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Ein Krimi voller Gefühl, Charme und Humor. Gregori Moreau wird ermordet in seinem Weinberg aufgefunden. Die Ermittlungen ergeben, dass er den Weinberg an seinen Zwillingsbruder, einen gelernten Winzer, verpachtet hat – der als einziger Erbe und ohne Alibi nun als Hauptverdächtiger dasteht. Doch Commissaire Rimbout zweifelt an dessen Schuld und bittet seinen Vorgänger Jean Paul Rapp um Mithilfe. Dieser findet bald heraus: Moreau hatte die fatale Neigung, Persönliches und Berufliches, Liebe und Geschäft, heimliche und unheimliche Partner gegeneinander auszuspielen. Mit tragischem Ende ...
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2025
Suzanne Crayon – ein deutsches Autorenduo – kennt, liebt und bereist das Elsass seit mehr als drei Jahrzehnten. Sie wird von manchen Störchen im Elsass bereits klappernd begrüßt und könnte für »Grumbeerkiechle« mit einem Gläschen Pinot Blanc glatt einen Mord begehen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von mauritius images/Dleiva/Alamy/Alamy Stock Photos
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-273-4
Originalausgabe
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Pour Marie
Ihm liegt nichts an seinem Geld,ihm liegt nur etwas an dem der anderen.
Jules Renard, »Ideen, in Tinte getaucht«
In den Weinbergen von Pfaffenhoffen
Samstag, 25. Oktober / Sonntag, 26. Oktober
Gregori Moreau schlug die Augen auf und sah zunächst nichts – nichts als Weiß.
Er blickte in eine gleißende Helle und begriff erst langsam, dass dieses Weiß nicht vor seinen Augen lag, sondern dahinter. In seinem Kopf. Der entsetzlich schmerzte. Als säße ein Untier darin, das seine Klauen und Zähne gnadenlos und unnachgiebig in seinen Schädel geschlagen hatte.
Nur ganz allmählich nahm er jenseits dieser strahlenden Helligkeit ein Rechteck wahr, dunkel gerahmt, beinahe quadratisch, mit einer spiegelnden, nein, blendenden … War das ein Fenster? Das musste ein Fenster sein. Es befand sich himmelhoch über ihm, nein, wohl nicht himmelhoch, aber doch …
Gregori Moreau schaffte es nur mit äußerster Anstrengung, seinen Kopf wieder aufzurichten und für einige Augenblicke hochzuhalten: ein Fenster, richtig. Das ihm dunkel bekannt vorkam. Darin der Himmel, ein winziges Stück davon, der Himmel über …
Als Gregori Moreau wieder zu Bewusstsein kam, stand noch immer der Himmel über dem Fensterrechteck, doch er konnte seinen Kopf jetzt nur noch wenige Sekunden hochhalten. Immerhin war die gleißende Helle verschwunden, alles war dunkler jetzt. Aber der Schmerz in seinem Kopf wütete noch schlimmer als vorher. Das Untier, das ihn … niedergeschlagen hatte …
Etwas schrillte plötzlich unerträglich laut. War das etwa seine …? Aber der Warnton auf seiner Smartwatch war doch leise, ganz leise nur … Er musste dringend etwas essen, er war doch Diab… Diabüß…
Seine Augen starrten inzwischen den Boden an, auf dem er lag. Ja, der nackte Boden unter ihm. Kaltes, nacktes … Holz. Auch das kam ihm bekannt vor.
Er schaffte es endlich, den Kopf zu drehen. Erfasste schemenhaft die Sitzbank, die Ruhebank, auf der er so oft … von der aus man den Blick schweifen lassen konnte. Durch das Fenster, richtig. Über die endlosen Reihen der Rebstöcke hinweg bis zum Rheintal und weiter und weiter … und …
Als er das nächste Mal wieder das Bewusstsein erlangte, durchfuhr ihn ein warmer Strom vom Kopf bis zu den Füßen. Er lag offenbar auf dem Rücken. Er fühlte es nicht, aber es konnte ja gar nicht anders sein, denn das Fenster befand sich jetzt steil und zugleich schräg über ihm. Doch darin war kein Himmel mehr. Sondern Dunkelheit. Und winzige, blitzende silberne Punkte. Sterne, gehüllt in samtschwarze Finsternis.
Der warme Strom, der seinen sonst gefühllosen Körper durchfuhr, wurde nun immer heißer. Er fühlte den hilflosen Drang, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Die er doch anhaben musste – aber er spürte sie nicht. Und er war nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren.
Wie denn … wie war er nur …?
Was war eigentlich …?
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Zu spät. Das war alles, was er noch denken konnte, ehe eine unbegreifliche Kälte den lavaheißen Strom in seinem Körper blitzartig zum völligen Stillstand brachte.
Gregori Moreau war tot.
Sonntag, 26. Oktober
Der Salat war einfach köstlich! Rucola und Schafskäse und erntefrische Tomaten, alors, alles war erntefrisch. Wie immer auf dem Stadtfest.
Und dann natürlich die Sauce, einfach wunderbar.
»Nicht wahr, Sylvie, die Sauce ist ganz vorzüglich«, schwärmte Jean Paul Rapp.
»Auch der Salat ist vorzüglich, meinst du nicht?« Sylvie lachte, wenn auch etwas verhalten. Vielleicht, weil Honoré, Rapps schwarz-braun gefleckter Terriermix, ihr in seinem biblischen Hundealter bereits allzu lange und selbstvergessen die Waden leckte.
»Bien sûr, auch der Salat, selbstverständlich.« Sagte er das nicht bereits? Rapp lächelte nun selbst etwas verwirrt.
Doch er war bester Laune. Was hieß »bester Laune« – er hatte seit Jahren nicht mehr so viel Lebensfreude in sich verspürt: Seit einigen Monaten nun schon waren er und Sylvie ein Paar. Kein ganz junges Paar, das natürlich nicht – er war Mitte sechzig, sogar knapp darüber, und Sylvie, nun, sagen wir, Anfang sechzig, dachte er. Doch sie waren ein glückliches Paar, oder etwa nicht?
