Zorn - Blut und Strafe - Stephan Ludwig - E-Book
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Zorn - Blut und Strafe E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Hauptkommissar Claudius Zorn und der dicke Schröder geraten ins Zentrum einer grausamen Mordserie – werden sie die schützen können, die sie am meisten lieben? Als Hauptkommissar Claudius Zorn an einem gewöhnlichen Mittwochabend im Dezember seinen wöchentlichen Besuch bei einem älteren Herrn machen will, findet er sich plötzlich in dessen Villa mitten in einem Tatort wieder. Die Tür steht offen, in der Eingangshalle herrscht beklemmende Stille und im Salon bietet sich Zorn ein grauenvolles Bild. Der alte Mann wurde ermordet, und Zorn weiß, dass er nun den schwersten Gang seiner ganzen Laufbahn verrichten und der einzigen Angehörigen die traurige Nachricht überbringen muss. Denn die Tochter des Ermordeten ist niemand anderes als Frieda Borck, Zorns ehemalige Vorgesetzte und feste Freundin. Zorn und Schröder arbeiten auf Hochtouren daran, den Täter schnell zu finden. Aber bald geschieht ein weiterer Mord, und alle Indizien sprechen für den gleichen Täter. Beiden Opfern wurde eine Zahlenfolge in die Haut gebrannt, doch ansonsten scheint es keinerlei Zusammenhang zu geben. Während Zorn versucht, Frieda eine Stütze zu sein, muss er bald erkennen, dass er an seine Grenzen stößt und Schröder der geeignetere Kandidat für seelischen Beistand ist. Und dann gerät der wichtigste Mensch in Zorns Leben in Gefahr, und er ist kurz davor, den Verstand zu verlieren ... Der achte Fall für Hauptkommissar Claudius Zorn und den dicken Schröder der Kult-Thriller-Serie von Bestseller-Autor Stephan Ludwig Zorn und Schröder sind auch Fernseh-Stars. Die Bände 1 bis 5 der Zorn-Reihe sind mit Stephan Luca und Axel Ranisch in den Hauptrollen verfilmt.

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Seitenzahl: 466

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Stephan Ludwig

ZORN 8 - Blut und Strafe

THRILLER

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoERSTER TEILEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZWEITER TEILZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnDRITTER TEILAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigVIERTER TEILSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFÜNFTER TEILFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSechsundfünfzigSiebenundfünfzigSECHSTER TEILAchtundfünfzigNeunundfünfzigSechzigEinundsechzigZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzigSIEBTER TEILFünfundsechzigSechsundsechzigSiebenundsechzigAchtundsechzigNeunundsechzigSiebzigEinundsiebzigZweiundsiebzigDreiundsiebzigACHTER TEILVierundsiebzigFünfundsiebzigSechsundsiebzigLETZTER TEILSiebenundsiebzigAchtundsiebzigNeunundsiebzigAchtzigFragen an Hauptkommissar Zorn und Hauptkommissar Schröder

I was lying in a burned out basement

with the full moon in my eyes.

I was hoping for replacement

when the sun burst thru the sky.

Neil Young, After the Gold Rush

ERSTER TEIL

Eins

Er ahnte sofort, dass etwas nicht stimmte.

Claudius Zorn war ein einfach gestrickter Mann. Ein Träumer, der abwesend durch sein Leben stapfte, als wäre er nur kurz zu Besuch, versunken in einer melancholischen und oft etwas trüben Gedankenwelt. Ein Mann, dessen Blick meist nach innen und selten in die Ferne gerichtet war, kein Wunder also, dass er kaum etwas von seiner Umwelt mitbekam. Doch selbst er, dessen Antennen – falls sie jemals existiert hatten – im Laufe der Jahre verkümmert waren, registrierte die Signale in dem Moment, als das Gartentor klappernd hinter ihm ins Schloss fiel.

Hier stimmt was nicht, stellte Zorn also fest und lief neben einer mannshohen Buchsbaumhecke auf das herrschaftliche Haus zu. Schnee knirschte unter den Sohlen seiner abgewetzten Stiefel, sein Atem kondensierte in der abendlichen Dezemberluft. Nee, wiederholte er in Gedanken, als er in den Schatten des Vordachs trat und die ausgetretenen Granitstufen der Eingangstreppe erklomm, irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.

Eine Feststellung, die weder eine besondere Beobachtungsgabe noch außergewöhnliches Kombinationsvermögen erforderte, denn die halb offenstehende Haustür, ein Ungetüm aus schwerer Eiche mit schmalen, vergitterten Bleiglasfenstern, war kaum zu übersehen.

Zorn stieß die Tür mit der flachen Hand auf, diese schwang knarrend nach innen. Der Geruch der Villa nach schweren Teppichen und altem Holz wehte ihm aus der Dunkelheit entgegen, gemischt mit dem würzigen Duft von Kaffee und Apfelsinen. Ein warmer, fast tropischer Hauch, der Zorns Brille beschlagen und ihn gleichzeitig frösteln ließ.

»Hallo?«

Zorns Stimme verlor sich in der Tiefe des Hauses. Zögernd sah er sich um. Der Volvo parkte direkt vor dem schmiedeeisernen Gartentor halb auf dem Bürgersteig unter einer Laterne. Es hatte aufgehört zu schneien, die letzten Flocken torkelten durch den Schein der Natriumlampen und schmolzen auf der Windschutzscheibe. Die Fenster der Häuser auf der Straßenseite gegenüber waren erleuchtet, die gepflegten Vorgärten von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Ein gelber Kleinbus rauschte vorbei, der Asphalt glänzte wie mit Millionen winziger Diamanten übersät.

Zorn wandte sich wieder um. Als er die Eingangshalle betrat, erwachte im oberen Stockwerk eine Standuhr zum Leben. Sechs tiefe, getragene Glockenschläge hallten durch die Stille. Majestätisch, geisterhaft, fast bedrohlich. Der alte Mann legte Wert auf Pünktlichkeit. Ebenso wichtig war Sauberkeit, erinnerte sich Zorn, als er die Abdrücke bemerkte, die seine nassen Stiefel auf dem lackierten Eichenparkett hinterlassen hatten, doch er zog weder die Schuhe aus, noch machte er sich die Mühe mit dem Abtreter neben dem Jugendstil-Garderobenständer aus poliertem Messing. Seine Gedanken kreisten um etwas anderes.

Etwas stimmte nicht.

Ein leises Klimpern ließ ihn aufhorchen. Fünf Meter über seinem Kopf bewegte sich der riesige Kronleuchter sacht im Luftzug, der durch die offene Haustür hereindrang. Dutzende tropfenförmige Prismen aus geschliffenem Kristallglas klirrten aneinander. Der Leuchter war ausgeschaltet, nur durch die halbgeschlossenen Jalousien vor den Fenstern fiel ein wenig Laternenlicht, tauchte die Eingangshalle in einen diffusen, blassgelben Schimmer.

»Hallo?«

Stille. Nur das Ticken der Standuhr, irgendwo im Obergeschoss. Und das Klimpern des Leuchters, ein zartes, gespenstisches Glockenspiel.

Zorns Blick folgte den Stufen der geschwungenen Treppe nach oben, wanderte über die holzgetäfelten, vom Alter geschwärzten Wände wieder hinab, glitt über die hohen Zimmertüren. Es waren drei, unter der mittleren drang ein schmaler Lichtstreifen hervor.

Er trat näher. Klopfte. Zaghaft zunächst, dann etwas stärker.

Keine Reaktion.

»Schläfst du? Ich meine …«

Zorn verstummte. Abgesehen davon, dass die Frage ziemlich dämlich, regelrecht hirnrissig war, wusste er nicht mehr genau, ob er den alten Mann bei ihrer letzten Begegnung geduzt hatte. Doch auch das war im Moment ebenso nebensächlich wie die Abdrücke seiner verdreckten Stiefel auf dem Parkett.

Er griff nach der Klinke. Spürte das kühle Messing an den Fingern. Sein Puls beschleunigte sich, obwohl er sich sagte, dass er sich das alles nur einredete. Eine offene Haustür bedeutete noch lange nicht, dass etwas Schlimmes geschehen war. Zorn war nicht freiwillig hier, weiß Gott nicht, doch er hatte versprochen, den Alten zu besuchen und …

Die Tür schwang nach innen.

Zorn schloss geblendet die Augen. Öffnete sie, sah nur ein milchiges, verschleiertes Bild und nahm die Brille ab. Wischte die beschlagenen Gläser am Jackenärmel ab und setzte sie wieder auf.

Raus hier.

Das war der erste Gedanke des Hauptkommissars, doch er verharrte wie festgefroren auf der Schwelle. Und da seine Beine ihm nicht gehorchten, versuchte er es mit den Händen, gab ein ersticktes Keuchen von sich und nahm die Brille wieder ab.

Ich will das nicht sehen. Ich will nicht.

Zorns Magen verkrampfte sich.

Mir wird schlecht.

