Zimtschnecken zum Frühstück - Sara Molin - E-Book
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Zimtschnecken zum Frühstück E-Book

Sara Molin

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Beschreibung

Clara ist Lehrerin aus Leidenschaft. Doch Schüler und Kollegen machen ihr das Leben schwer. Nachdem ihr Freund Klas sie dann auch noch für eine andere verlässt, steckt sie in einer tiefen Krise. Ihre Schwester Paulina und die verschrobenen Eltern sind ihr dabei keine Hilfe. Doch dann lernt sie Paulinas neuen Freund Marcus kennen, einen belesenen Barkeeper, der sie mit seinem klaren Blick auf die Menschen und seinen humorvollen Fragen nach dem Sinn ihres Lebens völlig durcheinanderbringt. Als dann noch ihre Jugendliebe Jonathan aufkreuzt, der jahrelang im Ausland war und sich nun plötzlich um sie bemüht, ist das Chaos perfekt. Wer ist der Richtige? Und darf man sich in den Freund der kleinen Schwester verlieben?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Zum Buch

Clara ist Lehrerin aus Leidenschaft. Doch Schüler und Kollegen machen ihr das Leben schwer. Nachdem ihr Freund Klas sie dann auch noch für eine andere verlässt, steckt sie in einer tiefen Krise. Ihre Schwester Paulina und die verschrobenen Eltern sind ihr dabei keine Hilfe. Doch dann lernt sie Paulinas neuen Freund Marcus kennen, einen belesenen Barkeeper, der sie mit seinem klaren Blick auf die Menschen und seinen humorvollen Fragen nach dem Sinn ihres Lebens völlig durcheinanderbringt. Als dann noch ihre Jugendliebe Jonathan aufkreuzt, der jahrelang im Ausland war und sich nun plötzlich um sie bemüht, ist das Chaos perfekt. Wer ist der Richtige? Und darf man sich in den Freund der kleinen Schwester verlieben?

Zur Autorin

Sara Molin, geboren 1983, lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Sollentuna, einer Kleinstadt in der Nähe von Stockholm. Sie ist Gymnasiallehrerin für Schwedisch und verbindet ihren Beruf mit ihrer Liebe zu Büchern und zum Schreiben. Diese beiden Leidenschaften verfolgt sie schon seit ihrer Kindheit, und nachdem sie zusammen mit ihrer Schwester ein Drehbuch geschrieben hatte, wagte sie sich endlich auch an einen Roman. »Zimtschnecken zum Frühstück« ist ihr erstes Buch im Diana Verlag.

SARA MOLIN

Roman

Aus dem Schwedischen von Sabine Thiele

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Das den folgenden Kapiteln vorangestellte Zitat kann als Destillat des nachfolgenden Textes gelesen werden.

Deutsche Erstausgabe 07/2022

Copyright © 2020 by Sara Molin

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Som en öppen bok bei Norstedts, Stockholm.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag, Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Julie Hübner

Umschlaggestaltung: das verlagsatelier ROMY POHL, Landsberg am Lech

Umschlagmotive: © Shutterstock.com (IhorZigor; peaze)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-27461-0V002

www.diana-verlag.de

Zwar bin ich selbstlos von Natur und denke zuerst an das Glück der anderen, aber es gibt ja Grenzen.

Merri Vik, Ja, ja, unsere Lotta!

Eins

Angeblich bereut man nur das, was man nicht getan hat.

Doch das stimmt nicht. Ich bereue, dass ich drei Stunden meines Lebens auf ein Treffen mit Klas verschwendet habe. Ich bereue auch, diesem Treffen zwei Jahre nach unserer Trennung überhaupt zugestimmt zu haben. Wir haben gerade mal gegessen, und ich koche innerlich bereits vor Wut.

»Toll, dass du so kurzfristig Zeit hattest, Clara. Ich würde dir gern Feedback zu ein paar Sachen geben, was dir sicher auch helfen wird.«

Mein Exfreund spricht in geschäftsmäßigem Ton. Wir sitzen einander im Pub O’Learys gegenüber, es ist Freitagabend, und ich verstehe ihn kaum, weil es so laut ist.

»Feedback? Wie spannend.«

Das ist es tatsächlich. Während der drei Jahre, die Klas und ich zusammen waren, las er insgesamt fünf meiner Gedichte, nachdem er sie unbedingt hatte sehen wollen. Als ich ihn dann nach seiner Meinung fragte, bat er um etwas mehr Bedenkzeit, um mir dann später eine vernünftige Antwort geben zu können. Super, dachte ich, nachdem ich es bis dahin nie gewagt hatte, jemandem meine Arbeiten zu zeigen. Und jetzt sitzen wir hier, drei Jahre später. Meine Poesie muss ihn ja komplett umgehauen haben.

Als Klas mir eine Nachricht schrieb und mich treffen wollte, glaubte ich zuerst, dass er es noch einmal mit uns versuchen wollte. Auch wenn ich zwiespältig war, sagte ich zu. Mein Leben ist nicht gerade reich an aufregenden Liebesgeschichten, geschweige denn an geglückten Beziehungen. Ein Date mit meinem Ex erschien mir da verlockender, als zu Hause zu sitzen und mich in Arbeit zu vergraben.

Auch wenn besagter Ex mit einer jungen, schlanken Frau zusammenlebt, mit der er außerdem nur ein Jahr nach der Trennung von mir ein Kind bekommen hat.

Klas trinkt ein paar große Schlucke von seinem Bier, als ob er seinen ganzen Mut zusammennehmen müsse, und holt sein Handy aus der Tasche. »Ich habe mir ein paar Notizen gemacht«, erklärt er. Verzückt setze ich mich aufrechter hin und nippe an meinem Weinglas.

»Erstens: Das ständige Ausmisten in der Küche.«

Ich senke das Glas und denke hektisch nach. Den Titel kenne ich gar nicht. Hat Klas vielleicht irgendetwas in meine Gedichte hineininterpretiert, existenzielle Fragen und den Wechsel der Jahreszeiten zum Beispiel?

»Sag mehr dazu«, bitte ich ihn.

»Muss ich das, Clara?« Klas neigt den Kopf und lässt seine Worte klingen, als würde ich mich komisch benehmen. »Mindestens einmal in der Woche bist du wie verrückt durch den Kühlschrank und die Speisekammer gefegt. Ein Mindesthaltbarkeitsdatum ist nicht gesetzlich verpflichtend, weißt du, und einen Schokoriegel kann man auch noch essen, wenn er vor einer Woche abgelaufen ist.«

»Moment mal.« Ich hebe die Hände und merke, dass ich mit meiner mahnenden Lehrerinnenstimme spreche. »Ja, ich habe ab und zu abgelaufene Sachen weggeworfen, weil es sonst ja niemand gemacht hat. Worum geht es hier eigentlich? Trauerst du einem Schokoriegel nach?«

»Der ist eine Metapher.« Klas’ Gesicht ist gerötet, und es wird immer klarer, dass er mich nicht hergebeten hat, um mich eventuell zurückzugewinnen. »Ich habe viel nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich dir ein Feedback geben muss. Damit du nicht dieselben Fehler noch einmal machst, falls du irgendwann einen neuen Freund haben solltest. Willst du das jetzt also hören oder nicht?«

Öhm. Ob ich eine Auflistung meiner Fehler hören möchte, die mir ein Mann unter die Nase reibt, der nicht einmal weiß, was eine Metapher ist?

Ich bin so sprachlos, dass Klas mein Schweigen als stummes Flehen interpretiert, doch bitte mehr Gründe zu hören, warum Clara eine unerträgliche Partnerin ist.

»Ein Mann will sich in seinem Zuhause entspannen können, das will ich damit sagen. Nach einem harten Arbeitstag will man nach Hause kommen und wissen, dass das Bier im Kühlschrank wartet und nicht von einer überspannten Freundin in den Ausguss gekippt worden ist.«

Dazu muss ich anmerken, dass Klas von seinen Freunden Party-Klas genannt wird. Er ist offen, sympathisch und unkompliziert – ein echter Partytyp, den man gern um sich hat. Das hier ist wirklich eine ganz neue Seite an ihm. Als wir noch zusammen waren, klang er überhaupt nicht wie ein Briefkastenonkel aus dem neunzehnten Jahrhundert. Irgendetwas muss in seinem Leben passiert sein.

