Zorn - Lodernder Hass - Stephan Ludwig - E-Book
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Zorn - Lodernder Hass E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Hauptkommissar Claudius Zorn im Innendienst und der dicke Schröder im Undercovereinsatz – der siebte Band der Kult-Thriller-Serie von Bestseller-Autor Stephan Ludwig Nach seiner schweren Verletzung im Einsatz arbeitet Hauptkommissar Claudius Zorn vorübergehend im Innendienst. Verändert hat sich aber wenig – sein Kollege und Vorgesetzter Schröder macht die Arbeit, Zorn raucht. Eines Abends erwischt Zorn bei einem Spaziergang einen jugendlichen Brandstifter auf frischer Tat. Staatsanwältin Frieda Borck schickt den jungen Mann zu einem Psychiater, der ihm anbietet, sich einer offenen Therapiegruppe anzuschließen. Als ein Mitglied dieser Gruppe zu Tode kommt und andere Gruppenteilnehmer bedroht werden, nimmt Schröder undercover an den Sitzungen teil, um herauszufinden, was vor sich geht. Doch bald ist auch Schröder nicht mehr sicher, und Zorn muss blitzschnell handeln … Der siebte Fall für Hauptkommissar Claudius Zorn und den dicken Schröder Zorn und Schröder sind auch Fernseh-Stars. Alle Bände der Zorn-Reihe sind mit Stephan Luca und Axel Ranisch in den Hauptrollen fürs Fernsehen verfilmt.

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Seitenzahl: 541

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Stephan Ludwig

ZORN 7 - Lodernder Hass

THRILLER

FISCHER E-Books

Inhalt

MottiEinsERSTER TEILZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigZWEITER TEILNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigNeunundfünfzigSechzigEinundsechzigZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzigFünfundsechzigSechsundsechzigSiebenundsechzigAchtundsechzigNeunundsechzigLETZTER TEILSiebzigFragen an Hauptkommissar Zorn und Hauptkommissar Schröder

Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt.Sigmund Freud

 

 

Die erste Voraussetzung der Rache ist die Kunst der Verstellung. Unverhohlener Hass ist ohnmächtig.

Honoré de Balzac

Eins

Das ist also das Ende, denkt der kleine Mann.

Er weint nicht. Jammert nicht. Bettelt nicht um sein Leben. Das hat er auch nicht vor. Der kleine, übergewichtige Mann mit der sanften Stimme und dem rosigen Gesicht wirkt unscheinbar, harmlos, doch nur die wenigsten wissen, dass sich hinter dieser Fassade ein eiserner Wille verbirgt, gepaart mit einem messerscharfen Verstand. Der Mann ist klug. Klug genug, um zu wissen, wenn etwas sinnlos ist. Nein, er wird nicht um sein Leben betteln. Jetzt, wo er weiß, mit wem er es zu tun hat. Wozu der andere fähig ist.

Er sieht hinauf in den Nachthimmel. Die Wolken hängen tief über ihm, schmutzig, grau, wie rußgeschwärzt. Ein großer schwarzer Vogel fliegt nach Westen.

Der kleine Mann hat keine Angst. Im Laufe seines gut vierzigjährigen Lebens hat er gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Den Tod seiner Familie. Die Einsamkeit. Den Spott der Menschen, die ihn nicht ernst nehmen, Menschen, die nur auf Äußerlichkeiten bedacht sind. Sie belächeln seine Kleidung, seine Frisur, verwechseln Höflichkeit mit Unsicherheit, machen sich nicht einmal die Mühe, ihn beim Vornamen zu nennen.

Sein Puls geht ruhig, sein Atem flach. Er atmet gepresst durch die Nase, die Lippen fest zusammengekniffen. Reglos liegt er auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, die Hände über dem Kugelbauch gefaltet, den Blick starr nach oben gerichtet. Im ersten Moment könnte man meinen, er meditiere, ein Mann, der am Fluss nach Ruhe und Einkehr sucht, auf einem abgelegenen, verwilderten Uferstreifen hundert Meter unterhalb des Wehrs an der alten Papiermühle. Doch die ungewöhnliche Stellung des kleinen Mannes – Kopf und Oberkörper liegen im seichten Uferwasser, Hüfte und Beine auf der flachen Böschung – passt nicht dazu. Und bei näherem Betrachten bemerkt man, dass sämtliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen ist. Sieht die vor Kälte blauen Lippen. Das Klebeband, das sich um seine Handgelenke schlingt. Die rostigen Enden der Eisenstäbe, die links und rechts dicht neben seinem Hals aus dem trüben Wasser ragen, offensichtlich tief in das sandige Flussbett getrieben. Und man erkennt die Gestalt am Ufer, die scheinbar unbeteiligt im Schatten einer knorrigen Trauerweide auf einem umgestürzten Baumstamm hockt, in der Hand einen Ast, mit dem spitzen Ende Muster in den feuchten Sand malend.