Nicht wegen der Einrichtung des Zimmers, die kannte er von seinen letzten Besuchen. Sicherlich, er mochte weder die schweren Samtgardinen noch die dunklen, mit Schnitzereien verzierten Möbel. Auch nicht das Ledersofa mit den verschnörkelten Lehnen, die gehäkelten Platzdeckchen, die verglaste Eckvitrine mit den Sammeltassen. Selbst die Tatsache, dass der alte Mann nackt war, hätte Claudius Zorn noch irgendwie verkraftet. Was er nicht verkraftete, was ihm den Atem raubte, seinen Verstand buchstäblich pulverisierte und innerhalb von Sekundenbruchteilen auf den Stand eines verschreckten Kleinkindes reduzierte, war etwas anderes.

Der Alte schlief nicht.

Definitiv nicht, denn zum Schlafen, dachte Claudius Zorn, da hätte er sich irgendwo hingelegt, auf das Sofa mit den albernen Kissen zum Beispiel oder von mir aus auch auf den Teppich. Er steht, keine drei Meter von mir entfernt, da drüben, direkt vor dem Bücherschrank. Und im Stehen kann niemand schlafen. Elefanten, die können das. Pferde auch. Aber Menschen, dachte Zorn, die können das nicht. Menschen kippen um, wenn sie schlafen.

Oder tot sind.

Es sei denn, etwas hindert sie daran.

Nägel zum Beispiel. Lange, spitze Nägel, die durch die Gliedmaßen tief in die Wand getrieben wurden und verhindern, dass der Körper zu Boden sackt.

Zorns Arme hingen kraftlos herab, die Brille baumelte zwischen den verbliebenen Fingern seiner verstümmelten Hand. Ohne die Brille nahm er seine Umgebung nur verschwommen wahr, doch ein Trost war das nicht. Der Anblick hatte sich tief in seinen Verstand gegraben, in gestochenen, gnadenlos scharfen Bildern.

Der magere nackte Körper, hoch aufgerichtet vor dem zweitürigen Schrank. Die Nägel, deren Köpfe aus der bleichen Haut ragten wie überdimensionale Stecknadeln. Aus den Schulterblättern. Den faltigen Oberarmen. Den dünnen Beinen. Dem schmalen, von weißem Flaum bedeckten Brustkorb. Überall Blut. In dunklen, geronnenen Fäden. Die Augen. Leer, unter buschigen, schlohweißen Brauen direkt auf Zorn gerichtet. Schütteres, wirr vom Kopf abstehendes Haar. Ein weiterer Nagel. Direkt durch die

Ich will das nicht sehen.

Stirn getrieben.

Der Boden vibrierte. Porzellan klapperte in der Vitrine. Draußen rauschte eine S-Bahn über die Brücke in Richtung Zoo. Zorn taumelte zurück in die Halle, schlug die Tür krachend zu. Im nächsten Moment hielt er sein Handy in den bebenden Fingern, drückte auf die Wahlwiederholung.

Frieda meldete sich nach dem ersten Klingeln.

»Claudius?«

Zorn brachte kein Wort heraus. Er hörte ihren Atem, direkt an seinem Ohr. Und das Klirren des Kronleuchters hoch über seinem Kopf.

»Was ist los?«

»Frieda, ich …«

Zorn würgte. Hielt die Hand vor den Mund und wehrte sich mit aller Kraft gegen den Brechreiz.

»Claudius?«

Sie klang alarmiert. Ängstlich, schrill. Trotzdem war es gut, ihre Stimme zu hören. Er holte tief Luft, die Übelkeit legte sich.

»Wo bist du?«, fragte sie.

Er formulierte die Antwort im Stillen. Bewegte die Worte im Kopf und dachte über deren Bedeutung nach. Nein, er wollte sie nicht aussprechen. Aber er hatte keine Wahl.

Sie wiederholte die Frage. Drängender jetzt.

»Ich bin …«

»Ja?«

»Bei deinem Vater.«

Zwei

Die Tür wurde geöffnet. Schröder erschien, drückte sie sacht hinter sich ins Schloss und nahm neben Zorn Platz. Als Zorns Anruf ihn erreichte, war er unterwegs zum Bahnhof gewesen. Seit einem Jahr unterrichtete er einmal pro Woche an der Landespolizeischule, sein Kurs über das Treffen von Entscheidungen und deren freundliche und bestimmte Durchsetzung im Polizeidienst war beliebt, und auch er genoss die Arbeit mit den jungen Leuten. Trotzdem hatte er keine Sekunde gezögert, obwohl Zorns verwirrtes Stammeln kaum zu verstehen gewesen war. Der Klang seiner Stimme hatte genügt, und so hatte Schröder das Taxi wenden und auf dem schnellsten Wege herfahren lassen.

»Geht’s dir besser?«

Keine Antwort.

Anderthalb Stunden waren vergangen, seit Schröder seinen früheren Vorgesetzten wie ein verängstigtes Kind in der Eingangshalle gefunden, in das kleine Zimmer im Erdgeschoss gebracht und sanft auf das Sofa gesetzt hatte. Seitdem hatte Zorn seine Haltung nicht verändert, er saß gebeugt zwischen den bestickten Kissen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und starrte zwischen seinen Beinen auf das Parkett, als wolle er sich das Muster einprägen.

»Kann ich was für dich tun?«, fragte Schröder.

»Kannst du beamen?«

Denn dann, dachte Zorn, könntest du mich von hier wegbringen. Nach Afrika. Australien. Oder auf den Mars. Irgendwohin. Hauptsache, weg von hier. Weit, weit weg.

»Nee«, sagte Schröder. »Kann ich nicht.«

»Das hier«, sagte Zorn, den Blick weiterhin zu Boden gerichtet, »war ihr Kinderzimmer. Vor fünfzehn Jahren ist Frieda ausgezogen, aber er hat kaum was verändert.«

Das Zimmer war peinlich sauber. Der kleine Schreibtisch vor dem Fenster war leer, abgesehen von einer Dose mit Stiften und einem genau in der Mitte drapierten DIN-A4-Block. Die beigefarbene Tagesdecke auf dem schmalen Bett an der Wand gegenüber war sorgfältig glattgestrichen. Auf dem Kopfende lag ein brauner Plüschteddy, der aus leeren Knopfaugen an die getäfelte Decke stierte, von der eine Miniaturausgabe des Leuchters in der Halle baumelte. In der Ecke neben der Tür glänzte ein riesiger, türkis gefliester Kachelofen.

»Sieht aus wie’n Museum, oder?«

Schröder schwieg. Er wusste, dass Zorn keine Antwort erwartete.

»Kanntest du ihn gut?«, fragte er stattdessen.

»Ist das jetzt wichtig?«

»Nee.«

Durch die geschlossene Tür drangen Schritte, unterlegt mit leisem Stimmengewirr der Spurensicherung. Als Zorn weitersprach, hielt er den Kopf noch immer gesenkt. Schröder musste sich vorbeugen, um ihm folgen zu können.

»Wir haben ihn ein paarmal besucht. Frieda wollte, dass ich ihn kennenlerne. Er … er konnte mich nicht leiden. Und weißt du was?« Zorn schüttelte trotzig den Kopf. »Ich konnte ihn auch nicht leiden. Er ist … er war seit Jahren in Pension, aber er war immer noch Richter, und er hat mich behandelt, als wäre ich einer seiner Angeklagten. Er hat’s nie direkt ausgesprochen, aber sein Urteil war von Anfang an klar. Dass ich nicht gut genug für seine Tochter bin. Was will eine Staatsanwältin am Oberverwaltungsgericht mit einem kleinen Provinzbullen wie mir?«

Die Tür wurde geöffnet, ein Uniformierter erschien, umgeben von gleißendem Licht. Die Spurensicherung hatte Scheinwerfer im Haus verteilt.

»Jetzt nicht«, sagte Schröder, bevor der Beamte zu Wort kam.

Die Tür fiel wieder ins Schloss.

»Frieda hat sich Sorgen um ihn gemacht«, murmelte Zorn. »Er war völlig klar im Kopf, aber der Mann war über siebzig und so gut wie blind. Als Frieda weggezogen ist, hat sie ’ne Pflegerin besorgt, aber die hat’s nur ’ne Woche bei ihm ausgehalten. Ich weiß nicht genau, wie viele danach gekommen sind in den letzten anderthalb Jahren, er hat jedenfalls alle vergrault. Irgendwann hat Frieda gefragt, ob ich ab und zu nach ihm sehe, schließlich gehöre ich«, Zorn stieß ein freudloses Lachen aus, »zur Familie. Ich hab’s gemacht, jeden Mittwoch, Punkt sechs, war ich hier. Wir haben dagesessen in diesem riesigen Kasten und uns angeschwiegen, eine Stunde lang, und wenn die Stunde vorbei war, da war er genauso erleichtert wie ich. Trotzdem hab ich’s gemacht, und soll ich dir sagen, warum? Weil ich keinen Bock hatte, dass sie die Wochenenden bei ihrem Vater verplempert. Ich wollte sie für mich haben. Der alte Mann war mir völlig egal.«

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt«, sagte Schröder. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.«

Zorn sah auf. Es war jetzt ein halbes Jahr her, dass Schröder sich den Kopf komplett kahlgeschoren hatte. Wie viel er dem Friseur denn bezahlt habe, hatte Zorn ihn anfangs geneckt, die ganze Prozedur könne ja kaum länger als drei Sekunden gedauert haben. Insgeheim allerdings wunderte er sich noch immer, wie radikal sich der kleine Mann verändert hatte. Klar, Schröder war nach wie vor übergewichtig, trug ausgebeulte Cordhosen, karierte Hemden über dem Kugelbauch und scherte sich einen Dreck um seine Garderobe, doch ohne die dünnen, quer über die Glatze gelegten Strähnen – ein paar Haare nur, weniger als eine Handvoll – wirkte er irgendwie … charismatisch. Vielleicht hatte es auch mit den Kursen zu tun, die Schröder einmal pro Woche gab. Es hieß, seine Schüler vergötterten ihn geradezu.

