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In jedem von uns steckt ein Tier, sagt man. Aber steckt auch in jedem von uns ein Mensch? Eine junge georgische Familie mitten im grauen Winter Berlins. Exilanten, die ein neues Leben beginnen müssen und doch vom alten verfolgt werden. Und ein Hochhaus, das hermetisch abgeriegelt ist, aber die ganze irrsinnige Welt zu beherbergen scheint, flüchtige Generäle, entlaufene Zootiere und jede Menge Abfall. Nur für die Zukunft ist kaum Platz. Ein intensiver Roman über den Verlust und das Finden der Sprache und die Familie als letzte Gemeinschaft in einer unwirtlichen Gegenwart. Der Vater, ein Schriftsteller, verliert langsam seine Sprache. Die Tochter Stella spielt stattdessen dauernd mit Worten. Ihre Mutter Marika muss immer für alle Probleme eine Lösung finden. Als sie zu einem Kindergeburtstag am anderen Ende der Stadt aufbrechen, begegnet ihnen eine zweite Geschichte von einem alten Hochhaus aus Sowjetzeiten. Mit elektrischen Zäunen und vergitterten Fenstern von der Außenwelt abgeschnitten, ersticken die Bewohner zusehends im eigenen Müll. Flüchtige Generäle und entlaufene Zootiere geistern durch die Gänge und seit einiger Zeit verschwinden die Kinder. Kann der Mensch gerettet werden oder wird er sich selbst auslöschen? Wozu erzählen, worauf hoffen, wenn am Ende alle Erzeugnisse nur den Abfall vermehren? Zoorama ist die literarische Suche nach Überlebensmitteln für eine aus den Fugen geratene Welt. »Zoorama gleicht für mich einem Labyrinth, das man atemlos durchquert, als wäre es eine Sache der Unmöglichkeit innezuhalten oder gar umzukehren. Ähnlich Dantes Vergil, treibt uns das Alter Ego des Autors zielsicher durch sein eigenes, persönliches Inferno. Er führt uns durch das schmutzige und graue Berlin, ins zerstückelte, für ihn nur noch aus Versatzstücken bestehende Tbilisi, hinein in ein apokalyptisches Hochhaus mitsamt seinen skurrilen und dem Untergang geweihten Bewohnern.« Nino Haratischwili »Viele Osteuropäer müssen heute wieder aus Angst in den Westen fliehen, ins Exil. Einer dieser Flüchtlinge ist Zaza Burchuladze. […] Doch das Land, das man mitbringt ins Exil, ist nur so groß wie die Fußsohlen und die Trauer im Kopf.« Herta Müller »Zaza Burchuladze ist ein markanter, origineller, mit niemandem sonst vergleichbarer Schriftsteller. Seine Prosa trägt etwas Unvorhersagbares in sich – für einen zeitgenössischen Autor das wichtigste Qualitätsmerkmal.« Wladimir Sorokin
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Seitenzahl: 414
Veröffentlichungsjahr: 2022
Zaza Burchuladze
Zoorama
Roman
Aus dem Georgischen übersetztvon Sybilla Heinze
Tropen
Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »ვარდის სურნელი« im Verlag Bakur Sulakauri, Tbilisi
© 2022 by Zaza Burchuladze
Agreement via Wiedling Literary Agency
Für die deutsche Ausgabe
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung einer Abbildung von © gettyimages/Moment/Jose A. Bernat Bacete
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-50011-0
E-Book ISBN 978-3-608-11968-8
Gestern hat jemand zu mir gesagt, der Mensch brauche Luft, Luft, Luft!
Fjodor Dostojewski •Schuld und Sühne
Vernichtet euer Manuskript, aber bewahrt das auf, was ihr aus Langeweile, Unvermögen und wie im Traum auf den Rand geschrieben habt.
Ossip Mandelstam •Die ägyptische Briefmarke
Es kam der Tag, an dem sich meine Haut vollständig erneuert hatte – nur die Seele hatte sich nicht erneuert.
Warlam Schalamow •Der Handschuh
Da scheint ein Mensch zu schreien, aber menschlich klingt das nicht.
Juan Rulfo •Pedro Páramo
Kinder zu vernichten ist grausam. Aber irgendwas muss man doch mit ihnen tun! Diese Sätze gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich aufgewacht bin. Oder eigentlich seit ich aufgeweckt worden bin von diesen Sätzen. Ich kann mich nicht erinnern, woher ich sie habe. Aber ich sehe sie gedruckt vor mir. Habe sie also gelesen und nicht gehört.
Marikas Worten nach bin ich multipler Eidetiker. Du hast ein fotografisches Gedächtnis, meinte sie. Nur sind diese Fotos oft miserabel in der Qualität, meinte sie weiter, so farblos und verschwommen wie die Aufnahmen der allerersten Handys.
Ich bin nicht sicher, ob ein eidetisches Gedächtnis multipel sein kann, etwa wie eine Sklerose. Oder ob ich überhaupt Eidetiker bin. Ich kannte das Wort noch nicht mal, bis ich es im Wörterbuch nachgeschlagen habe. Dort ist es so erklärt: (von griechisch εἶδος – Ansehen, Gestalt) Person, die die Fähigkeit hat, sich Objekte oder Situationen detailgetreu und wie wirklich vorhanden vorzustellen.
Wie dem auch sei: Kinder zu vernichten ist grausam. Aber irgendwas muss man doch mit ihnen tun!
Ich lasse den Hula-Hoop-Reifen um die Hüften kreisen, im Spiegel an der Wand erblicke ich einen drahteseldünnen, krummen, glatzköpfigen Mann mit einer Brille, auf deren Gläser das Licht so fällt, dass Iris und Pupillen unsichtbar sind. In letzter Zeit sehe ich meine Augen oft so auf spiegelnden Oberflächen, und dann frage ich mich, ob meine Pupillen vielleicht wie selbstlöschende Dateien aufgelöst worden sind und ich nur mit dem Weiß sehe.
Durch das offene Fenster dringt mit der morgendlichen Kälte das Krächzen einer Krähe, und es ist hörbar, wie’s gluckert, verrinnend im Innern, im Röhrengewirr. Erst vor Kurzem habe ich mit dem Hula-Hoop in der Früh begonnen. Doch ich bin schon so gut, dass ich vielleicht bald einen Feuerreifen kreisen lassen kann. Nicht nur um die Hüften, auch um den Hals, und zwischendurch werfe ich den Reifen in die Luft, wie ein Artist in einer Feuershow.
Marika hatte mir den Aluminiumreifen für Anfänger geschenkt und versprochen, dass ich von ihr einen professionellen mit acht Dochtspeichen (solche, die man anzünden kann) bekomme, wenn ich diesen gut beherrsche. Marika ist eine sehr aufmerksame Frau. Klug und ruhig. Ihr Blutdruck ist immer 50 zu 50. Und sie hat mich bei allem, was ich angefangen habe, unterstützt. Einmal sagte ich, ich hätte gehört, in ein Kissen zu schreien, würde den Stress lösen, und gleich am nächsten Tag nähte sie mir einen praktischen Rucksack, damit ich das Haus nicht mehr ohne Kissen verlassen muss. Es ist ein bequemer Rucksack, aus bemalter Seide, mit einer Schleife, ähnlich dem Obi einer Geisha. Dabei verlasse ich das Haus sowieso nicht mehr.
In ein Kissen zu schreien, ist eine große Genugtuung. Mir kommt sie gerade recht. Wenn einen die Sorgen quälen und einem in der Nacht das Gewissen in den Ohren gellt, kann man das Gesicht darin vergraben und schreien, schreien, schreien … So viel man will, bis einem die Halsschlagader platzt, einem schwindlig wird, man ohnmächtig wird. Solange man atmet, solange man grünt so grün, solange man existiert.