Mit diesem wolkigen Gefühl in der Brust blickte er sich um. An einem Tag wie heute sahen im Grunde alle Menschen glücklich, zumindest aber gelassen und unbeschwert aus.
Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand von ihnen ahnen, was die Idylle bereits kurz darauf zerstören würde.
Sie befanden sich auf der Place de la République, im Herzen von Rouffach, saßen wie Dutzende andere Leute auf einer Bank an einem der langen Tische des Rouffacher Stadtfests. Die Oktobersonne strahlte kristallklar auf sie nieder, sodass Rapp heute sogar seinen alten Strohhut aufsetzen musste, um die Haut unter seinem in den letzten Jahren noch etwas lichter gewordenen Haar vor Sonnenbrand zu schützen. Aber noch immer war er nur an den Schläfen leicht ergraut, nicht wie andere Männer, die bereits mit fünfzig aussahen wie Graudachse. Oder wie Nacktmulle.
Er sah Sylvie, die ihm am Tisch gegenübersaß, wieder an und konnte es nach wie vor kaum glauben, dass er sie nun endlich – nach wie vielen, vier oder sogar fünf Jahren versteckter Schwärmerei? – für sich hatte gewinnen können. Er kam sich vor, das musste er sich eingestehen, wie ein pubertierender Jugendlicher, wenn er sie so unverblümt anhimmelte: das schöne herzförmige Gesicht, ihre zartblasse Haut, das im Sonnenlicht des frühen Nachmittags glänzende rötlich blonde Haar unter dem leichten beigen Sommerhut, der ihn irgendwie englisch anmutete – selbst das konnte er ihr verzeihen.
Er musste plötzlich lachen – ihm fiel der Titel eines dieser Schundromane ein, die Isabelle, seine Ex-Frau, immerzu las: »Ein spätes, aber schönes Glück«. Dass das nun ausgerechnet auf ihn und Sylvie zutraf, konnte er ebenfalls kaum fassen.
Sylvie sah ihn halb amüsiert, halb fragend an. »Warum lachst du, Jean Paul? Sehe ich komisch aus?«
»Aber nein, chérie, im Gegenteil! Du siehst wunderbar aus.« Er legte seine Hand auf ihre, die sich warm und fest anfühlte. Es schien ihm im Augenblick nicht nur unpassend, sondern sogar dumm, ihr mit seiner Assoziation zu seiner geschiedenen Frau zu kommen. Auch wenn Sylvie selbstverständlich seit Langem von seiner leidigen, zum Glück seit vielen Jahren beendeten Ehe mit Isabelle wusste.
Sein Blick schweifte kurz über den großen Festplatz am Fuß der Kathedrale Notre-Dame de l’Assomption, der heute aus gegebenem Anlass für Autos gesperrt war. Es gab unzählige Verkaufsstände mit nützlichen und weniger nützlichen Dingen, ein Karussell für Kinder mit Musikuntermalung, Stände mit Käse, Gemüse und kleinen Köstlichkeiten der Region, Weinausschänke und eine Restauration mit frischen Salaten sowie anderen kleinen Gerichten, die zwanglos an den mit langen, inzwischen nicht mehr ganz so weißen Tüchern bespannten Tischen genossen werden konnten.
Rapp fand es eine kluge Entscheidung der Stadtverwaltung, das Fest in diesem Jahr zum ersten Mal im Herbst statt im Sommer auszurichten. Die Temperaturen Anfang August hatten in den letzten Jahren regelmäßig weit über dreißig Grad gelegen, und das brachte Probleme für die allermeisten Menschen, die er kannte, junge wie alte, mit sich.
Unter der strahlenden Herbstsonne lockte Rouffach en Fête nun wie in besten Zeiten wieder Tausende Menschen aus der ganzen Region an. Rapp hatte heute schon eine Reihe alter – und sichtlich gealterter – Freunde und Bekannte getroffen, die er teils schon lange nicht mehr gesehen hatte. Begegnungen, die ihm die angenehme Gelegenheit verschafften, sich als fröhlicher neuer Partner an der Seite seiner schönen Nachbarin Sylvie Printemps zu zeigen, von der er vielen schon oft erzählt hatte. Und nicht wenige seiner Freunde dürften erahnt haben, welche Leidenschaft für diese Frau ihn schon so lange quälte. – Bis er Sylvie auf einer Willkommensparty für einen Berufskollegen aus Mexiko, zu der sie Rapp überraschenderweise eingeladen hatte, endlich … bon, »erobert hatte« trifft es nicht ganz. Er hatte vor Aufregung ein wenig zu viel Rotwein getrunken, und so hatte Sylvie, die nüchtern geblieben war, ihn – und Honoré – in ihrem Auto zurück nach Pfaffenhoffen gefahren. Und gewissermaßen gleich behalten, das hieß, mit zu sich nach Hause genommen. Also im Grunde genommen hatte sie Rapp erobert.
Zum Glück verstanden sich auch sein Hund und Fou Fou, Sylvies beinahe ebenso betagter rostroter Kater, infolge vieler Begegnungen inzwischen so gut, dass sie friedlich gemeinsam auf der Couch übernachtet hatten: der Hund in der einen, der Kater in der anderen Ecke. Während Rapp und Sylvie die ganze Mitte dieses praktischen Möbelstücks ausfüllten.
Rapps Sohn Edgar, der am Montmartre in Paris zusammen mit seinem Mann Julien ein elsässisches Restaurant führte, hatte ihn seitdem einmal in Pfaffenhoffen besucht, und Rapp hatte den Besuch inzwischen ebenfalls erwidert, um auch seine Enkelin, die kleine Maëlle, wieder einmal zu sehen. Und jedes Mal hatte ihm Edgar wörtlich eine – »entschuldige, Papa« – gewisse »Liebesblödigkeit« im Blick attestiert. Und so hatte Rapp es am Ende zugegeben, dass er bereits ein gutes Vierteljahr glücklich mit Sylvie liiert sei.
»Liiert, das klingt wie aus dem letzten Jahrhundert«, hatte Edgar gelästert, ihm dann aber herzlich gratuliert. Sein Sohn hatte Sylvie ja bereits früher kennengelernt.
