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Berlin im Herbst 1989. Am großen Opernhaus im Westteil der Stadt ist die junge, hochbegabte Tänzerin Zoe Marshall beim Ballett engagiert. Die Bühne bedeutet ihr alles, und auch das schweißtreibende Training vermag sie nicht davon abzuhalten, an ihre künstlerische Zukunft im Rampenlicht zu glauben. Ein Avantgarde-Choreograf aus Frankreich entdeckt ihr Talent und besetzt sie gegen alle Widerstände für die Hauptrolle seines neuen Balletts. Mit der ersehnten Erfüllung im Tanz scheint sie auch dem Mann ihrer Träume näher zukommen. Wenn da nicht die Mauer wäre ... Zur Erstausgabe unter Titel "Ist denn nicht zufällig Sonntag?": "Frauen-Schmöker, mitreißend ..." Journal für die Frau, 3/2003, 22.1.03 "Die Ost-West-Lovestory bietet höchst amüsante Einblicke in den Bühnen-Zickenterror der Berliner Oper." Joy, 03/2002, S. 38 "Ihre langjährige Tanzerfahrung und ihr Blick für die menschlichen Stärken und Schwächen ihrer 'Zunft' erheben den Liebesroman zu einem echten Tanz- und Ballettroman." Westfälische Nachrichten, 19.12.02
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2024
Berlin, im Herbst 1989. Am großen Opernhaus im Westteil der Stadt ist die junge, hochbegabte Tänzerin Zoe Marshall beim Ballett engagiert. Die Bühne bedeutet ihr alles, und auch das schweißtreibende Training vermag sie nicht davon abzuhalten, an ihre künstlerische Zukunft im Rampenlicht zu glauben. Ein Avantgarde-Choreograf aus Frankreich entdeckt ihr Talent und besetzt sie gegen alle Widerstände für die Hauptrolle seines neuen Balletts. Mit der ersehnten Erfüllung im Tanz scheint sie auch dem Mann ihrer Träume näher zukommen. Wenn da nicht die Mauer wäre …
Judith Frege hat in ihrer 25jährigen Bühnenkarriere als Balletttänzerin beim Hamburger Ballett, Stuttgarter Ballett sowie beim Ballett der Deutschen Oper Berlin mit den großen Namen der Ballett- und Tanzwelt von 1973 bis 1998 zusammengearbeitet. Die Fülle an Erlebnissen und Erfahrungen aus dieser Zeit haben die Autorin dazu inspiriert, den vorliegenden Roman zu schreiben. Heute arbeitet Judith Frege als diplomierte Tanzpädagogin und ist seit zwanzig Jahren Direktorin der Ausbildungs- und Ergänzungsschule in Berlin, des Tanzloft Berlin. Neben Unterrichtsfächern wie Klassisches Ballett, Modern Dance und Kreativer Kindertanz leitet Judith Frege tanzpädagogische Seminare, die u. a. von Tänzerinnen und Tänzern professioneller Ballettkompanien besucht werden. Judith Frege ist mit fünf Geschwistern als Tochter einer englischen Mutter und eines deutschen Vaters aufgewachsen. Neben dem vorliegenden Roman und Kurzgeschichten hat sie mehrere Fachbücher veröffentlicht; Ballettausbildung nach der Waganowa-Methode Band I und Band II (Henschel), Kreativer Kindertanz (Henschel), Kinderballett (Henschel) u. a.
Judith Frege
Zoe 1989
Ein Ballettroman aus Berlin
amora, Bd. 3
eISBN 978-3-96079-117-1 (E-Book)
auch als TB: ISBN 978-3-96079-116-4
1. Auflage 2024 / Neuauflage von
"Ist denn nicht zufällig Sonntag?"
© SOLIBRO® Verlag, Münster 2024
Alle Rechte vorbehalten. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Covergestaltung: Michael Rühle
verlegt. gefunden.gelesen.
www.solibro.de
für Jennie
Ich danke meinen Geschwistern John, Beate, Mike, Andreas und Lizzie für die großartige Hilfe, das Probelesen und das Mutmachen. Besonderer Dank gilt Jörg für seine konstruktive Kritik und Unterstützung.
Kapitel 1
Ist denn nicht zufällig Sonntag?“,
fragte sie ihre Zimmerdecke, die stur verneinend herabblickte. Dann eben nicht, dachte sie, schloß die Augen, drehte sich auf die Seite in die warmen Kissen hinein, suchte nach dem verlorenen Traum und sehnte sich nach Sonntag. Aber sie wußte, … es war zwecklos.
Es war nicht Sonntag.
Ihr Gehör registrierte Regen, und sie folgte den Wassertropfen, die in Rinnsalen die Scheiben herabliefen. Und weil sie keine Nischen fanden, in denen sie hätten verweilen können, stürzten sie die Hauswand hinunter auf die Straße, in den Gully, den endlosen Kanal entlang, um irgendwann, irgendwo wieder aufzutauchen und von der Erde aufgesaugt zu werden oder einfach zu verdunsten.
Die Augen halb geöffnet, beobachtete sie das fahle Morgenlicht, das durch die Ritzen der Jalousie kroch und blasse Streifenmuster auf den Fußboden zeichnete, in denen der Staub tanzte. Alltagsbilder drängelten sich vor, summten im Kopf wie lästige Fliegen und bohrten kleine Löcher ins Bewußtsein, bis sie sich geschlagen gab.
Wie an jedem Morgen – außer sonntags.