»Wann … wann ist es passiert?«, fragte Zorn.

»Irgendwann gestern Nacht. Vor zwölf, vielleicht fünfzehn Stunden.«

»Und wie genau ist er …«

»Willst du das wirklich wissen?«

Sie sahen sich an.

»Nee«, sagte Zorn. »Das will ich nicht. Aber ich muss.«

Über dem Bett gegenüber hing ein gerahmtes Foto. Es zeigte Frieda bei der Einschulung, ein mageres, bezopftes Mädchen mit Zahnlücke und Sommersprossen um die Nase. Ihre Mutter war gestorben, als sie sechs war, der Richter hatte sie allein großgezogen. Zorn stellte sich vor, wie er abends dort drüben am Bett gesessen und ihr eine Geschichte vorgelesen hatte. Jetzt war er hinter dieser Wand, im Wohnzimmer, ein paar Meter entfernt, an den dunklen Eichenschrank genagelt wie ein …

»Genau genommen«, sagte Schröder, »sind es keine Nägel.«

Zorn blinzelte verwirrt. Die letzten Worte hatte er laut ausgesprochen, ohne dass es ihm bewusstgeworden war.

»Die Tatwaffe ist ein pneumatisches Bolzenschussgerät, konkreter gesagt ein Druckluftnagler«, fuhr Schröder fort. »Es gibt zwölf Einstichstellen. Jeweils zwei in den Schultern, den Oberarmen, den Händen, den Oberschenkeln und den Schienbeinen. Dazu kommen der Magen und die Stirn, im Gegensatz zu den anderen sind diese Wunden sofort tödlich. Dem Blutverlust nach zu urteilen, sind sie ihm erst zum Schluss zugefügt worden. Heiner Borck ist gefoltert worden, womöglich stundenlang.«

Schröder sprach ruhig, emotionslos. Nichts verriet, was in ihm vorging.

»Es sieht nach einem Ritualmord aus. Die Wunden, das ganze Arrangement. Vielleicht sollen wir ja nur auf eine falsche Spur gelockt werden, aber …«

Wieder wurde die Tür geöffnet.

»Sie haben die Leiche abgenommen.« Die Stimme des Uniformierten klang brüchig. »Der Rechtsmediziner will Sie sprechen. Sie sollen sich das ansehen. Sofort, sagt er.«

*

Als Schröder wenig später zurückkam, hatte Zorn sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Die nächsten Minuten saßen sie schweigend nebeneinander, zwei müde, gebeugte Männer, die nach einem harten Arbeitstag am Fließband auf den Bus warten. Draußen wurden Türen geöffnet, wieder geschlossen. Anweisungen wurden gemurmelt, Schritte knarrten auf dem alten Parkett.

»Er wurde gebrandmarkt«, sagte Schröder plötzlich. »Auf dem Rücken, mit einem glühenden Eisen. Wie ein Tier, zwischen den Schulterblättern. Es ist eine Zahl, eine Fünf.«

Es dauerte eine Weile, bis Zorn reagierte. Langsam, ganz langsam hob er den Kopf und sah Schröder an, das erste Mal an diesem Abend.

»Wie schaffst du das, Schröder?«

Schröder antwortete nicht. Nur die rötlichen Augenbrauen hoben sich in einer stummen Frage auf der kahlen Stirn.

»Ich konnte ihn nicht leiden, er war ein bornierter alter Sack. Aber jetzt«, Zorn deutete mit dem Kinn zur Wand, »jetzt liegt er da drüben. Ausgeblutet, mit zerschmetterten Knochen. Herrgott, der Mann wurde bei lebendigem Leib an einen Schrank genagelt! Er wurde regelrecht abgeschlachtet, und was machst du?« Zorn holte tief Luft, es klang fast wie ein Schluchzen. »Du kommst seelenruhig hier reingetrabt, redest über … Druckluftnagler, Brandeisen, all dieses kranke, perverse Zeug, als würdest du ’ne verdammte Pizza bestellen! Was bist du eigentlich für ’n Mensch?«

Zorns dunkle Augen glänzten hinter den verschmierten Brillengläsern. Schröder erwiderte seinen Blick mit unbewegter Miene.

»Ich bin Bulle«, sagte er.

Es war das erste Mal, dass er diesen Ausdruck benutzte.

»Es ist mein Job.«

Meiner auch, dachte Zorn.

Scheinwerferlicht huschte durchs Fenster. Ein Leichenwagen fuhr im Schritttempo vorbei, wendete und stoppte mit blinkenden Warnlichtern neben einem Mannschaftswagen in der zweiten Reihe. Die schwarze Karosse blitzte im Laternenlicht wie mit flüssigem Pech überzogen.

»Entschuldige«, murmelte Zorn. »Ich … ich bin völlig durch den Wind.«

»Das bin ich auch.«

Autotüren wurden zugeschlagen, zwei Männer in dunklen, bodenlangen Mänteln tapsten unbeholfen über die vereiste Fahrbahn und öffneten die Heckklappe des Leichenwagens.

»Ich muss zum Bahnhof«, seufzte Zorn und sah auf die Uhr. »Ihr Zug kommt in einer Viertelstunde.«

»Soll ich …«

»Nee, ich mach das. Ich krieg das schon hin.«

Fragt sich nur, wie ich das anstellen soll, dachte Zorn. Bisher weiß sie nur, dass er tot ist. Sie wird wissen wollen, wie ihr Vater gestorben ist. Wie soll ich ihr das erklären? Was, verdammt nochmal, soll ich ihr sagen?

*

Irgendwie schaffte er es. Er wusste, dass er sie noch nicht mit der gesamten Wahrheit konfrontieren durfte, die würde sie später sowieso erfahren. Also erzählte er Frieda nur, dass sie von einem Mord ausgingen, und behauptete, nur einen flüchtigen Blick auf den Toten geworfen zu haben (was ja auch stimmte) und ansonsten keine weiteren Einzelheiten zu kennen (was definitiv nicht stimmte). Sie weinte nicht (doch ihre Augen verrieten, dass sie es im Zug getan hatte), und als sie im Volvo saßen, da wollte sie sofort zum Haus ihres Vaters fahren, doch Zorn war darauf vorbereitet und erklärte, dass das Haus versiegelt sei, die Spurensicherung habe ihre Arbeit unterbrochen und würde erst am nächsten Morgen weitermachen. Er hatte keinerlei schlechtes Gewissen wegen dieser Lüge, schließlich war er nicht sicher, ob die Leiche bereits abtransportiert worden war, und wollte um jeden Preis verhindern, dass sie ihren Vater in diesem Zustand sah. Auch das würde später geschehen, und das Haus, hatte Zorn sich vorgenommen, würde sie erst betreten, wenn alles gereinigt und die Spuren beseitigt waren.

So fuhren sie durch die winterliche Stadt, vorbei an Weihnachtsbäumen, Schwibbögen und funkelnden Lichterketten, sie stellte Fragen, er wich aus, vertröstete sie, bis das Gespräch irgendwann erstarb. Und später, als sie in Zorns Wohnung am Küchentisch saßen und der Tee, den er gekocht hatte, längst kalt war, ohne dass einer von ihnen einen Schluck getrunken hatte, da nahm sie seine Hand und sah ihm direkt in die Augen.

»Es ist okay, dass du mir nicht alles erzählst. Du willst mich schützen. Ist es wirklich so schlimm?«

Er nickte stumm.

Es war weit nach Mitternacht, als sie schließlich im Bett lagen. Zorn bat sie, ihm zu vertrauen, er sei weiß Gott kein begnadeter Bulle, doch er werde rauskriegen, was passiert sei.

»Es klingt bescheuert«, flüsterte er und spürte ihren warmen Atem auf der Brust und das Kitzeln ihres Haares am Hals. »Aber ich werd mein Bestes geben. Auch wenn das nicht viel ist. Und außerdem haben wir noch Schröder.«

»Ja«, murmelte Frieda. »Den haben wir.«

Dann fing sie an zu weinen. Sie lag neben ihm, schluchzend wie ein verlassenes Kind. Zorn hielt sie im Arm, tröstete sie, so gut er konnte, und als sie dann endlich, endlich einschlief, da dämmerte draußen der Morgen.

Drei

Zwei Wochen später.

Die Wohnung gefiel ihr. Sehr sogar.

Genau richtig, dachte sie und ging zum Fenster, während der Makler, ein bulliger Mittvierziger mit randloser Brille und blondgefärbten Strähnchen im kurzgeschnittenen Haar, seine Litanei herabspulte über hochwertiges Nussbaumparkett, großzügig geschnittene Räume und die Dachterrasse mit dem umwerfenden Ausblick. Das alles sah sie mit eigenen Augen, trotzdem redete er weiter mit geschulter, sonorer Stimme, pries die offene Küche und den hellen Wohnbereich an, als wäre sie entweder blind oder blöd. Doch das war sie nicht, weder das eine noch das andere. Früher vielleicht. Da war sie blind gewesen, weil sie ihre Möglichkeiten nicht erkannt hatte. Und blöd? Ja, das auch. Weil sie keine davon genutzt hatte. Aber das war vorbei. Jetzt, wo sie die richtigen Leute getroffen hatte. Sie hatten ihr die Augen geöffnet.

