ich vielleicht mehr von ihr als nur den vergilbten Zeitungsartikel aus der Schublade meiner Mutter. Ihr Verschwinden war unser großes Familiengeheimnis. Jetzt wollte ich aus erster Hand davon erfahren, und alles, was mich das kosten würde, waren ein paar Tage ohne College.

Versuch, dich nicht umbringen zu lassen. Das war typisch für meinen großen Bruder – wie immer wollte er mir Angst einjagen. Aber es würde nicht klappen. So leicht machte man mir keine Angst.

Doch als ich meinen Laptop zuklappte, musste ich die Bilder zurückdrängen: von jemandem, der dem Mädchen von dem Foto wehtat, sie packte, sie irgendwohin brachte, sich an ihr verging, sie tötete. Sie irgendwo in einer abgelegenen Gegend ablud, wo sie vielleicht immer noch lag. Vielleicht war sie nur noch Knochen. Vielleicht war dieser Jemand, wer auch immer es war, inzwischen ebenfalls tot. Oder im Gefängnis. Vielleicht auch nicht.

Vivian ist tot.

Es war nicht gerecht, dass Vivian vergessen worden war, reduziert auf ein paar Zeitungsartikel und sonst nichts. Es war nicht gerecht, dass Mom gestorben war und ihre Erinnerungen und ihren Kummer mit ins Grab genommen hatte. Es war nicht gerecht, dass Vivian allen egal war, außer mir.

Ich war in Fell. Ich gehörte nicht hierher. Ich hatte keine Ahnung, was ich hier tat.

Und trotzdem wartete ich schlaflos darauf, dass die Sonne aufging.

Fell, New York

August 1982

Viv

Sie war aus Versehen hier gelandet. Wegen einer Umleitung hatte ihr Bus in Pennsylvania gehalten, und um Geld zu sparen, war sie von dort aus getrampt. Bei der ersten Fahrt war sie nur bis nach Binghamton gekommen. Der zweite Fahrer hatte gesagt, dass er nach New York fuhr, aber nach einer Stunde merkte sie, dass die Richtung nicht stimmte.

»Wir fahren nicht nach New York«, sagte Viv zu dem Mann. »Wir fahren nach Upstate New York.«

»Tja«, sagte der Mann. Er war um die vierzig, trug ein blassgelbes Hemd mit Kragen und eine Anzughose. Er war glatt rasiert und hatte eine randlose Brille. »Du hättest dich klarer ausdrücken sollen. Als du New York gesagt hast, dachte ich, du meintest Upstate.«

Sie hatte es deutlich gesagt, das wusste sie. Aus dem Fenster sah sie die untergehende Sonne und fragte sich, wo er sie hinbrachte, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie wollte nicht unhöflich sein. Vielleicht war Freundlichkeit besser. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Sie können mich hier absetzen.«

»Sei nicht albern«, sagte der Mann. »Ich bringe dich nach Rochester, da kann ich dir wenigstens ein Essen ausgeben. Von dort aus kannst du den Bus nehmen.«

Viv lächelte, als hätte er ihr einen Gefallen getan, indem er sie in die falsche Richtung gefahren hatte. »Oh, das ist nicht nötig.«

»Natürlich ist es das.«

Sie fuhren auf einem zweispurigen Straßenabschnitt, und vor ihnen tauchte das Schild eines Motels auf. »Ich muss mir für die Nacht sowieso eine Unterkunft suchen«, sagte sie. »Ich bleibe einfach hier.«

»In diesem Motel? Das kommt mir zwielichtig vor.«

»Es ist bestimmt in Ordnung.« Als er nicht antwortete, sagte sie: »Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«

Ihre Kehle wurde trocken, als der Mann von der Straße abbog, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie hätte nicht sagen können, wovor sie Angst hatte, und warum sie so erleichtert war, als er tat, worum sie ihn gebeten hatte. Was hätte er sonst tun sollen?, tadelte sie sich selbst. Wahrscheinlich war er ein netter Mensch, und sie benahm sich lächerlich. Das kam daher, dass sie allein unterwegs war.

Trotzdem öffnete sie die Tür, sobald der Wagen angehalten hatte, und setzte einen Fuß auf den gekiesten Straßenrand. Erst dann drehte sie sich nach hinten, um ihre Tasche vom Rücksitz zu nehmen. Während sie ihm den Rücken zukehrte, hielt sie den Atem an.

Als sie endlich ihre Tasche nach vorne auf ihren Schoß gezerrt hatte, spürte sie etwas Warmes an ihrem Oberschenkel. Sie blickte herunter und sah, dass der Mann seine Hand daraufgelegt hatte.

»Du musst nicht«, sagte er.

In Vivians Kopf herrschte plötzlich Leere. Sie murmelte etwas, zog ihr Bein unter seiner Hand weg, stieg aus dem Auto und schlug die Tür zu. Die einzigen Worte, die sie herausbrachte, als das Auto losfuhr und der Mann sie nicht mehr hören konnte, waren »Danke« und »Entschuldigung«. Sie wusste nicht, warum sie das sagte. Sie wusste nur, dass sie an einer verlassenen Straße vor einem verlassenen Motel stand und dass ihr Herz so sehr klopfte, dass sie dachte, es würde zerspringen.

