Zinkjungen - Swetlana Alexijewitsch - E-Book

Zinkjungen E-Book

Swetlana Alexijewitsch

4,8

Beschreibung

Der Krieg, den die UdSSR 1979–1989 in Afghanistan führte, gilt als das "sowjetische Vietnam". Eine Million Soldaten durchlebte das Grauen, mindestens 50.000 starben. Das Regime selbst verschwieg der Öffentlichkeit die brutale Realität des Kriegs. So wurden die verstümmelten Leichen der gefallenen Soldaten den Angehörigen nur in zugeschweißten Zinksärgen übergeben. Umso schockierter reagierte die Gesellschaft in Russland, als Anfang der 1990er Jahre das wahre Ausmaß der Tragödie bekannt wurde – auch durch Alexijewitschs mutiges Buch "Zinkjungen". Darin lässt sie überlebende Soldaten, Krankenschwestern, Witwen und Mütter von Gefallenen zu Wort kommen und führt uns so das Trauma einer ganzen Gesellschaft vor Augen.

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Hanser Berlin E-Book

Swetlana Alexijewitsch

ZINKJUNGEN

Afghanistanund die Folgen

Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko und Ganna-Maria Braungardt

Hanser Berlin

Die erweiterte und aktualisierte russische Originalausgabeerschien 2007 unter dem Titel Zinkowyje maltschikibei Wremja in Moskau.

Erweiterte, aktualisierte Neuausgabe

ISBN 978-3-446-24589-1

© 2007, 2014 Swetlana Alexijewitsch

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München,

unter Verwendung eines Fotos von © PhotoXPress /VISUM

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

INHALT

Prolog

Tagebuchnotizen aus dem Krieg

Erster Tag

Zweiter Tag

Dritter Tag

Post mortem

Gerichtsprozess gegen die Zinkjungen(Eine Geschichte in Dokumenten)

»Stimmen im Chor: eine Epoche zur Sprache bringen«Laudatio von Karl Schlögel anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Swetlana Alexijewitsch am 15. Oktober 2013 in der Frankfurter Paulskirche

Anmerkungen

Am 20. Januar 1881 bekamen die Kosaken des Don-AtamansWassili Orlow den Befehl, gen Indien zu ziehen. Sie hatteneinen Monat für den Marsch bis Orenburg, drei Monate von dort»über Buchara und Chiwa zum Indus«. Bald sollten 30.000 Kosaken dieWolga überqueren und in die kasachischen Steppen vordringen …

Im Kampf um die Macht.

Seiten der politischen Geschichte Russlands im 17. Jahrhundert,Moskau, Verlag Mysl,1988, S. 475

Im Dezember 1979 fasste die sowjetische Regierung denBeschluss über die Entsendung von Truppen nach Afghanistan.Der Krieg dauerte von 1979 bis 1989. Er währte zehn Jahre,einen Monat und neunzehn Tage. Durch Afghanistan gingenüber eine halbe Million Soldaten des begrenzten sowjetischenTruppenkontingents. Die Zahl der Todesopfer bei densowjetischen Streitkräften betrug insgesamt 15.051. Vermisstund in Gefangenschaft geraten sind 417 Armeeangehörige.Noch im Jahr 2000 waren 287 Personen weiterhin vermisstoder nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt.

Polit.ru, 19. November 2003

PROLOG

Eine Mutter

»Ich gehe allein … Jetzt werde ich lange allein gehen müssen …

Er hat einen Menschen getötet … Mein Sohn … Mit einem Küchenbeil, damit habe ich immer Fleisch zerteilt. Er ist aus dem Krieg zurückgekommen, und hier hat er getötet … Am Morgen kam er nach Hause und legte das Beil wieder an seinen Platz, in den Geschirrschrank. Ich glaube, ich habe ihm an diesem Tag noch Koteletts gemacht … Nach einer Weile wurde im Fernsehen gesagt, oder es stand in der Abendzeitung, Angler hätten eine Leiche aus dem Stadtsee gefischt … Zerstückelt … Meine Freundin rief mich an: ›Hast du gelesen? Ein Profimord … Typische Afghanen-Handschrift …‹