Nun, vielleicht lagerten in einem verborgenen Winkel von Edgars Familiengedächtnis noch die unschönen Bilder der gescheiterten Ehe seiner Eltern. Mit all den Szenen, die die Vorlage für Ingmar Bergmans deprimierende Filmserie damals in den Siebzigern hätten abliefern können. – Oder war das schon in den Sechzigern gewesen?
Plötzlich wurde Rapp aus seinen Gedanken durch Sirenenlärm aufgeschreckt. Und als ehemaliger Polizist, sogar leitender Commissaire im District Colmar-Rouffach, der er früher jahrzehntelang gewesen war, erkannte er sogleich die unverkennbare Tonhöhe der Sirenen von Einsatzwagen der örtlichen Polizei.
Unwillkürlich zog er seine Hand zurück, mit der er gedankenverloren noch immer Sylvies Handgelenk umschlossen hatte, und horchte auf: Das waren mindestens zwei Einsatzwagen, schätzte er, die sich vom Polizeipräsidium am Südende des mittelalterlichen Platzes, auf dem das Stadtfest gefeiert wurde, auf den Weg gemacht hatten. Und aus Richtung Westen, wo sich Rouffachs Krankenhaus befand, war nun auch die Alarmsirene eines Noteinsatzteams zu vernehmen.
»Ein Unfall?« Sylvie sah ihn fragend an.
Rapp hob den Blick und glaubte mit einem Mal auch hinter den großen dunklen Scheiben des Commissariats, unweit der Stelle, an der sie saßen, hektische Bewegungen von Personen zu erkennen. Und gleich darauf sah er tatsächlich George Sulzer, den vielfach untalentierten Kriminalassistenten von Rimbout, seinem Nachfolger als Commissaire. Sulzer eilte die rechte Seite der Doppeltreppe der alten Kornhalle hinunter, in der sich heute das Commissariat befand.
»Falls es ein Unfall war«, sagte Rapp gedehnt, »dann jedenfalls kein üblicher, klar ersichtlicher. Dazu wird nicht gleich die Kriminalpolizei hinbeordert.«
Sylvie sah Rapp stirnrunzelnd an. Als ahnte sie bereits die Folgen, die das für ihn haben sollte.
Wenige Minuten später hatte sich die Szenerie auf dem Stadtfest merklich verändert.
Wenn die Gäste an ihren Tischen eben noch ihre Köpfe gesenkt hatten, dann um sich einen leckeren Happen von ihrem Gericht auf dem Teller oder einen guten Schluck aus ihrem Glas zu gönnen.
Jetzt taten sie es mit starrem Blick auf ihre Smartphones.
Doch ihre Gesichter blieben ratlos, offenbar gab es noch keine eindeutigen Informationen.
Die Beobachtung ersparte Rapp oder auch Sylvie, die nach dem Sirenenalarm ebenfalls neugierig geworden war, die Mühe, ihre eigenen Handys hervorzuholen, um schnell mal die Nachrichtenlage zu checken.
Rapp sah sich stattdessen um. Die Daumen und Zeigefinger der Leute huschten flink über ihre Geräte, doch spätestens nach einer halben Minute sah es bei den meisten so aus, als hätten sie vergessen, wie sie damit aufhören sollten, immer weiter ihre Displays zu scrollen.
»Schon merkwürdig, was diese kleinen Telecommander aus uns machen«, bemerkte er zu Sylvie. »Techniksklaven. Die Dinger machen Techniksklaven aus uns.«
Sie parierte den Satz mit einem leichten Seufzen, das mehr zu sehen als zu hören war. Überlagert von den lautstarken Unterhaltungen ringsum und untermalt von der Kindermusik, die vom Karussell herüberwehte.
Plötzlich spürte Rapp ein Rucken der Leine, deren Griff unter seinem rechten Oberschenkel klemmte. Als er den Kopf neigte und unter den Tisch blickte, sah er Honoré sich ächzend erheben und auf seine zittrigen Beine kommen.
Und im nächsten Moment erkannte Rapp auch den Grund dafür. Hinter der Sitzbank war eine winzige Rehpinscherdame aufgetaucht. Sie schob vorwitzig ihre Schnauze – wenn man denn bei dieser Hunderasse überhaupt von einer Schnauze sprechen konnte – dem alten, müde gewordenen Charmeur entgegen, um ihn zu begrüßen. Doch als nacheinander mehrere Fußpaare an der langen Sitzbank vorbeistrebten, umfasste mit einem Mal eine große Männerhand den Bauch der kleinen Hündin und hievte sie hoch wie ein Fischer einen Fang im Netz.
Rapp richtete sich auf, blickte hoch und schaute in das genervte Gesicht eines großen, kräftig gebauten Manns in einem sportlichen Sakko. In das Gesicht von Claude Kehres, der sein Hündchen jetzt sorgsam an seine breite Männerbrust klemmte.
»Ah, Claude, salut, bonjour!« Rapp war nicht überrascht, ihn heute hier anzutreffen, vielmehr, dass sie sich erst jetzt auf dem Stadtfest begegneten. Claude wohnte in Rouffach, früher war er im Ort der Chef der Finanzverwaltung gewesen, Rapp hatte ihn damals gelegentlich um Rat gefragt, etwa wenn bestimmte Fälle einen kniffligen Betrugshintergrund hatten. Hin und wieder trafen sie sich auch heute noch, als Zuschauer bei einem Pétanque-Turnier in der Gegend oder wenn Rapp zur Abwechslung mit Honoré einmal wieder zur »Avenue de la merde« fuhr, wo die Hunde auf dem breiten Schotterweg entlang der alten Rouffacher Stadtmauer unter ausladenden Platanen ihre Geschäfte machten und die der Kollegen begutachten konnten.
Rapp stand auf und stellte ihm Sylvie vor, die beiden kannten sich noch nicht. Und wenn Platz gewesen wäre, hätte er Claude eingeladen, sich zu ihnen zu setzen.