Zu Hause in Grisham, Illinois, war Viv das Problemkind. Seit der Scheidung ihrer Eltern vor fünf Jahren schien sie nie etwas richtig machen zu können. Während ihre jüngere Schwester sich an die Regeln hielt, tat Viv alles, was sie nicht durfte: Sie schwänzte den Unterricht, blieb abends lange weg, log ihre Mutter an, schummelte bei Tests. Sie wusste noch nicht einmal, warum das alles; eigentlich wollte sie es gar nicht. Manchmal hatte sie das Gefühl, im Körper einer anderen Person zu stecken, einer, die abwechselnd wütend und erschöpft war.

Aber sie tat all diese Dinge, die ihr Ärger einbrachten, die ihre Mutter wütend machten und sie beschämten. Eines Nachts, als sie dabei erwischt wurde, wie sie um zwei Uhr morgens nach Hause kam, hätte ihre in Panik geratene Mutter sie beinahe geschlagen. Du glaubst, du bist so verdammt schlau, hatte sie ihr ins Gesicht geschrien. Was würdest du machen, wenn du mal richtig in Schwierigkeiten gerätst?

Nun, da sie weit weg von zu Hause an einer einsamen Straße stand und die Rücklichter des Autos in der Ferne verschwinden sah, erinnerte sie sich an diese Worte. Was würdest du machen, wenn du mal richtig in Schwierigkeiten gerätst?

Der Augusthimmel färbte sich langsam rot, die untergehende Sonne blendete sie. Sie trug ein ärmelloses türkisfarbenes Top, Jeans mit einem weiß-silberfarbenen Gürtel und Tennisschuhe. Während sie sich ihre Tasche über die Schulter schwang, betrachtete sie das Reklameschild des Motels. Es war blau und gelb, und die Worte SUN DOWN bestanden aus altmodischen Buchstaben, wie man sie aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren kannte. Darunter stand eine Zeile, die wahrscheinlich nachts leuchtete: ZIMMER FREI. KABEL-TV!

Hinter dem Schild lag das Motel. Es war L-förmig, die kurze Seite parallel zur Straße. Es hatte ein Vordach und einen betonierten Fußweg entlang der Frontseite, von dem die Zimmer direkt abgingen. Ein unauffälliger Bau, dunkelbraun und schmutzig cremeweiß, die Art von Motel, an dem man vorbeifuhr, wenn man nicht unbedingt einen Ort zum Schlafen brauchte. An der Ecke des L führte eine Treppe zur oberen Ebene. Es stand nur ein einziges Auto auf dem Parkplatz, in der Nähe der Tür, an der REZEPTION stand.

Viv rieb sich die Stirn. Das Adrenalin, das gerade noch durch ihren Körper geströmt war, zog sich wieder zurück, sie war müde, und Rücken und Schultern taten ihr weh. Sie schwitzte unter den Achseln.

Ungefähr zwanzig Dollar Bargeld hatte sie noch. Dazu besaß sie ein Bankkonto mit den Ersparnissen von ihrem Job zu Hause, wo sie am Popcornstand eines Drive-ins gearbeitet hatte, und von ihrem bescheidenen Honorar für einen Model-Job bei einem lokalen Modekatalog. Einen Nachmittag lang hatte sie in acid-washed Jeans mit hoher Taille und einer blasslilafarbenen Bluse vor der Kamera gestanden, lächelnd, die Fingerspitzen in den Jeanstaschen.

Insgesamt betrugen ihre Ersparnisse vierhundertfünfundachtzig Dollar. Das Geld war für New York gedacht, für den Beginn ihres neuen Lebens. Sie durfte es nicht ausgeben, bevor sie überhaupt angekommen war. Aber wie bei bisher allem anderen auf dieser Reise hatte sie sich anscheinend auch hier verschätzt.

Das Motel sah nicht teuer aus. Für zwanzig Dollar würde sie vielleicht ein Bett und eine Dusche bekommen. Und wenn nicht, dann gab es vielleicht eine Möglichkeit, sich in eins der Zimmer zu schleichen. Es sah nicht so aus, als ob hier irgendjemand auf so etwas achten würde.

Vivian ging auf die Rezeption zu und ergriff den kalten Türknauf. Irgendwo weit weg in den Bäumen schrie ein Vogel. Die Straße war leer. Wenn der Typ da drinnen wie Norman Bates aussieht, sagte sie sich, dann drehe ich mich um und renne weg. Sie holte tief Luft und stieß die Tür auf.

Der Mann in dem Büro sah nicht aus wie Norman Bates – da war nicht einmal ein Mann. Eine Frau saß hinter einem alten Empfangstisch. Sie war um die dreißig, schlank und sportlich, mit braunen Haaren und Pferdeschwanz, und hatte ein scharf geschnittenes Gesicht. Sie trug ein ausgebeultes graues Sweatshirt, weite Jeans und schwere braune Stiefel, die Viv sehen konnte, weil sie sie auf die Tischplatte gelegt hatte. Sie las in einer Zeitschrift, blickte aber hoch, als die Tür aufging.