Mein Sohn war zu Hause, er lag auf der Couch und las ein Buch. Ich wusste noch nichts, ahnte nichts, aber nach diesen Worten sah ich ihn an … Das Herz einer Mutter …

Hören Sie das Hundegebell? Nein? Ich höre es – immer wenn ich davon erzähle, höre ich Hunde bellen. Hunde, die laufen … Dort im Gefängnis, wo er jetzt sitzt, gibt es große schwarze Schäferhunde … Auch die Menschen sind alle schwarz gekleidet, nur schwarz … Wenn ich nach Minsk zurückkomme und die Straße entlanggehe, vorbei am Brotladen und am Kindergarten, mit einem Weißbrot und Milch, dann höre ich dieses Gebell. Ohrenbetäubendes Gebell. Mir wird ganz schwarz vor Augen … Einmal wäre ich beinahe unter ein Auto geraten …

Ich wäre bereit, ans Grab meines Sohnes zu gehen … Dort neben ihm zu liegen … Aber ich weiß nicht … Wie ich damit leben soll, weiß ich nicht … Manchmal habe ich Angst, in die Küche zu gehen, den Schrank zu sehen, in dem das Beil lag … Hören Sie es nicht? Sie hören nichts … Nein?!

Ich weiß nicht, wie mein Sohn ist. Und wie werde ich ihn in fünfzehn Jahren zurückbekommen? Er hat fünfzehn Jahre strenge Lagerhaft gekriegt … Wie ich ihn erzogen habe? Er interessierte sich für Gesellschaftstanz … Wir fuhren zusammen nach Leningrad, in die Eremitage. Lasen zusammen Bücher … (Sie weint.) Afghanistan hat mir meinen Sohn genommen …

Wir bekamen ein Telegramm aus Taschkent: Holt mich ab, Flug Nummer soundso … Ich rannte auf den Balkon, ich wollte laut hinausschreien: ›Er lebt! Mein Sohn ist lebend aus Afghanistan heimgekehrt! Dieser schreckliche Krieg ist für mich vorbei!‹ Und verlor das Bewusstsein. Zum Flughafen kamen wir natürlich zu spät, das Flugzeug war längst gelandet, wir fanden unseren Sohn im Park. Er lag auf der Erde, hielt das Gras fest und staunte, wie grün es war. Er konnte nicht glauben, dass er heimgekehrt war … Aber sein Gesicht war ohne Freude …

Am Abend besuchten uns die Nachbarn, sie haben ein kleines Mädchen, dem hatten sie eine blaue Schleife ins Haar gebunden. Er nahm die Kleine auf den Schoß, drückte sie an sich und weinte, die Tränen liefen nur so. Weil sie dort getötet hatten. Auch er … Das wurde mir später klar.

An der Grenze haben ihm die Zöllner seine ausländischen Unterhosen abgenommen. Amerikanische. Das sei nicht erlaubt … Er kam also ohne Unterwäsche an. Für mich hatte er eine Kittelschürze dabei, ich wurde in dem Jahr vierzig, die nahmen sie ihm weg. Für die Großmutter ein Tuch – das nahmen sie ihm auch weg. Er hatte nur Blumen dabei. Gladiolen. Aber sein Gesicht war ohne Freude.

Wenn er morgens aufstand, war er ganz normal. ›Mamka! Mamka!‹ Zum Abend wurde sein Gesicht immer dunkler, seine Augen wurden bleiern … Das kann ich Ihnen nicht beschreiben … Anfangs trank er keinen Tropfen … Saß da und starrte die Wand an. Dann sprang er vom Sofa, schnappte sich seine Jacke …

Ich stellte mich vor die Tür. ›Wo willst du hin, Valjuschka?‹

Er schaute mich an, als wäre ich gar nicht da. Und ging.