Doch das war gar nicht nötig. Claude, der nicht dafür bekannt war, allzu zimperlich zu sein, pflanzte seinen gut genährten Körper in die Lücke, die Rapp freigegeben hatte. Dann drückte er mit einem leicht raubtierhaften Lächeln im Gesicht seinen Nachbarn, einen schmalen jungen Mann mit Basecap, der gerade ein Bier trank, zur Seite, und ließ Rapp seinen Platz wieder einnehmen.
»Wen haben wir denn da?«, lachte Sylvie, als Claude Valerie, seine Rehpinscherin, auf den Tisch stellte wie eine Beilage zu den Salaten, die Rapp und Sylvie gerade aßen. Glücklicherweise schien Valerie mehr an Honoré unter dem Tisch als an den Getränken und Speisen darauf interessiert zu sein, und so verfrachtete Claude sie eine Etage tiefer, wo Honoré schon mit grauem Star in den verlangenden Augen auf sie wartete.
Claude pfiff einen jungen Kellner herbei, der soeben an ihnen vorbeihuschen wollte, und bestellte ein großes Bier.
»Ständig muss ich sie hochnehmen.« Claudes graublaue Augen deuteten auf Valerie. »Die Meute achtet ja nicht darauf, wo sie ihre Füße hinsetzt. Und am nächsten Tag liest du die Schlagzeile im Courant: ›Skandal – tausend Tomaten und ein Pinscher zerquetscht‹. Haha!« Er deutete die Schlagzeile mit zwei Fingern in der Luft an und lachte auch seinem schmächtigen Nachbarn mit der Basecap ins indignierte Gesicht, als würden sie sich schon ewig kennen.
Was offensichtlich nicht der Fall war, da der Junge zuerst Claude anstarrte, dann seine mollige Freundin mit dem blonden Pferdeschwanz. Und im nächsten Moment erhoben sie sich mit rollenden Augen und verschwanden grußlos in Richtung Hexenturm am Südende des Platzes.
»Wisst ihr, die Sirenen vorhin …«, Claude wandte sich Rapp und Sylvie gleichermaßen zu, »das waren Polizei und Notarztwagen.«
»Todsicher«, sagte Rapp. »Weißt du mehr darüber?«
»Zufällig ja.« Er hob seine Brauen, die weit dichter bewachsen waren als sein inzwischen fast kahler Schädel. »Ich war nämlich eigentlich mit Fabienne auf dem Fest.«
»Fabienne?« Rapp sah ihn fragend an.
»Fabienne Haller. Die Leiterin der Gendarmerie in Rouffach«, erklärte Claude nun auch an Sylvie gewandt. »Wir sind … alors, eigentlich waren wir zusammen auf dem Fest, so wie ihr zwei Hübschen.« Claude bleckte die breiten Zähne. »Aber dann kam uns dieser blöde Einsatzbefehl via Diensthandy dazwischen, das sie leider immer dabeihaben muss.«
»Sie ist mit dabei, auf dem Einsatz?«, fragte Rapp.
»Ja. Rien à faire. Was willst du machen?«
»Und worum geht es bei dem Einsatz?«, fragte Sylvie. »Oder ist das geheim?« Sie lächelte ironisch.
Claude schob ein wenig den Kopf vor und senkte verschwörerisch die Stimme. »Euch kann ich es ja sagen, steht eh bald im Netz. Außerdem betrifft es euch mehr oder weniger direkt.«
»Claude.« Rapp sah ihn ungeduldig an. »Spuck’s einfach aus.«
Doch bevor Claude das tat, kam sein Bier. »Endlich«, dröhnte er, entriss es dem verblüfften Kellner – einem anderen als dem, bei dem er bestellt hatte –, drückte ihm einen Fünf-Euro-Schein in die Hand, den er schon parat hatte, und nahm auch gleich einen Riesenschluck aus dem Halbliterglas.
»Ah, wunderbar.« Er setzte es mit einem nur halb unterdrückten Rülpsen ab und wandte sich wieder Rapp und Sylvie zu. »Fabienne sagte, der Einsatz läuft in Pfaffenhoffen. Also quasi vor eurer Haustür«, versicherte er in die ungläubigen Gesichter der beiden. Dann senkte er wieder die Stimme. »Die Gendarmerie sperrt doch immer den Tatort ab und bewacht ihn, richtig?«
»Sie sichert ihn«, sagte Rapp. »Aber wieso ›Tatort‹? Was ist denn überhaupt los?«
»Bin ich Commissaire?« Claude lachte lautstark auf. »Spaß beiseite, mein Lieber.« Er legte Rapp die große Pranke auf die Schulter. »Fabienne sagte, sie hätten da jemanden im Weinberg gefunden. Leb…« Er kam ihnen mit dem Gesicht nun noch näher und raunte: »›Leblose Person‹ sagt man dazu ja wohl.«
Sylvie starrte ihn ungläubig an und blickte dann kurz auf Claudes Bierglas, als wäre es womöglich schon sein drittes oder siebtes am heutigen Tag.
»Eine …« Rapp zügelte eben noch die Lautstärke seiner Stimme. »Eine Leiche in Pfaffenhoffen? Im Weinberg, bist du sicher?«
»Hat Fabienne jedenfalls angedeutet.« Claude trank sein Bier aus und schaffte es, ihnen dabei über den Rand des Glases hinweg zuzublinzeln. Dann stellte er es geräuschvoll ab und warf einen Blick unter den Tisch. »Merde!«, rief er plötzlich. »Aber wirklich!« Er schien geradezu empört.
Auch Rapp und Sylvie neigten die Köpfe und folgten seinem Blick unter den Tisch. Auf den ersten Blick war alles in Ordnung, Valerie lag friedlich neben Honoré. Doch vor ihnen lag bei genauem Hinsehen ein kleiner Hundehaufen, so winzig, dass Rapp ahnte, von wem er stammte.
»Kann ja nur von deinem Honoré sein«, behauptete Claude jedoch zu Rapps und auch Sylvies Erstaunen. »Ich war heute schon mit Valerie drüben, du weißt schon, Avenue de la merde.«
»Wann heute, Claude?«, setzte Rapp misstrauisch nach. Zumal er wusste, dass sein Hund so gut erzogen war, dass er sich selbst im hohen Alter nicht derart danebenbenehmen würde.