»Kann ich helfen?«, fragte sie, ohne ihre Füße vom Tisch zu nehmen.

Viv straffte die Schultern und schenkte der Frau ihr schönstes Katalog-Lächeln. »Hi«, sagte sie. »Ich hätte gerne ein Zimmer, aber ich habe nur zwanzig Dollar in bar. Wie teuer ist es, bitte?«

»Normalerweise dreißig«, sagte die Frau ohne zu zögern und ohne ihre Position zu verändern. Die Zeitschrift hielt sie immer noch auf Kinnhöhe. »Aber ich bin hier die Besitzerin, und es ist sonst niemand da, also werde ich zu zwanzig Mäusen nicht Nein sagen.«

Mit einem Gefühl des Triumphs legte Viv den Zwanzigdollarschein auf den Tisch. Und wartete.

Die Frau rührte sich immer noch nicht. Sie legte die Zeitschrift nicht weg und nahm auch das Geld nicht. Stattdessen musterte sie Viv von Kopf bis Fuß. »Bist du auf der Durchreise, Schätzchen?«

Die Frage erschien ihr unverfänglich. »Ja.«

»Wirklich? Ich habe kein Auto gehört.«

Viv zuckte in gespielter Arglosigkeit die Achseln. Die meisten Leute fielen auf diese Geste herein.

Die Frau schlug endlich ihre Zeitschrift zu und legte sie auf ihre jeansbekleideten Beine. »Bist du auf der Nummer sechs per Anhalter gefahren?«

»Nummer sechs?«, fragte Vivian irritiert.

»Die Straße Nummer sechs.« Die Frau runzelte die Stirn. »Wenn ich deine Mutter wäre, würde ich dir die Ohren lang ziehen. Auf der Road Six ist das Trampen gefährlich für ein einzelnes Mädchen.«

»Ich bin nicht getrampt. Meine Mitfahrgelegenheit hat mich nur hier abgesetzt. Er hat mich am Stadtrand von Binghamton mitgenommen. Ich wollte nach New York.«

»Tja, Schätzchen, das hier ist nicht New York. Sondern Fell. Du fährst in die falsche Richtung.«

»Ich weiß.« Viv wünschte, die Frau würde ihr einfach ein Zimmer geben. Sie musste unbedingt ihre schwere Tasche abstellen. Sie brauchte eine Dusche. Und etwas zu essen – auch wenn sie ohne die zwanzig Dollar nicht wusste, wie sie das bezahlen sollte. Sie zeigte auf das große Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag, offensichtlich ein Gästeregister. »Soll ich meinen Namen da reinschreiben?« Dann machte sich ihre Erziehung als Mädchen aus gutem Hause eines Vororts in Illinois bemerkbar, und sie sagte: »Ich kann Ihnen auch die dreißig Dollar bezahlen, wenn ich morgen zu einer Bank komme. Jetzt sind alle schon geschlossen.«

Die Frau schnaubte. Sie warf ihre Zeitschrift – Viv sah, dass es die People war, mit Tom Selleck auf dem Cover – auf den Tisch und nahm endlich die Füße herunter. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte sie. »Der Typ für die Nachtschicht hat gerade gekündigt. Bleib heute Nacht hier am Tisch und behalte deine zwanzig Mäuse.«

»Am Tisch bleiben?«

»Hier sitzen, ans Telefon gehen. Wenn ein Gast kommt, nimm das Geld und gib ihm einen Schlüssel. Die Schlüssel sind hier.« Sie öffnete die Schublade zu ihrer Rechten. »Gib ihm das Gästeregister, damit er sich einträgt. Das war’s. Was meinst du, schaffst du das?«

»Haben Sie niemanden sonst, der das übernehmen kann?«

»Ich habe doch gerade gesagt, dass der Typ von der Nachtschicht gekündigt hat, oder? Ich bin die Besitzerin, also muss ich es wissen. Entweder du sitzt die ganze Nacht an diesem Tisch, oder ich tue es. Ich weiß, was mir lieber wäre.«

Viv atmete tief durch. Die Arbeit selbst machte ihr nichts aus; zu Hause in Illinois hatte sie oft im Service gejobbt. Aber die Vorstellung, die ganze Nacht wach zu bleiben, gefiel ihr nicht besonders.

Andererseits würde sie dann ihre zwanzig Dollar behalten. Was bedeutete, dass sie etwas essen konnte.

Sie sah sich in dem Büro um, auf der Suche nach einem Zeichen, dass die Sache einen Haken hatte, aber sie sah nur leere Wände, einen Schreibtisch, ein paar Regale und das Fenster in der Bürotür. Von draußen drang das gedämpfte Geräusch eines vorbeifahrenden Autos herein, und der Himmel wurde dunkler. Überraschenderweise nahm Viv den schwachen Geruch von Zigarettenrauch wahr. Nicht alten, abgestandenen Rauch, der aus den Kleidern der Frau hätte kommen können, sondern frischen, beißenden. Jemand rauchte in der Nähe eine Zigarette.