Und ihr war jetzt schon klar, was für ein Tag auf sie zukam, – einer, den man am besten verschläft. Sie schlug die Bettdecke zurück und befahl ihrem linken Fuß nach den Badelatschen unterm Bett zu angeln, als sich urplötzlich und ohne Vorwarnung ein dumpfer Schmerz seinen Weg durch ihren Körper bahnte. War sie krank oder verletzt und durfte unter keinen Umständen aufstehen? „Einfach liegenbleiben“, meldete sich ihre innere Stimme hoffnungsvoll. Umgehend enttarnte der Verstand die Gliederschmerzen als läppischen Muskelkater. Eine körperliche Reaktion, die auftritt, wenn eine Tänzerin die gesamten Theaterferien faulenzt und es nicht für nötig hält, auch nur einmal den Fuß zu strecken. Bauchmuskelübungen, sich dehnen und einen Spagat zu wagen, sind ihr erst gar nicht in den Sinn gekommen. Mit Anbruch des ersten Urlaubstages war sie in eine Art Bewegungsstarre verfallen und hatte jede körperliche Aktivität auf ein Minimum reduziert. Faulheit hatte sie befallen, wie eine wuchernde Pilzkrankheit, und sie wartete geduldig auf den Zeitpunkt, daß dieser unbewegte Zustand anfing zu langweilen.
Aber der Moment kam nicht.
Vorsichtig tastete sie sich aus dem Bett und tappte steifbeinig zum Fenster. Die Jalousie quietschte beim Hochziehen, und als sie das Fenster öffnete, blies ihr naßkalter Wind ins Gesicht. Regentropfen klatschten auf das Sims, zerplatzten in kleinen Spritzern und benetzten ihre Haut. Sie blickte einem Flugzeug nach, das in den dichten, bleiernen Wolken verschwand und verlor sich für einen Augenblick in Erinnerungen.
Sie fror.
Auf dem Weg ins Badezimmer erinnerten Muskeln schmerzhaft an ihre Existenz und an die gestrigen Proben; endlose Proben für das Ballett Schwanensee, das in zwei Wochen die neue Spielzeit eröffnen sollte. Man hatte sie nicht in der Besetzungshierarchie aufsteigen lassen, und Enttäuschung klumpte sich in ihrem Magen zusammen, wie eine schwerverdauliche Mahlzeit. Zu ihrem Verdruß tanzte sie - wie in den Jahren zuvor - nur einen von vierundzwanzig Schwänen. Eine undankbare Rolle, die sie haßte. Der Tanz der Schwäne war schwierig, schmerzte in Füßen und Beinen und fand wenig Anerkennung beim Publikum.
„Zum Teufel mit Schwanensee. Dieser verstaubte alte Schinken kann mich mal“, fluchte sie.
Mit dem Kokosduft des Duschgels in der Nase ließ sie sich vom heißen Wasser einhüllen, während sich die Muskulatur entkrampfte. Woran hatte sie gedacht? Ach ja – Schwanensee. Warum erkannte der Ballettdirektor ihr Talent nicht? Sah er es nicht, oder wollte er es nicht sehen? Oder lag es etwa an ihr selbst? Sie war alles andere als in Form, hatte nicht - wie andere - an Sommerkursen teilgenommen, um optimal trainiert die Spielzeit zu starten. Also, was wollte sie eigentlich? Karriere machen – ein Star werden? Und welchen Preis zahlte man für Erfolg? - Ehrgeizig, besessen, unterwürfig? Eigenschaften, die ihr zuwider waren. Sie hatte sich immer dagegen gewehrt, so zu werden.
Und trotzdem, es mußte sich etwas ändern. Sie griff zum Massagehandschuh und schrubbte, bis die Haut glühte und der Muskelkater fast vergessen war, nicht aber die Unzufriedenheit, die sich in ihrer Seele festklebte. Okay, sie wollte also etwas ändern. Nur was war – Etwas? Sie wußte, daß es den dreiundzwanzig anderen Schwänen nicht viel besser erging. Auch an ihnen nagten Zweifel, und sie stellten Fragen, auf die sie keine Antwort erhielten. Eine sonderbare Liebe zerrte an ihnen und trieb sie an, unaufhörlich nach der Erfüllung im Tanz zu suchen.
Das wohlige Naß versiegte, und mit dem duftenden Schaum verschwand auch die Erinnerung an Sommer im Abfluß und ließ sie fröstelnd zurück, an einem ungemütlichen Septembermorgen mitten im schmutziggrauen Berlin. Warum ist es nur so verdammt kalt, dachte sie, beeilte sich in die Jeans und zog den alten Angorapulli über den Kopf. Im Badezimmerspiegel, der mit angetrockneten Wasserspritzern gesprenkelt war, sah sie ihr blasses Gesicht mit den grünen, leicht schrägstehenden Augen. Ihr Haar hing lang und glatt über die Schultern, die Farbe kupferrot wie die Abbildung einer Hennafarbpackung. Wie fast jeden Morgen ärgerte sie sich über die abstehenden Ohren – die nicht vorhanden waren. Aber sie beharrte auf ihren abstehenden Ohren, gähnte ihr Spiegelbild an und fand ihren Mund viel zu groß. Was hatte sie neulich gelesen? Schon beim ersten ernüchternden Anblick seiner selbst, am frühen Morgen – positiv denken.
„Also, denke positiv!“ Sie verzog die Lippen zu einem Haifischgrinsen.
„Ob das hilft?“, fragte sie das Gesicht im Spiegel. „Blödsinniger Seelenquatsch“, war die Antwort.
Sie goß ein wenig Milch in eine große Tasse, in der ein Teebeutel schwamm und rührte so lange, bis die Flüssigkeit eine goldbraune Farbe annahm. - In kleinen Schlucken genießen - stand auf der Packung, und schon fühlte sie ihre Lebensgeister erwachen, während sie in dem Transistorradio auf dem Holztisch nach dem Sender suchte, der ein bißchen Heimat in die Berliner Altbauküche brachte. „BFBS–British-Forces-Radio“, sprudelte die vertraute englische Stimme hervor und kündigte noch mehr Regen an. Wie in London, ging es ihr durch den Kopf, und sie sah aus dem Fenster, vor dem ein Wasserschleier hing. War es wirklich erst drei Jahre her, seitdem sie – Zoe Marshall – geboren in der englischen Industriestadt Burnley und den Kopf voller Träume, hier in Berlin gelandet war? Sie massierte ihre steifen Wadenmuskeln, dachte zurück an ihre Ballettlehrerin, Miss Tschechowa an der Royal Ballet School, und sofort hörte sie die warnende Stimme: „Mitleid mit euren Beinen und Füßen, ja, das dürft ihr haben, aber nachgeben – niemals!“ Mit einer Kombination aus Strenge und mütterlicher Wärme formte die energische Lehrerin ihre Zöglinge zu professionellen Balletttänzern. Sie hatte es damals nicht leicht mit ihrer Schülerin Zoe Marshall, die zwar mit einer ungewöhnlichen Begabung, aber leider nur mit mäßigem Ehrgeiz ausgestattet war. Unermüdlich hatte Miss Tschechowa die Zehn Gebote des Tänzerlebens gepredigt. Disziplin, Disziplin und nochmals Disziplin! Irgendwann waren sie unwiderruflich in das Hirn eingeschweißt, und der Versuch, davon freizukommen, scheiterte am schlechten Gewissen, das sich aufbäumte und nicht stillhalten wollte. Bis auf sonntags und im Urlaub, überlegte Zoe und nahm sich vor, sich zusammenzureißen.