Das, wiederholt der kleine Mann in Gedanken, ist also das Ende. Es kommt ein bisschen früh. Ich hätte noch eine Menge zu erledigen gehabt.

Der Schlag mit dem Pistolengriff war hart, doch die Wunde schmerzt kaum. Das muss am Wasser liegen, es ist kalt, Kopf und Oberkörper sind bereits taub. Selbst an den Füßen friert er, was komisch ist, schließlich sind seine Beine trocken. Ansonsten spürt er keine Schmerzen, jedenfalls nicht, wenn er still liegen bleibt. Sein Geist ist klar, er konzentriert sich allein auf das Luftholen. Einatmen. Ausatmen, den Mund gespitzt wie ein Fisch. Der Blick der himmelblauen Augen ist leer, wie nach innen gerichtet.

Keine Angst. Keine Panik. Aber er ärgert sich. Wie ein Dummkopf hat er sich übertölpeln lassen. All die Toten, wie viele waren es? Vier? Fünf? Sie könnten noch am Leben sein. Das Leid, er hätte es verhindern können, wenn er die Zusammenhänge nur früher erkannt hätte.

Der Fluss schiebt sich träge nach Norden, umspült sein Kinn, den Hals. Ohren, Mund und Nase ragen knapp aus dem Wasser. Sein Haar, dünne rötliche Strähnen, hat sich von der Glatze gelöst, treibt neben seinem Kopf in der Strömung wie rostfarbene Algen.

Einatmen. Ausatmen.

Aus den Augenwinkeln registriert er eine Bewegung, die Gestalt unter der Trauerweide steht auf. Ein Knie knackt, Schritte knirschen im Sand, verstummen. Dann hört der kleine Mann die Stimme. Diese Stimme, die so anders klingt, als er sie in Erinnerung hat. Kühl klingt sie, sachlich, als sie feststellt, dass die Situation eindeutig sei, unangenehm zwar, aber eindeutig. Dass der kleine Mann nun sterben müsse, habe nichts mit persönlicher Abneigung zu tun, im Gegenteil, doch angesichts der Tatsachen sei sein Tod eine zwar unschöne, aber logische Konsequenz.

Das weiß ich, denkt der kleine Mann. Erzähl mir was, das ich nicht weiß.

Das tut die Stimme, denn als sie sagt, dass das, was zwischen den Eisenstäben links und rechts von seinem Kopf gespannt ist, ein Sägeblatt ist, strafft sich der kleine Mann. Er hat mit einem dünnen Draht gerechnet, einer Klaviersaite vielleicht, dicht unter der Wasseroberfläche quer über seinen Hals verlaufend, direkt unter dem Kinn. Er spürt es kaum. Nicht, wenn er still liegen bleibt. Versucht er allerdings, den Kopf zu heben, schneidet ihm das Metall sofort in die weiche Haut über dem Kehlkopf.

Ruhig bleiben. Einatmen. Ausatmen.

Schreien, erklärt die Stimme, sei sinnlos. Auch das ist dem kleinen Mann bewusst, sie befinden sich außerhalb der Stadt, in unbewohntem, waldigem Gebiet. Kein zufällig vorbeikommender Spaziergänger kann ihn vom Ufer aus sehen, und wenn der kleine Mann um Hilfe riefe, würde das Tosen des Wehres seine Schreie übertönen.

Kleidung raschelt, die Gestalt am Ufer bückt sich, hebt etwas auf. Glucksend landet ein Stein im Wasser, nur wenige Zentimeter vom Kopf des kleinen Mannes entfernt. Erschrocken kneift er die Augen zusammen, versteift sich. Seine Hacken graben sich in den weichen Ufersand, er hebt den Kopf. Sofort presst sich der gezackte Draht gegen seine Kehle, reflexartig will er die Arme heben, um nach seinem Hals zu greifen. Erfolglos, das Klebeband um seine Handgelenke ist mehrfach um die Gürtelschlaufen seiner zerbeulten Cordhose geschlungen, die Hände sind fest auf dem Bauch fixiert.