Aus irgendeinem Grund beruhigte sie das ein wenig. Ganz offensichtlich war hier jemand, auch wenn sie niemanden sah.

»In Ordnung«, sagte sie, »ich übernehme die Nachtschicht.«

»Gut«, sagte die Frau, öffnete die Schreibtischschublade und warf einen Schlüssel auf den Tisch. »Zimmer 104 ist deins. Mach dich frisch, schlaf ein bisschen und komm um elf zu mir. Wie heißt du?«

Wieder dieser Geruch, als hätte der Raucher, wer auch immer es war, gerade einen Zug genommen und ausgeatmet. »Vivian Delaney. Viv.«

»Also, Viv«, sagte die Frau, »ich bin Janice. Das ist das Sun Down Motel. Sieht aus, als hättest du eine Bleibe gefunden.«

»Danke«, sagte Viv, aber Janice war schon wieder zu Tom Selleck zurückgekehrt und legte die Füße erneut auf den Tisch.

Sie nahm den Schlüssel und ihren Zwanziger, stieß die Tür auf und trat hinaus. Sie erwartete, da draußen irgendwo den Raucher zu sehen, vielleicht einen Gast, der eine Abendzigarette rauchte, aber da war niemand. Sie ging in einem großen Bogen über den gekiesten Parkplatz und sah sich um. Im schwindenden Licht der Dämmerung wirkte das Motel verlassen, in keinem der Zimmer brannte Licht. Die Bäume dahinter rauschten leise im Wind. Aus der nicht beleuchteten Ecke des Parkplatzes hörte sie das Knirschen von Schritten auf dem Kies.

»Hallo?«, rief Viv, die an den Mann dachte, der seine Hand auf ihr Bein gelegt hatte.

Nichts.

Sie stand in der zunehmenden Dunkelheit und lauschte auf den Wind und ihre eigenen Atemzüge.

Dann ging sie zu Zimmer 104, duschte und legte sich in ein Handtuch gewickelt ins Bett. Dort starrte sie an die Zimmerdecke, während sie die raue Bettdecke an ihren Schultern spürte, und lauschte auf Geräusche, die man normalerweise in Hotels hört – Schritte, Stimmen von Fremden, die draußen vorbeigingen. Menschliche Laute. Aber da waren keine. Da waren überhaupt keine Geräusche.

Was für ein Motel war das? Wenn es so verlassen war, warum wurde es dann nicht geschlossen? Und warum brauchten sie hier überhaupt einen Nachtportier? Der Manager des Drive-ins hatte um zehn Uhr alle Mitarbeiter nach Hause geschickt, weil er sie nicht länger bezahlen wollte.

Eigentlich wurde sie gar nicht richtig bezahlt. Trotzdem wäre es für Janice einfacher gewesen, das Licht auszumachen, die Rezeption abzuschließen und nach Hause zu gehen, anstatt jemanden zu suchen, der die ganze Nacht dort saß.

Ihr taten die Füße weh, und langsam entspannte sie sich. Einsam oder nicht, das hier war immer noch besser, als auf diesem dunklen Highway zu stehen und darauf zu warten, dass irgendein Fremder sie mitnahm. Sie hoffte, dass es im Sun Down irgendwo einen Snackautomaten gab, vorzugsweise einen, der Snickers-Riegel enthielt.

Der Mann in dem blassgelben Hemd hatte wie selbstverständlich seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt, als hätten sie eine Übereinkunft, weil sie in seinem Auto saß. Er hatte seine Finger sanft um die Innenseite gebogen, bevor sie ihr Bein weggezogen hatte. Wieder spürte sie dieses Flattern im Magen, diese Angst. Nie zuvor hatte sie eine solche Angst empfunden. Wut, ja – seit der Scheidung ihrer Eltern vor allem. Deshalb war sie häufig bis zum Nachmittag im Bett geblieben, was ihre Mutter jedes Mal zur Weißglut brachte.

Aber die Angst, die sie heute verspürt hatte, war tief und unerwartet gewesen, beinahe wie ein betäubender Schlag. Zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr klar geworden, wie verletzlich sie war. Wie schnell alles vorbei sein konnte. Vivian Delaney konnte verschwinden. Dann würde sie einfach fort sein.

Ich habe Angst, dachte sie.

Und dann: Dies scheint der richtige Ort dafür zu sein.

Bevor sie einen anderen Gedanken fassen konnte, war sie eingeschlafen.

Fell, New York

November 2017

Carly

Die Greville Street bestand aus nur wenigen Wohnblocks, niedrige Apartmenthäuser in einer Sackgasse, die an einem verbogenen Maschendrahtzaun endete. Die Gebäude sahen aus wie Bauklötze, Kästen aus Beton mit Kunststoffverschalung, wie sie schon seit ungefähr 1971 nicht mehr in Mode waren. Ich fuhr langsam an den kurzen, breiten Zufahrtswegen der Häuser vorbei, auf der Suche nach der Hausnummer 27.