Das Telefon klingelte. Es war Robert. Ob er sie mit dem Wagen abholen solle, wegen des gräßlichen Wetters. Er müsse um halb zehn zur Orchesterprobe in der Oper sein, und er habe Sehnsucht nach ihr. Wie nett von ihm, aber sie verspürte keine Lust, Robert zu sehen. Vielleicht heute abend? Enttäuscht hing er ein.
Einen Moment lang kam sie sich mies vor.
Quatsch – warum sich Vorwürfe machen? Sie hatte ihm nie die große Liebe vorgegaukelt oder Gefühle vorgespielt, die nicht vorhanden waren. Seinen Vorschlag, zusammen in eine Wohnung zu ziehen, lehnte sie kategorisch ab, und vor dem gemeinsamen Urlaub hatte sie sich in letzter Minute gedrückt.
Ihr Verhalten kränkte Robert. Er hatte mehr als ein Mal versucht, sie zu vergessen, was ihm aber nicht gelang. Dünnhäutig wie er war, reagierte Robert oft eingeschnappt. Vor allem dann, wenn Zoe vorgab, keine Zeit für ihn zu haben. Oder noch schlimmer, wenn sie behauptete, allein sein zu wollen. Er zog sich dann zurück wie ein verwundetes Tier und wartete darauf, daß sie ihn rief. Er hatte sich hoffnungslos in Zoe verliebt, verwöhnte sie, wo er nur konnte, ertrug ihre Launen ohne Murren und war stets zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Er war ein zärtlicher Liebhaber und angestrengt bemüht, sie glücklich zu machen. Doch er spürte, daß er nicht in der Lage war, ihr Feuer zu entfachen und führte das auf die harte Arbeit beim Ballett zurück. Robert klammerte sich an die Hoffnung, sie irgendwann davon zu überzeugen, daß eine Ehe eine glücklichere Zukunft versprach als eine mehr oder weniger erfolgreiche Tänzerkarriere. Zoe wich diesen Diskussionen aus. Es kam immer öfter vor, daß er sie ungeduldig machte mit seiner Empfindsamkeit. Obwohl das Leben mit Robert durchaus angenehm war, erkannte sie, daß er sie zunehmend langweilte.
Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr, und in ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken. Höchste Zeit, aufzubrechen. Mit der Angewohnheit zu spät zu kommen, hatte sie sich in der letzten Spielzeit ziemlichen Ärger eingehandelt.
Noch einen Moment entspannen, dachte sie und genoß es, einfach nur zu sitzen.
Die Minuten verstrichen.
Schließlich gab sie sich einen Ruck, riß die Öljacke vom Kleiderhaken, schlang sich einen Schal um den Hals und griff gleichzeitig nach Baskenkappe, Hausschlüsseln, Rucksack und Regenschirm. Die Haustür fiel krachend hinter ihr ins Schloß, und sie stürmte die alte, nach Bohnerwachs riechende Holztreppe hinunter.
Kapitel 2
Mahnstein ging die Treppen des Verwaltungsgebäudes hinauf. Nein – er ging nicht, er schleppte sich hinauf, übergewichtig, kurzatmig, schwitzend. Nach jeder fünften Stufe mußte er eine Pause einlegen und verschnaufen. Dabei wischte er sich mit einem Taschentuch über das Gesicht und zerrte am Hemdkragen, der im Nacken auf der Haut klebte. Die Krawatte saß zu eng und ließ das schlaffgewordene Fleisch am Hals hervorquellen. Die ungesunde Gesichtsfarbe ließ darauf schließen, daß der Mann, der auf Anfang siebzig geschätzt wurde, obwohl er erst kürzlich seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, unter zu hohem Blutdruck litt. Der Mund, über die Jahre zu einer verkniffenen Linie verengt, wirkte einschüchternd, ebenso die große, stolze Hakennase, die immerhin erkennen ließ, daß in diesem Menschen, an dem alles herabhing, ein starker Charakter steckte. Gottfried Mahnstein verfluchte den Befehl seines Arztes, wenigstens zweimal am Tag die Treppe zu benutzen und den Fahrstuhl zu ignorieren. Herzprobleme – hin oder her, Fettleibigkeit – sei es drum, er würde vollkommen fertig in seinem Büro im dritten Stock ankommen und müßte sich erst einmal bei einem kühlen Bierchen regenerieren. Welchen gesundheitlichen Nutzen die ganze Unternehmung dann bringen sollte, das würde ihm der Doktor noch erklären müssen. Er fixierte die nächste Stufe, um sie zu bewältigen.
„Morgen, Herr Professor.“ Mahnstein blickte verstohlen auf, in die Richtung, aus der diese widerlich fröhliche Stimme kam. Eine Stimme, die Vitalität, Gesundheit und Jugend versprach. Eigenschaften, die ihm auf die Nerven gingen. Der Mensch ihm gegenüber war der Verwaltungsdirektor, ein ekelhaft durchtrainierter Kerl.
