Zombie Zone Germany: Zirkus - Carolin Gmyrek - E-Book

Zombie Zone Germany: Zirkus E-Book

Carolin Gmyrek

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Beschreibung

"Hallo? … Hallo? Ist da wer? Wenn du keine Hoffnung mehr hast und nicht weißt, wohin du sollst. Komm zu uns. Wir haben es geschafft. Wir haben überlebt. Unsere Geschichte ist nicht kurz, aber kurze Geschichten sind auch langweilig. Sie haben versucht uns zu besiegen, doch wir sind wie Kakerlaken und damit haben sie nicht gerechnet. Sie haben alles zerstört, was wir aufgebaut haben, aber uns nicht. Wir bauen immer noch! Wir lassen uns doch nicht von ein paar Bomben unterkriegen. Statt uns auszulöschen werden wir nur stärker. Es gibt sogar noch Kaffee. Wenn ihr also in der Nähe seid, so kommt vorbei und verhaut mit uns ein paar dieser verfickten Madenköpfe." Zombie Zone Germany: Unsere Städte wurden Höllen. Sie kamen über Nacht. Ihr Hunger war unstillbar. Sie fielen wie Heuschreckenschwärme über die Lebenden her. Zerrissen sie, fraßen, machten aus ihnen etwas Entsetzliches. In den Straßen herrscht verwestes Fleisch. Zwischen zerschossenen Häusern und Bombenkratern gibt es kaum noch sichere Verstecke.In Deutschland ist der Tod zu einer seltenen Gnade geworden. Hohe Stahlbetonwände sichern die Grenzen. Jagdflieger und Kampfhubschrauber dröhnen darüber. Es wird auf alles geschossen, was sich (noch) bewegt.  Deutschland wurde isoliert – steht unter Quarantäne. Die wenigen Überlebenden haben sich zu Gruppen zusammengeschlossen, oder agieren auf eigene, verzweifelte Faust. Gefangen unter Feinden. Im eigenen Land. Doch ist der Mensch noch des Menschen Freund, wenn die Nahrung knapp wird und ein Pfad aus kaltem Blut in eine Zukunft ohne Hoffnung führt?   Bisher in der Reihe erschienen:   ZZG: Die Anthologie ZZG: Trümmer (Simona Turini) ZZG: Tag 78 (Vincent Voss) ZZG: Letzter Plan (Jenny Wood) ZZG: Zirkus (Carolin Gmyrek) ZZG: Blutzoll (Matthias Ramtke) ZZG: XOA (Lisanne Surborg) ZZG: Fressen oder gefressen werden (Thomas Williams) ZZG Anthologie: Der Beginn

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Zombie Zone Germany

Zirkus

Carolin Gmyrek

Herausgegeben von Piper Marou

© 2017 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Idee: Torsten Exter

Herausgeber der Reihe: Piper Marou

Lektorat: Torsten Exter & Piper MarouKorrektorat: André PiotrowskiUmschlaggestaltung: Christian Günther

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-179-7

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhaltsverzeichnis
Zombie Zone Germany: Zirkus
Impressum
Kontakt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8

Lieber Leser!

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Dark Wood Circus

Es gab keinen Anfang, so wie es auch kein Ende geben würde. Den meisten war die Ursache für die Katastrophe genauso unbekannt wie die Verantwortlichen. Und es gab nur eine Handvoll Verdächtige. So beschuldigten die Ökos die Atomkraft, die Pazifisten die Militärs, die Armen beschuldigten die Reichen, die Studenten das Fernsehen und das Fernsehen die Ballerspiele. Vermutlich hatte jeder zu diesem Zustand Deutschlands seinen ganz persönlichen Teil beigetragen. Ob Politik, Medizin oder Wirtschaft, jeder hatte seine Leichen im Keller und nun musste sich die ganze Menschheit mit ebendiesen herumschlagen. Sicherlich war es ein wenig verstörend, als die Uroma in ihrem halb zerfallenen Kleid und ihrer zerfressenen Haut plötzlich vor der Tür stand, aber so konnte man sich zumindest noch einmal für das großzügige Erbe bedanken. Der Oma war es schließlich egal, den Angehörigen nicht.

Und während der reiche Manager auf buchstäbliche Art und Weise sein Hausmädchen vernaschte, musste der zwölfjährige Enkel seiner toten Oma das Hirn wegschießen.

Das alles blieb nicht ohne Folgen, auch für den menschlichen Verstand, und am Ende behielt das beliebte Face­book-Meme recht: »Nerv mich nur weiter. Wenn die Zombieapokalypse kommt, schieß ich auf jeden, Zombie oder nicht!«

Henning interessierte es nicht, ob er die Vergangenheit eines Junkies oder eines Anwalts wegpustete; das Ergebnis war das gleiche: Überleben. Und es gab sowieso keine Pazifisten und Anwälte mehr, die sich darüber aufregen könnten. Es gab in diesem Augenblick nur noch diesen lächerlich kleinen Rest eines ehemaligen Wanderzirkus. Der Abschaum der Menschheit, die verblassenden Attraktionen vergangener Jahrmärkte und womöglich Hennings letzte Hoffnung, dieser ganzen Scheiße zu entkommen.