Als ich neben einem dunkelgrauen Volvo mit abgerundetem Heck und abgefahrenen Reifen parkte, fühlte ich mich ein bisschen wie eine Zeitreisende. Ich war hierhergekommen, um zu sehen, wo meine Tante gelebt hatte, vielleicht einen Blick auf das Leben zu erhaschen, das sie geführt hatte, aber ich hatte nicht damit gerechnet, in eine Straße zu gelangen, die beinahe noch genauso aussah wie 1982. Wenn die Adresse stimmte, hatte Viv genau da gestanden, wo ich jetzt stand, und denselben Blick gehabt.

Es war niemand in der Nähe, außer zwei Kindern, die auf ihren Fahrrädern die Straße auf und ab fuhren, klingelten und lachten. Ich ging zur Eingangstür von Nummer 27, und als ich feststellte, dass sie nicht abgeschlossen war, trat ich ein.

In dem kurzen Hausflur sah ich die Briefkästen der Mieter und ein paar Treppenstufen. Auf dem Briefkasten von Apartment C stand H. ATKINS. Ich hatte gerade den Kopf ins Treppenhaus gesteckt, hinaufgeschaut und mich gefragt, wie ich es anstellen sollte, dass man mich nicht für eine Stalkerin hielt, als ein Mädchen auf dem oberen Treppenabsatz auftauchte.

Sie war ungefähr in meinem Alter, von kleiner, drahtiger Statur und mit dunkelblondem, glattem Haar, das ihr bis zum Kinn reichte. Eine einzelne Haarklammer hielt ihr die vorderste Haarsträhne aus der Stirn, und sie hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht und einen offenen, intelligenten Blick. Sie trug einen Strick-Poncho, eigentlich nur ein Viereck mit einem Loch über den Schultern, in dem ihr Kopf steckte.

»Bist du wegen der Anzeige hier?«, fragte sie.

»Ich …«

»Mitbewohnerin für Apartment C. Es hat sich nur eine Person gemeldet.«

Bei diesen Worten horchte ich auf. »Apartment C?«

»Genau. Komm rauf.«

Es kam gar nicht infrage, wieder zu gehen.

Stattdessen folgte ich dem Poncho-Mädchen die restlichen Stufen hinauf und durch eine Tür. Die Wohnung war erstaunlich groß, mit einer Küche mit Linoleum-Boden, einem Fernsehzimmer und einem Schlafzimmer an jeder Seite des Flurs.

»Ich bin Heather«, sagte das Poncho-Mädchen, während es die Tür hinter mir schloss, und streckte unter den Wollschichten die Hand aus. Es war eine zarte Hand, weiß wie Porzellan, und als ich sie ergriff, fröstelte ich ein wenig.

»Carly«, sagte ich.

»Komm, ich zeig dir alles.«

Im Handumdrehen waren zehn Minuten vergangen, und ich hatte jedes Zimmer gesehen. Ich wusste, dass das Warmwasser spärlich floss, der WLAN-Empfang unzuverlässig war und die Miete zweihundert Dollar betrug. Und ich wusste, dass ich mich ziemlich unfair verhielt, weil ich Heather immer noch nicht die Wahrheit gesagt hatte.

»Zweihundert Dollar im Monat ist nicht sehr viel«, stellte ich fest.

Heather rieb sich den Nacken. Sie hatte schwachviolette Ringe unter den Augen, als ob sie sehr müde wäre, strahlte aber gleichzeitig eine Vitalität aus, die man kaum übersehen konnte. »Okay, ich kann nicht lügen«, sprudelte es aus ihr hervor. »Ich brauche das Geld eigentlich gar nicht. Mein Vater bezahlt die Wohnung, solange ich in Fell bin.«

»In Fell?«

»Am Fell College«, erklärte sie. »Ich weiß, es ist verrückt. Eine Studentin, die aus Fell kommt und hier aufs College geht, zieht in eine Wohnung, die ihre Eltern bezahlen. Oder?« Sie reckte das Kinn, als erwarte sie von mir eine Antwort, redete aber weiter und gab mir keine Gelegenheit dazu. »Diese Erfahrung muss ich machen, finden meine Erziehungsberechtigten. Mich selbst versorgen und alleine zurechtkommen, so was in der Art. Und es gefällt mir, wirklich. Aber ich bin die ganze Zeit alleine, und man hört hier komische Geräusche. Und ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Ich bin eine Nachteule und schlafe oft nicht. Deshalb suche ich eine Mitbewohnerin. Einfach, damit ich jemanden um mich habe. Es geht eigentlich nicht um das Geld. Verstehst du?«

»Okay«, sagte ich, denn sie schien wirklich nett zu sein. »Vom Fell College hab ich noch nie gehört.«

»Das geht allen so«, sagte Heather und zuckte unter ihrem Poncho mit den Schultern. »Es ist nur regional bekannt, kein College im üblichen Sinne. Niemand kennt es, und nur wir Einheimischen gehen da hin. Das gibt uns das Gefühl von Studentenleben, ohne dass wir die Stadt verlassen müssen.«