Er sinkt zurück. Schließt die Augen. Ignoriert den brennenden Schmerz an der Kehle. Die Kälte. Fühlt das Wasser, das an seinem Kopf entlangströmt, über den Hals, den Mund. Spürt den bitteren, schlammigen Geschmack, eklig und unangenehm, ebenso wie den Blick des anderen. Kalt, belustigt, erbarmungslos sieht er auf ihn hinab.

Der kleine Mann presst die Lippen aufeinander, atmet wieder durch die Nase. Ein. Aus. Wieder ein. Nicht betteln. Ruhig bleiben. Konzentrieren.

Das, erklärt ihm derweil der Mann am Ufer, sei ein kleiner Vorgeschmack. Der Wasserspiegel steige seit ein paar Tagen und würde es weiter tun wie jedes Jahr um diese Zeit. Wie lange es im Endeffekt dauern würde, könne niemand genau sagen. Minuten vielleicht. Oder ein paar Stunden. Länger wahrscheinlich nicht, der kleine Mann habe ja bereits bemerkt, welche Auswirkungen eine winzige Erschütterung habe. Ein paar Zentimeter würden reichen.

Und dann, denkt der kleine Mann, werde ich ertrinken.

Wie gesagt, fährt die Gestalt am Ufer in lockerem Plauderton fort, das alles sei nicht persönlich gemeint. Obwohl es weiß Gott Gründe gäbe, schließlich habe der kleine Mann mit gezinkten Karten gespielt, sich für jemand anderen ausgegeben. Aber das sei verständlich. Irgendwie.

Du hast nur deine Arbeit gemacht, Herr Hauptkommissar.

Keine Antwort. Scheinbar teilnahmslos liegt der kleine Mann im Wasser, bewegt vorsichtig die Schultern. Keine Chance, sich zu befreien. Oberhalb des Halses ist sein Kopf fixiert wie in einem Schraubstock. Unter ihm das Flussbett, sandig, aber fest. Seitlich verhindern die Eisenstäbe neben seinem Hals jede kleinste Bewegung. Das zwischen die Stäbe gespannte Sägeblatt ist dünn, ein paar Millimeter nur, doch die winzigen Zähne sind nadelspitz, dazu geschaffen, Metall zu zerschneiden. Jeder Versuch, den Kopf zu heben, ist tödlich.

Er lauscht dem Plätschern des Wassers und der Stimme, die jetzt über das Wesen des Menschen spricht, darüber, dass es hier nicht um Gefühle gehe, sondern um Instinkte, um die wahre Natur des Menschen. Dieser sei nun mal ein Tier, und als solches denke er zuerst an sich selbst.

Selbsterhaltungstrieb. Ich muss mich schützen.

Ein Windstoß kräuselt das Wasser, Wellen schwappen ans Ufer. Winzig, kaum wahrnehmbar, doch es reicht, die Ohren des kleinen Mannes kurz unter der Wasseroberfläche verschwinden zu lassen. Er hält die Luft an, dann ist es wieder vorbei.

Ich, sagt der Mann am Ufer, habe keine Wahl. Im Gegensatz zu dir. Du kannst selbst entscheiden, wie du stirbst.

Ja, denkt der kleine Mann, ich habe zwei Möglichkeiten. Zum einen kann ich abwarten. Einfach liegen bleiben, bis ich elend ertrinke. Dann bliebe mir ein wenig Zeit. Aber wofür? Zum Nachdenken? Dazu habe ich keine Lust. Um Hoffnung zu schöpfen? Dass er seine Meinung womöglich ändert? Mich am Leben lässt? Nein, das ist Quatsch. Er blufft nicht. Er will meinen Tod. Er will dabei zusehen. Er will es genießen.

Oder du machst es kurz, erklärt der Mann am Ufer, als habe er die Gedanken des kleinen Polizisten gehört. Das Sägeblatt über deinem Hals ist neu, sagt er. Zwanzig Zentimeter gehärteter Stahl, vier Millimeter dick. Gewellte Zähne, mit Molybdän verstärkt. Ein Ruck, eine heftige Bewegung mit dem Kopf, und du kannst es selbst zu Ende bringen.