Kaum zu glauben, dass er die inoffiziellen Helden dieser halb toten Welt in den Ruinen der Altplattenbauten von Leipzig gefunden hatte. Die Umstände hätten besser sein können und das Resultat ließ auch noch ein wenig zu wünschen übrig, aber in diesen schweren Zeiten musste man sich mit dem abfinden, was das Schicksal einem bot. Und wenn das Dargebotene aus einer Handvoll abgehalfterter Freaks bestand, sollte man zumindest darüber glücklich sein, dass sie einem das Leben gerettet hatten.

Aber so einfach war das nicht. Auch gerettete Leben waren schnell genommen und in den Augen seiner Retter sah er sich der Abscheu gegenüber, die einst ihnen selbst gegolten haben musste.

Henning hatte sich ihr erstes Aufeinandertreffen anders vorgestellt. Nicht ganz so hektisch und an einem schöneren Ort. Irgendwo, wo es einem nicht von der kaltfeuchten Luft und dem Geruch frischen Blutes schwindelte. Vielleicht in einem ehemaligen Kaufhaus oder im Vorgarten eines Z-Promis.

Stattdessen kauerte er in der Ecke einer kleinen Plattenbauwohnung, bei der bereits der Putz von der Decke bröckelte. Der Wind drückte den Regen durch die zersplitterten Fenster und das schmerzerfüllte Jaulen der Kreatur hallte von den Wänden. Henning versuchte sich mit dem Betrachten der vergilbten Fotos abzulenken, die auf einer kleinen Kommode nahe der Küche standen. Hier schien früher eine sehr hübsche, blonde Frau gelebt zu haben, aber weder von ihr noch von ihrer Wohnung war viel übrig geblieben. Die Frau war verschwunden, die meisten Möbel waren zerstört, die Schränke ausgeräumt und der riesige Flachbildschirm von der Wand gerissen. Was noch nicht kaputt gewesen war, hatten Hennings neue Freunde aus dem Fenster geworfen oder damit die Tür verbarrikadiert. Er konnte nicht genau sagen, ob diese improvisierte Barrikade etwas aus- oder einsperren sollte oder überhaupt konnte.

Auf dem Boden wälzte sich noch immer die zweiköpfige Kreatur herum, die aus zwei Menschen bestand, die seit der Geburt an den Hüften seitlich zusammengewachsen waren.

Was würden die Mediziner, Wissenschaftler und andere Quacksalber dafür geben, um in diesem Moment hier sein und die Spinne, wie der Freak sich nannte, während des Prozesses der Verwandlung studieren zu können? Für die Kittelträger wäre es ein Fest, mit ansehen zu dürfen, wie sich die Infektion langsam durch die verschmolzenen Körper dieser Männer fraß, bis all der Eiter, Blut und Maden aus seinen Körperöffnungen quollen. Und bei siamesischen Zwillingen waren das nicht wenige.

Ob die Ärzte sie wohl hätten retten können? Die Versuche der alten Zwergin waren jedenfalls nicht von großem Erfolg gekrönt. Bis auf viel Blut und eine Menge Fleisch hatte sie aus dem Körper nichts holen können. Dabei schnitt sie seit Stunden an der Bisswunde herum, während der Riese dabei die Beine des Gebissenen hielt. Die Zwillinge kämpften erbittert um ihr erbärmliches Leben. Wenn es nach Henning gegangen wäre, hätte man den Köpfen je eine Kugel verpasst und damit das Leid der Körper beendet. Aber da die Spinne sein Leben gerettet hatte, konnte er das natürlich nicht von ihren trauernden Freunden verlangen. Mit roher Waffengewalt hatten sie Henning vor einer Horde Monster gerettet und dafür ein großes Stück Fleisch des einen Spinnenbruders und etwas später vermutlich auch dessen Seele an die Armee der Untoten verloren.

Vielleicht hätte Henning genau da gehen sollen. Die Mission war ohnehin zum Scheitern verurteilt. Was sollte eine Handvoll Clowns in einer Welt wie dieser schon anrichten können, außer selbst gefressen zu werden? Die Bedenken seiner Vorgesetzten und seines Onkels waren übertrieben und der beste Beweis dafür lag gerade zu seinen Füßen und verblutete.

Kaum zu glauben, dass diese Verrückten zu den größten Helden dieser Zeit geredet worden waren. Die Geschichten und Legenden über diese aufmüpfige Gruppe hatte sich durch ganz Deutschland verbreitet – von einer Mauer bis zur anderen. Sie waren die Retter unzähliger Dörfer, die Ernährer der kleinsten Waisen , die Kämpfer gegen das bösartige Militär und Zerquetscher der winzigsten Made, so sagten sie. In Wahrheit jedoch waren diese Männer und Frauen ganz gewöhnliche Freaks. Sie hatten krumme Rücken, zu kurze Beine oder einen Kopf zu viel. Abgesehen von Brutus – dem wohl stärksten Mann der Welt –, waren sie nur ganz normale Menschen. Außergewöhnlich, ja. Aber doch nur Menschen.

Kopfschüttelnd wandte sich Henning von dem grotesken Bild ab, rappelte sich auf und schlich in die kleine offene Küche. Die Zwillinge, die Zwergin oder der Riese konnten sicherlich etwas Wasser gebrauchen.