Das richtige Kissen, aus Baumwolle, schluckt jeden Laut, wie ein Schalldämpfer auf einem Gewehr. Wer weiß schon, warum einem in der U-Bahn die Schultern beben, wenn man sein Gesicht im Kissen vergräbt, das wie ein Psalmenbuch in den Händen ruht. Vielleicht betet man inbrünstig oder schluchzt bittere Liebestränen? Oder stirbt vor Lachen? Oder sitzt einfach da und heult … Hat ein Mann etwa keinen Grund zu heulen? Manchmal bleibt einem auch nichts anderes übrig als zu heulen. Und doch gibt es Situationen, da reicht Heulen nicht aus, da braucht man etwas Effektiveres, sagen wir, Fingernägelkauen. Ob nun die eigenen oder die eines anderen, ist egal.
Wie dem auch sei, Marika ist eine aufmerksame Frau. Darum nennt sie mich auch seit neuestem liebevoll den, der mit dem Feuer tanzt. Vielleicht lerne ich sogar, Feuer zu schlucken und mit Feuerfächern zu tanzen, wenn ich so weitermache. Immerhin bin ich schon so weit, dass ich in der Früh den Aluminiumreifen kreise. Aber noch bin ich ja ein ausgemachter Anfänger. Plump und tollpatschig war ich zwar nie, aber dass ich einen so gelenkigen Körper habe, wusste ich nicht. Und dass in mir ein Artist schlummert.
Dante erwählte Vergil zu seinem Führer durch die Hölle und fragte den Ortskundigen: Ist der Dichter der irdischen Freuden ein verlässlicher Führer durch die Unterwelt? Es war wie in einem Film, als ich Marika das erste Mal sah, ich folgte ihr gleich wie ein hungriger Hund. Irgendetwas versetzte mir einen Stich ins Herz, als wäre sie mir schon einmal begegnet. Habe ich wirklich etwas von einem Hund an mir? (Das Schicksal? Das Herz? Den feinen Geruchssinn? Das Winseln im Schlaf oder die unbändige Freude beim Wasserlassen?) Marika ist so dünn, dass man sie mit einem Zwirn erdrosseln könnte. Sie besteht nur aus Haut und Knochen. Doch was wäre ein Hund ohne Knochen auch für ein Hund?
Damals hatte ich gar nicht daran gedacht, sie zu meiner Führerin zu erwählen. Ich hatte einfach tief in meinem Inneren gespürt, dass uns dieselbe Katastrophe verband. Hab keine Angst, sagte sie später zu mir, als ich schon wie ein nasser Welpe mit dem Schwanz wedelte, hab keine Angst, wiederholte sie, und ich bekam Angst; ich bin bei dir und werde bei dir bleiben, zwitscherte sie wie ein Vogel, schlüpfen wir in die Mondkrater hinein, und in der Finsternis dort zeige ich dir ein Geheimnis, wie du noch keines je gesehen hast. Komm, lass uns fliegen und fliegen, und dann fliegen wir wieder zurück und gehen ins Bett. Ich hätte ihr auch etwas versprochen, wenn mir nach Reden zumute gewesen wäre, sogar eine Stadt zu bauen, so schön wie die Erinnerung an ihre eigene in einem fremden Land.
Seitdem denken wir nur von Tag zu Tag.
Mir kann man leicht etwas einreden. Marika hat so eine Art, das zu sagen und dabei mit den Augen auf mich einzureden, als würde sie mich programmieren. Oder verhexen. Sie hat dann so einen Blick, wenn der auf einen Besen oder was auch immer fällt, meint man, er würde gleich Wurzeln schlagen, Blätter austreiben und zu blühen beginnen. Selbst wenn der Besenstiel aus Plastik ist und nicht aus Holz. Darum habe ich manchmal das Gefühl, ich werde eines Tages die Haustür aufmachen und nicht auf der Straße stehen, sondern auf dem Mond. Oder auf einem exotischen Planeten, in einer riesigen Eiswüste, wo man tief in seinem Inneren weiß, dass man beim ersten Atemzug sterben wird, aber solange man noch lebt, solange man den Atem noch anhält, sieht man die tückische Schönheit ringsum und zählt in Gedanken die letzten Sekunden:
Eins.
Zwei.
Drei.
Und plötzlich verschwindet alles.
Bis es so weit kommt, kreise ich meinen Hula-Hoop, spähe durchs Fenster und versuche am zementfarbenen Berliner Himmel, auf dem gerade ein Kondensstreifen verblasst, das Wetter zu erraten. Vergeblich. Mit der gleichen Bewegung, mit der man in Georgien ein Lawasch-Fladenbrot innen an die Wand des Tandoor-Ofens klatscht, damit es nicht verbrennt, klebt der Nachbar einen Sonnenschutz von innen an die Frontscheibe seines Opel, der unter einer Werbetafel steht, damit er in der Kabine nicht verglüht und das Armaturenbrett nicht ausbleicht. Ich frage mich sowieso, was die Sonne in Berlin will.
Den ganzen Monat lang ist die Werbung auf der Tafel nicht ausgetauscht worden. Sie ist einfach, wirkungsvoll und auch ein bisschen unanständig: Vor hellblau-weißem Hintergrund steckt eine rote Rose in einer Mineralwasserflasche. Im Hals einer kleinen transparenten Flasche steckt ein grüner Stiel, obendrauf flammt wie Feuer eine rote, geöffnete Krone. Am wirkungsvollsten ist der Name des Mineralwassers: »Wasser der Unsterblichkeit«. Dieses Bild begegnet einem in letzter Zeit in Berlin auf Schritt und Tritt. Das »Wasser« bekommt man in drei Ausführungen: naturell, feinperlig, spritzig. Den ganzen Monat schon springt mir diese Reklame ins Auge, an der Decke der U-Bahn, an Bussen oder als buntes Booklet in der Post. Doch das Wasser selbst habe ich noch nicht probiert.
Der graue Himmel liegt über unseren Köpfen wie eine niedrige Betondecke, die bisweilen noch niedriger wird. Es gibt Orte in Berlin, wo der Himmel so tief hängt, dass man gebückt gehen muss, so wie in Kafkas niedrigen Häusern. Der hiesige Himmel staucht die Menschen zusammen wie eine Presse, immer spürt man eine Schwere auf den Schultern, auch der Atem geht schneller. Manchmal hat man nicht mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, und fällt auf die Knie. Man übertreibt nicht sonderlich, wenn man sagt, man hätte das Land der Krähen und Raben auf Knien durchquert.
Aus dem offenen Fenster sehe ich, wie ein kleiner schnurrbärtiger und glatzköpfiger Türke mit einem weißen Pudel an den Backsteinmauern des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs entlanggeht; der Pudel hat zwei Pompons auf der Kruppe. Dieses Frisurenmodell nennt sich »Continental«, eine Ausstellungsschur. Das Hündchen scheint mächtig routiniert zu sein, es läuft, als schreite es zum Podium. An seinem souveränen Auftreten erkennt man gleich, dass sein Stammbaum solider ist als der meine. Es ist ein unerwartetes Duo, für gewöhnlich haben Berliner Türken einen Kangal. Ich sehe zum ersten Mal, dass Hund und Herrchen einander so wenig ähneln.
Kaum zu glauben: Der hochgelobte Hund schnüffelt, mit all seinen Pompons, Kontinenten und Pässen, bei der Birke an den Verrichtungen eines anderen Köters.
Hamlet!, der Mann zerrt mit einer Hand an der Leine. Hamlet!
Ja, so sind wir Menschen. Taufen unsere Hunde Hamlet und Lanzelot. Einer meiner Bekannten, der Musiker und Schriftsteller Irakli Charkviani, hatte in seiner Jugendzeit einen Dackel mit dem Namen Nebukadnezar, benannt nach einem babylonischen König. Kurz vor seinem Tod ernannte Irakli sich höchstpersönlich zum König. Daher kann ich von mir sagen, einen König persönlich gekannt zu haben. Und sei es einen selbsternannten. Was nicht weiter rühmlich ist. Ich bin aus einem so kleinen Land, dass Fuchs und Hase sich dort gute Nacht sagen. Ein Drogentrip in die variköse Vene mit dem König höchstpersönlich. Auf einen solchen haben wir uns einmal in der kalten Toilette eines Literaturcafés auf der Kostawa-Straße begeben. Logisch, wir waren ja Literaten. Sind es bis heute. Die Lebenden und die Toten. Auch wenn uns beiden kein einziges Haar auf dem eiförmigen Schädel wallte und uns beide derselbe Schnurrbart schmückte, so sahen wir doch grundverschieden aus. Unsere Könige waren alle Dichter. Der letzte bildete da keine Ausnahme. Selbst wenn er ein wenig anders als die anderen Könige war.