»Geht es beim College nicht vor allem darum, die Stadt zu verlassen?«

»Beim College geht es darum, aufs College zu gehen«, sagte Heather mit unbestechlicher Logik. »Und es überrascht mich, dass du keine von uns bist. Ich hab dich für eine Kommilitonin gehalten.«

Ich schaute an mir hinunter. Alte Jeans, abgetragene Schnürstiefel, ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift BOOKS ARE MY LIFE unter einer ausgeleierten Sweatshirtjacke. Dazu eine Umhängetasche, eine schwarze Brille, ein Pferdeschwanz – ich war das wandelnde Klischee. »Ich bin tatsächlich Studentin. Aber nicht am Fell College. Ich bin …« Ich blickte mich um und räusperte mich. »Okay, ich kann auch nicht lügen. Ich bin eigentlich gar nicht wegen der Wohngemeinschaft hier. Das war ein Missverständnis.«

Heather machte große Augen. »Warum bist du dann hier?«

»Ähm, weil ich Wohnblöcke in finsterer Sowjetarchitektur mag?«

Sie klatschte in die Hände, sodass der Poncho in Bewegung geriet. Ihre Augen leuchteten. »Du gefällst mir! Also gut. Erzähl mir, warum du wirklich hier bist. Jedes Detail.« Einen Moment schloss sie fest die Augen, dann öffnete sie sie wieder. »Du versuchst, über deinen Ex-Freund hinwegzukommen. In Apartment B hat ein Typ gewohnt, der nicht schlecht aussah, aber der ist letzte Woche ausgezogen.«

»Nein«, sagte ich. »Kein Ex-Freund.«

»Verflixt. Also gut. Du studierst Archäologie und hast bei einer Ausgrabung eine Karte gefunden, die dich hierhergeführt hat. Jetzt willst du herausfinden, warum.«

Ich starrte sie an. »Das ist tatsächlich schon ziemlich nah dran, aber meine Gründe sind noch verrückter.«

»Ich liebe das Verrückte«, sagte Heather.

Wieder musterte ich sie fassungslos, denn sie schien es ernst zu meinen. Niemand in Illinois liebte das Verrückte. Zumindest niemand, den ich kannte.

»Ich glaube, meine Tante hat hier gewohnt«, erklärte ich ihr. »Sie ist 1982 verschwunden. Meine Mutter ist gestorben und hat mir nie von ihr erzählt, und ich habe das College abgebrochen und bin hier, um herauszufinden, was passiert ist.« Was ich sagte, klang nicht dumm. In dieser Wohnung, vor diesem besonderen Mädchen, klang es überhaupt nicht dumm.

Heather zuckte nicht mal mit der Wimper. »Hm, 1982«, sagte sie nachdenklich. »Wie war ihr Name?«

»Viv Delaney.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das sagt mir nichts. Aber andererseits sind es auch so viele.«

»Viele was?«

»Tote Mädchen. Es gibt eine Menge. Aber du hast nicht gesagt, dass sie tot ist, oder? Sie ist verschwunden.«

»Äh … ja.«

»Und sie hat hier gelebt, in dieser Wohnung?« Heather sah sich in dem Apartment um, als versuche sie, ebenso wie ich, sich das bildlich vorzustellen.

»Ja, das glaube ich.«

»Hast du die alten Mieterverzeichnisse gesehen?«

»Glaubst du, das wäre möglich?«

Heather sah mich nachdenklich an. »Der Vermieter ist ein Freund meines Vaters. Ich könnte ihn fragen, ob er noch Unterlagen von 1982 hat. Und in den Archiven der Bibliothek von Fell könnte es auch etwas geben. Dort ist nie etwas digitalisiert worden. Hier ist die Zeit stehen geblieben.«

»Ich suche Leute, die meine Tante vielleicht gekannt haben«, sagte ich. »Ich weiß den Namen ihrer Mitbewohnerin. Laut Google könnte es sein, dass sie noch in der Stadt lebt. Ich möchte sie finden und mit ihr reden. Und meine Tante hat im Sun Down Motel gearbeitet. Vielleicht erinnert sich dort jemand an sie.«

Heather nickte, als wäre das alles das Normalste der Welt. »Ich kann dir helfen. Ich habe mein ganzes Leben in Fell gelebt. True Crime ist eine Art Hobby von mir.«

Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. »Von mir auch!«

Ihr Lächeln war etwas schief, aber es gefiel mir. »Mensch, damit ist die Sache klar. Meinst du nicht?«

»Was ist klar?«

»Ich denke, du solltest hier einziehen«, sagte sie. »Das ist Schicksal. Du wohnst hier, so lange du willst, und ich helfe dir, deine Tante zu suchen.«

Fell, New York

November 2017

Carly

Wie sich herausstellte, hatte Heather nicht übertrieben, als sie sagte, sie wüsste eine Menge über Fell. »Mein Vater ist ein Kauz«, erklärte sie mir schlicht. »Seine Vorstellung von Urlaub ist die, in Freilichtmuseen herumzulaufen. Er ist ein richtiger Nerd, wenn es um Geschichte geht. Deshalb habe ich in meiner Kindheit viel über die Geschichte dieser Gegend gelernt. Kauzig zu sein liegt bei uns in der Familie.«