»Vielen Dank für den Hinweis, sehr aufmerksam«, sage ich.

Klas nickt gnädig und scheint meinen Sarkasmus nicht wahrzunehmen.

»Zweitens«, er blickt wieder auf sein Handy, »der Fortpflanzungswahn.«

Er verstummt und lässt das Wort für sich selbst sprechen.

»Noch mal zurück zu dem Schokoriegel«, erwidere ich. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du den jemals erwähnt hättest, als wir noch zusammengewohnt haben. Geschweige denn, dass du mir dein Missfallen mitgeteilt hast, dass ich schimmeliges Essen wegschmeiße. Warum kommst du jetzt damit an?«

»Ich habe ein Buch gelesen, Hilf dir selbst.« Klas sieht stolz aus. Er trinkt von seinem Bier und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Danach sieht man die Dinge wirklich in einem ganz neuen Licht, wie zum Beispiel gescheiterte Beziehungen. Das Buch hilft einem, Abstand zu gewinnen und sich von dem zu lösen, was nicht gut war. Und man wird darin bestärkt, dem früheren Partner eine sachliche Rückmeldung zu geben, quasi wie ein Geschenk.«

»Sachlich« findest auch nur du das Ganze, denke ich. Der Grund dafür, dass ich hier meinen Freitagnachmittag damit verbringe, in Grund und Boden gestampft und gedemütigt zu werden, ist also ein Selbsthilfe-Bestseller, der von einem früheren Dokusoap-Sternchen geschrieben wurde und dessen Titel wie eine Aufforderung zum Masturbieren klingt.

»Danke für dein Geschenk«, antworte ich kühl. »Wie umfangreich ist es denn, also in Minuten gemessen?« Ich lasse den Blick durchs Pub schweifen und sehe neidisch zu den anderen Gästen, die lachen und Spaß haben. Vielleicht habe ich ja Glück, und ich kenne hier drin jemanden, der mich retten kann. Eine Nachbarin, eine Verkäuferin aus meinem Stammsupermarkt … Sogar mit den Eltern meiner Schüler würde ich mich jetzt abgeben.

»Insgesamt sind es zwölf Punkte.« Als Klas meine aufgerissenen Augen sieht, fügt er hastig hinzu: »Der letzte Punkt ist kurz. Den habe ich eigentlich nur aufgeschrieben, weil zwölf eine schönere Zahl ist als elf. Du weißt schon, zwölf Monate, zwölf Stunden … Hm, da war doch noch mehr …«

»Jesus und seine zwölf Jünger?«

»Das passt super! Siehst du, da liege ich ja richtig.«

Nein, Klas, nichts von dem Ganzen hier ist super. Und wenn du hier richtigliegst, ist auch Donald Trump der beste Mann, um das mächtigste Land der Welt zu führen.

Ich stelle das Glas auf den Tisch. Der Wein schmeckt sauer, und ich bin auf einmal unbeschreiblich müde. Ob ich Klas bitten kann, mir die Liste einfach zu mailen, und dann fahre ich nach Hause und schlafe? Ich sehe ihn an, und mir wird klar, dass er wirklich glaubt, mir etwas Gutes zu tun. Dumme, pflichtschuldige Clara. Wenn ich doch Paulina wäre. Meine Schwester würde nicht hier sitzen und sich von einem Ex ungerechtfertigt abkanzeln lassen, nur um nett zu sein. Sie würde ihm ihren schicken Schuh in den Schritt rammen und zudrücken, und dann würde sie mit ihrem Leben weitermachen.

Da entdecke ich ihn. An einem der großen Ecktische am Fenster sitzt er, zusammen mit sechs, sieben anderen Männern. Mein Herz schlägt plötzlich schneller, als ich sein Lachen höre. Seine Haare sind goldblond und gewollt zerzaust, und seine Augen leuchten himmelblau bis hinüber zu dem unglückseligen Tisch, an dem Klas und ich sitzen. Er ist einfach perfekt.

Jonathan. Meine erste Liebe (nennt man das wirklich erste Liebe, wenn diese unerwidert blieb?). Ich war fünfzehn und so verliebt, dass mein Notendurchschnitt um einiges unter dem landete, was ich eigentlich hätte erreichen können. Oder besser gesagt, ich war fünfzehn, sechzehn, siebzehn und schließlich achtzehn, bis unsere Liebesgeschichte den Bach runterging, bevor sie überhaupt angefangen hatte.

Das ist jetzt vierzehn Jahre her. Jonathan war bis gerade eben in genauso weiter Ferne wie die Zeit der Dinosaurier – und jetzt sitzt er hier, leibhaftig! Mit seinen Lachgrübchen und isst Pommes frites. Party-Klas ist mittlerweile bei Punkt fünf angekommen, glaube ich – ich höre nur Bruchstücke, die nach einer Tirade über meine mangelnde Spontaneität klingen –, denn ich habe nur noch Augen für Jonathan. Als er aufsteht und in unsere Richtung kommt, atme ich so laut, dass das Personal eigentlich jede Sekunde mit einem Defibrillator herbeirennen müsste.

Ich fixiere ihn mit dem Blick und sehe hingerissen, wie er immer näher kommt.

Schau her, schau her, schau her.

Keine Ahnung, ob er das Flehen meines Herzens erhört hat oder ich einfach nur Glück habe. Jedenfalls dreht er sich im genau richtigen Augenblick in meine Richtung, unsere Blicke treffen sich, und in dem Moment verzeihe ich Klas alles.

Wenn das die Belohnung dafür ist, dass ich mir sein Feedback anhöre, ertrage ich mit Freuden noch zwölf weitere Punkte.

»Clara! Verdammt, das ist aber lange her!«

In meinem Gehirn blinkt und kreischt es. Er spricht mit dir. Mach etwas! Er spricht mit dir!

»Alles okay?«, fragt Jonathan. Er ist braun gebrannt. Wie kann man im März braun sein? Jonathan kann das natürlich. Seine goldene Haut ist ein Gottesgeschenk.

»Aber klar!«, sage ich ein wenig zu laut.

Erst jetzt merkt Klas, dass jemand an unserem Tisch steht. Er streckt die Hand aus und stellt sich vor.

»Jonathan und ich waren zusammen auf dem Gymnasium«, erkläre ich. Leider kann ich die Wahrheit nicht weiter verbiegen, wie gern ich auch sagen würde, dass wir Seelenverwandte sind.

»Und ich bin Claras Ex«, verkündet Klas. »Ich habe ihr gerade meine Gedanken zu …«

»Und selbst, Jonathan? Geht’s dir gut? Wow, du siehst echt super aus. Ich meine, du siehst aus, als ginge es dir gut«, plappere ich. »Sehr gut.«

Er lächelt sein wunderschönes Lächeln. »Ja, mir geht’s gut.« Er scheint zu überlegen, dann fährt er fort: »Ex, hast du gesagt? Dann ist es nicht unangemessen, wenn ich dich nach deiner Nummer frage?«

Ein schrilles Lachen entfährt mir. »Nein, überhaupt nicht!« Jonathan hat schon sein Handy griffbereit, und ich kann mich ausreichend zusammenreißen, um meine Nummer herunterzurattern.

»Cool. Ich melde mich!« Er zwinkert mir zu und geht weiter, zu den Toiletten.

Ich lege die Hand aufs Herz und lächele so breit, dass Klas mir einen Nachochip quer in den Mund werfen könnte.

»Okay, Punkt zwölf noch«, sagt Klas, dem das Wunder, das sich gerade vor meinen Augen abgespielt hat, offensichtlich entgangen ist. »Der letzte. Wollen wir ihn Judas nennen?«

Zwei

Während ich mit dem störrischen Schlüssel im Türschloss kämpfe, ihn wie ein Einbrecher drehe und daran herumrüttele, nicke ich meinem Nachbarn zu. Er sieht aus wie eine jüngere Version des Bocksten-Mannes, dieser mittelalterlichen Moorleiche, oder wie eine ältere Version von Owen Wilson. Heute ähnelt er eher Ersterem und begrüßt mich mit einem zischenden Geräusch, das seinen alkoholgeschwängerten Atem zu mir herüberträgt. Damit wäre unser übliches Begrüßungsritual eigentlich abschlossen – ich nicke, er zischt –, weshalb ich überrascht zusammenzucke, als er sich räuspert und sagt:

»Haben Sie im Lotto gewonnen?«

Ich sehe zu ihm, während ich gegen die Tür drücke und angestrengt versuche, das widerspenstige Schloss zu überlisten.