Es war noch immer keine Entscheidung gefallen, was nun mit den angebissenen Brüdern geschehen sollte. Tatsächlich hatte die Zwergin, sobald sie die Wohnung betreten hatte, mit einer improvisierten Operation begonnen, in der sie das entzündete Fleisch weiträumig vom Rest des Körpers entfernte. Aber viel hatte es nicht geholfen. Innerhalb der wenigen Stunden, in denen sie sich versteckt hielten, hatten Fieberschübe die Spinne vollständig im Griff. Sei es nun wegen der Seuche oder weil die notdürftige Versorgung der Wunde nicht ausgereicht hatte, um das Schlimmste zu verhindern.

Immer wieder ertönte das leise Stöhnen und schmerzerfüllte Keuchen der Spinne, was Henning daran erinnerte, was dort draußen auf sie lauerte. Die Spinne sollte sich lieber schnell erholen oder ihre beiden Freunde sollten sich schnell entscheiden, sonst würde das hier kein gutes Ende nehmen.

»Moe.« Daniel – der noch ungebissene Zwilling – versuchte sich aus seiner Ohnmacht zu kämpfen. Er hatte seine Augen nicht geöffnet, aber der Name seines Bruders kam eindeutig von ihm. Die Zwergin sprang sofort auf, beugte sich über ihn und hielt ihr Ohr ganz dicht an seinen Mund, als hätte sie Angst, es wäre nur der Wind gewesen. Henning wandte sich ebenfalls wieder dem Geschehen zu und Brutus, der Riese, ließ die Beine des Zwillings ein wenig lockerer.

»Moe, wo … bist du?«

»Ruhig, Darling!«, hauchte die Alte. Sie merkte nicht, dass Henning sich ihr genähert hatte. Erst als er sacht eine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie ungehalten herum. In ihrem Blick sah er die Wut, die sie ihm am liebsten entgegengeschrien hätte. Sie knurrte ihn wütend an, bevor sie den kalten, feuchten Waschlappen sah, den Henning ihr entgegenhielt. Er versuchte ein Lächeln. »Der letzte Rest Wasser in diesen rostigen Rohren. Freu dich, dass es überhaupt noch Wasser hier gibt. Aber trinken würde ich davon nicht.«

Sie nahm das kühle Stück Stoff entgegen, ohne nur ein Wort der Dankbarkeit zu verlieren. Stattdessen wandte sie sich wieder Daniel zu und tupfte ihm sanft mit dem Lappen den Schweiß von der Stirn.

»Moe. Bruder. Wo bist du?«

»Pssst!«, flüsterte die Alte. »Er ist da. Er ist doch immer bei dir.«

»Wie … geht es ihm? Mein Bruder …« Man merkte, dass dieser Kopf der Spinne zu schwach zum Sprechen war. Er versuchte die Augen zu öffnen und sich aufzurichten, doch es reichte nur ein sanfter Druck der Alten, um ihn auf dem Boden zu halten.

»Das ist nicht mehr dein Bruder!«, sagte die Zwergin bestimmt. »Schau nicht hin. Es bricht dir das Herz!«

»Scheiße noch mal! Was ist mit ihm? Sagt es mir! Rettet ihn!«

»Er ist nicht mehr zu retten, Daniel. Wir haben es versucht. Die Viecher haben ihn. Wir könnten nur …. Wir könnten versuchen, dich …«

»Nein, Emma, nein!«

Die Alte seufzte. Immer wieder versuchte sie zu verhindern, dass Hennings Retter den Kopf zu seinem verletzten Bruder drehte. Anscheinend war er noch zu benommen, um zu merken, dass dieser bereits den Kampf mit der Seuche verloren hatte. Der zweite Körper der Kreatur krampfte und wand sich, während Brutus ihn gegen den Boden drückte. Wie konnte es sein, dass dieser Daniel nicht merkte, wie ein Teil seines eigenen Körpers sich selbstständig machte? Reichte die Verbindung der Brüder für solcherlei Dinge nicht aus?

Aber vermutlich wusste Daniel, dass sein Bruder bereits verloren war. Sich dies einzugestehen, war jedoch eine völlig andere Sache.

»Darling …«, versuchte die Alte ihn zu beruhigen, doch als sie ihn stärker auf den Boden drücken wollte, verkrampfte sich der Körper der Spinne. Zuerst bäumte sich der gebissene Zwilling auf und brüllte vor Schmerz, dann warf auch Daniel den Kopf in den Nacken. Das Krampfen verhinderte, dass die Zwillinge zu Atem kamen. Aus ihren Rachen drang nur ersticktes Röcheln und Glucksen.

»Hilf mir!«, brüllte die Zwergin. Brutus reagierte sofort und warf sich auf den Oberkörper von Moe, zwang ihn still zu liegen, während Henning mit der Entwirrung der Beine beschäftigt war. Andauernd wurde er von Füßen oder Knien im Gesicht getroffen oder schmerzhaft abgeschüttelt. Erst nach einer halben Ewigkeit konnten der Riese, die Zwergin und Henning das zweiköpfige Monsterspinnenvieh beruhigen. Keuchend saß Henning auf den Beinen von Moe, während Brutus, scheinbar unbeeindruckt, die Gliedmaßen von Daniel sortierte.

Diese Krämpfe werden zunehmen , dachte Henning. Lange werden die Körper nicht mehr durchhalten.