»Heute früh, um sechs oder sieben.« Claude redete bereits in eine andere Richtung, denn der junge Kellner, bei dem er das Bier bestellt hatte, kam nun mit dem Tablett voller gefüllter Gläser auf ihn zugeeilt.
Claude winkte ab und erhob sich, ehe der junge Mann ihm sein Bier auf den Tisch stellen konnte. »Merci, mein Bester. Ihr Kollege hat mir schon das Bier gebracht.«
»Aber …« Dem Kellner klappte das etwas picklige Kinn herunter. »Das war Patriques eigenes … sein eigenes Bier, er hat Feierabend.«
»Jetzt hat er Feierabend, der Kollege Patrique«, entgegnete Claude, angelte sich seine dünnleibige Valerie unter dem Tisch hervor, nickte zuerst Sylvie und Rapp, dann dem perplexen Kellner zu und verschwand auch schon in der Menge, sein Hündchen schützend eng an seine breite Männerbrust gepresst.
Sylvie richtete verwirrt ihren Blick auf Rapp. »Und der soll mal Finanzchef der Stadtverwaltung gewesen sein?«
»Er kannte jedenfalls alle Finanztricks der Gauner«, versicherte Rapp.
Sylvie rümpfte die Nase und deutete mit den Augen auf die Stelle unter dem Tisch, wo Valeries kleine, aber intensiv verdunstende Hinterlassenschaft lag. Auch Honoré hatte inzwischen davon Abstand genommen und kam unter dem Tisch hervor.
»Wollen wir gehen, Jean Paul?«, schlug Sylvie vor.
»D’accord.«
»Und wer bezahlt nun das Bier für Monsieur?«, fragte der junge Kellner mit unsicherem Blick.
»Patrique, nehme ich an«, sagte Rapp und griff nach Honorés Leine.
Sylvies mintgrüner Berlingo stand auf dem Parkplatz hinter dem Cimetière, dem Rouffacher Stadtfriedhof, kurz vor der Auffahrt zur Route nationale.
Von dort kam ihnen noch immer ein Strom von Menschen entgegen, die zum Stadtfest pilgerten, das Rapp und Sylvie eben erst verlassen hatten.
Auf halber Strecke zum Wagen sah Rapp sich gezwungen, seinen steif staksenden Hund auf den Arm zu nehmen und zu tragen, wie Claude Kehres es mit seiner Valerie gemacht hatte. Honoré war weder in der Lage, ständig neuen Zweibeinern auszuweichen, die ihnen auf breiter Front entgegenwalzten, noch hatte er Luft für die ganze Wegstrecke.
Während er seinen Hund die letzten paar hundert Meter trug, ging Sylvie mit nachdenklicher Miene neben ihm her. Sie kam ihm unerwartet angespannt und ernst vor, nicht erst jetzt, sondern heute schon den ganzen Tag. Irgendetwas war im Busch, das spürte er.
Nachdem sie eingestiegen waren, manövrierte Sylvie den Wagen durch den dichten und – wie immer bei Stadtfesten – etwas chaotischen Verkehr bis zur Route des Vins d’Alsace, wie die N 83 auch genannt wurde, und gab dann wie üblich Gas.
Sylvie fuhr sicher, aber auch schnell – zu schnell für Rapps Begriffe, der es mit seinem 2CV, der schwarz-roten Ente, Modell Charleston, lieber gemächlich angehen ließ. Doch er war nicht der Typ Oberlehrer oder ewiger Polizist, der anderen erklärte, wie sie zu fahren hätten. Schon gar nicht Sylvie, die es nicht ausstehen konnte, belehrt zu werden, egal, von wem.
In kürzester Zeit ließen sie das Städtchen hinter sich und überquerten die Lauch, das Flüsschen, das sich durch die Rheinebene nach Norden bis nach Colmar schlängelte. Linker Hand der Intermarché, rechts zog der dunkle Waldrand des Forêt de Pfaffenhoffen wie im Zeitraffer an ihnen vorbei. Und als Rapp durch die Frontscheibe hinaus in den strahlenden Himmel blickte, wo nur wenige kleine Wolkenschafe auf der blauen Wiese weideten, rückte die Silhouette der Vogesen in beeindruckender Geschwindigkeit näher.
Sylvie drückte weiter kräftig auf die Tube, und in ihrem Gesicht entdeckte Rapp noch immer deutliche Anzeichen von Anspannung.
»Du wirkst heute, wie soll ich sagen, irgendwie besorgt, chérie«, sagte er in das Dröhnen des Motors hinein.
Er wartete auf eine Antwort von ihr, sah an ihren zuckenden Lippen, dass sie dazu ansetzte. Doch in diesem Moment fuhr sie bereits so dicht auf einen grauen Renault Espace auf – die Michelbergers, Rapps Vermieter, fuhren so einen, dachte er mit Schrecken –, dass ihm ein lautes »Sylvie, Vorsicht!« entfuhr.
Sie hämmerte ihre rosafarbenen Schuhe, passend zum roséfarbenen Kleid, so hart auf das Bremspedal, dass sich der Espace vor ihnen im Bruchteil einer Sekunde weit nach vorne entfernte. Doch zeitgleich ertönte hinter ihnen das wütende Hupen von gleich mehreren Fahrzeugen, die anscheinend gezwungen waren, in die Eisen zu steigen, um nicht auf Sylvies Berlingo aufzufahren.
Als Rapp sich erschrocken umwandte, wechselte ein Auto nach dem anderen auf die Überholspur und schoss an ihnen vorbei. Nicht ohne Lichthupe und obszöne Gesten von Fahrer oder Beifahrer.
Er hielt einige Sekunden lang die Luft an und sah, dass Sylvies Gesicht vor Schreck kalkweiß war.
»Entschuldige, Jean Paul«, stieß sie mit dünner Stimme hervor, »ich …«
Mit einem Auge erfasste er das Hinweisschild auf den Rastplatz Aire de Rouffach Nord wenige hundert Meter entfernt. »Am besten, du fährst kurz raus«, schlug er ihr so ruhig wie möglich vor.
Unter den Platanen, die den Rastplatz von den umliegenden Feldern abgrenzten, atmeten sie erst einmal durch.