Stunden waren vergangen, und wir waren wieder in Apartment C. Ich hatte meine Sachen aus dem Hotel geholt und in das zweite Schlafzimmer gebracht. Wir hatten uns Pizza bestellt, und obwohl es noch früh am Abend war, wurde es draußen bereits dunkel. Ich saß auf dem Sofa und Heather lag mit dem Rücken auf dem Boden, immer noch in ihren Poncho gewickelt. Sie hatte vor Jahren einen Fahrradunfall gehabt und seitdem ständig Rückenschmerzen. »Ein Wirbel drückt auf den darunterliegenden«, war ihre Erklärung. »Sie sagen, dass ich operiert werden muss, aber das geht nicht. Dazu bin ich zu neurotisch.«

Da ich das Regalbrett voller verschreibungspflichtiger Medikamente gesehen hatte, als ich meine Sachen ins Bad gebracht hatte, sagte ich nichts dazu.

»Es geht um das Jahr 1982«, erinnerte ich sie, während ich ein Stück Teigrand zurück in den Pizzakarton legte. »Alte Festungen und Kanonen interessieren mich nicht.«

»Ha, ha«, kam es vom Fußboden her. Heather hatte die Knie angezogen und die Füße aufgestellt. Ihre weiße Hand lag auf ihrem Bauch, während sie an die Decke starrte. »In Fell gibt es gar keine Festungen und Kanonen. Es ist eine seltsame Gegend. Ein bisschen morbide, genau wie ich.«

»Ich habe ein paar Dinge im Internet gelesen. Hier gibt es ein paar ungelöste Mordfälle.«

»Ja, jede Menge. Nicht nur unaufgeklärte Morde, sondern auch aufgeklärte. Ich kenne die Statistik nicht, aber bei unserer geringen Einwohnerzahl haben wir wahrscheinlich die höchste Pro-Kopf-Rate im ganzen Land. Oder wenigstens im Bundesstaat New York.« Sie hob eine Hand, damit ich ein Stück Pizza darauflegte. »Ich kann es nicht erklären. Es ist einfach ein verrückter Ort. Erzähl mir von deiner Tante.«

Ich erzählte ihr von Viv und wie sie mitten in der Nacht aus dem Sun Down Motel verschwunden war. Dann gab ich ihr die beiden Zeitungsartikel.

»Hmm«, machte Heather, während sie die Texte überflog. »Kein Freund, keine Drogen. ›Hübsch und lebhaft‹, puh. Wenn die Mitbewohnerin noch in Fell wohnt, können wir sie im Telefonbuch finden.« Sie gab mir die Artikel zurück und starrte wieder an die Decke. »Also hat sie nachts gearbeitet und ist verschwunden. Du wärst erstaunt zu hören, wie viele Leute das tun – sich einfach in Luft auflösen. Sie lassen die Tür offen, das Essen auf dem Tisch, die Schuhe im Flur stehen. Man kann es kaum glauben, aber es ist so.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Meinst du, die Polizei lässt mich ihre Akten durchsehen?«

»Keine Ahnung, aber bei einem so alten Fall ist wahrscheinlich alles möglich. Ein paar Internet-Detektive haben mal vergeblich versucht, Unterlagen von der Polizei in Fell zu bekommen, aber bei dir ist das was anderes. Du bist eine Angehörige des Opfers.«

»Willst du mal Kriminalpolizistin werden?«, fragte ich.

Heather lachte. »Kaum. Dazu bin ich zu ängstlich. Nein, ich studiere Mediävistik. Das passt deutlich besser zu mir.«

»Im College von Fell kann man Mediävistik studieren?«

»Das ist praktisch das Einzige, was man dort studieren kann. Der offizielle Name lautet Fell College of Classical Education. Griechische Literatur, Latein, klassische Kunst und Bildhauerei, russische Literatur, solche Dinge. Es ist ein kleines privates College, das einer der reichsten Bürger Fells vor hundert Jahren als Prestigeobjekt gegründet hat. Wir sind nur dreihundert Studenten. Ich habe noch nie erlebt, dass in einem Kurs mehr als zehn Leute saßen.«

»Kann man dort einen Abschluss machen?«

»Was glaubst du denn!«, sagte Heather amüsiert. »Nur was genau fängt man mit einem Abschluss in Mediävistik an? Nützlichkeit ist nicht gerade die Stärke des Fell College. Du solltest dich dort einschreiben. Mir gefällt es.«

»Ich habe bisher Wirtschaftswissenschaften studiert«, sagte ich.

»Carly.« Sie klang so schockiert, als hätte ich ihr erzählt, ich ließe mich zum Pornostar ausbilden. »Du kannst doch nicht Seminare in Wirtschaft belegen! Du bist ein Fell-Mädchen. Das weiß ich.«

Ich reichte ihr noch ein Stück Pizza. Obwohl sie in ihrem Poncho ziemlich dünn aussah, konnte sie Unmengen davon verdrücken. »Die Geschichte dieser Stadt«, erinnerte ich sie.