»Ich will ihn sehen, Emma. Lass mich meinen Bruder sehen, wenn ich ihn schon nicht mehr spüren kann.« Daniels Stimme klang schwach. Wäre sein ernster Blick nicht gewesen, nichts hätte mehr von seinem einstigen Heldentum gezeugt. Emma dachte lange darüber nach, bevor sie widerwillig nickte und den Kopf von Daniel losließ. Sie sprach kein Wort zu ihm, stand nur auf und trat einen Schritt zurück. Gleichzeitig sah Henning im Augenwinkel, wie sich die Muskeln von Brutus anspannten. Die knubbelige Hand der Alten wanderte zu einer Schusswaffe, die sie in einem kleinen Holster bei sich trug. Sie rechneten damit, dass die Situation eskalieren würde. Nur Henning war ungeschützt.

Langsam drehte der unverletzte Bruder seinen Kopf, um zu seiner verletzten Hälfte blicken zu können. Der Schmerz, den er dabei empfinden musste, war ihm deutlich anzusehen. Tränen standen ihm in den Augen und seine Lippen bebten.

»Mein Bruder. Moe … was haben sie dir nur angetan? Sie haben … sie haben dich in Stücke gerissen.«

Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte Henning, und wir haben nicht wahrhaben wollen, dass er schon lange tot war. Auch Brutus muss das klar gewesen sein. Während des Kampfes, dem Festhalten und Beruhigen war er die ganze Zeit darauf bedacht gewesen, dem Mund nicht allzu nahe zu kommen. Nun konnten sie der Gewissheit nicht mehr entfliehen. In seinem Verhalten und in seinen Augen stand die Wahrheit geschrieben.

Henning fragte sich, wann er wohl gestorben war. Noch bevor sie die Wohnung betreten hatten oder während der lächerlichen Operationsversuche der Zwergin? Eigentlich spielte es keine Rolle. Fakt war, dass sie sich den Feind ins Wohnzimmer geholt hatten und mit ihm den Tod.

Daniel sah es noch nicht. Mit einer Hand strich er sanft über die kalten Wangen seines Bruders. Er lächelte, als würde er Moe Mut machen wollen, und einen kurzen Augenblick glaubte Henning, so etwas wie Vertrauen in den leeren Augen des bald Wandelnden erkennen zu können. Oder war es Bedauern? Eine stumme Entschuldigung, die sich auf des Toten Lippen formte? Vielleicht hatte sich Henning geirrt und zwischen siamesischen Zwillingen existierte doch etwas wie eine Verbindung über den Tod hinaus. Zwischen Daniel und Moe fand eine Kommunikation statt, die sich als Außenstehender nicht nachvollziehen ließ. Oder es war eine von der Hoffnung ausgelöste Einbildung.

Es war die Zwergin, die es zuerst bemerkte. Dieser klitzekleine Augenblick, in dem jegliche Emotion im Gesicht des Toten verschwunden und dafür eine fremde Kreatur erschienen war. Die Alte reagierte blitzartig. Sie hatte bereits nach einem übrig gebliebenen Sofakissen gegriffen, noch bevor Henning die Veränderung wahrgenommen hatte. Sie drückte es zwischen die Köpfe der Brüder, um das Schlimmste zu verhindern, aber die Kreatur war schneller gewesen. Wie sollte man ein Monster von dessen Bruder fernhalten, wenn sie durch Fleisch und Knochen miteinander verbunden waren?

Daniels Schrei bohrte sich direkt in die Gehörgänge der Überlebenden und dazwischen tönte das Geräusch von reißender Haut und knackender Knorpel. Moe versenkte seine Zähne tief im Gesicht seines Bruders. Blut quoll hervor und rann über die Wangen von Daniel in dessen Mund. Erneut knackte es widerwärtig. Aus dem Hals von Moe drang ein grauenvolles Gurgeln, dann riss er seinen Kopf zurück und mit ihm die Nase aus Daniels Gesicht. Zurück blieb nur ein tiefes Loch, Blut und Knorpel. Es färbte Kissen, Teppich, Kleidung und Zwergin rot. Daniel drückte seinen Bruder von sich, während er mit einer Hand die Reste seiner Nase hielt. Zwischen seinen Fingern quoll weiterhin das Blut und Daniels Schreie versiegten bald zu einem erstickten Gurgeln. Brutus wandte seine ganze Kraft auf, um den Toten weiter auf den Boden zu drücken. Zum Glück war dieser von seinem blutenden Opfer so sehr abgelenkt, dass es ein Leichtes war, den chaotischen und gierigen Bissen auszuweichen. Stattdessen waren es nun die Beine, die Henning zu schaffen machten. Der in Panik geratene Daniel trat und schlug wild um sich. Mittlerweile kämpfte er nicht mehr allein gegen seinen Bruder an, sondern auch gegen seine Freunde, die ihn zu beruhigen versuchten.

Dabei war es bereits zu Ende, sie wussten es nur noch nicht. Vielleicht lebte Daniel noch, vielleicht auch nicht. Moe beanspruchte die ganze Aufmerksamkeit. In Hennings Kopf hallten die Worte seines Vorgesetzten: »Zivilisten tragen keine Waffen!«, hatte er gesagt. »Diese Freaks werden schon Knallzeugs bei sich haben.« Wenn sie dieses Knallzeug auch mal nutzen würden , dachte Henning.