„Morgen“, grunzte er zurück und blinzelte mit seinen trüben Augen, während er sich aufraffte, um seinen Aufstieg fortzusetzen. Jetzt bloß kein Gespräch anfangen, mitten auf der Treppe und in seinem verschwitzten Zustand.
„Scheußliches Wetter heute, nicht wahr?“, begann Randolf Schmidt und redete weiter, ohne auf Antwort zu warten. „Sie sind ja so sportlich heute morgen, Herr Professor? Wann soll ich zum Arbeitsgespräch kommen?“ Der ironische Ton war nicht zu überhören, das höhnische Grinsen nicht zu übersehen. Mahnstein haßte ihn, wie er all diese buckligen, kratzfüßelnden Beamten haßte. Diesen aufgeblasenen Schnösel verabscheute er ganz besonders.
Man hatte ihm, dem legendären, mit internationalem Ruhm geadelten Intendanten einen Verwaltungsdirektor aufgezwungen, denn angeblich überzog er ständig seinen Etat. Wie kleinlich, dachte er. Zugegeben, er hatte vielleicht manchmal die Kontrolle verloren, war ein wenig überfordert gewesen, und die heuchlerischen Politiker hatten ihm „kompetente“ Hilfe zur Seite gestellt. Dabei wollten die ihm doch nur hinterherspionieren, hatten ihm diesen altklugen Finanzexperten vor die Nase gesetzt – so ein Schwachsinn. Da sollte man noch wahre Kunst hervorbringen, mit so einem eingebildeten Zahlenguru, der von Oper nun gar keine Ahnung hatte, und der sich erdreistete, ihm, Gottfried Mahnstein, vorschreiben zu wollen, wie er sein Haus zu führen hatte.
Vom ersten Augenblick an konnten sie ihre gegenseitige Abneigung kaum verbergen. Randolf Schmidt zeigte seine Antipathie durch arrogant überzogene Höflichkeit. Offene Feindseligkeit zu zeigen, traute er sich nicht, denn Mahnstein besaß zuviel Macht und Ansehen. Er entwickelte verdeckte Methoden und operierte aus dem Hinterhalt, um sich für die Erniedrigungen zu rächen, die Mahnstein ihm regelmäßig zufügte. Dieser hingegen zeigte ohne Rücksicht auf Verluste, wer in seiner Gunst stand und wer sein Feind war. Am Schlimmsten traf es diejenigen, die er schlichtweg verachtete. Zu dieser Gruppe gehörte Schmidt, der mit verschränkten Armen auf dem Treppenabsatz stehengeblieben war und ihn aus feindseligen Augen ansah.
„’Tschuldigung!“ Zoe schoß eng am Intendanten vorbei, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf, so daß er um ein Haar die Balance verlor, und Randolf Schmidt erschrocken zur Seite sprang.
„Donnerwetter, wie der Blitz“, entfuhr es Mahnstein. Er starrte den roten Haaren nach, die hinter ihr herwehten, als sie um die Ecke bog und verschwunden war wie verschluckt und man nur noch eilige Schritte hörte.
„Ich lasse Sie rufen“, wandte sich Mahnstein mit einer extra Portion Unfreundlichkeit in der Stimme an den Verwaltungsdirektor. Er biß die Zähne zusammen, so daß seine Lippen kaum noch zu sehen waren und ohne einen weiteren Laut von sich zu geben, quälte er sich weiter die Treppe hinauf, niedergedrückt durch das Gewicht seines Körpers und durch die Last seines Amtes. Mit federndem Turnschuhschritt eilte Schmidt die Treppen hinunter. „Griesgrämiges Scheusal“, dachte er und strich sich selbstzufrieden über das blondierte Haar, das an den Schläfen bedenklich spärlich wuchs. Kein Wunder, sagte sich der gut erhaltene Fünfzigjährige, daß die Ehefrau dieses Tyrannen ihr Glück bei anderen sucht. Er pfiff eine lustige Melodie, obwohl man im Theater nicht pfeifen sollte. Abergläubische Opernmitglieder behaupteten, es bringe Unglück. Nun, er pfiff drauf, schließlich mußte er sich nach der Begegnung mit Mahnstein wieder in gute Stimmung versetzen.
„Sie übernehmen keine leichte Aufgabe, Schmidt“, hatte ihm der Senator vertraulich ans ehrgeizige Herz gelegt. „Intendant Mahnstein ist ein ziemlich harter Brocken. Ein großer Künstler, selbstherrlich, größenwahnsinnig, wie so häufig am Theater zu finden. Außerdem ist er ein rücksichtsloser Verschwender von Steuergeldern. Er herrscht wie ein Patriarch und ist der Meinung, das sei sein gutes Recht. Der Mann ist nicht ungefährlich, er unterhält weitverzweigte politische Verbindungen. Also, Vorsicht ist geboten, Schmidt! Setzen Sie dem haltlosen Treiben ein Ende oder dämmen sie es zumindest ein, ohne den Meister zu sehr zu verärgern. Da ist schon manch einer gescheitert und mußte resigniert unser Flaggschiff Opernhaus verlassen. Ich wünsche Ihnen Glück, Schmidt, Sie wissen, wo Sie mich erreichen können, falls Sie SOS funken müssen.“
Mit einem jovialen Schulterklopfen wurde der frischgebackene Verwaltungsdirektor in die Höhle des Löwen entlassen, und dort agierte er nun seit sechs Monaten. Seine ambitionierten Sparpläne scheiterten bisher allesamt am Intendanten, Mahnstein, der mit stoischer Gelassenheit nicht einsehen wollte, daß es auch für die Oper Sparzwänge gab.
Aber er, Randolf Schmidt, war geduldig. Eines schönen Tages würde auch dieser Mahnstein einknicken, davon war er felsenfest überzeugt.
„Einen wunderschönen guten Morgen!“, rief Schmidt dynamisch in den Korridor der Verwaltung, in dem alle Bürotüren offenstanden. Diese nach neuesten arbeitspsychologischen Erkenntnissen entwickelte Maßnahme hatte er immerhin bereits nach drei Monaten, trotz massiver Proteste und großem Gemurre, durchgesetzt. Mehr Transparenz, mehr Offenheit, mehr Kontakt zur Außenwelt. Keiner seiner Untergebenen sollte sich hinter verschlossenen Türen verschanzen. Das Image des zeitungslesenden Büroangestellten, der mürrisch seinen Dienst tut, dieses negative Image wollte er unbedingt abschaffen.