Manche halten so einen Trip wohl einer Meldung in der Boulevardpresse für wert, und ich glaube, dass jeder Schritt des Königs, und sei es auf die Toilette, automatisch in die Annalen eingehen muss. Oder seit wann dient die Klatschpresse nicht mehr als Geschichtschronik?
Was weiß ich, jedenfalls hat mich der König zum Ritter geschlagen, in der zuvor genannten Toilette des Literaturcafés. Bevor wir uns den Stoff in die varikösen Venen drückten, sagte ich freiheraus: Sei so gut, Euer Gnaden, erhebe mich erst in einen höheren Rang. Er stieg auf den Klodeckel (er war zu klein, und ich konnte mich nicht hinknien, weil es zu eng war und wir auch kein Kissen dabeihatten), schlug mir mit der vollen Kanüle erst auf die rechte, dann auf die linke Schulter und sprach: Geschlagen seist du, Schriftsteller, zum Ritter, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit, amen.
Diese Begebenheit hat sich wohl nicht groß herumgesprochen.
Vielleicht gibt es ja noch andere Toilettenritter auf der Welt. Womöglich welche, die an noch exotischeren Orten geschlagen wurden. Wenn dem so ist und ich nicht allein bin, finden wir einander vielleicht, trinken Tee und schütten uns unser Herz aus.
Der Türke zerrt wieder mit der einen Hand an Hamlets Leine, am Ringfinger der anderen funkelt ein Ring aus Sterlingsilber. Die E-Zigarette nimmt er gar nicht aus dem Mund, als wäre sie sein mobiles Beatmungsgerät, ohne welches er auf der Stelle sterben würde.
Dass der funkelnde Ring am Finger des Mannes aus echtem Sterlingsilber ist, weiß ich deshalb, weil ein solcher auch mir gestern angeboten worden ist, zu einem ermäßigten Preis.
In der Früh klingelte es unten an der Eingangstür. Ich öffnete, ohne zu fragen, ich dachte, es wäre der Briefträger. Ein adrett gekleideter Knabe stand im Hausflur, eher ein Jüngelchen, mit roten Wangen, großen, funkelnd blauen Augen, einem schüchternen Lächeln und einer ganz unerwarteten ledernen Urkunde in der Hand. Ich will Sie nicht aufhalten. Aber hätten Sie ein paar Minuten für mich? Ja, bitte. Wissen Sie, was das für ein Ring ist? Ist er etwas Besonderes? O ja, das haben Sie richtig erkannt, das ist wirklich ein besonderer Ring, von Bvlgari. Das ist ja interessant, seit wann macht Bvlgari denn Hausbesuche? Seit zwei Monaten ungefähr. Wenn Sie erlauben, erzähle ich Ihnen mehr über dieses Schmuckstück, das mehr ist als nur ein gewöhnliches Schmuckstück. Es handelt sich um ein Stück aus der Kampagne »Rettet die Kinder«, die Bvlgari dieses Jahr gemeinsam mit der Wohltätigkeitsorganisation Save the Children ins Leben gerufen hat. Was kostet denn das mehr als nur gewöhnliche Schmuckstück? Der Ring ist aus Sterlingsilber und Schwarzkeramik gefertigt und von der Linie B.zero1 inspiriert. Auf der Innenseite befindet sich das Logo der Wohltätigkeitsorganisation. Mit einem Teilbetrag jedes verkauften Stücks werden Projekte für die bedürftigsten Kinder weltweit finanziert. Überrascht Sie das Funkeln? Vielleicht haben Sie gehört, dass nur Bvlgari-Juwelen so funkeln. Wegen der speziellen Legierung. Auf der Seite des Unternehmens ist der Preis des Rings mit 530 Euro angegeben, inklusive Mehrwertsteuer. 530? Ja, aber heute können Sie ihn für exklusive 400 Euro erwerben. Zusätzlich erhalten Sie ein spezielles Zertifikat. Bei euch ist ja alles speziell. Das erkennen Sie wieder richtig! Wieder? Ich bezweifle, dass jemand in dem Haus hier einen solchen Ring kauft, und wenn er noch so funkelt. Ich fürchte, in diesem Haus fehlen nur noch Sie, sonst hat schon jeder einen solchen Ring gekauft. Jeder? Ja. Auch die ältere Dame über mir? Ja. Und die unter mir? Ja, auch die unter Ihnen und die neben Ihnen. Die junge Frau unten? Ja, auch die junge Frau, die, unter uns gesagt, ausschaut wie eine alte Frau, und die Rechtsanwälte nebenan. Sacco und Vanzetti? Genau. Ich habe nicht mit Ihnen gerechnet, am Samstagmorgen, so viel habe ich nicht im Haus. Verstehe, das tut mir leid. Wenn Sie eine Visitenkarte hätten oder so etwas, damit ich Sie später kontaktieren kann? Ja, bitte, hier. Unten steht die Telefonnummer unserer Filiale am Kurfürstendamm. Und die Mailadresse. Aber ich fürchte, ab morgen wird der Ring wieder den Originalpreis kosten, sagte er schüchtern, wie ein richtiger Profi, sodass man keine Sekunde an seiner Höflichkeit und Aufrichtigkeit zweifelte. Der Ring aber, der wie ein Vogelherz auf seinem Handteller lag, hatte in der Zwischenzeit zu lodern begonnen, und ich bekam Angst, seine Hand würde verbrennen wie die des Mucius Scaevola. Dabei funkelte der Junge mich aus seinen blauen Augen derart an, dass ich ihn beinahe in die Wange gekniffen hätte.
Von niemandem aus der Nachbarschaft hatte ich erwartet, dass sie etwas so zwischen Tür und Angel kauften, von einem Unbekannten und noch dazu zu einem solchen Preis. Am wenigsten von Larissa Fucks, die über uns wohnt und aus deren Wohnung ständig Wasser heruntertropft. Ich rede mir jedenfalls lieber ein, dass es Wasser ist und nicht irgendetwas anderes. Noch weniger hatte ich es von den Rechtsanwälten neben uns erwartet. Sacco und Vanzetti selbst sind immer so elegant gekleidet, sie ähneln eher Modedesignern als Juristen. Bei ihnen wundert es mich nicht, dass sie die Ringe gekauft haben, vielmehr wundert es mich, dass sie bis jetzt noch keinen hatten. Umso mehr, da sie glauben, alles an ihnen müsse funkeln, von den Schuhen angefangen bis zum Firmennamen. Deshalb nennen sie sich auch Sacco und Vanzetti; in Wirklichkeit ist weder der eine ein Sacco noch der andere ein Vanzetti. Beide haben ganz triviale deutsche Nachnamen. Genauso gut könnten sie sich Zunino und Zungri nennen. Keiner würde irgendetwas bemerken. Ihre Schuhe glänzen jedoch immer.
Ganz zu schweigen von der Witwe neben ihnen. Wozu braucht Judith Grundig einen Bvlgari-Ring oder ein anderes Schmuckstück, wo sie aussieht wie über vierzig, über sechzig, gemütlich versunken in einem Nebel aus Alkohol und Betäubungsmitteln, seit ihr Mann gestorben ist und sie kaum mehr außer Haus geht, während in der Garage ein unglaubliches Auto verstaubt, ein von selbigem Gatten hinterlassener Porsche 930, silberfarben, Baujahr 1979? Ihr Gatte war ein guter Mann, Markus Schneider, ein Laryngologe. Groß, fröhlich, humorvoll.
Wenn ich an Judith denke, sehe ich immer ihren Bauch vor mir. Für kurze Zeit, ihr Mann war eben erst verstorben, wurde sie ein wenig wirr im Kopf und begann einen Flirt mit mir, etwas Ernsteres wurde aber nie daraus. Judith wollte mir nur das Licht am Ende des Tunnels zeigen.