»Toller Ausblick, nicht wahr?«, sagte der Makler hinter ihr. »Keine Sorge, der ist im Mietpreis inbegriffen.«

Sie betrachtete den Fluss, funkelnd im bleichen Licht der Wintersonne zwischen den weit ausladenden Kronen der Trauerweiden, und überlegte, wie oft er diesen Witz schon gemacht hatte.

»Der Stellplatz natürlich auch.«

»Prima.«

Sie wandte sich um, strahlte ihn an. Sein Lächeln war ebenso falsch wie ihres, doch es wirkte echt, entblößte zwei Reihen makelloser Zähne und ließ ihn mit den dunklen, hinter der randlosen Brille glänzenden Augen zehn Jahre jünger erscheinen. Ein professionelles, tausendmal benutztes Lächeln, perfekt einstudierter Teil seines Jobs. Sie fragte sich, wie viele George-Clooney-Filme er gesehen haben musste, wahrscheinlich hatte er jahrelang vor dem Spiegel geübt.

»Das Haus wurde aufwendig saniert, nur das Feinste vom Feinen. Der Eigentümer legt Wert auf die höchsten Standards. Das einzige Manko wäre vielleicht der fehlende Aufzug, aber das«, ein weiteres Lächeln, »dürfte in Ihrem Alter ja kein Problem sein.«

Am Telefon hatte er reserviert geklungen. Er musste sie für eine Studentin gehalten haben, für ein blutjunges, naives Ding, schließlich hatte er ihr Geburtsdatum auf dem Formular gelesen, und als Berufsbezeichnung hatte sie nur selbständig angegeben. Bei ihrer Ankunft hatte sich das schlagartig geändert. Sie war ein paar Minuten zu spät zur Besichtigung erschienen, um sicherzugehen, dass er vor dem Haus auf sie warten würde. Sie parkte den silbernen Z4 direkt vor dem Eingang, und als sie ausstieg, da tat sie, als würde sie seine Überraschung nicht bemerken, und auch die Blicke, mit denen er das glänzende Cabrio musterte, waren ihr nicht entgangen. Begehrliche, regelrecht lüsterne Blicke, die ausschließlich dem teuren Wagen galten und nicht ihr, einer gänzlich uninteressanten Erscheinung. Nicht unbedingt hässlich, nein, eher nichtssagend, mit blassem, trotz dezent aufgetragener Schminke irgendwie farblosem Gesicht, Hüften, die auch im teuren Businesskostüm nicht schmaler wirkten, und Beinen, die selbst die hohen Absätze ihrer Pumps nicht länger erscheinen ließen. Sie hatte Ziele, doch mit dem, was man allgemein als Waffen einer Frau bezeichnete, würde sie kein einziges davon erreichen, das war ihr bewusst. Doch es gab andere Mittel. Ein sündhaft teures Auto zum Beispiel. Zwar nur gemietet, doch weitaus effektiver als ein knackiger Hintern oder ein hübsches Gesicht. In drei Stunden musste sie den Wagen wieder abgeben, doch bald – sehr bald – würde sie sich einen kaufen können.

»Die Wohnung ist natürlich kein Schnäppchen.« Der Makler hob die Arme in einer Geste, die gleichzeitig bedauernd und verschwörerisch wirkte, ebenso einstudiert wie das Lächeln. »Aber angesichts der Ausstattung und der perfekten Lage …«

»Ich kenne den Preis.«

Geld, besagte ihr Blick, spielt keine Rolle. Obwohl natürlich das Gegenteil zutraf, denn Geld, das war ihre feste Überzeugung, spielte die Hauptrolle in einer Welt, deren Funktionieren auf Täuschung, Lüge und Verrat basierte. Geahnt hatte sie das schon immer, doch klargeworden war es ihr an ihrem achtzehnten Geburtstag, als sie erfahren hatte, dass sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern war. Wir lieben dich genauso wie deine Geschwister, hatte ihre Mutter, diese scheinheilige Kuh, mit heuchlerischem Augenaufschlag gesagt, und Gero, in dem sie bis zu diesem Zeitpunkt ihren Vater gesehen hatte, war zu ihr getreten, hatte den Arm um sie gelegt und behauptet, dass sich nichts, aber auch gar nichts geändert hätte. Sie würde die Ausbildung zur Finanzkauffrau abschließen, und eines Tages – wenn sie weiter so hart an sich arbeite – würde er sie zur Vertriebsleiterin machen und irgendwann vielleicht sogar zur Geschäftsführerin. Sie hatte sich nichts anmerken lassen, doch als er den Champagner geöffnet hatte und mit ihr anstieß, da hätte sie ihm das Kristallglas am liebsten ins Auge gerammt. Die Firma lief gut, verkaufte Versicherungen und vermittelte Kredite, sie hatte fest damit gerechnet, den Laden in ein paar Jahren übernehmen zu können. Aber nein, sie würde als kleine Angestellte enden, der knickrige Alte würde sie genauso schlecht bezahlen wie seine vier Außendienstler. Das dicke, das richtige Geld würde an seine leiblichen Kinder gehen, an Bernd, der im siebten Semester Kunstgeschichte studierte, und an Larissa, die von einer Modelkarriere träumte und seit zehn Monaten auf einem Selbstfindungstrip durch Neuseeland trampte. Die beiden verwöhnten Spinner würden sich den Kuchen teilen, die Firma und die Villa erben, während sie selbst mit ein paar Krümeln abgespeist werden sollte.

Noch am selben Abend hatte sie ihren Plan gefasst. Sie war betrogen worden und beschloss, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Zwei Jahre hatte sie sich Zeit gelassen, hatte ihre Ausbildung brav beendet, und als seine Sekretärin in Rente ging, da übernahm sie den Job. Es dauerte nicht lange, bis sie die Firma in- und auswendig kannte, die Tricks, mit denen er Steuern sparte, die Konten, auf denen das Geld verteilt war, und endlich, nach monatelanger, akribischer Suche, war sie auf etwas gestoßen, womit sie ihn drankriegen würde.

»Wollen Sie das Bad sehen?«

»Das ist nicht nötig. Später vielleicht.«

»Der pure Luxus«, verkündete der Makler und glättete den blondierten Scheitel. Die Koteletten waren nicht gefärbt, dass Grau sollte ihn seriöser wirken lassen. »Polierter Marmor, ebenerdige Dusche, frei stehende Badewanne. Sie werden begeistert sein, Frau von Lubitzsch.«

Sie verabscheute den Namen. Schließlich gehörte er denen, die sie jahrelang getäuscht und behauptet hatten, ihre Eltern zu sein. Aber er war nützlich. Er klang gediegen, seriös. Cordula von Lubitzsch, stand auf ihrer Visitenkarte. Darunter der Name ihrer Firma, CLI Investment, ebenfalls in goldgeprägten Lettern. Mehr nicht, weder Adresse noch Telefonnummer. Wie auch? Die Firma existierte nicht – noch nicht –, die Visitenkarte war Fassade, Blendwerk, doch genau wie der BMW erfüllte sie ihren Zweck.

»Sehen Sie sich in Ruhe um.« Der Makler schob den Mantelärmel nach oben und sah auf die Uhr, deren vergoldetes Armband mit dem Manschettenknopf und dem breiten Siegelring um die Wette funkelte. »Wir haben Zeit, die nächste Besichtigung ist erst in einer Stunde.«

»Ich nehme die Wohnung.«

»Hervorragend! Gratuliere, Frau von Lubitzsch.«

Dieses Lächeln, dachte sie. Wie schafft er das nur? Es müsste sich doch irgendwann abnutzen, so oft, wie er es gebraucht.

»Dann sage ich dem anderen Interessenten ab?«

»Sicher doch«, erwiderte sie.

»Am besten, ich erledige das gleich.« Er öffnete den Mantel, schob den Schlips beiseite und holte sein Handy aus der Innentasche. »Dann hab ich’s hinter mir.«

Die Wohnung stand seit geraumer Zeit leer. Die Staubschicht auf dem Boden war ihr ebenso wenig entgangen wie die toten Fliegen auf den Fensterbrettern. Und während der Makler telefonierend auf und ab stolzierte, eine Hand in der Hosentasche, die andere mit dem Telefon am Ohr, da dachte sie, wie leicht er zu durchschauen war. Das Display war dunkel, doch auch so wusste sie, dass das Gespräch ein Schwindel war. Da war niemand, der den wortreichen Entschuldigungen des Maklers lauschte. Es gab keinen anderen Interessenten, die Miete war einfach zu hoch.

»Ich kann’s leider nicht ändern«, sagte der Makler ins Telefon. »Die Dame war einfach schneller.«

Er warf ihr einen Blick zu, verdrehte scheinbar genervt die Augen und hob entschuldigend die breiten Schultern. Ein paar Sekunden vergingen, dann verabschiedete er sich von seinem nicht vorhandenen Gesprächspartner und verstaute das Handy wieder im Mantel.