»Okay«, sagte sie und ließ ihr Pizzastück sinken. »Das Sun Down Motel. Lass mich nachdenken. Es gab eine Zeit Anfang der Siebziger, da dachten die Leute, Fell würde sich zum Touristenziel entwickeln, obwohl es hier weder Seen noch Berge noch sonst irgendwas zu sehen gibt. Man plante einen großen Vergnügungspark, der jedes Jahr Tausende von Menschen anziehen sollte, deshalb wurden ein paar Betriebe aufgebaut – das Sun Down Motel, einige weitere Motels, Eisdielen und Restaurants. Dann scheiterte die Sache mit dem Vergnügungspark, und nichts davon wurde gebraucht. Die meisten dieser Unternehmen gibt es nicht mehr, aber das Sun Down ist noch da.«

»Und immer noch in Betrieb, stimmt’s?«

»Es ist ziemlich berüchtigt«, gab sie zu. »Vielleicht lebt es nur von Drogendealern und solchen Leuten. Keine Ahnung. An der Highschool gab es ein paar Schüler, die dort an den Wochenenden zum Saufen hinfuhren, aber meine Eltern sind so zimperlich, dass sie mir das nie erlaubt haben.«

Auf dem Sofa zog ich meinen Laptop zu mir und öffnete ihn. In meinem Kopf arbeitete es.

»Man sagt, dass es dort spukt«, sagte Heather.

»Wirklich?«, fragte ich überrascht.

»Ja, natürlich«, sagte Heather. »Spukt es seit Shining nicht in jedem Hotel? Ich wette, es sind dort Menschen gestorben.«

Ich betrachtete die Fell-Karte auf Google Maps, mit einem Fähnchen an der Stelle, wo sich das Sun Down befand. Wenn es aus den Siebzigerjahren stammte, war es 1982 noch relativ neu gewesen. War es damals schon so zwielichtig gewesen? Ein Spukhotel?

Außer bei Grahams dummen Geschichten oder irgendwelchen Gruselfilmen hatte ich nie über Geister nachgedacht und darüber, ob es sie gab. Aber nun, da ich in der Wohnung saß, wo meine Tante vor ihrem Verschwinden gewohnt hatte … nun tat ich es. Ich dachte an Geister und überlegte, ob Viv hier irgendwo war, durch das Fenster schaute oder im Flur stand und uns beobachtete. Würde sie zurückkommen, falls sie ermordet worden war? An diesen Ort oder irgendeinen anderen? Wenn jeder verschwundene Mensch zurückkäme, wäre dann die Welt nicht voller Geister?

Ich rieb mir unter meinen Brillengläsern die Augen und sagte: »Heather, bist du müde?«

Vom Boden her kam ein Seufzen. »Ich bin nie müde. Ich habe dir doch erzählt, dass ich unter Schlaflosigkeit leide.«

»Musst du noch lernen oder so?«

»Ich habe mein Lehrbuch schon zweimal gelesen. Irgendwas muss man ja lesen.«

Ich lächelte. »Tja, wenn man nicht lernen muss, könnte man doch zum Sun Down Motel fahren?«

Heathers Kopf tauchte hinter dem alten Couchtisch auf. »Meinst du wirklich?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was mich dort erwartet, aber jetzt bin ich schon so weit gefahren, also kommt es darauf auch nicht mehr an, und warum dann nicht jetzt gleich?«

Wie ich es erwartet hatte, strahlte sie. »Man wäre hocherfreut.«

Ich klappte meinen Laptop zu. »Gehen wir.«

Fell, New York

September 1982

Viv

Eigentlich wollte sie gar nicht in Fell bleiben, aber irgendwie tat sie es dann doch. Sie arbeitete eine weitere Nacht im Sun Down, dann noch eine. Janice gab ihr etwas Geld dafür, und Viv fand in der Greville Street eine preiswerte Wohnung mit einer Mitbewohnerin namens Jenny, einem jungen Mädchen mit aschblondem Haar und einem Stufenschnitt wie Heather Locklear. Jenny war Nachtschwester in einem Pflegeheim und hatte dieselben Arbeitszeiten wie Viv. Sie war erschöpft, nach einer schlimmen Trennung Single, und absolut nicht neugierig. Die beiden Mädchen kamen und gingen, schliefen den ganzen Tag und arbeiteten in der Nacht.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Jenny eines Abends, während sie das Eisen einstellte, um eine Bluse zu bügeln. »Du warst auf dem Weg nach New York City. Warum bist du nicht weitergefahren?«

Viv, die sich zum Lesen an den Küchentresen gelehnt hatte, blätterte in ihrem People-Magazin eine Seite um. »Ich wollte gar nicht unbedingt nach New York«, sagte sie. »Das habe ich nur meiner Mutter erzählt. Ich wollte einfach nur von zu Hause weg.«

»Das verstehe ich«, sagte Jenny und überprüfte vorsichtig mit einer angefeuchteten Fingerkuppe, ob das Bügeleisen heiß genug war. »Aber wir sind hier in Fell. Hier will niemand hin. Ich meine, du weißt schon. Die Leute ziehen weg.«

»Du nicht«, stellte Viv fest.