Aber weder Riese noch Zwergin griffen zu ihren Waffen. Dabei standen die beiden MG4 so verführerisch griffbereit an der Wand zur Hennings Rechten. Sollte er es wagen und dem Ganzen ein Ende setzen?

Diese Trottel hatten es nicht verdient, so lange zu überleben, und schon gar nicht, zu solchen Legenden zu werden. Sie konnten nicht einmal ihre eigenen Ärsche vor den Untoten schützen. Dafür würde Henning sein Leben sicherlich nicht riskieren. Was waren schon Versprechungen und Lohn, wenn man vor der Belohnung bereits draufging?

Am besten unternahm er etwas, bevor einer der Köpfe der Spinne auf die Idee kam, seine Zähne in das Fleisch des Riesen zu graben.

Er holte tief Luft, dann ließ er die Beine der Spinne los, sprang auf und hastete zur Wand. Er hörte die Zwergin fluchen, den Riesen keuchen und das Monster knurren. Sein eigenes Herz schlug ihm das Trommelfell aus den Ohren. Schnell griff er nach dem nächstgelegenen MG, wog es kurz in seinen Händen und setzte an. Das Zielen fiel ihm schwer. Immer wieder geriet ihm Brutus’ riesiger Leib oder der überdimensionale Zwergenkopf in die Schussbahn.

»Weg da!«, zischte er, dann drückte er ab. Doch der erlösende Schuss fiel nicht. Henning erstarrte. Das Klicken der Waffe jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sie hatte keine Munition. Wütend warf Henning die Waffe von sich. Ein Blick zu den anderen bestätigte ihm, was er sich bereits gedacht hatte. Auch deren Munitionsgurt war verschwunden. Ob aufgebraucht oder verloren, konnte er nicht sagen. Die letzten Stunden waren aus seinem Gedächtnis gelöscht.

Jetzt konnte er nur noch eins tun: überleben! Scheiß auf Anweisungen und Befehle. Scheiß auf Rangfolgen. Er hatte alles versucht und war gescheitert. Jetzt musste er sehen, wie er da herauskam.

Die Zwergin und der Riese waren damit beschäftigt, das zweiköpfige Spinnenzombiewesen auf dem Boden zu halten, doch das zweiköpfige Spinnenzombiewesen brannte darauf, sein Stückchen Freak abzubekommen.

Wenn sich Henning nun endlich in Bewegung setzen würde, könnte er die Haustür erreichen, den davor platzierten Schrank verschieben und von hier verschwinden, bevor das Monster Lust auf einen dritten Snack bekam. Sicherlich war das keine Heldentat, aber heutzutage überlebten nun mal nur Arschlöcher. Das Problem mit diesen Freaks würde sich von selbst erledigen.

Vorsichtig versuchte sich Henning einen Weg an dem Pulk an Körpern und Köpfen vorbeizubahnen. Die Haustür war nicht weit.

Draußen würde er sich schon irgendwie durchschlagen. Vermutlich hatten die Spinner noch Vorräte, vielleicht sogar Waffen. Er brauchte sie nur zu finden und zu hoffen, dass ein wenig Munition dabei wäre. Ein Baseballschläger würde zur Not auch gehen.

Plötzlich riss ihn etwas von den Füßen. Er stürzte zu Boden und konnte sich gerade noch abfangen. Wütend schrie er auf, während er ein leichtes Knirschen in seinem Handgelenk vernahm. Der Schmerz kämpfte sich bis in seine Schulter hinauf. Er befürchtete schon, dass die tote Hälfte der Spinne nach ihm gegriffen hatte, um ihm die Gedärme herauszureißen. Vor seinem inneren Auge sah er sich bereits auf ewig durch diese Wohnung wanken, auf der Suche nach Nahrung. Aber es war zum Glück nicht der Tote gewesen, der ihn gepackt hatte. Sein Fußgelenk war von Brutus’ riesiger Pranke umschlossen und der wütende Blick des Hünen war fast furchterregender, als es der Zombie je hätte sein können.

»So nicht!«, knurrte er. Seine Stimme bebte vor Anstrengung. »So entkommst du mir nicht!«

Ein Bein der Spinne traf den Riesen schwer an der Seite, doch Brutus stöhnte nicht einmal auf.

Vermutlich schlummerten in diesem Mann ungeahnte, vom Adrenalin noch verstärkte Bärenkräfte.

Er ließ Hennings Knöchel nicht los, obwohl er mit seiner anderen Hand den Kopf des toten Zwillings gegen die Bodendielen drückte und den Schlägen der Spinnen auszuweichen versuchte. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet.

Neben ihm hockte die Zwergin. In ihren Händen hielt sie den Lappen, den Henning ihr vor wenigen Minuten überreicht hatte und der mittlerweile von Daniels Blut durchtränkt war. Immer wieder drückte sie den Stofffetzen gegen den Nasenstumpf des Verletzten. In ihren Augen standen Tränen.

»Nimm Emma mit!«, knurrte Brutus. »Wenn du uns schon im Stich lässt, nimm Emma wenigstens mit!«

»Ich weiß nicht … ich weiß nicht, wie.«

»Wenn du sie nicht mitnimmst, stehe ich auf und brech dir das Genick!«

Brutus machte keine leeren Versprechungen. Er schien fest entschlossen, seinem zukünftigen Tod gefasst in die hässliche Fratze zu blicken, nur um die kleine, alte Frau zu retten. Warum machte dieser Riese nicht einfach Schluss und donnerte den sowieso schon matschigen Kopf des Zombies auf den Boden?