Kurz, fügt die Stimme mit einem leisen Lachen hinzu. Schmerzlos wahrscheinlich nicht.

Wieder Schritte. Zwei. Drei. Sie kommen näher, der kleine Mann spürt die Erschütterung im weichen Boden. Er könnte den Kopf ein wenig heben, ein klein wenig Spielraum hat er, bis er den gezackten Draht an seiner Kehle fühlt. Dann würde er den Mann am Ufer direkt vor seinen Füßen stehen sehen. Er tut es nicht. Seine Augen bleiben geschlossen.

Ich habe niemanden getötet.

Der Mann am Ufer hebt die Stimme. Nicht nur, um das Rauschen des Wehrs zu übertönen, es scheint ihm wichtig zu sein.

Ich habe die Dinge gesteuert, das ja, sagt er, aber selbst umgebracht habe ich niemanden. Auch dich werde ich nicht eigenhändig töten. Entweder der Fluss tut es. Oder du machst es selbst.

Stumm liegt der kleine Mann da, Kopf und Oberkörper im brackigen Wasser, von der Hüfte abwärts im Trockenen auf dem leicht ansteigenden Ufer, die gefesselten Hände über dem dicken Bauch gefaltet. Wie zum Begräbnis aufgebahrt.

Noch, denkt der kleine Polizist, bin ich nicht tot.

Die Zeit vergeht. Fünf Minuten, vielleicht auch zehn. Unwichtig.

Etwas kitzelt an seinem Ohr. Wasser schwappt über sein Gesicht, dringt in die Nase. Er wehrt sich gegen den Würgereiz. Kämpft gegen den Drang, den Kopf zu heben. Ruhig bleiben. Atmen.

Oh, sagt die Stimme, das Lächeln ist unüberhörbar. Es geht schneller, als ich dachte.

Irgendwo bellt ein Hund.

Dein Tod, fährt die Stimme fort, ist übrigens erst der Anfang. Es ist noch nicht vorbei.

Der Mann am Ufer sieht auf seine Armbanduhr. Sein Blick wandert über die reglos zu seinen Füßen ausgestreckte Gestalt, weiter über den Fluss, verharrt am anderen Ufer, schweift über die steinige Böschung, das dornige Gestrüpp, die kümmerlichen Bäume, deren Äste wie gebleichte Knochen über dem im Mondlicht vorbeiziehenden Wasser hängen. Seine Lippen bewegen sich, er beginnt, leise zu zählen. Rückwärts.

Zehn. Neun. Acht.

Der kleine Mann schluckt. Sein Adamsapfel hebt sich nur ein wenig, doch es reicht, dass sich die winzigen Zacken des Laubsägeblatts in seinen Kehlkopf pressen.

Sieben. Sechs. Fünf.

Der Mann am Ufer stellt sich auf die Zehenspitzen und dreht sich einmal um die eigene Achse, eine elegante, tänzelnde Pirouette.

Vier. Drei.

Er hebt die Arme wie ein Dirigent, der sein Orchester auffordert, sich zum Spiel bereit zu machen.

Zwei. Eins. Und …

Die Arme senken sich ruckartig.

… bitte.

Die Explosion erfolgt wie auf Kommando. Das Timing ist perfekt. Ein tiefes, fernes Dröhnen, flussaufwärts, irgendwo im Zentrum der Neustadt. Kilometerweit entfernt, doch auch hier ist die Erschütterung zu spüren, der Boden vibriert wie bei einem leichten Erdbeben.

Eigentlich, sagt der Mann am Ufer und nickt zufrieden, fängt es gerade erst an.

Vielleicht, denkt der kleine Polizist, dessen Vornamen kaum ein Mensch kennt, wäre es besser, wenn ich schon tot wäre.

Schröder nennen sie ihn. Den dicken Schröder. Weil er dick ist. Und weil die meisten Menschen sich kaum für ihn interessieren, auch nicht für seinen Vornamen.

Der Mond verschwindet hinter den Wolken.

Ein Käuzchen schreit.

Das Wehr rauscht. Das Wasser steigt.

ERSTER TEIL

Knapp zwei Wochen zuvor.

Zwei

Sonntag.

Der Abend war schön. Unzählige Sterne funkelten. Der Mond eine hauchdünne Sichel auf nachtschwarzem Samt. Vom Stadtrand aus, da, wo es dunkel war, konnte man die Milchstraße erkennen, ein schimmerndes Band über den Dächern der Stadt.