„Guten Morgen, Herr Direktor!“, schallte es in den verschiedensten Tonlagen zurück. Er vernahm hastiges Rascheln und vermutete, daß es sich um eilig zusammengefaltete Zeitungen handelte. Ein verärgerter Zug verfing sich in Schmidts Gesicht, verflüchtigte sich aber wieder, als er, an eifrig tippenden Sekretärinnen vorbei, auf seine Tür zusteuerte.
Eine Etage höher wurde Mahnstein von seiner Chefsekretärin, Hedwig Knaack, empfangen. Wie an jedem Morgen, nahm sie des Professors zerschlissene Aktentasche, den aus der Mode gekommenen Hut und seinen abgetragenen Trenchcoat in Übergröße entgegen.
Und wie jeden Tag stand auf seinem Schreibtisch aus solidem deutschen Eichenholz eine Thermoskanne mit Kräutertee neben den säuberlich geordneten Arbeitsunterlagen. Unter dem Tisch befand sich – diskret dem Blick des Besuchers entzogen – eine Flasche kühles Bier.
Hedwig Knaack liebte ihren Professor, ja man könnte so weit gehen und sagen, er war ihr Lebensinhalt. Sicherlich – sie hatte es nicht leicht mit ihm, mußte viele Launen und Donnerwetter über sich ergehen lassen. Ärgerlich wurde sie, wenn er ungerecht war und sie für Dinge verantwortlich machte, mit denen sie nicht im entferntesten zu tun hatte. Es gab Situationen, da brüllte er, außer sich vor Wut, die Wände an. „Wo ist die olle Knaack …!“ Das brachte sie jedesmal aus der Fassung. Ihre Empörung äußerte sich dann in unüberhörbarem Räuspern und heftig auf den Tisch geknallten Akten. Mahnstein staunte immer wieder über die unerwartete Fähigkeit seiner Sekretärin, Gefühle zu zeigen. Ihre zaghaften Temperamentausbrüche reizten ihn jedes Mal zu lautem Lachen, was wiederum mit giftigen Blicken quittiert wurde. Aber sie verzieh ihm alles. Es gab Tage, an denen sie für ihre Duldsamkeit belohnt wurde. An solchen Tagen zog er sie ins Vertrauen, teilte ihr seine Sorgen mit und machte sie zur Komplizin. Das waren Tage, an denen Hedwig Knaack glücklich war. Die perfekte Sekretärin, für sie kein Beruf, sondern eine Berufung, eine Obsession. Sie besaß die vollendete Fähigkeit zur Diskretion und konnte sich – falls erwünscht – unsichtbar machen. Sie verschmolz dann mit der Tapete, verwandelte sich in Büromobiliar und war sozusagen nicht mehr vorhanden. Eine Fähigkeit, die von Mahnstein überaus geschätzt wurde, zumal Hedwig Knaack das Gegenteil einer attraktiven Frau darstellte und keinen besonders erregenden Anblick bot. Ihre gutgepolsterte Figur steckte in betont unmodischer Kleidung, was sich nicht gerade vorteilhaft auswirkte. Ihr knittriges Gesicht, halb versteckt hinter einer viel zu großen Hornbrille, hatte nie – so konnte man vermuten – Zärtlichkeiten erfahren und trug stets einen sauertöpfischen Ausdruck. Mahnstein, der einen trockenen Humor besaß und sich besonders gerne auf Kosten anderer amüsierte, hatte das Experiment aufgegeben, den Gesichtsausdruck seiner Sekretärin durch Betätigung der Lachmuskeln zu verändern. Er verfügte über ein reiches Repertoire an guten Witzen, aber es wollte ihm in all den Jahren nicht gelingen, auch nur die Andeutung eines Lächelns auf ihr Gesicht zu zaubern. Aber der Intendant berief sich auf die inneren Werte seiner Sekretärin und sah großzügig über Äußerlichkeiten hinweg.
„Herr Professor, Sie sehen heute morgen aber gar nicht gut aus“, stellte Hedwig Knaack besorgt fest.
„Ach, Heddy, der idiotische Doktor und diese verdammten Treppen.“ Er nannte sie manchmal Heddy, war sie ihm doch seit Jahren treu ergeben und würde noch zu ihm halten, wenn das Schiff längst gesunken war.
„Es liegen bereits drei Anrufe aus der Senatsverwaltung vor, und der Personalrat wünscht dringend ein Gespräch.“
„Schon gut“. Mahnstein unterbrach die Aufzählung seiner Sekretärin und ließ sich mit einem Seufzer in den großen, abgewetzten Ledersessel plumpsen.
„Jetzt brauche ich erst mal mein Bierchen, bevor es an die unangenehmen Dinge im Leben eines Intendanten geht.“
Kapitel 3
Morgen!“
Jennie schlenderte in den Ballettsaal, der im Halbdunkel vor sich hindämmerte: ein karger Raum, gesäumt von abgegriffenen Holzstangen. Die weißgetünchten Wände wirkten schmuddelig, was noch deutlicher wurde, sobald Sonnenlicht durch die breite Fensterfront flutete. Über der Tür hing eine riesige Uhr, die stets genau drei Minuten nachging, und ein Schild mit der Aufschrift RAUCHEN VERBOTEN!!! prangte oberhalb des Spiegels, der die vordere Wand einnahm. Der Saal erinnerte an eine vereinsamte Bahnhofshalle, und, wie vergessene Gepäckstücke, lagen einige Gestalten auf dem Boden herum. Die Fleißigen und die Scheinfleißigen, die versuchten, sich und ihre Körper auf das Kommende vorzubereiten: die einen durch Aufwärmübungen, die anderen durch mentale Körperüberredungskunst – sprich Nichtstun. Jennies Begrüßung fand nur ein klägliches Echo, während sie auf ihren Platz zuging. Jeder hier hatte seinen Platz, sein Territorium, und niemand würde es wagen, es dem anderen streitig zu machen. Ihres befand sich links vom Klavier, an der hinteren Querstange, weit entfernt vom Spiegel. Sich frühmorgens im rohen Zustand begutachten zu müssen, das wäre ja gleich zum Weglaufen. Es gab aber Tänzer, die nicht ohne Spiegelbild auskamen. Wahrscheinlich brauchten sie die Bestätigung, daß sie noch vorhanden waren.