Bevor ich mit Marika zusammenkam, hatte ich einmal bei ihr in der Küche gesessen. Einem verschwindend winzigen Raum. In der Ecke stand ein hoher Ventilator mit breiten Flügeln, die wie bei einem Vogel flatterten, wenn er sich drehte. Er vibrierte. So als wollte er uns gleich attackieren.
Mach mal das Licht aus, bat mich Judith und knöpfte ihre Weste auf.
Niemals werde ich das Terrarium auf der Kommode, die Einstreu aus geraspelten Kokosnussschalen und den darauf sitzenden Rudolf, eine große graupelzige Spinne, vergessen. Er glich einem kleinen Wolf. Nicht einem Wolfswelpen, sondern einem Mutantenwolf mit Krabbenbeinen und acht Augen. Er bewegte sich kaum, lag meistens da wie ein Spielzeug. Es konnte aber passieren, dass er loszappelte, als tanze er Kasatschok. Erst dachte ich, sie habe ihn vielleicht zu Ehren Nurejews Rudi genannt. Auf meine Frage, warum ausgerechnet Rudolf und nicht nach einem anderen berühmten Tänzer, bekam ich von der Grundig eine etwas seltsame Antwort: Hast du mal Nurejews Grab gesehen?, fragte sie. Deswegen.
Judith ist keine gewöhnliche Frau. Was soll man von einer erwarten, die ihr Haustier zu Ehren des Grabes von jemandem benennt? Und sei es eine Tarantel. Sie brauchte nur Disco, Rudi!, zu rufen und zu klatschen, und er fing an zu tanzen wie ein dressierter Hund. Wenn man aber ein Stück Fleisch ins Terrarium warf, verwandelte sich das Kasatschok tanzende Wesen plötzlich und sträubte den Pelz wie ein hungriger Wolf. Ab und zu nahm sie ihn aus dem Terrarium, unter den gleichen Vorsichtsmaßnahmen, mit denen man einen Vogel aus dem Käfig lässt und vorher die Fenster der Wohnung schließt. Er kroch dann überall herum.
Nachdem ich das Licht gelöscht hatte, zeigte Judith mir ihren flachen, nackten Bauch, samt Bauchnabel.
Nun, was sagst du?
Ich war ein wenig verwirrt, ihr Bauch leuchtete von innen wie ein gedimmter Theaterscheinwerfer oder ein Leuchtturm bei Schlechtwetter. Nicht unter der Haut, sondern irgendwo noch tiefer in ihr flimmerte es, als wäre ein Glühwürmchen in ihre Scheide geflogen.
Wie machst du das?, fragte ich bloß.
Verstehst du das nicht?
Nein.
Du bist doch Schriftsteller, lass deiner Phantasie freien Lauf.
Wenn ich meiner Phantasie so freien Lauf lassen würde, wäre ich kein Schriftsteller.
Sogar Krähen können abstrakt denken.
Und Ratten, fügte ich automatisch hinzu.
Du sagst es!
Na verrat’s mir doch, spann mich nicht auf die Folter.
Eh, Zazalein, Zazalein. Das ist die Spirale. Eine mit sechsmonatiger Beleuchtung.
Ich stellte mir vor, wie es erst leuchten musste, wenn sie die Beine spreizte. Aber das tat sie nicht. Seitdem hat sie mir ihren Bauch auch nicht mehr gezeigt. An jenem Tag aber versprach sie mir, wenn ich mich benehmen würde, würde sie mir das Licht am Ende des Tunnels zeigen. Vielleicht war es gar keine Spirale, und in ihrem Körper begann sich schon etwas krankhaft zu verändern.
Lass uns wenigstens tanzen, schlug sie mir vor, sah dabei aber nicht mich, sondern ihren Rudi an.
Wir drehten uns in der kleinen Küche, ohne Musik, ohne Gefühl, gequält … Dabei sah ich Rudolf an. Er sah unbeirrt zurück, mit seinen glänzenden Augen, ich dachte, er würde bestimmt auch gern ein bisschen mit uns tanzen in seinem Terrarium … Judiths Körper fühlte sich an, als würde er in den Händen zerbröseln, wenn man ihn zu fest an sich drückte. Im fahlen Licht sah ich ihre blasse Stirn, ihre dichten Wimpern, ihre goldenen Haare, die im Luftzug des Ventilators wehten …
Auf dem Tisch vibriert das iPhone, auf dem leuchtenden Bildschirm ist nur der Anfang der Nachricht zu lesen. Eine unbekannte Nummer schreibt: Erinnerst du dich überhaupt daran, dass du ein Kind hast? Und wie alt es ist? Der Bildschirm wird wieder dunkel.
Ich hänge den Reifen an die Wand. Ich weiß noch, wie feierlich Marika ihn mir übergeben hat. Wie feierlich musste dann erst die Übergabe für den mit Dochtspeichen werden? Wahrscheinlich bringt sie ihn mit einem Lied auf den Lippen schon angezündet ins abgedunkelte Zimmer, wie eine bunte Kindergeburtstagstorte, oder übergibt ihn mir so respektvoll, wie man einer Soldatenwitwe die gefaltete Flagge bei der Beerdigung überreicht.
Du schläfst lieber, als zu leben, hatte sie gesagt, am Anfang war das, nicht lange, nachdem wir uns begegnet waren. Ich aber will, dass du lebst. Du siehst den Sinn des Lebens in der Bewegungslosigkeit. Aber du musst dich bewegen. Sie hielt die Augen lange geschlossen, ich dachte schon, sie würde nichts mehr sagen, aber genau dann sagte sie: Wir müssen dein Blut in Bewegung bringen, es ist so zäh und klebrig wie Schmierfett. Sonst wirst du kein Tröpfchen vergießen, wenn du dich in den Finger schneidest, außer du drückst es wie Zahnpasta aus der Tube.
Diese ganzen Reifen und Kissen sind für meine körperliche und geistige Gesundheit. Mit meinem Herz aus Hartgummi weiß ich jemanden, der innerlich gesund ist, zu schätzen. Dass mein Blut schwarz ist, weiß ich von vergangenen Verletzungen, aber wie Schmierfett?
Marika ist zugleich meine persönliche Exorzistin und die Waschmaschine für meinen Verstand. Aber das haben wir nie ausgesprochen. Wozu auch? Wir verstehen einander ohne Worte. Damit meine ich nicht Telepathie. Sondern einen Blitz, der jäh zwischen unseren Köpfen durchfährt – Zack!, als sprühten die Funken zwischen zwei Elektroden.
Artikulation ist manchmal überflüssig. Erst recht, wenn es einem in den Ohren dröhnt. Dann ersterben alle Geräusche, nur das Dröhnen bleibt.
Aus dem Spiegel schaut mir erneut ein drahteseldünner und kahlgeschorener Mann mit Ringen unter den Augen und etwas müdem Blick entgegen. Durch das offene Fenster dringt mit der morgendlichen Kälte das Krächzen einer Krähe und es ist hörbar, wie’s gluckert, verrinnend im Innern, im Röhrengewirr.
Ich wünschte, mich würde aus dem Spiegel eine dunkelhäutige, junge und pantherhaft geschmeidige Frau anblicken. Ihre Augen sollten feurig und schwarz wie ein Gagat sein, ihre Brüste klein und prall, der Schlitz zwischen ihren Beinen so eng wie der Geldschlitz eines Spielautomaten. Manchmal denke ich, wenn ich eine Frau wäre, würde ich nie Nein sagen, und manchmal bin ich davon überzeugt, dass ich niemanden an mich heranlassen und als Jungfrau sterben würde.
Ich schaue in die Küche. Marika bestreicht ein Toastbrot mit Pflaumenmarmelade. Stella malt mit Filzstift etwas in ihr Heft. In einer Schüssel vor ihr liegen ein paar bunte Flakes, durchweicht von kalter Milch. Ich trete hinter sie. Sie malt Schmetterlinge. Ob sie die Geschichte aus dem Kindergarten etwas verstört hat? Dort hatte man ihr erzählt, Schmetterlinge würden die Tränen schlafender Vögel trinken. Sie setzen sich angeblich dem schlaftrunkenen Vogel auf den Kopf und saugen ihm mit ihrem Rüssel eine dicke Träne aus dem Auge wie Nektar aus der Blüte. Ich selbst betrachte Schmetterlinge seitdem mit größerem Respekt.