Rapp hielt Sylvie im Arm, doch er spürte einen leichten Widerstand in ihrer Haltung.
»Ich weiß auch nicht, warum ich so dicht aufgefahren bin. Hab’s natürlich viel zu spät gemerkt.« Sie machte sich frei von ihm, wandte sich halb um und schaute nun mit ihm zusammen hinüber zu den Weinbergen oberhalb von Pfaffenhoffen.
»Wahrscheinlich regt es dich auf, was Claude Kehres erzählt hat«, bot Rapp die für ihn naheliegendste Erklärung an. Eine Leiche in den Weinbergen von Pfaffenhoffen, quasi in Rufweite ihrer Wohnungen, das trieb auch ihm den Puls in die Höhe.
»Alltäglich ist das jedenfalls nicht, nein.« Sylvie stieß ein kleines Lachen hervor. »Zum Glück ist die Weinlese schon vorbei. Sonst müsste ich bei jedem Schluck Federweißer, der verdächtig schmeckt, an etwas ganz anderes denken als an vergorene Trauben.«
Rapp legte wieder den Arm um sie. »Wenigstens verschlägt es dir den Humor nicht, chérie, was Kehres erzählt hat.«
Sie atmete noch einmal kräftig aus und sagte, spürbar ruhiger geworden: »Wollen wir mal schauen, ob es etwas Neues dazu gibt?«
Sie musste seine Antwort nicht abwarten, zog ihr Handy aus der Brusttasche ihrer beigen Wollweste und aktivierte die Nachrichtenseite von Radio Alsace Libre.
RAL, der kleine Sender, war erfahrungsgemäß der schnellste und genaueste im Aufbereiten aktueller Meldungen aus der Region, davon hatte Rapp auch Sylvie überzeugen können; die bunte Mischung verschiedenster Musikrichtungen war genau das, was sie beide am liebsten hörten, nicht nur beim Autofahren. RAL hatte außerdem eine sehr übersichtliche, gut sortierte Webseite mit den aktuellen Meldungen.
Sylvie blickte aufs Display. »Kehres hat recht, schau mal.«
Sie hielt ihm das Handy hin, und er las die Schlagzeile: »Leichenfund in den Weinbergen von Pfaffenhoffen. Mann in Wanderhütte tot aufgefunden.«
Ein Bild wurde dazu präsentiert. Eine kleine Holzhütte oberhalb eines Hangs, dicht bestanden von Zeilen herbstbunter Weinreben.
Rapp erstarrte. »Ich glaube, die Hütte kenne ich. Du nicht auch?« Er tippte unwillkürlich mit dem Finger darauf und sah Sylvie fragend an.
»Um ehrlich zu sein, nein, ich stehe auf dem Schlauch.«
»Aber ja! Das ist die Hütte oben auf dem Hang der Moreaus. Keine Wanderhütte, wie dort steht, jedenfalls nicht öffentlich, sondern privat, ein ehemaliger Geräteschuppen oder so etwas.«
»Die Moreaus, die Winzer? Bist du sicher?«
Er sah noch einmal auf das Foto. »Ja, ganz sicher, Sylvie. Moreaus Weingut liegt ja etwas südlich von Pfaffenhoffen.« Südwestlich, um genau zu sein.
Wenn sie am Osthang des Kastelbergs entlang spazieren gingen, auf der Rheintalseite, bogen sie jedoch gewöhnlich etwas früher ab, um zum Dorf zurückzugelangen. Meist, um Honoré zu schonen – der im Augenblick auf dem Autorücksitz entspannte, alle viere von sich gestreckt, Hundeyoga.
Rapp linste noch einmal aufs Display. »Steht dort noch mehr dazu?«
Sylvie bewegte ihren Daumen, um weiter durch die Meldung zu scrollen. In diesem Moment poppte der Hinweisbutton »Neue Nachrichten« auf, den sie auch gleich antippte.
»Ach, herrje, du hattest recht, Jean Paul, das war kein Unfall. Mutmaßlich ein Gewaltverbrechen, heißt es hier, siehst du?« Sylvie zeigte ihm kurz das Display. »Laut Polizei«, las sie dann rasch vor, »handelt es sich bei dem Opfer um den fünfundvierzigjährigen Grégoire Moreau.«
Rapp stutzte. »Grégoire Moreau. – Das ist der Gregori!«, wurde ihm plötzlich klar.
»Kennst du ihn?«
»Nur dem Namen nach. Er wohnte nicht mehr in Pfaffenhoffen.« Doch schon im nächsten Moment gewann der ehemalige Polizist in ihm die Oberhand. »Wenn es wirklich ein Gewaltverbrechen war«, sagte er unwirsch, »dann sollte man es nicht gleich in die Welt hinausposaunen, Herrgott! Und erst recht nicht, falls es noch gar nicht feststeht.«
Er hoffte, dass dieser Fauxpas nicht auf Rimbouts Konto ging. Sofern es kein schlagzeilenträchtiger Kurzschluss der Presse war, was leider allzu häufig vorkam. Dadurch konnten mögliche Zeugen beeinflusst werden. Unter Umständen glaubten sie dann, irgendetwas Mörderisches gesehen zu haben, was womöglich nur ihrer Phantasie entsprang, angeregt durch die voreilige Meldung in der Presse.
»Ich wette, es war George Sulzer, der die Information an die Presse durchgesteckt hat«, schimpfte er. Nicht aus Geltungssucht oder weil Sulzer dafür die Hand aufhielt, Rimbouts Assistent war nicht korrupt. Sondern aus purer Schlampigkeit, die Rapp aus seiner aktiven Zeit nur allzu gut noch in Erinnerung hatte.
»Wer ist denn dieser Gregori Moreau, falls er wirklich das Opfer ist?«, fragte Sylvie. »Ich dachte, der Winzer heißt Gaston Moreau. So steht’s doch auf den Weinetiketten, oder irre ich mich?«
»Nein, nein, du hast schon recht. Gaston Moreau ist der Geschäftsführer des Weinguts, Gregori sein Bruder – sein Zwillingsbruder, um genau zu sein.«
»Dafür, dass du das Opfer nicht kennst, weißt du aber ganz gut Bescheid«, wunderte sich Sylvie.