»Nein, ich freue mich wegen etwas anderem«, gebe ich zu. »Aber jetzt, wo Sie es sagen, sollte ich mir wohl tatsächlich ein Los kaufen. Bei dem Glück, das ich heute hatte, müsste ich den Jackpot knacken.«

»Na, das wäre doch schön«, keucht mein Nachbar. »Dann müssten Sie sich nicht mehr mit Ihrer jetzigen Arbeit herumschlagen.«

Ich halte inne. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir uns bisher nie unterhalten. Woher kennt er meinen Beruf? Wegen der tiefen Falten in meiner Stirn, meines müden Blicks, der Farbreste von den Whiteboardstiften an meiner Hand?

»Ich kann mich nicht erinnern, mal von meiner Arbeit erzählt zu haben«, sage ich daher.

»Haben Sie auch nicht. Aber man sieht doch schon von Weitem, wie Sie sich abrackern, womit auch immer. Abends sind Sie immer mindestens fünf Zentimeter kleiner, als wenn Sie morgens das Haus verlassen.«

Hm, jetzt wird es aber ein bisschen gruselig. Steht er etwa hinter der Tür und beobachtet mich durch den Spion?

»Und ganz grau im Gesicht sind Sie auch.«

Das wird ja immer besser.

»Ich bin Lehrerin«, antworte ich. »Und ja, das ist ziemlich anstrengend.«

Mein Nachbar verzieht das Gesicht. »Lehrerin? Verdammt. Das tut mir leid, Mädchen.«

»Äh, ja, danke.« Endlich ist die Wohnungstür offen. »Schönen Abend noch.«

Ich gehe hinein und schließe die Tür hinter mir. Keine Ahnung, ob die plötzliche Gesprächigkeit meines Nachbarn auf mehr oder weniger Alkohol zurückzuführen ist oder vielleicht sogar auf das Bedürfnis nach menschlichem Kontakt. Ich gehe direkt zur Küchenzeile und hole eine Fertiglasagne aus dem Tiefkühlfach. Während sich der Teller in der Mikrowelle dreht, räume ich die kleine Tischspülmaschine aus und versuche, nicht daran zu denken, dass nichts von dem, was ich in die Schränke stelle, mir gehört. Bunte Gläser, Tassen mit orientalischen Mustern und nicht zueinanderpassende Teller. Schon irgendwie charmant, aber nicht das, was ich mir ausgesucht hätte. Nicht wie das romantische Service von Rosenthal, das ich letztens sah, als ich in einem masochistischen Anfall in eine Filiale der Haushaltswarenkette Cervera ging und mich wie eine liebeskranke Nonne danach verzehrte.

Die einundzwanzig Quadratmeter, die derzeit mein Zuhause sind, liegen am nördlichen Ende von Sollentuna, im Stadtteil Rotebro. Ich bin Untermieterin auf unbestimmte Zeit. Sehr unbestimmte Zeit, so wie ich Marielle, meine alte Freundin vom Gymnasium, kenne. Sie ist so spontan, dass sie am Vormittag als Croupier in Las Vegas arbeiten kann und ihr beim Kaffee am Nachmittag einfällt, dass sie doch lieber wieder zurück nach Schweden möchte. Dann zieht sie bei ihren Eltern auf dem Dachboden ein und verdient ihr Geld mit dem Verkauf von Kreuzsticharbeiten.

Als sie mir vor zwei Jahren anbot, die Wohnung zu mieten, wollte sie zum Yoga nach Indien. Seither hat es sie nach Örebro verschlagen (wo sie töpfern gelernt hat), nach Malmö (wo sie einen Schreibkurs besucht hat) und Peru (wo sie nach meinen letzten Informationen ihren Traummann gefunden hat und jetzt in einer Art Hippiekommune lebt). Ich bin dankbar für das Apartment, denn die Wohnsituation im Großraum Stockholm ist nun mal, wie sie ist. Trotzdem ist es nicht leicht, mit dem Geschmack eines anderen Menschen zu leben. Abgesehen von dem Schlafsofa mit Batiküberwurf, das die halbe Wohnung einnimmt und von selbst genähten Kissen in allen Regenbogenfarben bedeckt wird, ist überall Marielles Vorliebe für nackte Körper sichtbar. Nackte Statuen zieren Regale und Fensterbretter; die größte ist einen Meter hoch und steht auf dem Boden. Wegen der Bilder an den Wänden kommt Mama mich nicht besuchen. Sie schiebt es auf die räumliche Enge und mein mangelndes Interesse am Kochen, wenn ich versuche, sie und Papa einzuladen, aber ich weiß, dass meine Wohnung sie anstrengt, weil sie nicht weiß, wo sie hinschauen soll. Ehrlich gesagt, sehe ich mir die Bilder auch nicht genauer an. Wenn ich vor zwei Jahren – nach der Trennung von Klas – gewusst hätte, dass ich so lange hierbleiben würde, hätte ich vielleicht ein paar abgehängt. Aber jetzt würde es sich wie eine endgültige Kapitulation anfühlen, sie abzunehmen. Nach dem Motto: Also gut, hier wohne ich jetzt, und hier werde ich auch sterben.

Mein einziger Trost ist, dass ich mich die meiste Zeit in einer fiktiven Welt aufhalte, weit weg von schrecklichen Möbeln und nackten Statuen. Das klappt jetzt noch genauso gut wie mit dreizehn, als ich mich in Nancy Drews Detektivwelt flüchtete und Mama sich Sorgen machte (heimlich, dachte sie), weil ich mich nicht für mein Aussehen oder das andere Geschlecht interessierte. (Das war zwei Jahre, bevor Jonathan in mein Leben getreten ist.)

Ich setze mich aufs Sofa und esse, während ich den Laptop hochfahre. Eine kurze Google-Recherche zeigt mir einige unglaublich schöne Fotos – Profilbilder aus den sozialen Medien, schätze ich mal. Ich bleibe bei einem Bild von Jonathan auf einem Boot hängen. In einem hellgelben Polohemd und mit beiden Armen auf der Reling steht er da und lacht mit zurückgelegtem Kopf in den Himmel. Ich muss mir einfach ausmalen, wie ich mich verführerisch vorbeuge, die Finger in seinen blonden Haaren vergrabe und ihn küsse.

Als ich das Bild vergrößere, um meine leidenschaftlichen Fantasien noch weiter anzuheizen, ruft Mama an und reißt mich effektiv zurück in die harsche Wirklichkeit.

Normalerweise ruft Mama nicht einfach so an, um zu fragen, wie es in der Arbeit läuft oder mich daran zu erinnern, wie sehr sie ihre Kinder liebt, sondern weil sie einen konkreten Grund hat.

»Clara, im Sommer werde ich sechzig.«

»Ja?« Diese Aussage kann auf alles Mögliche hinauslaufen. Eine lange oder originelle Wunschliste, das Bedürfnis, über ihre Probleme mit dem Älterwerden zu sprechen oder ein planloses Herumirren durch das Labyrinth der Erinnerungen.

»Das sollte man doch wohl feiern, oder?«

»Definitiv!«

»Helft ihr mir?«

»Aber klar doch.«

»Ich meine, nicht nur mit dem Abwasch, sondern … mit der Planung einer großen Feier?«

»Natürlich, Mama.« Ich stehe auf und werfe einen Blick auf den Kalender, während ich den Teller in die Miniküche bringe. »Es sind noch zwei Monate bis dahin.«

»Ja. Aber dieses Mal will ich nicht nur Yvonne und Göran zum Abendessen einladen. Ich will ein richtiges Fest. Glamourös und … würdevoll.«

Ich zucke zusammen und lasse den Teller, den ich gerade vorspüle, fallen. Rasch nehme ich ihn aus dem Becken und stelle ihn nachdenklich in die Spülmaschine. Hat Mama zu tief in die Baileys-Flasche geschaut? Das klingt jedenfalls alles sehr seltsam.