Nach einem oder zwei Schlägen hätte er seine geliebte Zwergin vor dem Albtraum bewahrt. Stattdessen umklammerte er immer stärker Hennings Knöchel, bis dieser stumm nickte. Brutus zögerte. Sein Misstrauen war berechtigt. Dann ließ er endlich locker. Henning erhob sich und rieb sich dabei das verstauchte Handgelenk. Sein Blick streifte die kleine Frau, die neben dem bewusstlosen Daniel kniete, bevor er wieder zu dem Riesen schaute.

»Was wird aus dir? Töte ihn doch einfach. Danach können wir zu dritt verschwinden!«

»Er hat sich noch nicht verwandelt!«

»Wartet ihr jedes Mal darauf?«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete der Riese, der nicht mehr so riesig wirkte. »Er hat einen guten Tod verdient!«

»Indem du ihn zu einem Monster werden lässt?«

Brutus schwieg.

Stattdessen grunzte die Alte verächtlich.»Indem wir ihn diese Entscheidung nicht treffen lassen müssen«, brachte sie gepresst hervor.

Henning fühlte sich unter ihrem Blick wie ein undankbarer Schüler, der von seiner Lehrerin gescholten wurde »Uns ist die Munition ausgegangen, um es schnell zu beenden, und er sollte mit seinem Bruder gehen, während wir dabei sind und ihn begleiten. Das heißt, wir warten hier, bis Dunja kommt und ihn erlösen kann. Wir, sage ich. Ich bleibe, Brutus!«

»Mach doch, was du denkst!«, grunzte der Riese.

Unglaublich, dachte Henning. Da verblutete gerade einer ihrer Leute, während dessen Bruder versuchte, sie zu fressen, und die beiden diskutierten darüber, ob sie blieben oder nicht. Brutus hielt den nun eindeutig Untoten auf den Boden gedrückt, als würde er versuchen, einen tollwütigen Betrunkenen zu bändigen. Das war doch alles ein schlechter Scherz. Wie sorglos sie mit dieser Tatsache umgingen. Anscheinend hatte die Trauer um den Verlust ihres Anführers ihnen den Verstand geraubt.

Mit einem wütenden Fluch drehte Henning sich der Haustür zu. Sollten die Freaks doch verrecken, er würde es nicht. »Ihr könnt ja mitkommen, wenn ihr … wollt!« Henning versuchte, den schweren Schrank zur Seite zu schieben. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen das Möbelstück, das nur widerwillig und mit lautstarkem Protest über den Laminatboden schrammte. Dennoch schaffte er es, einen Spalt freizulegen, der groß genug war, um sich mit etwas Anstrengung hindurchzuquetschen.

Die beiden letzten Clowns eines ehemaligen Wanderzirkus schwiegen.

Mit einem Arm angelte er durch den Spalt nach der Türklinke. Als er sie in die Finger bekam, drückte er sie runter und zog die Tür auf. Das reichte gerade so, um sich vielleicht durchzuquetschen und einen kleinen Blick auf den dahinterliegenden Flur zu erhaschen.

»Scheiße!«, keuchte er, als er den Schatten bemerkte, der sich außerhalb der Wohnung bewegte.

Das war also bereits das Ende von seiner Flucht. Henning schluckte. Es war unmöglich, sich schnell genug durch den Spalt zu drücken und gleichzeitig dem Zombie zu entkommen. Er konnte nur noch verhindern, dass dieses elende Drecksvieh in die Wohnung kam und ihn bei lebendigem Leib fraß. Mit pochenden Herzen und der Ermahnung an seine Lungen, nicht so hektisch zu arbeiten, drückte er sich zurück in die Wohnung. Dabei stieß er sich am Schrank den Hinterkopf und zuckte zusammen. Einen kurzen Augenblick befürchtete er, dass ihm sein Rückweg versperrt worden war und er in der Falle saß, zwischen Holz und Untoten. Aus der Dunkelheit des Flurs griff etwas nach ihm. Henning versuchte, dem Schatten auszuweichen, doch es war zu spät. Finger schlossen sich um sein Handgelenk und zogen ihn zurück. Gleich würden sich modernde Zähne erst durch seine Jacke und dann in sein Fleisch bohren und er konnte nichts dagegen tun. So würde es also enden. Gebissen, zerfleischt. Gewandelt am entlegensten Ort Deutschlands. Warum hatte er sich auf diese beschissene Mission eingelassen? So eine verdammte Sch…

»Mach endlich Platz, Idiot!«, knurrte eine weibliche Stimme. Der Qualm einer billigen Zigarettenmarke drang durch den Spalt zwischen Tür und Schrank. Henning stockte.

Der Griff um sein Handgelenk lockerte sich und er konnte sich zurück in die Wohnung quetschen. Kurz danach schob sich auch die Frau durch den Spalt. Im Flur ließ sie als Erstes ihre dunklen Augen durch das Zimmer streifen, bevor sie einen großen Zug von ihrer Zigarette nahm. Groß und dünn war sie, mit einem kantigen Gesicht und kurzen, strohblonden Haaren.