Sie stutzte.
Was war das? Ihr Platz besetzt? Jemand hatte es gewagt?
Fremde Augen in einem hellen Gesicht blickten verunsichert nach oben.
„Bin ich hier auf deinem Platz?“
„Kein Problem, alles okay.“ Jennie rückte ein Stück weiter, obwohl sie es haßte, auf ungewohntem Terrain ihr Training absolvieren zu müssen. Sie setzte sich auf den Boden, der sich über die Jahre mit Millionen Schweißtropfen vollgesaugt hatte. Dann fischte sie im Rucksack nach Pflaster für die Zehen, die nach den Ferien noch nicht abgehärtet waren und die sich, angesichts der scheinheilig glänzenden Spitzenschuhe, unversöhnlich anfühlten. Wenn das Publikum nur wüßte, wie hart diese Dinger sind, dachte sie und begann, die Schuhe mit einem Hammer weichzuklopfen.
„Da hilft nichts, da müßt ihr rein“, seufzte sie mit Blick auf ihre Füße und die Blonde sah mitleidig zu.
„Viel gearbeitet, was?“
„Ja, Schwanensee“, klagte Jennie, „und du, willst du vortanzen?“ Die Blonde nickte nervös.
In Hörweite beschwerten sich Kolleginnen über die Ballettmeisterin, die für die Schwanenseeprobe verantwortlich war, und im gleichen Moment eilte diese mit wichtigtuerischer Miene in den Saal. Im knappen Ton kündigte Gudrun Reber weitere Schwanenseeproben an und rauschte, ebenso plötzlich wie sie erschienen war, wieder hinaus. Merkwürdiger Mensch, diese Gudrun Reber, dachte Jennie. Nach dem Ende einer mittelmäßigen Tänzerlaufbahn stürzte sich die verwelkte und von unzähligen Diäten ausgezehrte Frau in die Aufgaben einer Ballettmeisterin. Dabei war sie getrieben von einem krankhaften Ehrgeiz, der Gelassenheit oder Humor nicht zuließ. Eifersüchtig und kleinlich wachte sie über die Geschicke der Kompanie, und alle wichtigen Aufgaben an sich reißend, versuchte sie, sich unentbehrlich zu machen. Sie folgte dem Ballettdirektor wie ein Schatten und ging ihm mit ihrer lauernden Anwesenheit auf die Nerven. Bis es ihm schließlich genug war. Er teilte ihr Aufgaben zu, die für räumliche Distanz sorgten und verbannte sie zur Probenleitung in den Ballettsaal. Eine Fehlentscheidung. Die Fähigkeit mit Tänzern umzugehen, blieb ihr verwehrt. Sie verwechselte Motivation mit stupidem Drill und ließ die Wände des Ballettsaals unter ihren Kommandos, die sie wie ein Feldmarschall herausschrie, erzittern. Sie war nicht imstande, den Künstler aus ihren Tänzern hervorzulocken, die wie gehorsame Marionetten agierend, ihren individuellen Zauber vorsorglich im Verborgenen hielten, aus Angst, er könne an Gudrun Reber zerbrechen. Die Tänzer blieben für die Ballettmeisterin unerreichbar. Sie sah es an den Augen, die stumpf vor sich hinstarrten und sich gleichgültig abwandten, während ihr tiefrot geschminkter Mund böse Worte ausspuckte. Frust und Enttäuschung hatten sich in Gudrun Reber eingenistet und an ihren Gesichtszügen gezerrt, bis sie einem Raubvogel glich.
Drei Minuten vor zehn. Allmählich wurde es voll im Saal, und der Geräuschpegel schwoll an wie eine heranrollende Lawine. Die Tänzer schlurften an ihren Arbeitsplatz, bepackt mit Taschen, Ballettschuhen, Beinwärmern, Handtüchern, Wasserflaschen und Trainingsjacken. Sie hatten, was ihre Arbeitskleidung betraf, einen auffallenden Hang zur Schlampigkeit. Schicht um Schicht Wolle um den Leib drapiert oder in unförmige Jogginganzüge gekleidet, reizten sie Kurt, den Trainingsleiter, regelmäßig zu seinen gefürchteten Wutausbrüchen, denn er konnte die Muskulatur unter der Vermummung nicht mehr erkennen, wodurch seine Korrekturen praktisch witzlos wurden. Vordergründig diente die wollene Tarnung dem Warmhalten der Muskeln. Der wahre Grund lag in dem Glauben der Tänzer, die eingebildeten Makel ihrer makellosen Körper verstecken zu müssen.
„Hey, wie geht’s, was machen die Füße? Wenn diese Giftnudel von Ballettmeisterin heute keine Rücksicht nimmt, dann streike ich, meine Beine sowieso!“ Mit einem Redeschwall aus gebrochenem Deutsch, Englisch und Italienisch, dazu schmatzenden Küssen auf die Wange, wurde Jennie von der Kollegin Helena begrüßt, die vor Lebensfreude überschäumte. Die lange Italienerin mit den herben Gesichtszügen konnte man nicht übersehen, überhören auch nicht. Manchmal hallte ihr schallendes Lachen durch die Gänge des Opernhauses, prallte an den Wänden ab und steckte die Vorübergehenden an. „Übrigens wo bleibt unsere Zoe?“ Auf ihre Frage erhielt sie von Jennie nur ein Wie-soll-ich-das-wissen-Achselzucken zur Antwort.
Rudi kam vorbeigeschlichen, kniff Jennie in die Seite und hielt sich für unwiderstehlich.