»Aber Yvonne und Göran willst du schon einladen, oder?«

»Natürlich, sie ist ja meine Schwester. Aber dieses Mal darf sie nicht in Jeans und irgendeinem alten Pullover kommen, sag ihr das.«

Ich breche einen Spülmaschinentab entzwei, lege eine Hälfte in das entsprechende Fach, schließe die Maschine und schalte sie ein. »Ja, gut … Du, Mama, können wir darüber sprechen, wenn wir uns nächsten Samstag alle sehen? Paulina kommt doch, oder?«, frage ich misstrauisch. Es wäre so typisch für meine Schwester, sich ein Wellnesswochenende zu gönnen oder durch die Bars zu ziehen und es mir zu überlassen, mich beim Familienessen um unsere Mutter zu kümmern, die Panik vor ihrem sechzigsten Geburtstag hat.

»Natürlich!«, antwortet Mama. »Mit ihrem neuen Freund. Sie ist übrigens etwas komisch. Hat uns gesagt, dass wir den Jungen nicht ›in die Mangel nehmen‹ sollen. Haben wir das schon jemals bei einem Mann gemacht, den sie mitgebracht hat?«

»Vielleicht ist es ja dieses Mal was Ernstes?«, meine ich, auch wenn ich das stark bezweifle.

»Oh, glaubst du wirklich?« Mama klingt fast euphorisch angesichts dieser Möglichkeit. »Vielleicht, ja. Sie stellt ihn sogar Jesper vor. Es ist so schön, dass er endlich ein bisschen Zeit hat und herkommen kann!«

Unser großer Bruder Jesper wohnt mit seiner Partnerin Lisen und dem einjährigen Sohn Noah in London, und manchmal glaube ich, dass er vergessen hat, dass er auch noch Eltern und Geschwister hat. Sie kommen nur nach Schweden, weil sein bester Freund ihn und Lisen nächsten Sonntag zu einer Taufe eingeladen hat.

»Ein richtiges Familienessen«, fährt Mama glücklich fort. »Was kocht man denn da? Marianne findet, ich soll Truthahn machen, aber da weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob ich das kann. Gibt es eine feinere Variante mit Huhn?«

Ich sehe wieder Jonathan auf dem Boot an und versuche, mich kraft meiner Gedanken dorthin zu versetzen.

»Aber du bist eigentlich nicht die Richtige für dieses Thema«, korrigiert sich Mama. »Ich rufe Ing-Britt an.«

»Mach das, Mama. Grüß sie von mir.«

Wir beenden das Gespräch, und ich nehme meine Nachforschungen wieder auf. Man muss nicht Lisbeth Salander sein, um ein paar übersichtliche Informationen zu Jonathan auszugraben. Die ersten Treffer ergeben jedoch nichts Neues. Am 17. November wird er zweiunddreißig, mit vollem Namen heißt er Jonathan Lars Palm. Sein Namenstag ist am 22. Dezember. Der Name Jonathan bedeutet »Gottes Gabe« (natürlich, was sonst?).

Doch dann erwacht meine innere Masochistin, und ich lösche Jonathans wohlklingenden Namen aus dem Suchfeld, um stattdessen »Felicia Svensson« einzutippen. Nach den ersten Treffern stoße ich auf einen Blog. Ein großes Foto von Felicia mit ihren Hollywoodhaaren. Der letzte Eintrag ist einen Monat alt, doch als ich ihn überfliege, droht die Lasagne, sich wieder zu verabschieden.

Jonte fährt am Freitag nach Schweden. Vermisse ihn jetzt schon.

Verdammt. Ist er etwa immer noch mit ihr zusammen?

Drei

Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 9b sehen mich an, als hätte ich sie gerade gebeten, sich die Ohren abzusäbeln. »Ihr sollt das Buch also nicht nur zusammenfassen, sondern auch eure eigenen Gedanken dazu, eure eigenen Interpretationen in den Aufsatz einfließen lassen«, wiederhole ich.

»Aber Sie haben doch schon gesagt, dass es nicht reicht zu schreiben, dass es schlecht ist.« Måns verdreht die Augen, sieht sich um und streckt sich zufrieden, als einige zustimmend nicken.

Ich schlucke die spöttische Antwort, die mir auf der Zunge liegt, hinunter und bemühe mich um eine ruhige, freundliche und professionelle Miene. Dann will ich gerade alles noch einmal erklären, als die Tür geöffnet wird. Schuldirektor Torbjörn Skoog füllt den Türrahmen. Als ob er seine Ankunft noch zusätzlich ankündigen müsse, räuspert er sich lautstark, worauf ich ihm zunicke, dass er hereinkommen solle. Die Schülerinnen und Schüler folgen dem Direktor mit dem Blick und scheinen dankbar für den Aufschub zu sein. Wie immer trägt er eine Krawatte mit grünen Äpfeln (»die Frucht der Wissenschaft, Herrschaften!«), die aus einem gewissen Winkel betrachtet eher aussehen wie ein verschimmeltes Geschlechtsorgan.

Mein Chef wendet sich an mich und sieht dann unsicher auf die dreißig Augenpaare, die auf uns gerichtet sind. »Möchtest du etwas Bestimmtes?«, frage ich. »Wir wollten gerade mit einer Klassenarbeit anfangen.«

»Ja, da wäre etwas«, sagt Torbjörn und senkt die Stimme, die dreißig Fünfzehnjährigen können ihn allerdings immer noch gut verstehen. »Es ist eine Beschwerde eingegangen.« Er verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sein Blick flackert hinter der Brille, und er zwingt sich zu einem Lächeln, um das gerade Gesagte etwas abzumildern.

»Ach ja?«, erwidere ich so leise wie möglich. »Was für eine Beschwerde?«

Mein Chef zögert. Sicher nicht, weil er mich hinhalten und quälen will, sondern weil er ganz einfach Angst vor Konflikten hat. Er setzt sich auf meinen Stuhl hinter dem Schreibtisch. Zu meiner Erleichterung verlieren die Schülerinnen und Schüler das Interesse an uns und unterhalten sich jetzt laut miteinander.

»Also, Kelly Edskogs Mutter hat angerufen.« Torbjörn sieht ausdruckslos den jugendlichen Skatern vor dem Fenster zu und räuspert sich. »Kelly muss diese Arbeit ein anderes Mal schreiben. Ihre Mutter meint, sie hätte nicht die geringste Chance gehabt, dem Unterrichtsstoff zu folgen.«

Ich verziehe keine Miene, doch innerlich stöhne ich laut. »Alle, die zu den betreffenden Unterrichtsstunden da waren, haben jede denkbare Unterstützung bekommen. Das Buch wurde laut vorgelesen, wir haben diskutiert, ich habe sie einen Aufsatz zu Hause darüber schreiben lassen«, sage ich leise.

Die Falten in seinem Gesicht vertiefen sich. »Okay«, antwortet er müde. »Doch laut der Mutter hat Kelly es wirklich versucht. Sie sagt, ihre Tochter gibt immer ihr Bestes, und dass sie sie jetzt zum ersten Mal so mutlos erlebt. Zugegeben, das Mädchen tut sich mit großen Textmengen schwer und lässt sich leicht ablenken, wenn sie das Gefühl hat, der Inhalt sei nicht relevant für sie. Man kann sich Text ja auf so viele andere Weisen aneignen. Kelly ist sehr aktiv in den sozialen Medien, liest jeden Tag Blogs. Ich glaube, wir müssen unseren Blick auf die Förderung der Lesekompetenz erweitern, Clara. Die Welt von heute ist nicht mehr dieselbe wie damals, als du und ich jung waren.«

Ich fixiere den großen Tacker, der ein wenig unsicher an der Tischkante balanciert, und stelle mir vor, wie ich ihn packe und meinem Chef eine Heftklammer in die gerunzelte Stirn verpasse. Dass er meine und seine Jugend gleichsetzt, stört mich an dem, was er gesagt hat, noch am wenigsten, und das will etwas heißen.