»Sonderlich erfreut«, seufzte er, »war er nicht.«

Nicht schlecht, dachte sie. Aber ich bin besser. Cleverer als du. Cleverer als alle. Und wer mir in die Quere kommt, der wird sein blaues Wunder erleben.

Wie der, der sich als ihr Vater ausgegeben hatte. Der war ebenfalls clever, kein Zweifel. Anderthalb Millionen Euro waren schließlich eine hübsche Summe. Fördergelder, die er unberechtigterweise abkassiert hatte. Doch sie war cleverer gewesen, denn als sie die gefälschten Rechnungen und fingierten Verwendungsnachweise in den Büchern entdeckte, da war sie zunächst ruhig geblieben. Nach und nach hatte sie Geld abgezweigt, ein paar tausend Euro hier, ein paar tausend dort. Relativ kleine Summen, trotzdem wäre die Sache irgendwann aufgeflogen, doch bevor dies geschah, hatte sie zugeschlagen und ihn angezeigt. Nicht anonym, denn sie wollte dabei sein, wenn seine Existenz zerstört wurde, und als sie vor Gericht ihre Aussage machte, da war der Anblick dieses gebrochenen Mannes noch befriedigender gewesen als die zweiundfünfzigtausend Euro auf ihrem Konto. Vergleichsweise wenig, doch als Startkapital nicht zu verachten.

»Dann lasse ich den Mietvertrag vorbereiten.« Der Makler hob die Hand, strich mit einem perfekt manikürten Zeigefinger über die graumelierte Schläfe. »Was die Formalitäten betrifft, die erledigen wir später. Sie wissen schon, Kaution, Einkommensnachweise und so weiter.«

»Ich lasse Ihnen die Unterlagen zuschicken.«

»Hervorragend«, strahlte er.

Seinen Namen hatte sie vergessen. Bergmann vielleicht. Womöglich auch Borgfeld. Oder Bertram? Egal. Er war unwichtig, ein kleines Licht. Das Geld für die Kaution hatte sie, Einkommensnachweise würde sie fälschen, das war ein Kinderspiel. Sie brauchte die Wohnung für einen Neustart, und wenn der Mietvertrag unterschrieben war, würde sie ihn nie wiedersehen.

Sie nahm ihre Handtasche vom Küchentresen, fuhr mit dem Finger über die kühle, matt schimmernde Arbeitsplatte. Schwarzer Granit, erklärte der Makler. Wie gesagt, der Eigentümer legte allerhöchsten Wert auf edelste Materialien.

Sie bemerkte den Fettfleck auf dem schreiend gelben Schlips. Die weißen Stellen auf dem gebräunten Nasenrücken, wahrscheinlich hatte er zu lange im Solarium gelegen.

»Die Einbaugeräte sind natürlich aus deutscher Produktion.«

»Natürlich«, nickte sie abwesend und dachte wieder, wie leicht er zu täuschen war. Insgeheim lachte er sich gerade ins Fäustchen, freute sich diebisch über seine Provision. Peanuts, ein paar armselige Kröten, auf die er heute Abend mit einem Glas mittelmäßigem Champagner anstoßen würde, wahrscheinlich mit seiner mittelmäßigen Frau, die jetzt in einem mittelmäßigen Reihenhaus auf ihn wartete.

»Bis auf den Kaffeeautomaten«, sagte er und stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus. »In diesem Punkt sind uns die Italiener einfach überlegen.«

Sie betrachtete die chromblitzende Maschine unter den hellen, wie Elfenbein schimmernden Einbauschränken. Alles passte perfekt. Hier, genau hier würde sie sitzen, italienischen Kaffee trinken und über ihre Geschäfte nachdenken. Aktienfonds, Börsenspekulation, Versicherungen, faule Kredite. Es gab unzählige Wege, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wie genau das geschehen würde, wusste sie noch nicht. Nur, dass es viel sein würde. Ja, dachte sie, verdammt viel sogar, während der Makler (Barfeld?) in ihrem Rücken weiterredete und Dinge anpries, die er selbst niemals besitzen würde. Fast konnte man Mitleid mit ihm haben, doch Mitleid war etwas für Weichlinge. Wer etwas erreichen wollte – wirklich etwas erreichen wollte –, der musste hart sein, kompromisslos, der musste Entscheidungen treffen, schmerzhafte Entscheidungen, wenn es nötig war. Dass sie dazu in der Lage war, hatte sie bewiesen, als sie ihre Eltern (Adoptiveltern, korrigierte sie sich) ans Messer geliefert hatte.

Sie hörte, wie er hinter ihr näher kam, roch sein Parfum – süßlich, aufdringlich, billig – und dachte, dass sie ihm einen Gefallen tat, er wollte getäuscht werden, so wie alle anderen.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Als sie wieder zu sich kam, da war es dunkel geworden, und der Geruch war ein anderer. Das, was Cordula von Lubitzsch roch, war kein billiges Rasierwasser, sondern der Gestank ihres eigenen, verbrannten Fleisches.

Vier

Los, konzentrier dich. Gib dir Mühe, verdammt nochmal.

Zorn schob die Akte zur Seite, nahm die nächste vom Stapel und schlug sie auf. Die Buchstaben verschwammen im harten Neonlicht, er sank kurz zurück in den Bürostuhl, rieb die geröteten Augen und machte sich weiter an die Arbeit.

Es war kurz vor halb acht, draußen dämmerte der Morgen. Zorn hatte sich die Akten mit den Ergebnissen der Zeugenbefragungen bringen lassen, um jede einzelne noch einmal durchzugehen.

Über zwei Wochen waren seit dem Mord an Heiner Borck vergangen. Zorn hatte sich Mühe gegeben, große Mühe sogar, doch noch immer tappten sie völlig im Dunkeln.

Es war frustrierend, und zwar in vielerlei Hinsicht.

Zum einen war da Frieda, die Urlaub genommen hatte und jetzt bei Zorn wohnte. Vorwürfe machte sie ihm nicht, schließlich sah sie mit eigenen Augen, wie er sich noch vor dem Morgengrauen aus dem Bett quälte und erst lange nach Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause kam. Irgendwie hatte Zorn es geschafft, ihr die Wahrheit beizubringen, und auch später versuchte er gar nicht erst, ihr etwas vorzuenthalten. Das verstieß natürlich gegen die Vorschriften, Frieda arbeitete am Oberlandesgericht und hatte mit ihrer ehemaligen Dienststelle nichts mehr zu tun, doch Vorschriften hatten Hauptkommissar Zorn noch nie sonderlich interessiert. Sie hatte ein Recht darauf, fand er, es ging um ihren Vater. Abgesehen davon war sie viel zu klug, um sich von ihm hinters Licht führen zu lassen, das wusste Zorn aus eigener leidvoller Erfahrung, schließlich war sie lange genug seine Vorgesetzte gewesen.

Dazu kam natürlich, dass sie dem Mordopfer nahegestanden hatte, und es lag auf der Hand, mit Frieda über das Umfeld ihres Vaters zu sprechen, über Freunde, Bekannte, die möglicherweise ein Motiv gehabt haben könnten. Diese Gespräche waren die schlimmsten, denn sie führten ihr immer wieder die genauen Todesumstände vor Augen, und obwohl sie niemanden kannte, dem sie eine solche Tat auch nur im Entferntesten zutraute, gab es doch unzählige Menschen, die – theoretisch zumindest – einen Grund hatten, sich an einem ehemaligen Richter zu rächen. Fast drei Jahrzehnte lang hatte Heiner Borck Recht gesprochen, er hatte Hunderte, wenn nicht Tausende Verhandlungen geleitet. Jedes seiner Urteile – eine Geldbuße, eine Gefängnisstrafe oder eine strenge Bewährungsauflage – konnte der Auslöser gewesen sein.

Ein rhythmisches Brummen ertönte. Zorns Handy rutschte vibrierend über den Schreibtisch.

Komme später, stand auf dem Display. Auf bald (Hasta la vista, baby!)

Die Nachricht war von Schröder. Sie sahen sich selten, Schröder war ständig unterwegs, um die Ermittlungen zu koordinieren. Wahrscheinlich schlief er noch weniger als Zorn.

Trödle nicht rum, schrieb Zorn zurück. Und hör auf, mit deiner Allgemeinbildung zu protzen. Rede gefälligst Deutsch mit mir, du Angeber.

Schröders Antwort kam prompt.

I’m sorry!

Zorn schüttelte grinsend den Kopf und legte das Handy neben seine Tastatur. Draußen wurde es allmählich heller. Er betrachtete den trostlosen Himmel, dessen Grau an die Farbe alter Unterwäsche erinnerte, überlegte, wie viele weitere trübe Wintermorgen er noch vor sich hatte, und dachte an Frieda, die jetzt wahrscheinlich in seiner Küche saß und wartete, dass er sich endlich, endlich melden würde, um ihr etwas Neues zu erzählen.