»Irène Michelberger, meine Vermieterin, ist weitläufig verwandt mit den Moreaus.« Und Irène erzählte immer gern Geschichten über ihre buckelige Verwandtschaft im Ort.
Sylvie kniff ein Auge zu. »Im Dorf sind irgendwie alle mit allen verwandt, non?«
Er musste lachen. »Alors, von Irène weiß ich, dass das Weingut seit dem Tod des alten Moreau vor einigen Jahren hauptverantwortlich vom Gasti bewirtschaftet wird, von Gaston Moreau, einem der Zwillingssöhne.«
Rapp ließ den Blick über die Weinhänge drüben im Westen schweifen, ehe er fortfuhr: »Der alte Moreau, der Vater von Gasti und Gregori, muss ein ziemlich harter Knochen gewesen sein. Das Weingut ging ihm über alles. Und als ihm schien, dass seine Frau der schweren Arbeit in Haus und Hof nicht gewachsen wäre, quälte er sie derart, dass sie ihn eines Tages sitzen ließ, mitsamt seinem Weingut.«
»Recht so. Und die Kinder hat sie mitgenommen?«
»Nur den Gasti – Quatsch, nein, den Gregori, das heutige Opfer, falls die Pressemeldung wirklich stimmt.« Rapp deutete auf Sylvies Handy. »Dadurch wuchsen die beiden Jungen viele Jahre getrennt auf. Ihre Mutter ging nämlich in die Schweiz, fand dort einen Mann – oder vielleicht war es auch umgekehrt, sie fand einen Mann und ging mit dem in die Schweiz. Wie auch immer, der alte Moreau trauerte nicht lange um sie …«
»Wahrscheinlich gar nicht, so wie du ihn beschreibst.«
»Er hatte jedenfalls schon bald eine Nachfolgerin für sie auf dem Hof. Die sich dann auch gleich um den verbliebenen Jungen, den Gasti, kümmern durfte.«
»Klingt, als hätte der Alte seine neue Frau so mies behandelt wie die erste.«
»Laut Irène hat er die arme Frau sogar noch mehr gequält, sie ist nicht sehr alt geworden.«
»Hat er danach noch mal geheiratet, der Alte?«
»Nein. Mittlerweile war der Sohn, Gasti, alt genug, um auf dem Hof mitzuarbeiten. Und ihn später zu übernehmen. Aber dann starb in der Schweiz unerwartet auch die erste Madame Moreau, die Mutter der Zwillinge, ein Verkehrsunfall, wenn ich mich recht entsinne. Was den Alten nicht gekratzt hätte, meint Irène, wenn nicht plötzlich der verlorene Sohn, der Gregori, nach Frankreich zurückgekehrt wäre. Was Moreau senior gar nicht schmeckte.«
Sylvie sah ihn skeptisch an. »Wieso sollte Moreau seinen zweiten Sohn denn plötzlich abgelehnt haben?«
»Weil Gregori damit klarstellte, dass er nicht auf sein gesetzliches Erbteil verzichten würde. Nach dem Motto: Aus dem Sinn, kein Gewinn. Jetzt aber bestand die Gefahr, dass das Weingut zerstückelt würde, sollten sich seine Söhne nicht einigen und irgendwie zusammentun.«
»Offensichtlich haben sie eine Lösung gefunden. Sonst könnten wir ihren Wein ja nicht trinken.«
»Voilà. War wohl auch gar nicht so schwierig wie befürchtet. Gregori hatte nämlich gar kein Interesse daran, Winzer zu werden wie sein Bruder, der Gasti. Gregori war IT-Fachmann oder etwas Ähnliches geworden.«
»Heißt das nicht KI-Fachmann heutzutage? Von wegen künstliche Intelligenz?«
»Möglich. Ich verlasse mich sowieso lieber auf natürliche Intelligenz, zum Beispiel auf deine«, fügte Rapp lapidar hinzu.
Sylvie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke, chéri. Das nehme ich als Kompliment.«
Es war diese kleine zärtlich-humorvolle Geste von ihr, die ihn annehmen ließ, seine Sorge sei doch gänzlich unangebracht, dass irgendetwas zwischen ihnen womöglich nicht stimmen oder etwas an ihm Sylvie plötzlich stören könnte.
Sylvie hakte sich wieder bei Rapp ein, doch plötzlich bemerkten sie, dass sie nicht mehr nur zu zweit waren. Honoré war unbemerkt aus dem Wagen gekrochen – die Seitentür stand ja noch offen! – und schleckte bereits wieder selbstvergessen Sylvies schlanke Fesseln.
Sie lachte spitz auf, als sie es bemerkte, und beugte sich zu dem Hund hinab, um ihn kräftig durchzustreicheln. Was er sichtlich genoss.
»Wollen wir dann?«, sagte sie, als sie sich wieder aufrichtete. Sie zupfte den Autoschlüssel aus der Jackentasche und hielt ihn hoch.
»Möchtest du, dass ich fahre?«, bot Rapp an.
»Nein, nein«, sagte sie munter, »es geht mir gut, merci.«
»Allez hopp, Monsieur«, ermunterte Rapp seinen Hund, schnippte dazu mit den Fingern, und sie gingen zurück zum Wagen. Hübsch langsam, damit Monsieur ihnen altersgerecht folgen konnte.
Sylvie hielt vor dem Maison Michelberger in der Rue Grand Cru, um Rapp mit seinem Hund aussteigen zu lassen.
»Wollen wir noch einen Kaffee trinken, Sylvie?« Er sah sie mit freudiger Erwartung an.
Doch sie lehnte dankend ab. »Muss mich um Fou Fou kümmern.«
»Fou Fou kommt auch noch eine Stunde ohne dich zurecht.«
»Nein, heute nicht, chéri, danke.« Sie ließ sich von ihm nur noch flüchtig die Wange küssen, schenkte ihm eine Art schmerzliches Lächeln, ehe er ausstieg und enttäuscht die Beifahrertür zudrückte.