Ich atme tief durch. »Wenn Kelly im Unterricht mitgemacht hätte, hätte sie sich leicht in das Buch einarbeiten und mit uns diskutieren können, inwiefern der Inhalt für unsere Zeit relevant ist. Da sie aber öfter in der Cafeteria saß und Paradise Hotel auf dem Handy angeschaut hat, als an meinem Unterricht teilzunehmen, kann ich nachvollziehen, dass sie das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben.«

Torbjörn seufzt ungeduldig. »Jaja, Clara, du machst das sicher so gut du kannst. Aber ich kann Kellys Mutter ja wohl schlecht sagen, dass ihre Tochter lügt, oder? Wir alle haben unterschiedliche Auffassungen von der Wirklichkeit. Und ich kann es nicht tolerieren, dass Eltern der Schule vorwerfen, sich nicht für diejenigen einzusetzen, die unsere Unterstützung am meisten brauchen.«

Sprachlos starre ich ihn an.

»Es wäre gut, wenn du der Mutter heute noch ein paar Zeilen per Mail schicken könntest«, fährt er fort, »damit wir das aus der Welt geschafft haben. Eine kurze und professionelle Entschuldigung reicht vollkommen. Irgendetwas von wegen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, damit Kelly ihr Wissen noch einmal nachweisen kann.«

Er steht auf, entfaltet sich in seinem dunkelbeigen, leicht zerknitterten Anzug und geht wieder. Mit aller Kraft dränge ich die Wut zurück und lenke die Aufmerksamkeit meiner Klasse wieder auf mich.

»Die Arbeitsanweisungen stehen auf dem Blatt, lest sie euch genau durch. Noch Fragen? Ja, Dani?«

»Was würden Sie gern werden?«

»Dani, ihr müsst jetzt wirklich anfangen. Und was ist das überhaupt für eine Frage? Ich bin doch Lehrerin.«

»Klar.« Dani lässt mich nicht aus den Augen. »Aber ich meine, was Sie eigentlich werden wollten.«

Einige Schülerinnen und Schüler sehen mich interessiert an, und mir ist klar, dass sie eine aufregendere Antwort erwarten, als sie bekommen werden.

»Ja, also … Ich wollte wirklich Lehrerin werden«, erkläre ich. »Sonst wäre ich es nicht geworden.«

Die Fünfzehnjährigen lächeln mich geduldig an. Yousif, der ständig die Nase hoch in der Luft und ein paar errötende Mädchen um sich herum hat, sagt:

»Ich glaube, Dani meint, wenn Sie sich irgendwas aussuchen könnten. Was Sie am allerliebsten machen würden. Astronautin sein oder Fußballprofi oder Fotomodell oder so was.«

Ich kaschiere mein Lachen mit einem Niesen. Fotomodell? Diese Teenager sind einfach zu süß. Süß oder unverschämt – als ob ich mit meinen einen Meter einundsechzig und den widerspenstigen Locken auch nur davon träumen könnte, Model zu werden. Als endlich Ruhe eingekehrt und nur noch das Tippen vieler Finger auf den Laptoptastaturen zu hören ist, schlage ich Sophie Kinsellas aktuellen Roman auf. Durch die Glaswand sehe ich Solveig misstrauisch vorbeigehen. Solveigs Verständnis des Lehrerberufs besteht aus einer beträchtlichen Menge strikter Vorschriften, die sie dem ganzen Kollegium einhämmern will. Nach einer Weile klappe ich seufzend das Buch zu und versuche, Danis Frage zu verdrängen. Er hat nichts Besonderes damit gemeint, rede ich mir ein. Trotzdem habe ich das Gefühl, als hätte er eine Kanonenkugel voller Zweifel und Unruhe in meine sorgfältig errichtete Fassade aus Kontrolle und Genügsamkeit abgeschossen.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy und lege es wieder weg. Immer noch nichts von Jonathan. Er hat also doch nur aus reiner Nettigkeit nach meiner Nummer gefragt. Wollte nur einer alten Bekannten Hallo sagen, sonst nichts.

Denn wie wahrscheinlich ist es, dass er im letzten Monat mit Felicia Schluss gemacht hat?

Auf der anderen Seite …

Denk nicht einmal daran!, sagt die Vernunft.

Aber das Schicksal scheint uns doch zusammengebracht zu haben … Warum sollten sich unsere Wege sonst auf einmal wieder kreuzen?

Weil er ein Bier mit seinen Kumpels getrunken hat und du zufällig im selben Pub gesessen hast, wo Party-Klas deinen Stolz durch die Mangel gedreht hat und du es zugelassen hast. Also hör auf damit.

In Gedanken reise ich siebzehn Jahre zurück, als mein fünfzehnjähriges Ich vergeblich nach Jonathan geschmachtet hat. Auf dem Weg zur Schule hielt ich ständig nach ihm Ausschau und wäre jedes Mal fast in den Graben gestolpert, wenn ich ihn dann sah, wie er mit seinem Spiderman-Rucksack lässig über der Schulter dahinschlenderte. Andere Teenager wären wegen so eines Rucksacks gnadenlos gehänselt worden, doch bei Jonathan war das »niedlich«. Mit seinem entwaffnenden Charme konnte er sich alles leisten.

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich damals natürlich schon kapieren müssen, dass ich keine Chance hatte. Nicht solange Felicia in der Nähe war, mit ihren knappen Klamotten, ihrem beneidenswerten Hollywoodhaar und den lässigen Zigaretten. Aber er nannte mich Gullan, als ich ihm in einem Anfall von Vertraulichkeit meine Liebe zu den Kinderbüchern um das Waisenkind Gulla gestanden hatte, und ich klammerte mich störrisch an der Hoffnung fest, dass das doch etwas zu bedeuten haben musste. Ich meine, man nennt ja schließlich nicht einfach irgendwen grundlos Gullan, also Süße, oder? Ich war überzeugt davon, dass er tief in seinem Inneren zärtliche Gefühle für mich hegte, auch wenn es ihm selbst vielleicht noch nicht bewusst war (man weiß ja, dass Jungen entwicklungstechnisch immer ein wenig hinterherhinken).

Auf dem Weg zum Haupteingang höre ich das rhythmische Klappern von Solveigs Pumps auf dem Steinboden. Zuerst erreicht mich ihre Parfümwolke, die wie ein ganzer Wald aus genmanipulierten Lilien riecht, dann hat mich auch Solveig selbst eingeholt. Sie rückt das dicke Brillengestell auf ihrer schmalen Nase zurecht und lächelt nachsichtig. Solveig ist Expertin darin, nachsichtig zu lächeln, bevor sie etwas Vernichtendes sagt, als ob sie die Haut erst mit einem Kühlpack betäuben will und dann die Nadel hineinsticht.

»Clara, bitte denk daran, was du unseren Schülerinnen und Schülern vermittelst.« Ich sehe sie fragend an, und sie fährt fort: »Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Als Schwedischlehrerin solchen Schwachsinn zu lesen, direkt vor der Klasse … Das ist wirklich ganz schön dreist, selbst für dich.«

Schwachsinn? Mir fällt Solveigs misstrauischer Blick vor meinem Klassenzimmer ein, und mir wird klar, dass sie das Sophie-Kinsella-Buch meinen muss.

»… selbst für mich?«, wiederhole ich, weil ich viel zu verblüfft bin, um auf ihre Frage das zu antworten, was ich eigentlich denke (und viel zu gut erzogen, um ihr einen ganz bestimmten Finger hinzuhalten).

»Lass die Schundliteratur beim nächsten Mal bitte zu Hause.«

Die Absätze entfernen sich klappernd, und ich schüttele leicht den Kopf. Dann drücke ich die schwere Tür auf und trete hinaus in die feuchtkalte Luft. Jetzt ist der März endlich vorbei. Die Plusgrade kehren nach einem langen und beharrlichen Winter zurück und lassen allmählich die Schneemassen verschwinden. Doch noch liegt überall abgasgrauer Schneematsch, und bevor ich den Schulhof überquert habe, fällt ein kalter Regen.

Vier

Am Samstag liegt der Schneematsch immer noch auf den Straßen, und ich gehe vorsichtig in meinen Stiefeletten hindurch. Den Trenchcoat statt der Daunenjacke anzuziehen war etwas zu optimistisch, merke ich und knöpfe den Mantel bis zum Hals zu. Es ist schließlich erst Anfang April, die Zeit, in der strahlende Sonne und blauer Himmel eine naive Optimistin dazu verleitet haben, sich trotz des eiskalten Windes zu dünn anzuziehen.