Einmal komme ich spät von der Arbeit, der Betrieb ist weit weg, und ich hatte Spätschicht, ich klingle an der Tür, aber er macht nicht auf. Er erkennt meine Stimme nicht. Das war so seltsam – wenn er die Stimmen seiner Freunde nicht erkennt, na schön, aber meine! Zumal nur ich ihn Valjuschka nannte. Es war, als wartete er die ganze Zeit auf irgendwen, als hätte er Angst. Einmal hab ich ihm ein neues Hemd gekauft und ließ es ihn anprobieren, da sehe ich: seine Arme sind voller Schnittwunden.

›Was ist das?‹

›Nichts weiter, Mamka.‹

Später habe ich es erfahren. Nach dem Prozess … Während der Ausbildung hat er sich die Pulsadern aufgeschlitzt … Bei einer Musterübung war er Funker, er schaffte es nicht, das Funkgerät rechtzeitig auf einen Baum zu werfen, schaffte die vorgeschriebene Zeit nicht, und der Sergeant ließ ihn fünfzig Eimer aus der Toilette schöpfen und an der angetretenen Truppe vorbeischleppen. Dabei wurde er ohnmächtig. Im Lazarett stellten sie die Diagnose: leichter Nervenzusammenbruch. In derselben Nacht hat er versucht, sich die Pulsadern aufzuschlitzen. Das zweite Mal in Afghanistan … Vor einem Einsatz wurde das Funkgerät überprüft – es funktionierte nicht. Wertvolle Teile fehlten, irgendwer hatte sie geklaut … Wer? Der Kommandeur beschuldigte ihn der Feigheit, er hätte die Teile versteckt, um nicht mit den anderen in den Einsatz zu müssen. Dabei beklauten sie sich dort alle gegenseitig, sogar die Autos nahmen sie auseinander und schafften sie als Ersatzteile in einen Dukan, einen Laden, zum Verkaufen. Und kauften Drogen … Drogen, Zigaretten. Und Essen. Sie waren ständig hungrig.

Im Fernsehen lief mal eine Sendung über Edith Piaf, die sahen wir uns zusammen an.

›Mama‹, fragte er mich, ›weißt du, was Drogen sind?‹

›Nein‹, log ich und beobachtete ihn – ob er welche nahm?

Ich konnte nichts entdecken. Aber dort haben sie Drogen genommen, das weiß ich.

›Wie ist es dort in Afghanistan?‹, habe ich ihn einmal gefragt.

›Hör auf, Mamka!‹

Wenn er fortging, las ich seine afghanischen Briefe wieder, ich wollte herausfinden, was mit ihm los war. Aber ich fand darin nichts Besonderes, er schrieb, dass er sich nach grünem Gras sehne, bat seine Großmutter, sich im Schnee fotografieren zu lassen und ihm das Foto zu schicken. Aber ich sah doch, ich spürte, dass etwas mit ihm geschah. Ich hatte einen anderen Menschen zurückbekommen … Das war nicht mein Sohn. Und ich selbst hatte ihn zur Armee geschickt, er war eigentlich zurückgestellt. Ich wollte, dass er ein Mann wurde. Ich redete ihm und mir selbst ein, die Armee würde ihn besser machen, stärker. Ich schickte ihn mit einer Gitarre nach Afghanistan, richtete zu seiner Verabschiedung eine Kuchentafel aus. Er lud seine Freunde ein, ein paar Mädchen … Ich weiß noch, ich habe zehn Torten gekauft.