Soll ich dir ein Brot toasten?, fragt Marika und beißt geräuschvoll von der Brotscheibe ab.
Lass nur, sage ich, erst geh ich duschen.
Wir sind heute eingeladen, erinnert mich Stella.
Eingeladen? Ich tue so, als würde ich mich nicht erinnern.
Zu Zoe!
Zu Zoe? Ich stelle mich unwissend. Wer ist Zoe?
Meine Freundin vom Kindergarten! Stella schaut zu Marika. Sie ist nicht ganz sicher, ob ich sie nicht doch auf den Arm nehme. Hast du’s vergessen?
Ah, Zoe … Ich tue so, als fiele es mir gerade wieder ein. Hat sie nicht heute Geburtstag? Oder ihr Hund?
Zoe hat keinen Hund. Stella wirkt verwirrt.
Sicher?, frage ich.
Mami! Sie dreht sich zu Marika um, fragt sie leiser: Zoe hat einen Hund?
Das wird sich rausstellen, wenn wir hingehen, beschwichtigt sie Marika.
Das wird sich rausstellen, wenn wir hingehen!, wiederholt Stella altklug.
Also lass uns hingehen.
•••
Heute bin ich Zeit, Herr Zaza Zeit. Das ist unser neuestes Spiel. Muss ich erwähnen, dass das ebenfalls Marikas Idee ist? Wörter sind dazu da, sagte sie, damit man mit ihnen spielt. Und ich dachte, für Wiegenlieder und Spirituals, erwiderte ich. Und außerdem, sagte sie außerdem, wenn am Anfang das Wort war, vielleicht sind wir ja am Ende auch nur noch Wörter? Ja, aber das ist doch nur eine Möglichkeit von unzähligen, sagte ich.
Ja, aber es ist immerhin eine, antwortete sie, hast du andere Vorschläge?
Mir kamen so schnell keine in den Sinn. Insgeheim dachte ich, am Ende sind wir vielleicht nicht mal mehr Wörter, sondern nur noch Krächzen. Man könnte sich eine tote oder nichtexistierende Sprache einfallen lassen, ohne Substantive und Verben, nur aus unflektierten Epitheten und sakralen Interjektionen. Oder man betrachtet die beim Krächzen hervorgebrachten Laute als Wort, welches aber kein Wort ist, sondern das Echo jenes Wortes, das man als letztes aus dem Munde eines anderen vernommen hat. Könnte doch sein?
Aber ich sagte nichts mehr, manch ein Streit sollte lieber nicht gewonnen werden.
Das Spiel ist simpel: Das Wort, das uns nach dem Aufwachen jeweils als erstes in den Sinn kommt, ist dann der Spitzname für den ganzen Tag. Das kann ein einziges Wort sein oder eine Wortgruppe in einer beliebigen für uns beherrschbaren Sprache. Das heißt, man kann Das-Natur-Theater-von-Oklahoma sein oder auch See-der-tanzenden-Äschen. Zwar spielen wir das Spiel noch nicht lange, doch ich habe es schon geschafft, Hungerkünstler und Künstler-der-Schaufel zu sein. Vielleicht könnte ich morgen beides gleichzeitig sein, denn es wird behauptet, es seien Synonyme. Schwer vorherzusagen. Wer weiß schon, ob mir eines Tages nicht herausrutscht, ich sei Eine-Taube-sitzt-auf-einem-Zweig-und-denkt-über-das-Leben-nach? Es ist eher Lotterie als Improvisation. Hier und heute bin ich Zeit.
Marika ist seit dem Morgen Spiegel, Marika Spiegel. Gestern war sie Illusion. Davor Sierranevada. Heute verkündete uns Stella, sie sei Fokus. Ich wollte fragen, warum denn, meine Kleine, warum, aber wir hatten beschlossen, uns bei der Auswahl des anderen nicht einzumischen. So sind die Spielregeln.
Mit dem, was Stella so einfällt, wird einem nie langweilig. Beispielsweise nannte sie mich Zaza-Pschawela. Einmal sagte sie sogar von sich, sie sei Nacktlynch. Sie sagte es auf Englisch, nakedlynch. Ich habe auch nachgefragt: Nacktlunch? Also nakedlunch. Ne ne, sagte sie, Nacktlynch.
Na ja, für solche Sachen ist sie noch zu klein. Dieses Jahr kommt sie in die Schule. Das bedeutet, noch kann sie sich vor meinen Augen splitterfasernackt ins Bad stellen – das tut sie auch –, und nichts daran wäre uns peinlich. Wenn Marika keine Zeit hat, wasche ich Stella. Dabei befällt mich manchmal unendliche Trauer, besonders, wenn ihre Finger- und Zehenspitzen vom Wasser schrumpelig werden, würde ich am liebsten alle ihre Nägel abfressen. Erst von den Händen, dann von den Füßen … Und wenn ich mich trotzdem nicht beruhigen sollte, könnte ich Stella anfressen, an Händen und Füßen. Danach würden wir zusammen irgendetwas im Fernsehen anschauen, ein altes Melodram oder so.
Den Sinn des Spiels begreife ich überhaupt nicht, obwohl es uns Spaß macht. Ich warte schon darauf, dass wir drei jeder einmal ein Wort aussuchen, das am Ende eine Art Standard setzt, und sei es nur für einen Tag, so etwas wie: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Oder: Wunder, Geheimnis und Autorität. Oder: gut, schlecht, böse. Oder: Wappen, Hymne, Fahne, dann würden wir einfach nur existieren wie ein Zwergstaat. Oder eine kleine Partei. Eher eine poetische als eine politische Partei. Oder unsere Namen sollten wie ein Siegertriumvirat verkündet werden, wie bei einem Pferderennen über die Lautsprecher: Sturm, Held, Pirat. Die Fahnenträger der deutschen Presse (Zeit, Spiegel, Focus) sind nicht genug für ein Wunder.
Überhaupt – die Presse! Vor Kurzem gab es eine totale kaukasische Zeitungs-Übereinstimmung (Resonance, Beaumonde, Apsny Qapsch berichteten alle das Gleiche) und passiert ist trotzdem nichts. Und wenn jemand glaubt, was zum Beispiel auch ich glaube, nämlich dass Abchasisch und Georgisch nicht dasselbe sind, dann hat derjenige leider recht. Auch der Mensch kann nicht ein und derselbe sein, sondern ist eine Mischung aus Ich, Es, Alter-Ego und Über-Ich, mit unendlich verschlungenem Bewusst-Unterbewusst-Unbewusstsein wie ein Spidron. Wie sollte ein Mensch dann von anderen Gleichheit fordern?1 Es kann nicht alles eins sein, genauso wenig wie alles gleich sein kann. Alles Lebende ist einzigartig. Unvorstellbar ist die Gleichheit von zwei Menschen, zwei Schweinen, zwei Hundsrosenbüschen … Außerdem, wenn ich selbst mindestens zwei bin, wie sollte ich da für die Gleichheit zweier Dinge oder Menschen eintreten? Und ich rede hier nicht von gespaltener Persönlichkeit. Manche halten Marika und mich für ein und dieselbe Person, ein Freund hat für uns sogar ein edles Logo entworfen, eine Art Piktogramm, eine Mischung aus Z und M, das aussieht wie ein geöffneter Briefumschlag.