Eine exotische Schönheit ist sie, stellte er fachkundig fest, südländischer Typ mit Mandelaugen. Man könnte sich glatt verlieben, und er überlegte, ob er bei ihr Chancen hätte, wohlwissend, daß er keine hatte. Aber vielleicht bei Zoe, der rothaarigen Freundin mit den Katzenaugen und dem unwiderstehlichen Mund. Auf die war er richtig scharf, aber auch an sie war kein Rankommen – einfach frustrierend. Wo war Zoe überhaupt? Kam sicher wieder zu spät. Er gesellte sich zu Steve, der neben Helena auf dem Boden kauerte und ihre Waden massierte, mit dem Resultat, daß sie quiekte wie ein Schwein.
„Helena, das sind ja Steine“, war Steves Diagnose, und er drückte noch ein bißchen intensiver zu.
„Warte nur, eines Tages werde ich mich rächen!“, zischte sie durch zusammengebissene Zähne und stieß ihn von sich. Steves schelmische Augen suchten nach einem weiteren Opfer für seine ironischen Bissigkeiten. Der schlaksige Kerl mit dem strohblond gefärbten Haar und vielen Sommersprossen war ein Landsmann von Zoe. Nein – er war Schotte und nahm es übel, wenn man ihn als Engländer bezeichnete. In der Fremde jedoch fühlte er sich wie ein entfernter Verwandter, schließlich kamen sie beide von derselben Insel.
Die Saaltür flog auf.
Im langen, rotsamtenen Morgenmantel, über einem perfekt sitzenden Trikot und mit straff zurückgebundenem Haar hatte Larissa Danilowa, erste Solistin des Balletts, ihren morgendlichen Auftritt. Mit der Aura einer nicht mehr ganz taufrischen Hollywood-Diva inszenierte sie ihr schillerndes Gehabe, das seltsam faszinierte und von dem man sich angezogen fühlte wie eine Motte vom Kerzenlicht. Auf dem Weg zu ihrem Platz an der Stange saugte sie die Huldigungen der Umstehenden auf. Unter ihnen waren Tänzer, die sich über die alternde Ballerina mokierten und ihr eine Bewunderung entgegenbrachten, aus der Sarkasmus hervorquoll. Larissa Danilowa hatte dafür keine Augen – so schien es. Ihre Aufmerksamkeit den Fans widmend, strich sie mit ihren langen Fingern über das glatte Haar, dabei klimperten und klirrten unzählige Armreifen an ihren dünnen Handgelenken. Sie war ein selten gewordenes Exemplar einer vom Aussterben bedrohten Spezies – eine Primaballerina. Es gab viele Legenden, und ihr Leben schien aus einer anderen Zeit zu stammen. Aus einer Zeit der hofierten, umjubelten, immer schönen Theaterstars. Der makellos gepflegte Teint hatte garantiert noch nie einen Sonnenstrahl genossen. Manchmal war man versucht, ihre zarten Glieder zu berühren, um sich zu vergewissern, daß die Ballerina nicht aus Porzellan, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut war. Aber Larissa Danilowa war kein Mensch zum Anfassen. Bei genauerer Betrachtung erkannte man die Spuren einer einsamen und fanatisch eingehaltenen Lebensweise. Die harte Disziplin gegen sich selbst hatte bittere Linien in ihr Gesicht gezeichnet, und Traurigkeit umhüllte sie wie ein Schleier. Sie wußte, daß ihre Zeit vorbei war und sie eigentlich nicht mehr hierher gehörte.
„Los, wacht auf, faules Pack!“
Die unangenehm schrille Stimme einer kleinen Person scheuchte die verschlafenen Tänzer auf, und grelles Neonlicht blendete schlagartig von der Decke.
„Diese Nelly geht mir dermaßen auf den Geist!“, schimpfte der sonst immer zurückhaltende Nick, der neben Jennie auf dem Boden saß. „So klein, aber mit ’ner riesen Klappe“, fuhr er fort und versuchte seine steife Muskulatur weich zu kneten, während Nelly um allgemeine Aufmerksamkeit rang.
„Bitte alle mal zuhören! Der Probenplan hat sich geändert. Nach dem Training ist Vortanzen für das neue Ballett. Der Choreograph, Jean Gableau, wird anwesend sein. Alle müssen an diesem Casting teilnehmen und alle, auch Zoe, sollen unbedingt pünktlich erscheinen!“
Zoe, sichtlich in Eile, betrat in diesem Augenblick den Saal und blickte fragend um sich, als sie ihren Namen hörte. Mit langen Schritten, einen vollgestopften Rucksack hinter sich herschleifend, ging sie auf Jennie und Nick zu.
„Seit wann bist du Sprachrohr der Direktion, Nelly?“, brüllte eine wütende Stimme.
„Ich war zufällig in der Ballettdirektion und wurde von Herrn Dubrowsky persönlich beauftragt.“ Sie überhörte die Stimme, die unüberhörbar „zufällig“ rief und versuchte zu lächeln. Aber es gelang ihr nur ein verzerrtes Grinsen in Zoes Richtung. Ihre stahlgrauen Augen blinzelten für den Bruchteil einer Sekunde, aber dieser Bruchteil reichte aus, um Haß aufblitzen zu lassen.
„Was ist denn mit der los?“ Nellys Blick war Zoe nicht entgangen.
„Das Mädchen ist zerfressen von Neid auf dich, Zoe“, kommentierte Nick, der sich gerne mit der Psyche anderer Menschen befaßte.
„Auf was sollte sie neidisch sein? Ich bin nichts weiter als eine kleine Gruppentänzerin. Einer von vierundzwanzig Schwänen, wie die meisten hier, und Nelly ist eine erfolgreiche Tänzerin, also?“
„Tja, da fällt mir ’ne Menge ein, auf das sie neidisch sein kann. Was meinst du, was die für nur eine deiner Eigenschaften gäbe. Stell dir vor, du müßtest wie sie beim Direktor schleimen, schleimen und nochmals schleimen.“
„Sie sollte aufpassen, daß sie nicht eines Tages auf der Schleimspur ausrutscht.“ Mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen bemühte sich Zoe, ihre geschwollenen Füße in die Spitzenschuhe hineinzuzwängen. Dabei verspürte sie so etwas Ähnliches wie Zahnschmerzen.