Nur ein einziges Mal kam er auf Afghanistan zu sprechen. Gegen Abend … Er kam in die Küche, ich nahm gerade ein Kaninchen aus. Die ganze Schüssel war voller Blut. Er tauchte die Finger in dieses Blut und schaute es an. Betrachtete es. Und sagte zu sich selbst: ›Sie bringen einen Freund mit Bauchwunde … Er bittet mich, ihn zu erschießen … Und ich habe ihn erschossen …‹

Die Finger voller Blut … Vom Kaninchenfleisch, es war ganz frisch … Mit diesen Fingern schnappte er sich eine Zigarette und ging auf den Balkon. An diesem Abend sprach er kein Wort mehr mit mir.

Ich ging zu Ärzten. Gebt mir meinen Sohn zurück! Rettet ihn! Ich erzählte ihnen alles … Sie schauten ihn sich an, untersuchten ihn, aber außer einer Radikulitis fanden sie nichts.

Eines Tages komme ich nach Hause: Am Tisch sitzen vier unbekannte junge Männer.

›Mamka, sie kommen aus Afghanistan. Ich hab sie auf dem Bahnhof getroffen. Sie haben kein Nachtquartier.‹

›Ich backe euch gleich einen Kuchen. Geht ganz schnell.‹ Aus irgendeinem Grund freute ich mich.

Sie blieben eine Woche bei uns. Ich hab nicht gezählt, aber an die drei Kisten Wodka haben sie bestimmt getrunken. Jeden Abend fand ich bei mir zu Hause fünf Fremde vor. Der Fünfte war mein Sohn … Ich wollte ihre Gespräche nicht mit anhören, sie erschreckten mich. Aber in einer so kleinen Wohnung … Unwillkürlich hörte ich mit … Sie erzählten, wenn sie zwei Wochen lang in einem Hinterhalt saßen, hätten sie Aufputschmittel bekommen, damit sie mutiger wurden. Aber das alles werde geheim gehalten. Mit welchen Waffen man am besten töten könne … Aus welcher Entfernung … Später fiel mir das alles wieder ein, nachdem es passiert war … Später fing ich an nachzudenken, erinnerte mich fieberhaft. Bis dahin aber war mir nur bange. Oje, sagte ich mir, sie sind alle irgendwie verrückt. Sie sind alle nicht mehr normal.

In der Nacht … Vor jenem Tag … An dem er tötete … Da hatte ich einen Traum: Ich warte auf meinen Sohn, er kommt und kommt nicht. Und dann bringen sie ihn mir … Vier ›Afghanen‹. Sie werfen ihn auf den schmutzigen Zementfußboden. Verstehen Sie, Zementfußboden bei mir zu Hause … In unserer Küche … Ein Fußboden wie im Gefängnis.

Zu der Zeit hatte er schon die Aufnahmeprüfung für die Vorbereitungsfakultät des Instituts für Kommunikationstechnik bestanden. Er hatte einen sehr guten Aufsatz geschrieben. Er war glücklich, dass für ihn alles gut lief. Ich dachte schon, er beruhige sich allmählich. Er würde studieren. Heiraten. Doch sobald es Abend wurde … Ich hatte Angst vor dem Abend … Dann saß er da und starrte die Wand an. Schlief im Sessel ein … Ich hätte mich am liebsten über ihn geworfen, ihn beschützt und ihn nicht mehr weggelassen. Jetzt träume ich oft von meinem Sohn: Er ist noch klein und hat Hunger … Er ist die ganze Zeit hungrig. Streckt mir die Arme entgegen … Wenn ich von ihm träume, ist er immer klein und hilflos. Und die Wirklichkeit?! Alle zwei Monate ein Besuch. Vier Stunden Gespräch durch eine Glasscheibe …

Zweimal im Jahr Besuche, bei denen ich ihm wenigstens etwas zu essen geben kann. Und dieses Hundegebell … Ich träume von diesem Hundegebell. Es verfolgt mich überallhin.