Letztes Jahr hat mir ein Verfolgter aus der Heimat anstatt eines Standardgeschenks wie Tqemali-Soße, Fruchtleder oder Tschurtschchela einen Holzwürfel aus Tbilissi mitgebracht. Er gehört zu einem alten Spiel, ein normaler Polyeder, größer als ein Würfel und kleiner als eine Streichholzschachtel, vom häufigen Spielen an den Kanten abgenutzt, mit je zwei Buchstaben pro Seite beschriftet. Gibt es jemand Sentimentaleren als einen politisch Verfolgten? Wenn ich bloß wüsste, wie eine Zwangsumsiedlung, das Auswandern aus der Heimat einen Menschen prägen. Selbst wenn es nur ein Umherstreifen wäre. Dieser Mann macht jedenfalls immer derartige Geschenke, mal bringt er eben einen Kinderwürfel mit, mal eine Windrose. Einmal gab er mir einen Anhänger aus echtem Silber – ein Replikat jener achtstrahligen Rose, die sich Diebe im Gefängnis auf Schultern und Knie tätowieren. Mit demselben Symbol wird in der Meteorologie die Windrichtung dargestellt. Gibt mir jemand eine lebendige Rose, bekomme ich Herzklopfen, eine Windrose jedoch bewirkt nichts. Offenbar hatte ein Goldschmied sie extra angefertigt.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn wir alle drei – ich, Marika und Stella – einmal gleichzeitig Sieben, Sieben, Sieben oder Kirsche, Kirsche, Kirsche auswählen. Öffnet sich dann der Berliner Himmel und Goldmünzen fallen klimpernd auf uns herab wie aus einem Spielautomaten? Ach, nicht einmal ein Betonbohrer könnte den Berliner Himmel öffnen. Und wenn doch einmal irgendetwas aus ihm herabfiele, dann schwere Bruchstücke.
Einmal war ich ein Flügel. Ich erinnere mich gut daran, wie ich ganz langsam im Bauch des Flügels aufgetaucht war, in seinen Eingeweiden, seiner Vagina, ausgestreckt auf seinen Saiten. Das Instrument war mit einem grabsteinschweren Deckel dicht verschlossen gewesen, doch durch die Ritzen drangen schwaches Licht und gedämpfte Stimmen zu mir. So auf den Saiten liegend schaute ich verzaubert auf seine ganzen Hämmer, Wirbel, die Tastatur.
Ich sog den spezifischen Geruch dieser Dinge ein und begriff mehr, als dass ich fühlte, wie ich mit Knochen und Fleisch zwischen den straff gespannten Saiten hindurchrann wie Sand zwischen den Fingern. Mein Körper hielt der Stringtheorie nicht stand, ich wurde geschnitten, dünner als die Saiten selbst, wie Schinken, und dabei machte es Kling und Klang. Mir fielen die Worte eines Dichters ein, ein Klavier sei das Bewusstsein des Raumes und ein liebes Tier mit fasrigem Holzfleisch, goldenen Venen und stets aktiven Knochen. Außerdem hörte ich zahllose Melodien gleichzeitig: Romanzen und Blues, karibischen Calypso und Jazzstandards, Barkarolen und Cantigas de amigo, Chansons und Jùjú, Heldenballaden und Weihnachtslieder, gurischen Discantus und spanischen Flamenco und vieles mehr, alles miteinander vermischt. Ich lag auf den Saiten und dachte: Unmöglich, dass die immer so straff gespannt sind, sie müssten doch von Zeit zu Zeit nachgestimmt werden. Dabei gingen mir Szenen aus Gangsterfilmen durch den Kopf. In denen die einen Mafiosi die anderen mit Klaviersaiten erdrosseln.
Wie ich mich gleich morgens gefühlt habe, als ich vorgestern Hackfleisch war, erzähle ich lieber nicht. Wenn ich schon durch Klaviersaiten geronnen war wie eine Qualle durch ein Sieb, wie würde mich erst ein Fleischwolf zerquetschen? Oder wenn ich heute Zeit bin, was für Visionen ich habe. Die Quintessenz des Spiels ist, sich dem jeweiligen Wort entsprechend zu fühlen, um selbst zur Einheit mit dem zu werden, was gleich beim Aufwachen dem noch betäubten Gehirn entspringt.
Wir versuchen zu überdauern. In der Zwischenzeit haben wir viele Spiele ausprobiert. Solche und solche. Schlaue und dumme. Traurige und lustige. Das folgende war natürlich auch wieder Marikas Idee: Wir fragten einander unvermittelt, was der jeweils andere im Moment gerade dachte. Ob beim Zähneputzen, Teetrinken, beim Sex oder einfach beim Spazierengehen, ich konnte Marika (oder sie mich) plötzlich fragen: Was denkst du gerade? Dann musste man frei heraus sagen, was man in dem Moment dachte. Klingt erst mal einfach. Wir haben es nicht hinbekommen.
Für einen geliebten Menschen gibt man ohne nachzudenken das Leben (oder mit Nachdenken, was allerdings schwieriger ist; aus einem Impuls heraus geht es weitaus leichter), aber was man in diesem oder jenem Moment denkt, kann man nicht sagen. Sich selbst kann man ja einfach anschweigen. Dabei geht es nicht um den Mut – oder dessen Fehlen –, sondern um kognitive Dissonanz, die natürlich mit dieser Art Offenheit einhergeht, und um Distanzierung. Nicht nur vom anderen, sondern in erster Linie von sich selbst. Man stelle sich zum Test unvermittelt die Frage, was man in diesem oder jenem Moment denkt, und wenn man ehrlich ist, was nahezu unmöglich ist, muss man zugeben, dass man sich selbst absolut nicht kennt. Das Gehirn erscheint einem wie ein Schlammloch oder ein Mülleimer, von dem unaufhörlich stinkende Gase ausgehen, die sich endlos miteinander vermischen.
Nun, was ich da sah, behagte mir dermaßen wenig, dass ich mir seit diesem Tag keine Fragen mehr stelle.
Stella war gestern also Kurve, Marika Wunder und Zaza Orbit, und heute ist es so: Stella Fokus, Marika Spiegel, Zaza Zeit.
Manchmal glaube ich, Marika und ich sind eine Art Tautologie. Weder bin ich ein Page, noch ist sie eine Prinzessin, wir sind die üblichen Verdächtigen. Obwohl ich mir ständig Sorgen mache: Unsere Kinder, unsere Kinder, unsere Kinder werden sich erinnern, selbst wenn alle unter die Balkongeländer geklebten Kaugummis eingetrocknet sind. Stella … Stella ist ein schönes rhetorisches Stilmittel.
Marika hätte Prinzessin werden können, Hans Wall höchstpersönlich hatte sein Herz und sein Bankkonto für ihre Hand geboten. Das tat er einmal, zweimal, mehrmals beharrlich. Ich meine jenen Hans Wall, durch dessen Hände fast die Hälfte der Außenwerbung von ganz Deutschland ging; Marika jedoch wies alles von ihm zurück, wie im Märchen. Oder in alten Romanen. So ein Detail sagt mehr über einen Menschen aus, als die Kinder erzählen können. Manche Menschen werden dafür wertgeschätzt, was sie getan haben, andere dafür, was sie nicht getan haben. Über sie werden dann Filme gedreht. Und Gedichte geschrieben. Und die, die in keine der beiden Kategorien fallen, denken sie sich aus.
Ein Mensch, der einen Sack voll Wörter einem Geldsack vorzieht, ist kein gewöhnlicher Mensch. Man sollte den Wert der Wörter kennen. Früher hätte man über uns wahrscheinlich gesagt, gleich und gleich geselle sich gern. Das würde sogar stimmen, so bizarr die alten Sprüche auch klingen mögen. Wir sind selbst alt. Wir sind älter als unsere Eltern. Und wozu braucht man jemandes Hälfte, wenn man ein ganzer Spiegel sein kann? Oder ein Tagesanbruch. Was man will. Und das jeden Tag, solange man atmet. So geht es uns, den Dichtern Georgiens, wir stehen da, wo es stürmt und der blutige Engel steht. Gib uns kein Brot zu essen, gib uns eine Metapher, eine verspielte. Wir haben keine Angst zu verhungern, wir haben Angst, eines Tages keine Wörter mehr reimen und kein Trauerlied mehr singen zu können.
Auf den Kindern lasten keine Erwartungen mehr.