Und da war es auf einmal wieder, sein Gefühl, dass sie irgendetwas bedrückte. Etwas, das mit ihnen beiden zu tun hatte. Das sie ihm entweder nicht sagen konnte oder nicht sagen wollte. Noch nicht.
Auf dem Weg durch den mit jahrhundertealten Natursteinen gepflasterten Innenhof des Maison Michelberger begegnete er keiner Seele, weder Martin oder Irène Michelberger noch den Touristen, die am Wochenende oftmals die Ferienwohnungen belegten. Vermutlich waren sie alle noch auf dem Stadtfest in Rouffach, das Sirenengeheul von Polizei und Notarztwagen hatte die Feierlaune offenbar nur kurz stören können.
In seiner Wohnung im ersten Stock des Seitenflügels ging er nun als Erstes daran, Honoré frisches Wasser in den Napf zu füllen und sich selbst einen Kaffee zu kochen. Er hatte eine Kaffeemaschine, die jedes Mal eine kleine Ewigkeit brauchte, bis das Wasser durchgelaufen war. Leider stand das geschmacksarme Ergebnis in umgekehrtem Verhältnis zur Dauer der Prozedur. Edgar, sein Sohn, hatte ihn bei seinen gelegentlichen Besuchen bereits mehrfach gebeten, sich endlich eine neue Maschine anzuschaffen. Und Rapp war im Prinzip auch bereit dazu. Aber es war einfach nicht seine Art, systematisch nach einem neuen Gerät Ausschau zu halten. »Ich suche nicht, ich finde«, hatte er Edgar frei nach Picasso (falls der es war) geantwortet, nachdem sein Sohn ihm bereits angeboten hatte, ihm eine gute Maschine schenken zu wollen.
Nachdem Honoré sein Wasser geschlürft und sich zwischen den zwei Heizkörpern, die zu dieser Stunde noch gar nicht arbeiteten, in seinen Korb hatte fallen lassen, ging Rapp daran, seine Küche ein wenig aufzuräumen und nebenbei Radio zu hören.
RAL brachte ein paar französische Chansons, dann Sinatra, dann eine rätoromanische Frauengruppe, deren Text wohl nur diese winzige Volksgruppe in den Schweizer Alpen verstand. Rapp mochte diese kleinen musikalischen Überraschungen.
Schließlich kamen die Nachrichten. Die Meldungen aus der Region, wie üblich gesprochen von Lizette, seiner Lieblingsmoderatorin, wurden dominiert von dem »Mord im Weinberg der Moreaus, südwestlich von Pfaffenhoffen«.
Obwohl Rapp die Nachricht schon kannte, berührte es ihn seltsam, dass ausgerechnet der Name seines Dorfs so unmittelbar damit verbunden war.
Doch es schien keine neuen Erkenntnisse zu geben. Leider auch keine Stellungnahmen der Polizei, Rapp hätte zu gern gehört, was Rimbout zu dem Fall zu sagen hatte. Dafür wurde nun ausführlicher davon berichtet, was für einen Schock es für eine gewisse Madame Trouvaille aus Mulhouse und vor allem für deren herzkranke Freundin bedeutet hatte, den Toten zu finden.
»Ich war mit meiner Freundin Süsala dort oben spazieren, wissen Sie«, sprach sie der RAL-Reporterin leutselig ins Mikro. »Das schöne Wetter und die gute Luft. Und weil Süsala wegen ihres schwachen Herzens ein Päuschen brauchte, dachten wir, es hätte wohl niemand etwas dagegen, wenn wir in der Hütte dort am Hang kurz rasten würden.« Sie hätten angenommen und gehofft, es mit einer Wanderhütte mit Sitzbank zu tun zu haben, erklärte Madame. »So eine hübsche kleine Holzhütte, dachten wir. Mit einem Fensterchen auf der Talseite, wie wir dann sahen. Und die Tür war auch gar nicht abgeschlossen. Aber als wir sie dann öffneten …«, man hörte Madame Trouvaille deutlich schlucken, »da sahen wir ihn dann«, berichtete sie stockend weiter. »Den armen Mann, meine ich. Er … lag am Boden, auf dem Rücken, die Augen waren furchtbar weit aufgerissen. Die Süsala fasste sich ans Herz, und da wusste ich gleich … Ich wusste, der Mann ist tot.« Die Süsala, elsässisch für Suzanne, sei nämlich früher Krankenschwester gewesen, bis zu ihrer Pension vor gut zwanzig Jahren. »Sogar eher fünfundzwanzig Jahre, wenn ich es recht bedenke.« Madame Trouvaille hatte mit ihrem leicht bedienbaren Handy – »Große Tasten, wissen Sie, ganz wunderbar« – sogleich Polizei und Krankenwagen alarmiert. Die Süsala befinde sich seitdem leider selbst in ärztlicher Behandlung. »Im Krankenhaus Rouffach, wissen Sie?«
Alors, nun wussten sie es.
Die Nachrichten endeten mit der Wettervorhersage für die nächsten drei Tage – eitel Sonnenschein war zu erwarten – und gingen nahtlos über in eine recht detailverliebte Reportage über ein foulträchtiges Fußballspiel zwischen Mulhouse und Kaysersberg.
Rapp schaltete das Radio aus, goss sich seinen Kaffee ein, trank ihn figurbetont ohne Zucker, schwarz und dachte nach. Nicht über den Mordfall. Sondern über Sylvie und sich. Über das Unausgesprochene, das sich heute so spürbar zwischen sie gedrängt hatte. Im Grunde aber schon seit ein paar Tagen, schien ihm. – Was stand neuerdings zwischen ihnen? Oder wer?
Ihm fiel jedoch kein möglicher Rivale ein. Und er hatte auch nicht das Gefühl, er wäre ihr inzwischen langweilig oder gar lästig geworden.
Und die Erotik zwischen ihnen? Darin war »noch ordentlich Musike«, das hatte sie ihm gegenüber wortwörtlich zu verstehen gegeben, auf Berlinerisch, sie war ja in Berlin geboren.
Trotzdem, dachte er: Wenn die Reserviertheit der letzten Tage anhielt, würde er Sylvie darauf ansprechen müssen.