Ein Mann bemühte sich um mich … Schenkte mir Blumen … Als er mir die Blumen mitbrachte, fing ich an zu schreien. ›Halten Sie sich fern von mir, ich bin die Mutter eines Mörders.‹ Die erste Zeit hatte ich Angst, Bekannten zu begegnen, ich schloss mich im Bad ein und erwartete, dass die Wände auf mich einstürzen würden. Mir schien, als würden alle auf der Straße mich erkennen, mit Fingern auf mich zeigen und flüstern: ›Erinnern Sie sich, die schreckliche Geschichte damals … Das war ihr Sohn. Er hat einen Menschen zerstückelt. Typische Afghanen-Handschrift …‹ Ich ging nur nachts hinaus, bald kannte ich alle Nachtvögel. Erkannte sie an ihren Stimmen.

Die Ermittlungen liefen … Sie dauerten mehrere Monate … Er schwieg. Ich fuhr nach Moskau ins Burdenko-Militärlazarett. Dort fand ich junge Männer, die auch in der Spezialeinheit gedient hatten, wie er. Ihnen offenbarte ich mich …

›Jungs, warum kann mein Sohn einen Menschen getötet haben?‹

›Er wird einen Grund gehabt haben.‹

Ich musste mich selbst davon überzeugen, dass er das getan haben konnte … Jemanden töten … Lange fragte ich sie aus und begriff: Er konnte! Ich fragte sie nach dem Tod … Nein, nicht nach dem Tod, sondern nach dem Töten. Aber das löste bei ihnen keine besonderen Gefühle aus, Gefühle, wie ein Mord sie gewöhnlich bei einem normalen Menschen auslöst, der noch nie Blut gesehen hat. Sie redeten vom Krieg wie von einer Arbeit, bei der man eben töten muss. Später traf ich junge Männer, die auch in Afghanistan gewesen waren; nach dem Erdbeben in Armenien waren sie mit Rettungsmannschaften dorthin gefahren. Ich wollte wissen, ganz besessen war ich davon: Ob sie Angst gehabt hätten? Was sie beim Anblick des Todes empfunden hätten. Nein, sie hatten vor nichts Angst gehabt, selbst ihr Mitgefühl war abgestumpft. Zerstückelte … zerquetschte … Schädel, Knochen … Ganze Schulen unter Erdmassen begraben … Ganze Klassen … Wie die Kinder im Unterricht gesessen hatten, so waren sie verschüttet worden. Die jungen Männer aber erzählten von anderen Dingen: Was für üppige Weinkeller sie ausgegraben, was für Kognak, was für Wein sie getrunken hätten. Sie scherzten: Es soll ruhig noch mal irgendwo krachen. Aber irgendwo, wo es warm ist, wo Trauben wachsen und guter Wein gemacht wird … Sind diese Männer etwa gesund? Haben sie etwa eine normale Psyche?

›Ich hasse ihn noch als Toten.‹ Das hat er mir vor kurzem geschrieben. Nach fünf Jahren … Was war dort geschehen? Er schweigt. Ich weiß nur, dass dieser Junge, er hieß Jura, sich gebrüstet hatte, er habe in Afghanistan viele Schecks* verdient. Später stellte sich heraus, dass er in Äthiopien gedient hatte, als Fähnrich. Das mit Afghanistan war gelogen …

Vor Gericht sagte nur die Anwältin, dass hier über einen Kranken verhandelt würde. Auf der Anklagebank sitze kein Verbrecher, sondern ein Kranker. Er müsse behandelt werden. Aber damals, vor sieben Jahren, damals gab es noch keine Wahrheit über Afghanistan. Sie alle wurden Helden genannt. Internationalisten. Mein Sohn aber war ein Mörder … Weil er hier das Gleiche getan hatte, was sie dort taten. Wofür sie Medaillen und Orden bekamen … Warum wurde nur er allein verurteilt? Nicht diejenigen, die ihn dorthin geschickt hatten? Die ihn töten gelehrt hatten! Ich habe ihm das nicht beigebracht … (Sie fängt an zu schreien.)