Ich bin die vier Stationen bis nach Helenelund mit der S-Bahn gefahren und gehe jetzt den kurzen Weg vom Bahnhof zum Haus meiner Eltern zu Fuß, in einer Hand einen Tulpenstrauß, in der anderen eine Tüte mit Korrekturarbeiten. Man weiß nie, wie sich Familienessen bei der Familie Rennel entwickeln, weshalb ich immer Arbeit mitnehme, falls ich Zeit totzuschlagen habe. Wenn ich es schaffe, am Samstagnachmittag zwei Romananalysen zu benoten, habe ich nur noch achtundzwanzig statt dreißig vor mir – immerhin etwas.

Mit raschen Schritten biege ich in den Schotterweg ein, der zum Haus meiner Eltern führt. Heute könnten sie sich nicht einmal den Pavillon hinten im Garten leisten, doch vor dreißig Jahren waren die Immobilienpreise noch anders, und normale Menschen wie Anja und Rune Rennel konnten sich ein großes, frei stehendes Haus im begehrten Helenelund kaufen. Ganz gerecht ist das nicht, denke ich und frage mich, wie lange ich noch in meinem kleinen Nacktkabuff wohnen muss.

Neben Papas und Mamas Volvo steht ein dunkelblauer Opel in der Einfahrt. Paulina ist also schon da. Und ihr neuer Liebhaber, wenn ihre Romanze nicht bereits wieder vorbei ist.

Ohne zu klopfen, ziehe ich die Tür auf und trete ein. Wahrscheinlich ist Mama vollauf mit Kochen beschäftigt und will nicht davon gestört werden, dass sie einem gewöhnlichen Gast wie mir die Tür aufmachen muss.

Sie steht im Flur zur Küche und wühlt in der Kommodenschublade mit den Servietten. Bevor ich die Tür hinter mir schließen kann, sehe ich die kleinen Stressschweißperlen an ihrem Haaransatz. Mit Mühe hänge ich meinen Trenchcoat an einen Haken in der Garderobe, wo sich Jacken für eine ganze Armee und für jede Jahreszeit drängen.

»Nimm die gestreiften«, sage ich, lege den Arm um Mamas Schultern und drücke sie kurz an mich.

Mama reißt sich von dem Serviettenchaos in der Schublade los und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Trotz ihrer bald sechzig Jahre hat sie etwas Mädchenhaftes an sich mit ihrer kleinen Nase und den Sommersprossen. Die sind das Einzige, was ich von meiner Mutter geerbt habe. Paulina dagegen ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, bis zu dem breiten Mund, der immer zu lächeln scheint. Mama wirkt erleichtert, wenn auch nicht ganz überzeugt.

»Sind die in Ordnung, was meinst du?«

»Sie sind perfekt«, sage ich. »Frühlingshaft und frisch. Außerdem passen sie zu den Blumen.« Ich schwenke den Tulpenstrauß, strecke mich nach einer Vase im Schrank über der Kommode und gehe dann in die Küche, um sie mit Wasser zu füllen.

Paulina sitzt an dem ovalen Holztisch, dicht neben einem dunkelhaarigen Mann mit grauem Hemd. Der Arme. Er glaubt wohl, dass ein Essen bei Rennels eine schicke Angelegenheit ist, doch sein fein säuberlich gebügeltes Hemd wird viel zu overdressed aussehen, wenn Papa in einem seiner ausgewaschenen T-Shirts hereinkommt.

»Hallo.« Ich umarme meine Schwester. »Clara«, sage ich dann und strecke dem Hemdtypen, der etwa in Jespers Alter zu sein scheint, meine Hand entgegen.

»Schön, dich kennenzulernen«, antwortet er, schüttelt mir die Hand und stellt sich vor. Völlig unnötig, denn in der nächsten Sekunde habe ich seinen Namen schon wieder vergessen. Das passiert automatisch, denn mein Gehirn hat sich das bei dem turbulenten Liebesleben meiner Schwester im Lauf der Jahre angewöhnt. Es rationalisiert Informationen weg, die in ein oder zwei Wochen sowieso wertlos sein werden. Ohne die Stiele zu beschneiden, stelle ich die Tulpen in die Vase, fülle sie mit Wasser und stelle sie auf den Tisch. So wie ich Mama kenne, braucht sie noch genügend Hilfe, bevor die Ehrengäste eintreffen.

Jesper ist fünf Jahre älter als ich und wohnt schon seit meiner Zeit auf dem Gymnasium in London. Er hat dort Marketing studiert und danach einen Job und eine Wohnung gefunden. Jetzt arbeitet er irgendwas mit PR, so ein stressiger, hipper Job mit hohem Gehalt und ohne Freizeit. Manchmal bin ich eifersüchtig auf Jesper, der kein bisschen traurig zu sein scheint, das heimische Nest vollständig hinter sich gelassen zu haben. Das ist natürlich albern, aber ich selbst schaffe kaum eine zweiwöchige Charterreise, ohne mir Sorgen zu machen, wie unsere Eltern zurechtkommen. In den letzten Jahren war Jesper immer seltener in Schweden, und auch wenn er schon seit vier Jahren mit Lisen zusammen ist, haben wir sie erst ein paarmal gesehen. Ich habe meine Eltern nicht gefragt, aber an ihrer Stelle käme ich mir um mein Enkelkind betrogen vor.

Heute kommen sie jedenfalls. Wenn Paulina nicht Wind davon bekommen hätte, dass sie in Stockholm zu einer Taufe eingeladen sind, wäre er wahrscheinlich nur für den Sonntag nach Schweden gereist und hätte für uns keine Zeit gehabt.

»Himmel«, sagt sie jetzt. »Ich musste Jesper ja geradezu drohen, damit die beiden herkommen. Hat sie ihn so verhext, dass er seine eigene Familie nicht mehr treffen kann?«

Ich bin mir nicht sicher, ob Lisen die Böse ist – Jesper hat sich noch nie besonders darum bemüht, Kontakt zu halten. Aber Paulina hat Lisen von Anfang an nicht gemocht.

»Sie glaubt offensichtlich, dass sich alles um sie dreht, oder?«, fährt meine Schwester fort. »Stolziert mit ihren Manolo Blahniks herum, als ob sie sich für Carrie aus Sex and the City hält. Wahrscheinlich von Jesper finanziert. Die hat es doch nur auf sein Geld abgesehen.«

»Jetzt übertreibst du aber ein bisschen«, sage ich.

»Überhaupt nicht. Kannst du ehrlich sagen, dass sie ein netter Mensch zu sein scheint?«

»Ich habe sie noch nicht oft genug getroffen, um das beurteilen zu können …«

»Genau! Denn sie ist ja nie hier. Und Jesper folglich auch nicht.«

Die Arbeitsfläche sieht aus wie immer, wenn Mama Gäste zum Essen einlädt, also wie eine Prügelei zwischen einem Hühnchen und einem Gemüsebeet. Hautfetzen, Knochen, Kerngehäuse und Stiele liegen neben klebrigen Messern, benutzten Schneidebrettern, Knoblauchpressen, Schöpfkellen, Dosenöffnern, Flaschen, Korken und verschmierten Topfhandschuhen. Gerade als ich den Biomülleimer holen will, um das Schlimmste wegzuräumen, kommt Mama in die Küche. Ihre abgewetzten Pantoffeln quietschen auf dem Linoleumboden.

»Danke, Schatz, aber kannst du vielleicht stattdessen die Sahne schlagen? Dann machen wir sauber, wenn alles fertig ist. Sie kommen erst in …« Sie sieht auf die Wanduhr. »Himmel, in einer Viertelstunde. Okay, die Sahne steht in der Kühlschranktür!«, ruft sie über die Schulter, während sie quietschend mit einem zerknitterten Tischtuch über dem Arm davoneilt.

»Kann ich irgendwas tun?«, fragt der Mann neben Paulina, worauf diese lacht und ihren Kopf an seinen legt.