Stella und Zoe Podeswa gehen in den gleichen Kindergarten. Zoes Haar ist nicht so orangerot wie das ihrer Mutter, aber rot genug, dass man dabei an einen Goldfisch denkt. Außerdem hat sie leicht sommersprossige Wangen und große grünlich-graue, neugierige Augen. Zoe hat die schlechte Angewohnheit, ständig auf ihren in den Mund eingesogenen Wangen herumzukauen, weswegen sie noch mehr wie ein Goldfisch aussieht. Erst recht, wenn ihr offenes Haar glitzert wie eine Schwanzflosse.
Ihre Eltern, Mila und Milo Podeswa, haben etwas Unvorhersehbares, hinterlistig Scharlataneskes an sich. Damit meine ich nicht nur ihre Vornamen. Sie wirken wie Fuchs und Katze, die dem Schwank eines Provinztheaters entsprungen sind. Sie ähneln sich in ihrer Ausstrahlung, so unnahbar und schwer zu greifen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie außer der Ehe noch etwas anderes verbindet, etwas noch Engeres, Verbotenes.
Mila hat eine eigenartige Bestimmtheit in ihrem Blick, und der ihres Mannes flackert wie das Licht eines toten Sterns, wechselnd wie die Bewölkung. Außerdem irren seine Augen hin und her, als lese er eine nur für ihn sichtbare Laufschrift. Das Flackern brachte ihm bei Marika den Spitznamen »Strobo« ein.
Für sich genommen ist an Mila Podeswa vielleicht nichts Besonderes. Weder die leicht geblähten Nasenlöcher, als beschleunige sich vor Freude ihr Atem, noch das Muttermal an der Stelle, wo Oberlippe und Wange aufeinandertreffen, auch nicht die durchschnittliche Körpergröße und die etwas zu kräftig geratenen Knöchel, und doch könnte man sagen, dass sie im Großen und Ganzen ein Wesen aus der Zauberwelt ist. Auf den ersten Blick scheint auf ihrem Gesicht ein leichter Flaum zu schimmern, ein blasser Damenbart, der im Licht sichtbar, aber eigentlich nur eine optische Täuschung ist. Sie hat so wogendes rotes Haar, dass man meinen könnte, ihr Kopf würde brennen. Ihre Brüste sind keine normalen Brüste. Sie sind die Vertretung der Milchstraße auf dem Planeten Erde, deren Botschaft und diplomatisches Korps. Und dann dieser sehr, sehr leichte, stets gleiche Schweißgeruch, den Mila verströmt! Es gibt Männer, deren Dreitagebart ist immer gleich, wie ein gepflegter Rasen vorm Haus. Ich weiß nicht, wie sie das hinbekommen. Genauso verhält es sich mit Milas stets gleich starkem Geruch. Wobei es sich nicht um einen Geruch handelt, sondern um eine Einladung zur Unanständigkeit, die sich bei jeder Bewegung aus ihrem Blusenkragen verbreitet wie der dampfende Atem eines schlafenden Vulkans.
Wenn sie mit mir spricht, streicht sie sich die ganze Zeit übers Ohr, als ob sie Angst hätte, es könnte gleich eine Biene herausfliegen wie aus einem Bienenstock. Und ihr Blick! Als lägen hinter ihren grünen Augen noch andere Augen. Noch listiger als die echten und noch blitzender als ihr Haar. Sie schaut einen an und man wittert Gefahr. Nur ist es immer so: Sie sieht mich an und wenn sich unsere Blicke begegnen, sieht sie sofort weg. Wenn Marika die Liveübertragung von der Unfallstelle ist, dann ist Mila eher die versteckte Kamera. Wie wenn man auf dem Handydisplay sieht, dass jemand einem schreibt und man wartet und wartet und wartet … Man schaut auf das Display, doch plötzlich hört das Texten auf und am Ende bekommt man keine Nachricht. Milo Podeswa ist nur ein, zwei Fingerbreit kleiner als seine Frau. Mit seinem Mehrtagebart gleicht er einer durchnässten Katze. Der flaumige Bart klebt ihm an einer Stelle an der Wange, als ob eines Tages beim Rasieren plötzlich aus einer Seifenblase die Zukunft geboren worden und die andere Seite deshalb unrasiert geblieben wäre. Lippen hat er im Gegensatz zum Rest der Familie keine, man könnte meinen, er spräche mit permanent verkniffenem Mund. Er ist ein überaus kontaktfreudiger Typ, er hat ein Timbre, das einen gleichzeitig anzieht und aufregt. Er müsste so um die dreißig sein. Oder siebenundvierzig? Achtundvierzig? Vielleicht sogar fünfzig?
Bei den Podeswas muss ich immer an unsere Nachbarin Larissa Fucks denken. Umgekehrt habe ich bei Larissa Fucks immer Mila und Milo vor Augen. Es würde mich nicht wundern, wenn sich Larissa irgendwann als deren Mutter herausstellte. Oder ihr Vater. Wenn nicht sogar als beides zusammen. Die Katzen, die Larissa ständig umgeben, halte ich manchmal für Milas und Milos jüngere Geschwister.
Ein bisschen komisch sind diese Katzen schon. Mir kommt es vor, als sei eine von ihnen ein Tigerbaby. Dieser Kater hat rostrotes Fell mit schwarzen Streifen. Bauch und Brust sind etwas heller.
Vielleicht hätte ich dem Ganzen keine Aufmerksamkeit geschenkt, wären Larissa und ihre Katzen mir nicht nur ständig im Flur über den Weg gelaufen und hätte der rostrote Tiger mich nicht auch noch aus bösen, kalten Augen angestarrt. Als wolle er mir zu verstehen geben: Deine Zeit wird kommen, du kleine Kröte. Ich antwortete ebenso mit den Augen: Ach komm, lass uns im Guten miteinander bleiben, aber das elende Vieh zeigte mir die Zähne und sträubte sogar das Rückenfell.
In unserem Haus schläft er gern auf den Fußmatten vor den Wohnungen. Mal rollt er sich hier, mal da zusammen. Wenn man an ihm vorbeigeht, kauert er sich zusammen und schaut einen an, als ob er für einen kurzen Augenblick nicht wüsste, wo er ist und einen für die Fortsetzung seines Traumes hält. Seine gesamte Körpersprache sagt einem, dass er, egal wie tief er schläft, jederzeit angriffsbereit ist. Ein Reflex, den kein Traum überdecken kann. Überdies ist in seinem schläfrigen Blick eine unsagbare Traurigkeit zu lesen, vielleicht weil er niemals den Ort verlassen kann, an dem er lebt.
Mila gefällt es, mir Hilfe anzubieten. Sie hat mir zum Beispiel angeboten, ambulant, also daheim meinen Zahnnerv abzutöten. Du musst wissen, versprach sie mir, der wird so vollständig durchtrennt, dass du nicht merkst, ob du eine Zahnbürste oder eine Nagelfeile benutzt. Danke, sagte ich.
Damit mir keine Zweifel kämen an ihrer Kompetenz, erklärte sie mir gleich das Vorgehen: Zuerst wird das Loch gut mit dem Kopf einer desinfizierten Stecknadel gereinigt, dann gurgelt man gründlich und langsam mit Kamillentinktur und legt einen Knoblauch-Salz-Tampon auf die schmerzende Stelle. Ich solle mich nicht genieren, fügte sie am Ende hinzu. Nein, sagte ich in der Hoffnung, dass ich mich nicht genieren würde.
Wie das Nervtöten endete, erinnere ich nicht mehr. Aber das Angebot werde ich nie vergessen. Übrigens kam von Mila auch die Empfehlung, zum Stressabbau in ein Kissen zu schreien. Und zur Ruhrprophylaxe Kaliumpermanganat einzunehmen. Ich frage mich, ob sie oder jemand anderes mir etwa auch vorgeschlagen hat, für alle Fälle Kaliumbromid einzunehmen. Und woher ich überhaupt diese Permanganate, das Kalium, die Bromide kenne. Oder die Rhabarber-Pillen.
In abgekochtes, warmes, aber nicht mehr heißes Wasser wirfst du zwei, drei Kristalle Kaliumpermanganat und rührst um, sagte sie. Bevor du es trinkst, achte darauf, dass sich auf dem Boden des Glases keine schwarzen Punkte abgesetzt haben, sonst verbrennst du dir den Mund und den Magen, sagte sie, die Lösung muss rosa werden und nicht lila. Du lässt es eine Weile stehen, damit es sich absetzt, und filterst es mit Mull in ein anderes Glas.