Er hat einen Menschen getötet, mit meinem Küchenbeil … Und am Morgen hat er es zurückgebracht und wieder in den Schrank gelegt. Wie einen ganz normalen Löffel oder eine Gabel …

Ich beneide die Mutter, deren Sohn ohne Beine heimgekehrt ist … Auch wenn er sie hasst, wenn er betrunken ist. Wenn er die ganze Welt hasst … Sich auf die Mutter stürzt wie ein Tier. Sie kauft ihm Prostituierte, damit er nicht verrückt wird … Einmal ist sie selbst seine Geliebte geworden, weil er auf den Balkon gekrochen war und sich aus dem achten Stock hinunterstürzen wollte. Ich wäre zu allem bereit … Ich beneide alle Mütter, sogar die, deren Söhne im Grab liegen. Ich würde am Grab sitzen und wäre glücklich. Würde ihm Blumen bringen.

Hören Sie die Hunde bellen? Sie laufen mir hinterher. Ich höre sie …«

TAGEBUCHNOTIZEN AUS DEM KRIEG

Juni 1986

Ich hatte beschlossen, nicht mehr über den Krieg zu schreiben. Als mein Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht fertig war, konnte ich es nicht einmal ertragen, wenn einem Kind die Nase blutete, ich wandte mich ab, wenn Angler, glücklich über ihren Fang, Fische in den Ufersand warfen – mir wurde übel von den hervorquellenden starren Augen. Wahrscheinlich hat jeder seine Schmerzschutzgrenze, physische wie psychische, meine war erreicht. Das klägliche Schreien einer Katze, die von einem Auto angefahren wurde, machte mich fast krank, ich drehte mich weg, wenn ich einen zertretenen Regenwurm sah. Mehrmals kam mir der Gedanke, dass Tiere, Vögel, Fische wie alle Lebewesen ein Recht auf ihre Geschichte haben. Auch sie wird eines Tages geschrieben werden.

Und auf einmal – wenn »auf einmal« überhaupt der richtige Ausdruck ist: Der Krieg geht immerhin ins siebte Jahr … Aber wir wissen nichts über ihn, kennen nur die heroischen Fernsehreportagen. Von Zeit zu Zeit erschaudern wir beim Anblick der aus der Fremde heimgebrachten Zinksärge. Ein paar Salutschüsse zum Gedenken, dann ist wieder Ruhe. Unsere mythologische Mentalität ist unerschütterlich – wir sind gerecht und groß. Und haben immer recht. Die letzten Funken der Idee einer Weltrevolution glimmen da vor sich hin … Niemand merkt, dass es schon bei uns zu Hause brennt. Unser eigenes Haus steht in Brand. Gorbatschows Perestroika hat begonnen. Wir streben einem neuen Leben entgegen. Was erwartet uns dort? Wozu werden wir fähig sein nach so vielen Jahren künstlichen lethargischen Schlafs? Und unsere Jungen sterben irgendwo weit weg, und keiner weiß, wofür.

Worüber spricht man um mich herum? Worüber schreibt man? Über die internationalistische Pflicht, über Geopolitik, über unsere Staatsinteressen, über den Schutz unserer südlichen Grenzen. Und das wird geglaubt! Es wird geglaubt! Mütter, die noch vor kurzem verzweifelt über den geschlossenen Eisenkisten geweint haben, gehen in Schulen und Militärmuseen und rufen andere Jungen auf, »ihre Pflicht gegenüber der Heimat« zu erfüllen. Die Zensur achtet streng darauf, dass der Tod unserer Soldaten in den Kriegsberichten nicht erwähnt wird, man versichert uns, das »begrenzte Kontingent« sowjetischer Truppen helfe dem Brudervolk, Brücken, Straßen und Schulen zu bauen, Dünger und Mehl in die Kischlaks zu bringen, und die sowjetischen Ärzte würden bei afghanischen Frauen Geburtshilfe leisten. Die heimgekehrten Soldaten kommen mit Gitarren in die Schulen, um zu besingen, worüber man schreien müsste.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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