Der Mann, der unter der Hochstraße in Richtung Süden lief, bemerkte davon nichts. Sein Blick war stur auf die abgewetzten Spitzen seiner Stiefel gerichtet, die Hände, tief in den Jackentaschen vergraben, beulten das Leder über dem Bauch.

Claudius Zorn ging spazieren. Nicht etwa, weil er es mochte. Nein, im Gegenteil, er hasste Spaziergänge. Aber er hatte keine Wahl. Er brauche Bewegung, hatten die Ärzte schon vor Monaten gesagt, am besten sei Sport, und wenn es auf dieser Welt etwas gab, das Hauptkommissar Zorn am meisten verabscheute, war es Sport – abgesehen von einer langen Liste diverser anderer Dinge, die von nassen Füßen über die BILD-Zeitung bis zu sämtlichen Quizsendungen mit Eckart von Hirschhausen reichte.

Die Fußgängerampel am Kreisverkehr stand auf Rot. Er hielt inne, warf einen kurzen Blick auf die hell erleuchtete Fassade des historischen Waisenhauses gegenüber und lief dann weiter, ohne nach links oder rechts zu sehen. Tagsüber staute sich hier der Verkehr, jetzt, kurz nach elf, lag der Platz unter der Hochstraße wie ausgestorben unter dem nächtlichen Himmel.

Er lief weiter nach Süden, durch eine enge, von Gründerzeithäusern begrenzte Geschäftsstraße, vorbei an Apotheken, Optikern, Reisebüros. Seine Schritte hallten zwischen den Hauswänden wider, der linke Fuß ein wenig lauter als der rechte.

klack KLACK klack KLACK klack KLACK

Das rechte Bein war gut verheilt, trotzdem zog Zorn den Fuß noch ein wenig nach. Zum einen aus Gewohnheit, zum anderen, weil das gelegentliche Stechen im Knöchel äußerst unschöne Erinnerungen weckte, angefangen von einer Explosion, die er nur knapp überlebt hatte, bis zu einer monatelangen, schmerzhaften Therapie in einem Rehabilitationszentrum am Stadtwald.

Gemächlich schlurfte Claudius Zorn durch die Nacht und hing seinen Gedanken nach, die ebenso unschön waren wie die Erinnerungen an die letzten sechs Monate. Mit der linken Hand fischte er seine Zigaretten aus der Innentasche. Ich bin ein Krüppel, dachte er dabei, ein hinkender, verunstalteter Quasimodo. Auch das war natürlich heillos übertrieben und Zorns Hang zu einer gewissen Melodramatik und seiner selbstmitleidigen Natur geschuldet. Ein Charakterzug, der ihm durchaus bewusst war, und den er nach außen hin durch besonders schroffes und mürrisches Auftreten zu verbergen suchte.

Die Straße führte leicht bergauf und mündete nach einem halben Kilometer in einer sanften Kurve in einen weiteren Kreisverkehr. Dort, so war Zorns Plan, würde er nach rechts abbiegen und zurück nach Hause in Richtung Neustadt laufen. Die Nacht war mild, der Duft des nahenden Sommers verdrängte den Gestank der Mülltonnen, die sich auf dem Bürgersteig reihten, und während Zorn gemächlich an den dunklen Schaufenstern eines Kinderbuchladens vorbeischlich, musste er sich widerwillig eingestehen, dass die Stadt durchaus so etwas wie Charme hatte – zumindest nachts, fügte er ein wenig trotzig in Gedanken hinzu.

Irgendwo über ihm wurde ein Fenster geöffnet. Stimmengewirr drang heraus, unterlegt mit Schlagermusik. Du hast mich tausendmal belogen, jammerte eine Frauenstimme, begleitet von billigen Keyboardklängen und einem schleppenden blechernen Beat. Zorn stieß den Rauch durch die Nase und verzog das Gesicht.

Ich bin mit dir so hoch geflogen!

Doch der Himmel war besetzt.

Er hatte keine Ahnung, wie die Sängerin hieß, aber sie gehörte definitiv auf die Liste mit den Dingen, die er am meisten verabscheute.

Du warst der Wind in meinen Flügeln!

Hab so oft mit dir gelacht.

Und zwar, dachte Zorn und beschleunigte seinen Schritt, auf einen der vorderen Plätze, irgendwo zwischen kalte Thunfischpizza und das Quietschen feuchter Kreide auf einer Wandtafel.