„Wußte gar nicht, daß auch in dir eine Hexe steckt, Zoe“, bemerkte Nick amüsiert.
„Das ist reine Berufshornhaut, ohne die tut man sich doch nur weh.“
„Genauso ist es“, bestätigte Jennie, „wir sind alle Hexen, wußtest du das nicht, Nick?“
„Et un – et deux – et trois!“ Das Training hatte begonnen, und die Befehle des Trainers Kurt Bohlen peitschten durch den Saal. „Et un – et deux – Zoe, Bein höher – los, nicht so lahm!“ Die Fensterscheiben waren beschlagen von dem Dampf der schwitzenden, mit höchster Konzentration arbeitenden Tänzern. Es roch nach einem Gemisch aus Schweiß, feuchter Wolle, Parfum und Deodorant.
„Luft, ich brauche Luft, man erstickt ja hier drin!“ Nick riß ein Fenster auf.
„Mach zu, bist du irre, Mann, wir holen uns den Tod!“, protestierten aufgebrachte Stimmen.
„Zimperliches Volk, dann erstickt an eurem eigenen Mief!“ Nick knallte das Fenster wieder zu.
„Ruhe dahinten“, schrie Kurt. „Wie soll man bei diesem Lärm arbeiten!“ Vor lauter Anstrengung, den müden Tänzerhaufen mit Energie aufzuladen, verfärbte sich sein kahler Schädel dunkelrot und ließ die Adern an den Schläfen hervortreten. Die blitzenden Augen sahen jedes Detail, kein Fehler, und sei er noch so klein, entging seinem strengen Blick. Kurt war lange Jahre selbst ein herausragender Tänzer gewesen, er wußte genau, was in seinen Leuten vorging und wie sie sich fühlten. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere hatte der heute Fünfzigjährige einen schweren Bühnenunfall erlitten und seine Tänzerlaufbahn abbrechen müssen. Die zähflüssige Bitterkeit, die sich daraufhin in ihm festgesaugt hatte, versuchte er mit Bier zu verdünnen. Folglich schwoll sein Bauch bedenklich an, und um die ungewollte Prallheit seiner Körpermitte wieder loszuwerden, leitete er sein Training mit einer solchen Intensität und Inbrunst, daß er sich vollkommen verausgabte und bei den Tänzern die Pfunde purzelten.
Langsam wurde die Muskulatur gefügig, und Zoe vergaß die Pein des morgendlichen Aufstehens. Schweiß ran ihren Rücken herunter, und sie begann, die erste Schicht Wolle abzulegen. Plié – Tendus – Rond de Jambes par terre – Fondu – Frappé – Adagio – Grand Battement. Das Exercise an der Stange verlief stets in der gleichen Reihenfolge, gefolgt von Übungen in der Mitte des Saals. Jetzt war der Körper warm und die Muskeln bereit, die schwierigen Bewegungskombinationen auszuführen – Drehen – Springen – Tanzen.
„Zoe, du stehst vollkommen schief! Paß doch auf, so geht das nicht. Halt den Rücken gerade. Du bist unverschämt begabt, hast einen idealen Tänzerkörper, bist aber nie bei der Sache“, schimpfte Kurt. Zoe biß die Zähne zusammen, konzentrierte sich auf die Übung und sah aus dem Augenwinkel, wie sich Kurts Mund zu einem angedeuteten Lächeln verzog. „Nicht schlecht. Siehst du, so klappt es, Mädel.“
Bei diesem Kommentar guckte Nelly wie ein bissiger Pinscher. Der Anblick reizte Zoe zum Lachen, was wiederum Kurt wütend machte, der seine Autorität infragegestellt sah. Schnaubend kam er auf sie zu und drückte unsanft auf ihre Schultern.
„Brauchst gar nicht so zu lachen“, bellte er. „Wenn das überhaupt etwas werden soll, mußt du arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten! Also, jetzt will ich sehen, daß du springst und nicht wie ein Mehlsack am Boden klebst. Zieh den Bauch ein. Was hast du bloß gefrühstückt?“
Kurt, der ebenso schwitzte wie seine Tänzer, gab dem Pianisten das Zeichen weiterzuspielen. Und im Rhythmus der scheppernden Klaviermusik kämpften sich die Tänzer durch das harte Training und rangen ihren Körpern Leistung ab, immer ein Stück höher, weiter, schneller, bis er eines Tages streikte – der Körper.
Kapitel 4
Zoe eilte in die Garderobe, um ihr schweißnasses Trikot zu wechseln, das am Körper klebte. Sie wühlte im Schrank herum und stellte fluchend fest, daß sie alle frischgewaschenen Trainingsklamotten zu Hause liegengelassen hatte.
„Irgendwelche Probleme?“ Jennie, die Freundin und Verbündete gegen den Rest der Welt, besaß die praktische Eigenschaft, immer dann aus dem Nichts aufzutauchen, wenn Zoe Schwierigkeiten hatte.
„Nichts Anständiges anzuziehen, nur noch diese zerfetzten Dinger. Das ist mein Problem“, beklagte sie sich. „Wahrscheinlich lohnt sich der ganze Aufwand wegen des neuen Choreographen sowieso nicht, aber …“
„Hier nimm, es wird zu deinen Augen passen.“ Jennie unterbrach das Gejammer und warf ihr ein dunkelgrünes, samtiges Trikot zu, das wie Seegras schimmerte.
„Nicht übel“, bemerkte Jennie trocken, mit verschränkten Armen lässig an der Tür lehnend. „Jetzt fehlt dir nur noch die richtige Einstellung.“
„Wovon redest du?“ Zoe zupfte irritiert am Trikot herum und blickte in ein Gesicht, das an eine Werbung für Gesichtscreme erinnerte.