Sie selbst rief ihn tagsüber nie an. Doch wenn er abends müde aus dem Fahrstuhl schlich, erwartete sie ihn bereits an der Tür, die Augen in einer stummen Frage auf ihn gerichtet. Zorn tat alles, um sie abzulenken, brachte ihr Pizza mit, Rotwein, sogar Blumen, selbst einen Weihnachtsbaum hatte er besorgt (inklusive Lametta und einer Packung kreischbunter Christbaumkugeln vom Discounter). Er versuchte, sie aufzumuntern, erzählte wortreich von Laborberichten, die noch ausgewertet werden müssten, den Anwohnern, unter denen sich vielleicht doch noch ein Zeuge finden könnte, und den vier Beamten, die dazu abgestellt waren, sämtliche Verhandlungen, die Heiner Borck während seiner Laufbahn geführt hatte, durchzugehen. Klar, das waren Berge von Akten, sagte Zorn, und es würde Wochen dauern, das alles zu durchforsten, aber womöglich würden sie irgendwann auf etwas stoßen. Als Frieda ihn fragte, wonach genau sie denn suchten, wechselte Zorn das Thema (schließlich wussten sie’s selbst nicht), erzählte stattdessen von dem Presseaufruf, in dem die Bevölkerung um Mithilfe gebeten wurde, den Fingerabdrücken, die bisher nicht zugeordnet waren und womöglich vom Täter stammten, und natürlich von Schröder, der Tag und Nacht wie ein Berserker arbeitete. Worte, die ihr Hoffnung machen sollten und doch nur dazu da waren, seine Ratlosigkeit zu kaschieren. Anfangs hatte sie noch mit ihm diskutiert, Vorschläge gemacht und nachgehakt, doch von Tag zu Tag wurde sie stiller, zog sich immer mehr zurück, und es gab mittlerweile Momente, in denen sich Zorn nach den Zeiten zurücksehnte, als sie noch seine Vorgesetzte gewesen war. Ständig war sie ihm auf die Füße getreten, damit er seinen Job ordentlich erledigte, wegen jeder Kleinigkeit hatte sie ihm die Hölle heißgemacht. Er hatte es gehasst, es war schlimm gewesen, o ja, doch schlimmer, viel schlimmer war es, zusehen zu müssen, wie Frieda, diese starke, resolute Frau, allmählich resignierte.

Er schloss die Akte, schob sie nach rechts und nahm gleichzeitig mit der linken Hand die nächste – die zehnte an diesem Morgen – vom Stapel, ohne den Kopf zu heben. Stupide, mechanisch ausgeführte Gesten, die an die Bewegungen eines chinesischen Fließbandarbeiters erinnerten, eine Tätigkeit, die Zorn ebenso verabscheute wie einen Besuch beim Proktologen oder das Erstellen seiner Steuererklärung. Nein, schlimmer noch, denn die Aussicht auf ein nennenswertes Ergebnis tendierte gegen null – abgesehen von einem schmerzenden Nacken und tränenden Augen.

Claudius Zorn machte trotzdem weiter.

Irgendetwas musste er schließlich tun.

*

Als er irgendwann den Kopf hob, war es draußen nur unmerklich heller geworden. Er schloss die letzte Akte, nagte genervt an der Unterlippe und stellte fest, dass er in den letzten drei Stunden nicht mehr erreicht hatte, als einen Haufen Akten von der linken Schreibtischseite auf die rechte zu stapeln. Ächzend stand er auf, streckte den Rücken, lauschte dem Knacken seiner Gelenke und dachte an Edgar, seinen mittlerweile vierjährigen Sohn. Er vermisste den Kleinen, seit über zwei Wochen hatten sie sich kaum getroffen (abgesehen von einem kurzen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt und ein paar Telefonaten). Auch das war frustrierend, sehr sogar. Bald allerdings, tröstete sich Zorn, war Heiligabend, bis dahin war es nur noch eine knappe Woche. Früher hatte er diesen Tag gehasst, doch seit Edgar da war, hatte sich das grundlegend geändert. Auch jetzt reichte der Gedanke an Edgars Gesicht, wenn er das neue Fahrrad unter dem Christbaum entdecken würde, völlig aus, um Zorns Stimmung erheblich steigen zu lassen.

Gähnend griff er nach dem Handy. Er hatte gehofft, noch ein wenig Ruhe zu haben, doch ein Blick auf die Uhrzeit – neun Uhr neunundfünfzig – belehrte ihn eines Besseren. Schlagartig raste seine Laune in die Gegenrichtung, wie ein außer Kontrolle geratener Fahrstuhl in die tiefsten, allertiefsten Keller. Im selben Moment, als die Ziffern auf dem Display auf zehn Uhr sprangen, wurde die Bürotür schwungvoll aufgerissen, und Staatsanwalt Peck erschien, wie immer auf die Sekunde genau, wie immer, ohne anzuklopfen, und wie immer hellwach, energiegeladen und hervorragend gelaunt.

»Was gibt’s Neues?«

Auch die Begrüßung. Wie immer.

Friedas Nachfolger war Mitte dreißig. Ein sportlicher Mann mit kurzgeschnittenem, leicht gegeltem Haar und Dreitagebart, der auf den ersten Blick wie ein Student wirkte. Wirken wollte, da war sich Zorn sicher, denn hinter der für einen Staatsanwalt unkonventionellen Kleidung – Jeans, Norwegerpullover und braune Wildlederschuhe –, dem unbekümmerten Auftreten und dem lockeren Umgangston verbarg sich ein knallharter, kompromissloser Karrierist.

»Nichts«, sagte Zorn.

»Herrje«, seufzte Peck.

Er setzte sich auf Schröders leeren Platz, faltete die Hände unter dem Kinn und musterte Zorn über den Rand der beiden Monitore. Bisher hatte er weder Zorn noch Schröder unter Druck gesetzt, auch jetzt lag keinerlei Vorwurf in seinem Blick. Trotzdem hatte Zorn das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Wie immer, wenn Staatsanwalt Peck im Büro erschien. Jeden Tag, unangekündigt und auf die Sekunde genau um zehn Uhr.

»Habt ihr den abschließenden Bericht der Spurensicherung?«, fragte Peck, das Kinn noch immer auf die gefalteten Hände gestützt.

»Seit gestern. Das Schloss wurde nicht aufgebrochen, Heiner Borck muss die Tür selbst geöffnet haben. Den Spuren zufolge wurde er zuerst in die Küche geschleppt und dort gebrandmarkt. Der Täter hat das Brandeisen auf dem Gasherd erhitzt. Wir haben die Marke, aber das hilft uns nicht weiter. Ein handelsübliches Teil, überall im Netz zu bestellen.«

Der Fleischstempel für den Grill, hatte Zorn in der Anzeige auf Amazon gelesen. Das BBQ-Brenneisen mit wechselbaren Buchstaben erlaubt Ihnen das Einbrennen von Schrift auf Fleisch und anderes Grillgut! Ideales Geschenk zum Männertag!

»Er muss das Bewusstsein verloren haben«, fuhr Zorn fort. »Man hat ihm einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen und ihn dann ins Wohnzimmer gebracht. Dem Blutverlust nach zu urteilen, sind die Wunden in großen Abständen beigebracht worden.« Zorn klang beherrscht, doch er nahm die Hände vom Tisch, um seine zitternden Finger zu verbergen. »Insgesamt müssen zwei, vielleicht zweieinhalb Stunden vergangen sein. Zwölf Nägel, jeweils achtzehn Zentimeter lang. Todesursache war laut Obduktionsbericht eine Fraktur des Stirnbeins, ausgelöst durch den letzten Nagel, der zirka zehn Zentimeter ins Gehirn eingedrungen ist.«

Das war der einzige Punkt, den er Frieda verschwiegen hatte. Er hatte ihr gesagt, dass ihr Vater relativ schnell an einem Herzinfarkt gestorben war.

Peck musterte Zorn aus grauen, ausdruckslosen Augen.

Wie macht er das nur?, dachte Zorn und wehrte sich gegen die aufsteigende Wut. Wie schafft er es, dass ich mich vor ihm rechtfertigen will? Wir reißen uns hier den Arsch auf, trotzdem habe ich das Gefühl, mich ständig entschuldigen zu müssen.

»Die Zeugenaussagen«, er deutete auf den Stapel rechts neben seiner Tastatur, »bringen uns nicht weiter. Niemand hat was gesehen. Und gehört auch nicht. Kein Wunder, Heiner Borck war geknebelt. Im Obduktionsbericht steht, dass Reste von Klebeband an seinem Mund gefunden wurden.«

Peck vergrub das Gesicht in den Händen, rieb die stoppeligen Wangen und holte tief Luft.

»Mann, Mann, Mann«, drang es zwischen den Fingern hervor. »Das ist aber auch eine Scheiße.« Er hob den Kopf. »Eine gottverdammte Scheiße, oder?«

Jetzt, dachte Zorn, machst du also einen auf Kumpel. Du solltest in die Politik gehen, du hast alles, was man dazu braucht. Dieses Talent, anderen vorzugaukeln, dass man sie ernst nimmt. Ein junger, attraktiver Macher, einer von uns. Bei deinen Fähigkeiten würdest du’s weit bringen, wahrscheinlich bis zum Justizminister.

»Die Faserspuren sind noch längst nicht alle ausgewertet«, sagte er. »Das Labor arbeitet dran. Vielleicht finden die was.«

Peck nahm einen von Schröders Bleistiften, drehte ihn zwischen den Fingern und betrachtete nachdenklich die Spitze. Das missfiel Claudius Zorn. Nicht genug, dass er sich auf Schröders Platz breitmachte, er vergriff sich auch noch an seinen Sachen.