Neben einer dreckigen, alten Jeans und kaputten, grauen Sneakers trug sie eine schwarze, verwaschene Lederjacke. Die rechte Hand hatte sie in die Hosentasche gesteckt, die linke … fehlte. Nun … es fehlten neben der linken Hand auch der ganze linke Arm und der Jackenärmel noch dazu. Stattdessen war die Jacke an der Schulter behelfsmäßig vernäht worden.

Henning runzelte die Stirn. In den Akten hatte nicht gestanden, dass die ehemalige Schlangenfrau und Akrobatin nur einen Arm hatte.

»Fuck!«, murmelte sie und fasste damit die Situation treffend zusammen. Die Zwergin hob als Erste ihren Kopf, Brutus hatte durch das ständige Strampeln des Zombies keine Chance dazu.

»Dunja! Da bist du ja endlich«, rief die Zwergin und Dunja nickte. Sie zögerte keinen Augenblick länger, zog mit der rechten Hand eine Waffe mit Schalldämpfer und trat auf die kleine Gruppe zu. Dann fiel endlich der lang ersehnte Schuss. Der groteske Leib der Zwillinge erbebte noch einmal, bevor sich die Verkrampfungen lösten. Brutus erhob sich von den Überresten des Zwillings. Sein Hemd war von dessen Blut getränkt. Die Zwergin blieb neben Daniel sitzen und half ihm in eine bequemere Position. Keiner konnte sagen, wie lange der Zwilling ohne seine andere Hälfte überleben konnte.

»Er war nicht zu retten!«, sagte Dunja, bevor sie sich ebenfalls Daniel zuwandte. Den toten Moe würdigte sie keines Blickes mehr. Stattdessen hockte sie sich neben Daniel, legte die Waffe auf den Boden und strich sanft über dessen Haar. Leise murmelte sie Worte in sein Ohr, die Henning aus der Entfernung nicht hören konnte. Daniel versuchte etwas zu erwidern, doch aus seinem Mund kamen nur gurgelnde und glucksende Geräusche. Er war bereits zu schwach, um zu sprechen. Dunja lächelte beruhigend, beugte sich noch einmal zu ihm herunter und küsste seine Stirn. Auch Emma versuchte ein Lächeln, während Brutus Daniels Hand nahm, als würde er einen alten Saufkumpan begrüßen. Henning kam sich in seinem Leben noch nie so überflüssig vor wie in diesem Moment. Er war der dumme Fremde, der stille Beobachter, der dabei zusehen musste, wie sich eine Familie von einem geliebten Mitglied verabschiedete.

Erst nach einer halben Ewigkeit griff Dunja zu ihrer Waffe. Sie richtete sich auf und zielte auf Daniels Kopf.

»Mach’s gut, alter Freund. Grüß Moe von mir, okay ?«

Daniel wollte etwas sagen. Es klang nach einem »Danke«.

Dunja nickte und drückte ab. Wie beim ersten Mal fing der Schalldämpfer der Waffe den größten Lärm ab, dennoch hallte der Knall in den Wänden der Wohnung und in den Köpfen der Überlebenden nach.

Für Daniel war es schnell vorbei. Die Kugel hatte sich direkt durch seinen Kopf gebohrt. Die Zeit stand einen Moment still, während sich das Blut aus seinem Kopf auf den Boden ergoss.

Einen Atemzug später lief die Zeit wie gewohnt weiter. War Henning bis eben noch vergessen gewesen, so galt die komplette Aufmerksamkeit der drei übrig gebliebenen Freaks ganz ihm. Die Alte hatte ihre kurzen Arme vor der Brust verschränkt, während sich Brutus vor ihm aufbaute. Aber wirklich beunruhigend empfand Henning die auf sich gerichtete Makarow der Einarmigen.

»Moment mal … ich bin kein Zombie!« Er trat einen Schritt zurück und hob beschwichtigend die Arme. Die einarmige Frau schien das jedoch nicht zu interessieren. Unbeeindruckt zielte sie weiter auf ihn, während die alte Zwergin nur enttäuscht den Kopf schüttelte.

»Wie man es nimmt«, sagte die Kleinere der Frauen. »Vielleicht bist du kein Zombie, aber das macht dich nicht ungefährlich. Du bist ein Verräter, ein Angsthase und Lügner. Wenn wir dich jetzt ausschalten, ersparen wir uns eine Menge Ärger.«

»Nein, nein, nein … Moment mal … ich wollte nicht … Wartet damit. Ich habe euch gesucht!«

»Aber gefunden haben wir dich, in der wohl beschissensten Situation, in die ein Mann heutzutage kommen kann. Dafür sind zwei gute Männer draufgegangen. Um eine Ratte zu retten. Also? Warum hast du uns gesucht?«

Henning schluckte seinen Ärger runter. Die ganze Wahrheit konnte er ihnen kaum sagen, aber doch zumindest den wahren Grund.

»Ich … brauch eure Hilfe.«

»Ach wirklich? Gut! Dunja erschieße ihn!«

»Nein!«, schrie Henning. »Nein, wartet!«

»Worauf?«, fragte die Zwergin. Sie schüttelte den Kopf und sammelte dabei die MK4s ein. »Du brauchst unsere Hilfe? Wir können und wollen dir nicht helfen. Sterben wirst du also sowieso. Warum nicht gleich hier und jetzt? Diese Ehre wolltest du doch auch Daniel zukommen lassen, nicht wahr?«

»Ich … ich habe Informationen!«, versuchte es Henning erneut und hoffte auf ein wenig Vernunft in diesem überdimensionalen Zwergenkopf. Verdammtes Miststück! Warum hatten sie ihn überhaupt gerettet, wenn sie ihn jetzt töteten? Aber noch immer geschah nichts. Die drei zögerten. Vielleicht wollten sie ihn noch ein wenig auf die Folter spannen, bevor sie ihm eine Kugel ins Hirn jagten.