»Keine Sorge«, sagt sie. »So ist es immer. Mama ist erst furchtbar gestresst, und dann kommt doch alles immer in Ordnung.«

Ja, denke ich mit zusammengebissenen Zähnen, auf magische Weise kommt immer alles in Ordnung. Mit abgehackten Bewegungen hole ich die Sahne, den Handmixer und eine Schüssel und gehe ins Wohnzimmer. Es ist mir egal, ob Sahne aufs Parkett spritzt, ich bleibe keine Sekunde länger in der Küche.

Papa sitzt wie üblich in einer Ecke des weinroten Ledersofas und hat die Füße bequem auf dem Hocker abgelegt. Ein Strumpf hat an der Fußsohle ein Loch. Papa ist in eine zerlesene Ausgabe seiner Jagd- und Angelzeitschrift Jakt & Fiske vertieft. Erst als ich ihm einen Gruß zurufe, streckt er sich zu mir und umarmt mich aus seiner sitzenden Position heraus.

»Ist Jesper schon da? Gibt es Essen?«, fragt er, während er das Bild eines aufgeschlitzten Hechts betrachtet.

»Nein, Papa, sie sind noch nicht hier. Und nein, das Essen ist noch nicht fertig, weil noch einiges erledigt werden muss. Wie zum Beispiel, den Tisch zu decken.«

Papa nickt abwesend, und ich gebe auf und schotte mich eine Weile mit dem wütenden Surren des Handmixers von der Faulheit der anderen ab. In diesem Haushalt wird es niemals so etwas wie Gleichberechtigung geben. Papas Faszination für diese Zeitschrift habe ich nie verstanden. Seit seiner Jugend war er nicht mehr beim Angeln, gejagt hat er auch nie, aber diese Zeitschriften liest er mit demselben Eifer wie ein Protestant im sechzehnten Jahrhundert den Kleinen Katechismus.

Manchmal habe ich tatsächlich schon gedacht, dass Mama ihn des Geldes wegen geheiratet hat. Nicht dass er ein zweiter Bill Gates wäre, aber bei seiner Arbeit als Programmierer verdient er trotzdem um einiges mehr als Mama beim ambulanten Pflegedienst. Doch diese Gedanken versuche ich immer sofort wieder wegzuschieben, weil ich mich schäme – er ist doch schließlich mein Vater. Kein böser Mann, keiner, der seine Frau misshandelt, er hat nur eine sehr entspannte Haltung zum Thema Hausarbeit.

Ich gehe mit der fertig geschlagenen Sahne in die Küche, wo Mama gerade das Besteck neben einem Teller gerade rückt. Sie macht einen Schritt zurück und mustert zufrieden den gedeckten Tisch, der richtig hübsch aussieht mit dem weißen Leinentischtuch, den dunkellila und weißen Tulpen und den dazu passenden gestreiften Servietten. Doch das Chaos im Hintergrund ist immer noch ein schrecklicher Kontrast zu dem ordentlichen Arrangement. Ich werfe einen panischen Blick auf die Arbeitsfläche und überlege, ob ich es noch schaffe aufzuräumen und die Tarte für den Nachtisch zu belegen. Mama hat immer noch ihre bequeme Kleidung an, und Paulina ist vollauf damit beschäftigt, ein ihr schmeichelndes Selfie zu schießen. Es ist sinnlos, sie zum Aufräumen abzukommandieren – es geht schneller, wenn man es selbst erledigt.

Von Papa ist nichts zu sehen.

»Mama«, sage ich. »Ich bitte Papa, hier sauber zu machen, während ich die Tarte belege. Zieh du dich um, sie müssten ja jede Minute da sein.«

Mama wirkt verletzt und schüttelt den Kopf. »Nein, mach bitte nichts«, erwidert sie. »Ich räume auf, wenn ich wieder da bin.«

Sie eilt nach oben, und ich kümmere mich um den Kuchen. Ich versuche, ihm meine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, und grübele über die Struktur und Form jeder Beere, die ich darauflege. Langsam legt sich meine Verärgerung. Dass Mama Papa nicht um Hilfe bitten will, wusste ich ja schon. Meine Mutter vertritt die Einstellung, dass sich Hausarbeit so verteilt, wie es am besten passt. Zugegeben, sie kümmert sich um die meisten Sachen im Haus, doch Papa macht alles, was mit dem Auto zu tun hat, und sie ist überglücklich, dass sie sich damit nicht beschäftigen muss. Solange er sie nicht bittet, die Reifen zu wechseln, würde ihr im Traum nicht einfallen, ihn aufzufordern, seinen Teller in die Spülmaschine zu stellen.

Während ich weiter meine Beeren auf dem Kuchen verteile, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Dinge von der Arbeitsfläche verschwinden, und höre Wasser ins Spülbecken laufen. Was mich aus irgendeinem Grund noch wütender macht – es ist wirklich höchste Zeit, dass Paulina endlich mithilft!

»Bist du dir sicher, dass du das schaffst?«, frage ich. »Die Messer kommen nicht in den Biomüll, nur zu deiner Information.«

»Das weiß ich.«

Eine Männerstimme. Ich drehe den Kopf und sehe, wie der schicke Freund meiner Schwester Gemüseabfälle zusammensammelt und Kochutensilien in der Spüle stapelt, um sie abzuwaschen. Rasch räumt er danach die Spülmaschine ein und wischt die Arbeitsfläche ab. Im nächsten Augenblick kommt Mama in einem groß geblümten Kleid die Treppe hinunter, während der Fremde das ausgewaschene Spültuch aufhängt und es an der Tür klingelt. Bleiche Aprilsonnenstrahlen fallen durch das Küchenfenster und werden von der glänzenden Arbeitsfläche zurückgeworfen.

»Oh, danke, Clara, das ist lieb!«, sagt Mama, als sie zur Haustür huscht. »Das hast du toll gemacht!«

Verlegen sehe ich zu dem Hemdtypen und murmele einen Dank.

»Keine Ursache«, sagt er ernst und sieht mich an. »Du darfst gern den Biomülleimer durchsehen, ob ich nicht versehentlich eine Reibe oder etwas anderes entsorgt habe.«

Fünf

Offenbar hat Jespers Leben mit PR-Job, Partnerin und Kind einen gehobenen Kleidungsstil mit sich gebracht. Von meinem lässig gekleideten Bruder von früher ist nichts mehr zu sehen. Er ist ordentlich frisiert, glattrasiert und trägt weinrote Chinos zu einem schwarzen Hemd. Vielleicht hat Paulina recht, dass Lisen ihn verändert hat?

Lisen selbst sieht aus, als ob sie ihrem Freund zuliebe ein riesiges Opfer bringt, weil sie bei dem Essen dabei ist. Ihre Lippen sind hellrosa geschminkt und zu einem so leichten Lächeln verzogen, dass es mit bloßem Auge kaum zu erkennen ist. Sie hat die Art Kurven, bei denen Männer schneller atmen und etwas murmeln von wegen »man will ja auch was zum Anfassen haben«, einen sorgfältig frisierten Pagenkopf und trägt eine Brille mit dunkler Fassung. In ihrem Kostüm sieht sie aus wie Jespers andere Hälfte, was wahrscheinlich auch der Sinn des Ganzen ist.

Ich lasse den Blick über die um die weiß eingedeckte Tafel gruppierte Tischgesellschaft schweifen. Mama im Kleid ist ein seltener Anblick, und zu meiner Verwunderung hat Papa sich ein Hemd angezogen. Der Dresscode hat sich offenbar geändert. Paulinas Freund liegt also genau richtig, während ich in Jeans und Poloshirt aussehe wie die Cousine vom Land. Immerhin passe ich zu Noah, der sich Gemüse in den Schoß wirft, während seine Eltern verliebte Blicke tauschen.

Nachdem er eine Weile mit Jesper geredet hat, wendet sich Papa an Paulinas Freund.

»Also, Marcus«, sagt er und steckt sich ein Stück Huhn in den Mund. »Nehmen Sie oft Gäste mit nach Hause?«

Marcus sieht auf und hebt die Augenbrauen.