»Kann ich irgendwas tun?« Peck legte den Stift wieder zurück. »Den Pfeifen im Labor ein bisschen Beine machen?«

Er bezeichnet sie als Pfeifen, dachte Zorn. Das macht er nur, weil er denkt, dass ich’s hören will.

»Die tun, was sie können.«

»Klar«, seufzte Peck.

Zorn nahm sein Handy, las die Uhrzeit vom Display ab. Zehn Uhr vier. Noch eine Minute.

»Wo ist eigentlich der Dicke?«, fragte Peck.

Zorn runzelte die Stirn. Natürlich war Schröder dick. Aber niemand hatte das Recht, ihn so zu nennen. Schon gar nicht dieser Typ.

»Wer?«, fragte er.

Peck klopfte mit dem Knöchel auf den Schreibtisch.

»Schröder.«

»Hauptkommissar Schröder«, erwiderte Zorn, »ist in der Rechtsmedizin. Er müsste jeden Moment zurück sein.«

Eine Lüge. Na und?

»Fein«, lächelte Peck.

Wie nennst du mich, wenn ich nicht dabei bin?, dachte Zorn und warf einen weiteren Blick auf das Handy. Noch zehn Sekunden. Narbengesicht? Achtfingriger Krüppel?

Es klopfte.

Na bitte, dachte Zorn. Wie immer auf die Sekunde genau.

»Herein!«, rief Peck.

Er saß in einem fremden Büro an einem fremden Arbeitsplatz. Trotzdem gebärdete er sich als Hausherr. Peck war es, der hier das Sagen hatte. Er sprach es nie aus. Doch er nutzte jede Gelegenheit, es zu zeigen.

Ein Mann in dunkelbraunem Anzug erschien, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und blieb auf der Schwelle stehen.

»Was gibt’s, Hamsun?«

Peck fixierte seinen Assistenten aus zusammengekniffenen Augen, dann bedeutete er ihm mit einem knappen Nicken näher zu treten. Gerald Hamsun gehorchte zögernd, als befürchte er, jeden Moment auf eine Mine zu treten. Er reichte Peck einen gefalteten Zettel, trat einen Schritt zurück und blieb mit vor dem Schoß gefalteten Händen vor dem Schreibtisch stehen, ohne Zorn eines Blickes zu würdigen.

Peck sank in Schröders Sessel zurück und faltete den Zettel auseinander. Während er den Inhalt überflog, kratzte er sich mit dem Nagel des kleinen Fingers die linke Augenbraue, stieß ein unwilliges Brummen aus und wandte sich dann an seinen Assistenten.

»Jetzt? Sofort?«

Hamsun nickte stumm. Sein Alter war schwer zu schätzen. Dem glatten Gesicht nach war er höchstens dreißig, das restliche Erscheinungsbild deutete auf einen Mann kurz vor der Rente. Aschblondes, vorzeitig ergrautes Haar, schlechtsitzender Anzug, zerknitterter Schlips. Ein farbloser Mann, der irgendwie mit seiner Umgebung zu verschmelzen schien. PP nannte man ihn hinter vorgehaltener Hand im Präsidium, Pecks Pinscher.

»Ich bin in zwei Minuten da, sagen Sie ihm das.«

Ein weiteres Nicken.

»Sonst noch was?«

»Nein.«

»Na dann …«

Peck wedelte mit den Fingern in Richtung Tür, und Gerald Hamsun verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, schien es, als habe er nie existiert.

»Oberstaatsanwalt Stoltz«, seufzte Peck und massierte die Schläfen. »Er will wissen, wie wir vorankommen. Keine Ahnung, was ich dem erzählen soll. Na ja«, fügte er mit einem Grinsen hinzu, »irgendwas wird mir schon einfallen.«

Zorn lächelte zurück.

Klar, dachte er. Und wenn nicht, sägst du mich ab. Und Schröder genauso. Du würdest uns, ohne zu zögern, über die Klinge springen lassen. Du weißt, dass ich’s weiß. Trotzdem führst du dieses alberne Schauspiel auf. Tag für Tag. Punkt zehn tauchst du hier auf und lässt dich von Hamsun, diesem armen Trottel, unter irgendeinem Vorwand wieder abholen. Für wie blöd hältst du uns eigentlich? Macht dir das Spaß? Ist es das? Du genießt dieses Spielchen, hab ich recht?

Friedas Vorgänger war ähnlich gewesen, doch im Unterschied zu Peck hatte Staatsanwalt Sauer nie einen Hehl aus seiner Abneigung Zorn gegenüber gemacht. Nun, das war ein paar Jahre her, und Sauer war tot. Gestorben, nachdem er stundenlang zwischen den Türmen der Marktkirche gehangen hatte und schließlich mit zerschmettertem Schädel zwischen den Melonen eines Gemüsehändlers gefunden worden war.

»Na gut, ich muss los. Der Alte wartet nicht gern.«

Peck schlug sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel und stand auf. Im Gehen schloss er den Reißverschluss seines Norwegerpullovers, krempelte die Ärmel hoch und wandte sich in der Tür noch einmal um.

»Wäre nett, wenn er sich mal meldet.« Er deutete mit dem Kinn auf Schröders Sessel, der sich langsam um die eigene Achse drehte. »Richtest du ihm das aus?«

»Sicher doch.«

Die Tür schloss sich mit einem leisen Knall.

»Arschloch«, knurrte Zorn, langte nach seinem Handy und tippte eine SMS ein.

Er hat nach dir gefragt. Wo bist du?

Zorn schickte die Nachricht ab, warf das Telefon zurück neben die Tastatur. Der Aktenstapel geriet ins Rutschen, und langsam, eine nach der anderen, glitten die dünnen Mappen vom Schreibtisch, segelten zu Boden und verteilten sich auf der grauen, abgetretenen Auslegware.

»Scheiße.«

Kopfschüttelnd stemmte Zorn sich aus dem Sessel, doch bevor er sich bücken konnte, vibrierte sein Telefon.

Schröders Antwort war kurz.

Ich bin bei einer Leiche.

Fünf

Die Frau hing ungefähr zwei Meter unter der gemauerten Gewölbedecke. Der Strahl der Taschenlampe huschte über ihre wächserne, im gleißenden Licht wie Marmor schimmernde Haut, folgte dem Seil, das um ihre Achseln geschlungen und an einem eisernen Haken über ihrem Kopf befestigt war. Ihr grotesk verzerrter Schatten tanzte über die archaischen Ziegelwände wie ein monströses Gespenst in einem längst vergessenen Stummfilm.

Ein Handy piepste. Ein dünnes, blechernes Geräusch, mit dem das Eintreffen einer Nachricht angekündigt wurde, doch in der Weite des unterirdischen Gewölbes klang es durchdringend wie das Warnsignal eines heranrasenden Schnellzuges.

Verarschst du mich?, stand auf dem Display.

»Ich wünschte, es wäre so«, murmelte Schröder, verstaute das Telefon in der Manteltasche und sah wieder nach oben zu der Toten, deren nackte Füße drei Meter über seinem Kopf in der stickigen, nach uraltem Mörtel riechenden Luft baumelten.

»Zuerst hab ich gedacht, es wär ’ne Puppe.« Die Stimme, hoch, zitternd, verängstigt, kam irgendwo aus der Dunkelheit. Ein Wimmern, vielfach zurückgeworfen wie von den Mauern einer Kathedrale. »Sie ist tot, oder?«

»Natürlich ist sie das.«

Schröder richtete die Lampe auf den jungen Polizisten, der einige Meter entfernt an der Wand lehnte, den Rücken gegen die Mauer gepresst, als wolle er zwischen den Ziegeln verschwinden. Die ängstlichen, weit aufgerissenen Augen wirkten wie Fremdkörper auf dem bleichen Gesicht, seine Finger krallten sich in die Uniformmütze wie ein Kind, das sich trostsuchend an seinen Teddy klammert.

»Der Chef war stinksauer, dass die Typen von den Stadtwerken nicht selbst hier reingegangen sind«, sagte er. »Es ist ja bloß ein aufgebrochenes Gitter zur Kanalisation, hat er gesagt, wahrscheinlich wieder ein paar Kids, die unten im alten Wasserspeicher ’ne Party gefeiert haben, da muss man doch nicht gleich die Polizei rufen. Das kann der Frischling machen, hat er gemeint, der hat sowieso nix zu tun. Also bin ich hergefahren und …«

Die Stimme des Jungen erstarb. Schröder schwenkte die Lampe, lauschte dem leisen Schluchzen, während der Lichtstrahl sich in die Finsternis bohrte wie eine gleißende Lanze. Wasser tropfte von den hohen Wänden, glitzernd wie flüssiges Blei. Salzflecken funkelten auf den hundertjährigen, vom Alter geschwärzten Backsteinen.

»Ich … ich hatte einfach Schiss. Ich hab mich nicht allein hier reingetraut.«

Schröder antwortete nicht. Er stand in der Mitte der kuppelförmigen Halle, die Augen wie in stiller Andacht auf die Tote gerichtet, deren bleiche Gestalt über ihm schwebte wie ein Kruzifix im Altarraum.