Eine Straßenbahn rauschte in seinem Rücken heran. Zorn blieb stehen und beobachtete, wie die Bahn in der Kurve verschwand. Er blinzelte und blies sein Haar aus dem Gesicht, das ihm in dunklen Strähnen fast hinab bis zum Kinn hing. Er hatte es seit Ewigkeiten nicht schneiden lassen, nicht etwa, weil er Friseure hasste – denn auch das tat Claudius Zorn, und zwar aus tiefstem Herzen –, sondern aus einem anderen Grund.

Die Wunden im Gesicht waren gut verheilt, doch die Narben würden bleiben. Ein weißer, gezackter Strich zog sich vom rechten Augenwinkel über die Wange bis hinab zum Hals, umgeben von einem Netz feiner Linien. Auf den ersten Blick nicht sonderlich auffällig, doch Zorn vermied auch jetzt, über ein halbes Jahr nach der Explosion, jeglichen Kontakt mit seinem Spiegelbild. Er kam sich vor wie ein Aussätziger, und obwohl die Blicke der Menschen nur in seiner Einbildung existierten, lief er meist mit gesenktem Kopf durch die Gegend, das Haar wie eine Gardine vor dem Gesicht hängend.

Die Musik aus dem geöffneten Fenster verstummte. Eine Frau schrie in breitestem Sächsisch, dass sie keinen Bock habe, die verfickte Mülltonne

(verfiggde Milldonne)

rauszustellen. Eine tiefe Männerstimme antwortete grummelnd und wurde abrupt vom Knall des zufallenden Fensters unterbrochen, der durch die enge Straßenschlucht hallte.

Mein Gesicht, dachte Zorn und schlurfte weiter, sieht aus wie ’ne Tüte Gehacktes. Ich bin ein Krüppel, ich …

»Haste ma Feuer?«

Die Gestalt, die sich aus dem Schatten eines Hauseingangs löste, war einen halben Kopf kleiner als Zorn. Der Mann trug einen fleckigen Regenmantel, graues, fettiges Haar lugte unter einem umgedrehten Basecap hervor.

»Nee«, brummte Zorn, ohne anzuhalten. Vor ihm leuchtete das rote Schild einer Sparkasse, dahinter wurde die Straße von der Dunkelheit verschluckt. Schritte erklangen hinter ihm, kamen näher.

»Aber du rauchst doch!«

Der Mann klang entrüstet.

»Jetzt«, knurrte Zorn und spuckte die Zigarette aus, »nicht mehr.«

Funkensprühend landete die Kippe zu seinen Füßen und verschwand in einem Gully. Zorn hatte die Hände noch immer tief in den Jackentaschen vergraben, dort ließ er sie auch.

»Was ist mit Kleingeld?« Finger schlossen sich um Zorns Oberarm. »Hast du vielleicht ’nen Euro? Oder fuffzich Cent?«

Zorn blieb stehen. Der Mann sah zu ihm auf, ein falsches, unterwürfiges Lächeln auf den rissigen Lippen. Sein Gesicht leuchtete im blutroten Schein des Sparkassenschildes, als habe er Sonnenbrand.

»Nee«, wiederholte Zorn.

»Ich hab seit Tagen nix gegessen.«

Aber getrunken, dachte Zorn. Man riecht’s meilenweit gegen den Wind.

Und noch etwas anderes nahm Zorn wahr, einen stechenden, unangenehmen Gestank nach verbranntem Plastik.

»Komm schon, Kumpel.«

Der Mann war abstoßend. Schmutzig, unsympathisch. Ein Lügner mit schiefen, verfärbten Zähnen, unrasiert und tagelang nicht gewaschen. Trotzdem hätte Zorn ihm Feuer gegeben, auch etwas Kleingeld hätte er ihm zugesteckt, mürrisch zwar, doch er hätte es getan. Früher, als er noch gesund war. Jetzt tat er’s nicht, denn dazu musste er die Hände aus den Taschen nehmen, die linke war okay, doch die rechte, die war definitiv nicht okay, dieses verkrümmte, krallenartige Ding mit den fehlenden Fingern.