Vor Kurzem tat mir der Zahn weh, da fiel mir gleich Mila ein. Ich muss sie mal fragen, ob sie ambulant, also daheim auch Zähne zieht. Mila Podeswa. Soweit ich weiß, ist das weder ihr echter Vor- noch Nachname.
Milo Podeswa hat keine Ratschläge für mich, er bot mir direkt seinen Text an.
Ich hab auch einen Roman geschrieben, sagte er, genauer gesagt, bin ich noch am Schreiben.
Bist du auch Schriftsteller?
Sein Stroboblick zielte direkt in meine Augen. Ich dachte, mich trifft der Schlag. Hatte ihm etwa das »du auch« nicht gefallen? Er schaute mich an, als sei ihm schlecht. Überhaupt sieht er einen manchmal so an, dass man denken könnte, er müsse sich übergeben. Marika sagt, nicht ausgeschlossen, dass er an BPLS leidet, der leichten Form. Und wenn Marika es nicht ausschließen kann, dann steht es außer Frage. Bei Diagnosen liegt sie nie daneben. Ich fragte nur: Was ist denn BPLS? Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel natürlich, erwiderte sie. Ich frage mich natürlich, warum ich da nicht selbst drauf gekommen bin, was sonst sollte BPLS sein? Zumal die leichte Form.
Schriftsteller? Nein, nein!
Er wies das so weit von sich, als hätte ich etwas Peinliches gefragt.
Ich sammle die Wagen im Einkaufszentrum ein.
Ich wusste nicht, ob er scherzte oder stolz war.
Ab und zu frisiere ich auch Hunde.
Ich glaubte ihm kein Wort. Einkaufswagen einsammeln – was soll das für ein Beruf sein? Eigentlich erledigt das doch der Sicherheitsdienst vom Einkaufszentrum gleich mit oder ein anderer geringfügig Angestellter.
Halte es ruhig für ein Märchen, wenn du’s nicht glaubst, gab mir Podeswa mit den Augen zu verstehen.
Wie läuft das Schreiben, fragte ich, im Versuch, die vorherige Frage auszubügeln.
Wie soll ich das ausdrücken, sagte er, ich bin nicht geübt im Schreiben. So wie du. Ich bin ein Neophyt. Soll ich’s dir zeigen?
Er fragte mich so unvermittelt und unfeierlich, dass ich, ohne zu überlegen, bejahte. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob sich der Vorschlag auf einen Roman bezog oder auf das Hundefrisieren. Oder das Einkaufswagensammeln. Und das Wort Neophyt brachte mich ein bisschen aus dem Konzept.
Eine komische Szene war das. Ich zog Stella in der Umkleide des Kindergartens die Pantoffeln an, und Milo hielt die bunten Ringelsocken seines Kindes in der Hand. Wieder leuchtete er mir mit seinem Stroboblick in die Augen.
Was ist dir lieber, fragte er, soll ich es dir ausdrucken, liest du es am Computer oder …?
Ich habe nicht mehr gefragt, was das Oder bedeuten sollte, ob es da noch andere Möglichkeiten gab außer vielleicht der, dass er es mir vorlas.
Da saßen wir zwei Männer mittleren Alters also in einer von Kinderschweißgeruch durchdrungenen Umkleide, aus dem Raum nebenan drang Stimmengewirr. Da saßen wir, jeder von uns geplagt von unseren eigenen Neurosen, Ekzemen und Stigmen. Und schütter werdendem Haar. Milo hat leichte Alopezie, und ich bin kahl wie der Bald Mountain. Stella war inzwischen zu ihren Freunden gelaufen. Und Milo legte die kleinen bunten Ringelsocken seines Kindes zusammen. Dabei schaute er mich so zwinkerfrei an, als hätte er gar keine Augenlider, genauso wenig wie Lippen. Er stand stumm da, wie eine Wolke.
Am gleichen Abend erhielt ich per E-Mail seine Aufzeichnungen mit dem etwas abgedroschenen Titel Die Wörterausstellung.
Das ist der Arbeitstitel, schrieb er mir als PS, falls du einen besseren Vorschlag hast, bin ich dir zu Dank verpflichtet. Ich schick dir den Text in Kursiv, schrieb er weiter, so wird er gelesen. Das hat Prinzip.
Warum das Prinzip hat, erklärte er nicht. Aus Respekt vor Petrarca? Allerdings habe ich auch nicht mehr gefragt. Jeder hat so seine Sturheiten. Wenn er es kursiv will, dann eben kursiv.
Das war vor einem Monat. Heute ist Zoes Geburtstag. Vor ein paar Tagen hat Mila Marika geschrieben und uns mit der gesamten Familie eingeladen. Hier läuft alles zusammen. Einer für alle, alle für einen. Ist das Zufall? Hat Milo das eingefädelt? Ich habe Milo ja seit jenem Tag nicht mehr getroffen. Drückt er sich vor einem Treffen mit mir?
Ein Monat ist eine lange Zeit. Heute muss ich Podeswa etwas zu seinem Werk sagen. Was eigentlich nicht schlimm ist. Außerdem erwartete ich absolut nichts von Milo. Und nicht nur von Milo, von der Belletristik generell erwarte ich nichts mehr.
Ich sage nicht, dass früher alles gut war. Wo früher anmutige Prinzen Schönheiten wachküssten, Ritter Drachen mittig zerteilten, um die verschluckte Sonne zu befreien und so weiter, versucht heute ein Maulwurf herauszufinden, wer ihm auf den Kopf gekackt hat. Literatur ist weder entzaubert noch billig geworden. Ich persönlich habe einfach nur das Interesse verloren, Worte zu Papier zu bringen. Wieder Worte. Wieder Papier.
Kurzum, ich hatte mich eines Abends allein an den Computer gesetzt, dessen Bildschirm mich mit einem leeren Word-Dokument erwartete, und meine feuchte Seele hatte sich nach und nach ins dunkle Crêpe de Chine der Nacht gewickelt, als Marika gekommen war, sich auf meinen Schoß gesetzt und mir den Kopf auf die Schulter gelegt hatte. Auch sie starrte auf den Bildschirm.
So, wie ein Sportler immer in Form sein muss, musste ich jeden Tag eine Seite schreiben, ob ich Lust hatte oder nicht. Das habe ich mir irgendwann geschworen. Im Prinzip hat es keine Bedeutung, was ich fabriziere, einen Nekrolog oder einen Trinkspruch, oder worauf ich schreibe, auf ein Blatt Papier oder am Computer, und womit ich schreibe, mit Tinte oder dokumentenechter Tusche, Gel oder Alizarin mit Blut vermischt, Milch oder Shampoo – der Schreibprozess an sich ist wichtig. Es gibt allerdings Leute, die Worte aus einem auf dem Wasser schwimmenden Haar formen, und Leute, die mit dem Kondensstreifen eines Flugzeugs ein, zwei Verse an den Himmel schreiben. Es geht hier doch nicht allein ums Schreiben, oder? Es ist eher die Vorbereitung auf den letzten Atemzug.
Früher habe ich immer darauf gewartet, dass eines Tages meiner Hand etwas Wunderschönes und Geheimnisvolles entspränge, etwas, das auf einmal alle meine Fehler überdeckte und das dafür sorgte, dass mir sofort alle alles verziehen. Meine Kinder würden mir die Vernachlässigung verzeihen, Freunde die Verantwortungslosigkeit, meine Heimat die Ablehnung, meine arme Mutter die Unersättlichkeit, die Mutterkirche den Unglauben, meine Elegien die Unübersetzbarkeit. Sofort würde jeder sehen, welchen Kummer und welche Reue ich in meiner Brust trug. Freunde (und Kinder) wissen ja nicht, welcher Gram im Herzen wohnt. Oder was jahrhundertelang tief darin bewahrt ist. Aber es ist nichts herausgekommen und keiner hat mir irgendetwas verziehen.