Papa streckt sich nach dem Reis und fährt ungerührt fort: »Oder wird das sogar von der Arbeit gefördert?«

»Aber Papa!« Paulina legt die Hand auf Marcus’ Schulter und sieht ihn entschuldigend an. »Kümmer dich nicht um ihn.«

»Erzählen Sie doch ein bisschen von sich«, bittet Mama und versucht, die Unverschämtheit ihres Mannes zu überspielen. So richtig interessiert klingt sie allerdings nicht. Sie kennt das Spiel bereits und weiß genauso gut wie wir anderen, wie lange Paulinas sogenannte Beziehungen normalerweise dauern.

Marcus beginnt unbekümmert zu erzählen. Er ist Barkeeper, was die schnelle und ordentliche Säuberung der Arbeitsfläche erklären könnte. Außerdem verleiht es Paulinas oberflächlicher Lebensweise eine neue Dimension. Mit dem Barkeeper aus der Kneipe nach Hause gehen? War da wirklich kein anderer durchschnittlicher Kerl zum Aufreißen gewesen?

Marcus verstummt und schenkt sich Bier nach. Papa ruft laut, dass er ihm auch nachschenken soll, »wenn wir schon mal einen Fachmann am Tisch haben, haha!« Marcus gehorcht, dann wendet er sich an Jesper und Lisen.

»Wie seid ihr eigentlich in London gelandet? Habt ihr euch dort kennengelernt?«

Lisen übernimmt das Kommando und trägt eine anscheinend eingeübte Zusammenfassung vor, wie Jesper und sie sich in dem Museum, in dem sie arbeitet, über den Weg gelaufen sind und Hals über Kopf ineinander verliebt haben. Ich sehe, wie Paulina auf der anderen Tischseite die Augen verdreht und mit dem Besteck klappert, als sie sich noch eine Portion nimmt.

»Dann trinken wir doch auf Jesper und Paulina und ihr Liebesglück«, sagt Papa und hebt sein Glas. »Und was Clara betrifft … Ja, wie läuft es eigentlich bei dir, Clara? Bist du über Klas schon hinweg?«

»Das ist zwei Jahre her, Papa. Aber danke, dass du dir Gedanken machst.« Wütend merke ich, wie meine Wangen zu glühen beginnen.

»Na ja, trotzdem«, gibt Papa keine Ruhe. »Es muss schwer gewesen sein, als er so kurz danach schon seine neue, junge Freundin geschwängert hat.«

Mama wirft ihm einen warnenden Blick zu, den er überhaupt nicht bemerkt.

»Weil du doch immer wieder von Kindern gesprochen hast, meine ich. Man hätte ja denken können, dass der Mann keine Kinder will. Tja, und dann wollte er sie nur mit dir nicht.«

Ich erröte so stark, dass mein Gesicht bestimmt gleich Feuer fängt. Was aber vielleicht sogar besser wäre als das hier. »Können wir bitte über etwas anderes reden?«, erwidere ich scharf.

Papa hält abwehrend die Hände hoch und wischt sich dann mit der Serviette umständlich Hühncheneintopfreste aus den Mundwinkeln.

»Und Sie?«, fragt Marcus und sieht von Mama zu Papa. »Wenn wir schon bei dem Thema sind: Wie haben Sie sich kennengelernt?«

Auch wenn er mit Paulina ins Bett geht, bin ich ihm gerade zutiefst dankbar, dass er das Gespräch von mir abzubringen versucht. Er stützt die Ellbogen auf den Tisch und legt das Kinn in eine Hand, während er offenbar aufrichtig interessiert auf Papas Antwort wartet.

»Ach«, erwidert dieser, »das will doch sicher keiner hören, wie das bei uns alten Leuten damals so war. Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

Paulina stößt ihn verärgert mit dem Ellbogen an. Papa ist der Einzige, der den Hinweis nicht versteht.

»Nicht wahr, liebe Köchin?«, meint er kichernd an Mama gewandt. »Damals gab es noch keine Dating-Apps. Man hat genommen, was man kriegen konnte, und sich dann damit zufriedengegeben.«

Ich trete Papa unter dem Tisch gegen das Bein, stärker als beabsichtigt, doch immer noch nicht so fest, wie er es verdient hätte. Was macht er da eigentlich? Klar, er war nie der romantische Typ, aber so vor uns allen zu reden?

»Also«, sagt Mama und ignoriert ihn so gut wie möglich, »wenn alle fertig sind, hole ich mal den Kuchen!«

»Es war sehr lecker«, meint Lisen lächelnd, als Mama ihren Teller nimmt. Mama wird leicht rot und sieht aus, als hätte jemand gerade ihr Menü für die Nobelpreisfeier gelobt.

Als sie die Tarte auf den Tisch stellt, brüllt Noah plötzlich wie ein Schwein auf dem Weg zum Schlachthof, nachdem er bisher nur leise, unzufriedene Laute von sich gegeben hat. »Er ist müde«, sagt Lisen entschuldigend. »Ich bringe ihn hoch und hoffe, dass er einschläft.«

»Oh«, antwortet Mama, die gerade Kaffee in Lisens Tasse füllt.

»Ich kann mit ihm nach draußen gehen«, biete ich an und sehe meine Chance, diesem unangenehmen Gespräch für eine Weile zu entkommen. »Glaubt ihr, dass er im Kinderwagen einschläft?«

Lisen sieht mich verwundert und gleichzeitig dankbar an. »Willst du das wirklich? Das ist aber lieb von dir.«

Sie steht auf und hilft mir, Noah in den Wagen zu legen und diesen dann die zwei Treppenstufen vor der Haustür hinunterzutragen. »Komm zurück, wenn es nicht klappt, ja?«

»Versprochen.«

Die Tür schließt sich hinter mir, und ich atme aus. Dann spaziere ich rasch mit dem Wagen davon und wiege ihn leicht im Gehen.

»Ich verstehe dich so gut«, sage ich zu meinem schreienden Neffen. »Da drin hält man es echt nicht aus.«

Zwei Häuser später schläft Noah ein. Ich nicke Ragnvald zu, einem der Nachbarn, mit denen Papa immer Werkzeug austauscht, und beuge mich über den Wagen, um die Decke um Noah zurechtzustopfen, bevor ich weitergehe.

»Armer kleiner Junge. Musst dabeisitzen und zuhören, wie dein Großvater eine Unverschämtheit nach der anderen von sich gibt. Werd bloß nicht wie er, Noah. Such dir andere männliche Vorbilder. Dein Papa ist in Ordnung. Leider sind die meisten Männer auf die eine oder andere Weise Schweine. Aber ich werde die Augen offen halten und es dir sagen, wenn ich noch ein paar nette Kerle finde.«

Wir gehen eine Runde durchs Viertel, und dann ist mir kalt genug, um zurückzuschlendern.

Lisen strahlt, als sie den friedlich schlafenden Noah sieht. »Großartig! Danke, Clara.«

Jesper hilft uns, den Wagen ins Haus zu tragen. »Supertante«, sagt er und zwinkert mir zu.

Hinter ihm verdreht Paulina die Augen.

»Iss ein Stück Kuchen!«, ruft Mama aus dem Wohnzimmer, wo sich alle niedergelassen haben, während ich draußen war.

Papa bedeutet ihr, leiser zu sein. »Wenn du so brüllst, muss sie gleich wieder mit dem Kind rausgehen.«

Jesper ist zu ihnen ins Wohnzimmer gegangen, weshalb ich sein Gesicht nicht sehen kann, doch seinem Tonfall nach zu schließen, ist er nicht erfreut. »Das Kind ist dein Enkelsohn.«

»Habe ich was anderes behauptet?«

»Himmel, seid ihr albern. Ihr klingt wie streitende Sandkastenkinder«, schnaubt Paulina.

»Wie gut, dass du hier bist und mit deiner ganzen Reife einen Ausgleich schaffst«, entgegnet Jesper. »Kannst du uns Sandkastenkindern etwas von deiner Weisheit abgeben? Nur ein klein bisschen?«

»Clara, Liebes, kommst du?«, ruft Mama gedämpft.

Ich werfe einen Blick ins Wohnzimmer und zögere nur einen Augenblick. »Ich verziehe mich nach oben ins Arbeitszimmer und korrigiere ein bisschen. Ich komme später wieder.«

»Was will sie machen?«, fragt Papa, während ich zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben eile. »Will sie sich jetzt wieder mit einem Buch verstecken?«