»Ich kenne einen Ausweg!«, platzte es aus Henning heraus. »Aus Deutschland. Einen Weg raus! Vorbei an der Mauer und den Soldaten. Aber dazu brauch ich Hilfe. Alleine schaffe ich das nicht!«

Die Alte runzelte die Stirn, während Dunja den Kopf schüttelte und Brutus keine Miene verzog. Henning glaubte noch immer, dass sie jeden Moment seinem Leben ein Ende setzten würden. Warum sollte sie ihm auch glauben? Wie die Alte schon gesagt hatte: Er war ein Feigling und ein Lügner. Schon dreimal dachte er, dass diese Wohnung seine letzte Ruhestätte werden würde, doch immer wieder hatte ihn das Schicksal vertröstet. Bitte Schicksal! Nur noch einmal!

Und tatsächlich. Dunja senkte ihre Waffe und sicherte sie. Die drei Freaks blickten sich kurz an, dann sprach Dunja ein paar Worte in einer fremden Sprache. Henning glaubte, es war russisch.

»Lasst ihr mich leben? Hört ihr mir zu? Ich bring euch hier raus, wenn ihr mir helft. Es ist kein sicherer Weg, aber es gibt Vorräte und Wa…«

»Halt die Schnauze!«, fuhr Dunja ihn an. Sie hatte aus einer Gürteltasche eine Zigarette gezogen und zwischen ihre Lippen geschoben. Während sie diese anzündete, trat Brutus auf ihn zu. Henning versuchte zurückzuweichen, doch er stieß gegen den schweren Schrank, der ihm mal wieder den Fluchtweg versperrte.

»Sorry, mein Freund«, sagte Brutus, hob eine seiner mächtigen Pranken und schlug Henning das Bewusstsein aus dem Schädel.

Für ein wenig Medizin

Ihm war übel. Kopf, Nacken, Schultern – alles schmerzte. Als das Bewusstsein sich langsam wieder in seinen Kopf zurückkämpfte, glaubte er zu schweben. Bis er jedoch erkannte, dass zwischen »schweben« und »geschleppt werden« ein riesiger Unterschied bestand. Einer dieser drei Freaks hatte ihm die Hände auf den Rücken gebunden, bevor Brutus ihn auf die Schulter genommen hatte. Die Kabelbinder oder was auch immer es war, schnürten sich unbarmherzig in sein Fleisch, während durch die unangenehme Lage Rücken und Schultern verkrampften.

Aus dieser Perspektive war eine Orientierung fast unmöglich. Allein seinen Kopf zu heben, kostete Henning viel Mühe. Unter ihm zog der dreckige Asphalt einer Straße in dieser verdammten Stadt dahin und er fragte sich, ob er diese Straße auch ohne die Apokalypse für dreckig gehalten hätte. Eigentlich kannte er Leipzig überhaupt nicht. Nur von den Erzählungen seiner Kameraden oder von Google Maps. Aber vielleicht reichte dieses Wissen aus, um ansatzweise herauszufinden, wo sie sich befanden. Wenn er alle möglichen Wege im Geiste durchlief – angefangen von dem Wohnhaus, in dem der Körper der Spinne verfaulte – und diese mit der Größe der Straße verglich, sowie mit den Schatten der Häuser und den am Wegesrand wuchernden Bäumen und Büschen, dann sollte er zumindest eine Ahnung haben, welche Richtung die Freaks eingeschlagen hatten. Hatte er aber nicht.

Vielleicht liefen sie gerade zum Zentrum, vielleicht hinaus aus der Stadt. Aber egal, wo es sie hinzog, sie bewegten sich zu Fuß und – zu Hennings Leidwesen – nicht sonderlich leise. Hinter jeder Ecke konnte eine Horde lauern, hinter jedem Baum einer der Madenköpfe und dennoch diskutierten die drei Freaks sorglos ihre Gefühle aus. Mindestens konnte er durch das Echo ihrer Stimmen erkennen, dass sie in einem Gebiet mit dichter Bebauung waren. Es könnten Plattenbauten sein oder Lagerhäuser.

»Und du bist dir ganz sicher?«, krächzte die Stimme der zwergischen Alten.

Er hatte sie die ganze Zeit über brabbeln gehört, nun verstand er langsam die Worte. Die Alte klang erschöpft. Es war für sie vermutlich sehr anstrengend, mit dem Rest der Gruppe Schritt zu halten, während sie mit ihnen wichtige Gespräche führte. Der Klang ihres Stockes auf dem Asphalt war genauso nervtötend wie der Sekundentakt einer alten Uhr.

»Nein, bin ich mir nicht. Aber was habe ich denn für eine Wahl?« Dunja klang zornig. Sie ließ ihr Zippo aufschnappen, kurz danach roch Henning den üblen Gestank ihrer billigen Zigaretten.

»Du könntest dem da eine Kugel zwischen die Augen setzen!«