»Auf der Wache anrufen wollte ich auch nicht«, schniefte der Junge. »Die … die hätten mich doch nur ausgelacht.«

Der Kopf der Toten war seitlich auf die Schulter gesackt, das Gesicht halb verborgen hinter den dunklen Haaren wie durch einen Vorhang. Schröder stellte sich auf die Zehenspitzen und richtete die Lampe nach oben. Zähne blitzten ihm aus dem geöffneten, wie zu einem stummen Schrei aufgerissenen Mund entgegen. Darunter das Kinn, schwarz von geronnenem Blut.

»Sie ist verblutet«, murmelte Schröder.

Der Strahl wanderte nach unten, folgte der breiten, wie Teer auf der bleichen Haut glänzenden Blutspur über den Oberkörper, den Bauch, die Beine und verharrte schließlich auf dem Boden. Schröder bückte sich, strich mit der Hand über den rissigen Beton, zerrieb ein paar feuchte Kiesel zwischen den Fingern.

»Aber nicht hier.«

Er richtete sich wieder auf. Weit über ihm löste sich ein Wassertropfen von der Decke, blitzte wie eine Sternschnuppe auf und zerstob in Myriaden winziger Atome auf seiner Glatze.

»Ich … ich wusste einfach nicht, was ich machen soll.« Wieder die Stimme des Jungen, ein dünnes, körperloses Schweben in der Dunkelheit. »Sie haben uns ja damals Ihre Nummer gegeben und gesagt, dass wir Sie jederzeit anrufen können, wenn wir mit der Ausbildung fertig sind. Im Kurs haben Sie gemeint, dass wir immer auf unser Gefühl vertrauen sollen. Und das hab ich gemacht, ich …«

»Es ist okay.«

Der Junge verstummte, es wurde still. Nur das allgegenwärtige Wasser war zu hören, hier, zehn Meter unter der Oberfläche in allen denkbaren Variationen: das entfernte Rauschen der Kanalisation. Das stetige Tropfen von der Decke. Das leise Plätschern der Rinnsale, die an den Wänden herabflossen und gurgelnd irgendwo in der Finsternis verschwanden. Dann hallten Schröders Schritte durch die Dunkelheit, er lief zu dem Jungen, der an der Wand nach unten gesunken war und zwischen den gespreizten Knien zu Boden starrte.

»Du hast alles richtig gemacht.« Schröder ging in die Hocke. »Wir gehen jetzt zum Streifenwagen, du informierst deine Kollegen und forderst Verstärkung an. So, wie du’s in der Ausbildung gelernt hast. Kriegst du das hin?«

Der Junge hob den Kopf. Sein Blick fiel über Schröders Schulter auf die Gestalt, die im geisterhaften Widerschein der Taschenlampe im Zwielicht schwebte. Er schluckte, sah zur Seite.

»Kriegst du das hin?«, wiederholte Schröder.

Ein zögerndes Nicken.

»Niemand muss erfahren, dass du mich angerufen hast. Wenn jemand fragt, warum ich hier bin, lasse ich mir was einfallen.«

»Danke.«

»Dann komm.«

Ein aufmunternder Klaps auf die Schulter, Schröder richtete sich wieder auf. Plötzlich vibrierte der Boden, zehn Meter über ihnen rauschte eine Straßenbahn vorbei. Mörtel rieselte in feinen Wolken aus den bröckelnden Ziegeln. Das Seil geriet in Bewegung, langsam, wie in Zeitlupe, drehte sich die Leiche um die eigene Achse.

Schröder richtete die Taschenlampe nach oben. Staubkörner tanzten im Lichtkegel wie aufgescheuchte Insekten. Der Junge räusperte sich leise. Jetzt, wo der erste Schock überwunden war, wollte er nur noch eines: so schnell wie möglich weg.

Schröder lief zurück in die Mitte der Halle, den Blick nach oben gerichtet. Er hörte das Knirschen der schweren Stiefel des Jungen, der ihm mit unsicheren Schritten folgte, dann das scharfe, hydraulisch klingende Zischen, mit dem der Junge die Luft einsog, als er erkannte, was Schröders Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Was … was ist das?«

Die Leiche pendelte über ihren Köpfen. Jetzt, da die Tote ihnen den Rücken zuwandte, war keinerlei Blut auf der bläulich schimmernden Haut zu erkennen. Stattdessen etwas anderes.

»Zahlen«, murmelte Schröder und betrachtete die dunklen, tief zwischen die Schulterblätter eingebrannten Zeichen. »Verdammt nochmal, das sind Zahlen.«

Sechs

»Möchtest du Kaffee?«, fragte Schröder.

Frieda schüttelte lächelnd den Kopf. Ein schmales, schüchternes Lächeln, das nicht zu ihr passte, fand Zorn. Sie wirkte ein wenig verloren, wie sie da vor ihnen saß, den Rücken gestreckt, die Hände im Schoß gefaltet, ganz vorn auf der Kante des Plastikstuhls, den Schröder aus dem Flur geholt und an der Stirnseite ihres Schreibtischs aufgestellt hatte. Es war seine Idee gewesen, Frieda noch einmal ins Präsidium zu bitten, und als Zorn ihr den Vorschlag am Abend zuvor unterbreitet hatte, da hatte sie eine Weile nachgedacht und schließlich achselzuckend zugestimmt.

Einen Moment herrschte Stille. Schröder blätterte in seinem abgegriffenen Notizbuch, Frieda öffnete den obersten Knopf ihres Mantels, nestelte verlegen am Kragen, während Zorn nicht wusste, was er sagen sollte.

Er dachte daran, wie oft sie schon beieinandergesessen hatten, auf Schröders Terrasse, mit Edgar auf dem Spielplatz, abends in einer Bar oder mittags in der Kantine beim Essen. Auch da hatten sie manchmal nicht viel gesagt, doch dieses Schweigen war anders. Ein unangenehmes, betretenes Schweigen, das Zorn schließlich nicht mehr aushielt.

»Was sagst du eigentlich zu Schröders neuester Errungenschaft?« Er deutete zum Fensterbrett auf einen kleinen Adventskranz, den Schröder neben der Kaffeemaschine aufgestellt hatte. »Ich hab ihm verboten, das Ding anzuzünden, und falls du irgendwann auf den Gedanken kommst«, er wandte sich an Schröder, »hier irgendwelches Weihnachtsgedudel abzuspielen, dann ramme ich dir ’ne Christbaumkugel in den Hintern.«

Zorns kläglicher Versuch, die Stimmung aufzulockern, wurde von Schröder mit unbewegter Miene quittiert, während Frieda zerstreut murmelte, dass ihr der Adventskranz durchaus gefalle. Dabei spielte sie mit ihrer Halskette, ein Zeichen, wie unwohl sie sich fühlte.

Zorn räusperte sich umständlich.

Die erneut aufkommende Stille überbrückte er, indem er eine Schublade öffnete, wieder schloss und sich gleichzeitig auf einen anderen Planeten wünschte.

»Danke, dass du gekommen bist, Frieda«, begann Schröder und schloss das Notizbuch mit einem leisen Knall. Sein ungewohnt förmlicher Tonfall rief Zorn in Erinnerung, warum sie sich hier getroffen hatten, und schlagartig wurde ihm klar, warum alles anders war. Sie mochten sich, standen einander nahe wie kaum jemand sonst, doch dies war kein Gespräch unter Freunden. Das waren sie, keine Frage. Mehr noch, in Zorns Augen waren sie eine Familie, doch darum ging es jetzt nicht. Sie waren Beamte. Zwei Polizisten, die eine Zeugin befragten.

»Du weißt ja, was passiert ist«, sagte Schröder. »Claudius hat’s dir bestimmt erzählt.«

Zorn verzog das Gesicht. Er war es gewohnt, dass Frieda ihn ab und zu bei seinem ungeliebten Vornamen nannte, doch dass Schröder es nun tat, war befremdlich. Äußerst befremdlich.

»Es gibt Parallelen«, fuhr Schröder fort. »Die Frau, die wir vor zwei Tagen gefunden haben, wurde auf ähnliche Weise getötet wie dein Vater. Wir glauben, dass es sich um ein und denselben Täter handelt.«

Frieda nickte stumm. Eine dunkelbraune Strähne fiel ihr in die Stirn, sie strich sie mit einer fahrigen Bewegung hinter das Ohr. Ihr Haar glänzte feucht, auch die Schultern des grünen Wollmantels waren nass. Seit Stunden trieb der Schneeregen vor dem Bürofenster durch die graue Dezemberluft, lief in trüben Schlieren an der Scheibe herab.

Schröder redete weiter. Zum einen, sagte er, wäre da die unglaubliche Brutalität. Das zweite Opfer war verblutet, nachdem die Zunge herausgeschnitten worden war. Auch hier gab es bisher keine Spuren vom Täter, auch dieses Opfer war regelrecht zur Schau gestellt worden, und auch dieses Mal hatte der Täter gewollt, dass die Leiche gefunden wurde. Ebenso wie die Haustür ihres Vaters hatte das Gitter vor dem Abwasserkanal offen gestanden, und es war allgemein bekannt, dass die Zugänge zur Kanalisation regelmäßig kontrolliert wurden. Schröder sprach über den Hass, der hinter diesen Taten steckte, die trotz all dieser Wut geradezu akribisch geplant waren, und dass die Zahlen, mit denen beide Opfer gebrandmarkt wurden, eine Botschaft darstellten, deren Bedeutung sie bisher nicht verstünden.