Zorn lief weiter, der Mann folgte ihm. Der Geruch nach verbranntem Plastik wurde stärker, doch Zorn registrierte jetzt, dass der Gestank eine andere Ursache haben musste. Nebelschwaden hingen über der Straße, dahinter flackerte etwas, spiegelte sich auf den Straßenbahnschienen, den Fenstern der links und rechts aufragenden Häuser.

»Dann gib mir ’ne Kippe.« Zorns neuer Begleiter erwies sich als äußerst hartnäckig. »Du hast doch noch welche, oder?«

Zorn antwortete nicht. Sein Blick war nach vorn gerichtet, aufgeregte Stimmen wurden hinter der Kurve laut. Der Rauch wurde dichter, der Geruch stärker.

»Ich weiß, dass du noch welche hast. Erzähl mir nicht, dass das deine letzte war, ich hab ’n Auge für so was. Und außerdem …«

Der Mann verstummte.

Sie hatten die Kurve erreicht. Zorn kniff die Augen hinter der Brille zusammen. Das, was er zunächst für Nebel gehalten hatte, war Rauch. Dicke Schwaden trieben über dem Kreisverkehr, es dauerte einen Moment, bis er die Ursache erkannte, die Flammen, die wie Fackeln auf dem Platz und den sternförmig abzweigenden Straßen loderten. Der Gestank war infernalisch. Schemenhafte Gestalten rannten gestikulierend umher, Zorn sah eine Frau, die stolpernd einen brennenden Kinderwagen über die Straßenbahngleise schob. Funken flogen, glimmende Papierfetzen trieben torkelnd über den Platz wie glühende Schneeflocken. Ein Bild wie von Hieronymus Bosch gemalt.

»Du wolltest doch Feuer«, sagte Zorn, den Blick auf das stinkende Inferno gerichtet. »Da vorn ist mehr als genug.«

Drei

Ignaz, genannt Fascho.

Geil. Einfach nur geil.

Die Augen des schmächtigen Jungen glänzen. Sein Gesicht glüht vor Erregung. Und von der Hitze der Flammen, deren Widerschein über seine pickligen Wangen zuckt. Er hätte längst abhauen müssen, doch er kann nicht, noch nicht, er muss einfach hierbleiben, zusehen und das Werk betrachten.

Sein Werk.

Es ist besser, als er es sich jemals vorgestellt hätte. Er steht zwischen den Gaffern, sieht die Flammen. Die zuckenden Blaulichter. Hört die aufgeregten Stimmen, die ängstlichen Schreie. Und der Geruch erst, der toppt alles.

Scheiße, denkt Fascho, wie geil ist das denn?

Eigentlich heißt er Ignaz. Früher, an der Grundschule, haben sie ihn Nazi genannt, irgendwann kam ein Witzbold auf die Idee, ihn Fascho zu rufen. Ein dämlicher Spitzname, Ignaz ist kein Faschist. Trotzdem gefällt es ihm. Irgendwie. Es klingt gefährlich. Und gefährlich ist er, es weiß bloß niemand.

Es steckt in ihm drin, schon immer. Er kann sich nicht dagegen wehren, ebenso wenig wie gegen das Schwitzen. Sein Körper produziert einfach zu viel Talg, da kann er sich waschen, sooft er will. Er riecht, nein, er stinkt immer nach Schweiß, sein Haar ist ständig fettig.

Er schließt die Augen, bläht die Nasenlöcher wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. Inhaliert den Gestank wie Rosenduft. Nickt zufrieden, der Platz ist gut gewählt. Groß, rund, wie eine Freilichtbühne. Er hat das alles sorgfältig geplant, seit Wochen schon. Sonntagabend rollen die Idioten ihre Mülltonnen auf den Bürgersteig rund um den Kreisverkehr und verziehen sich wieder in ihren spießigen Wohnungen. Der Platz ist in den letzten Monaten saniert worden, Straßenbahnschienen, Asphalt, Haltestelle, alles nagelneu. Die Laternen auch, aber die sind wieder abgebaut worden, weil die Baufirma angeblich minderwertiges Material verwendet hat, so stand’s jedenfalls in der Zeitung. Seit Wochen läuft der Prozess, es gab sogar eine Sondersitzung im Stadtrat. Das alles interessiert Fascho einen feuchten Dreck, wichtig ist nur, dass der Platz seit Ewigkeiten nachts dunkel bleibt. Fascho ist nicht blöd, niemand soll ihn entdecken. Aber das Feuer, das sollen alle sehen. Alle.

Es war einfach. Zwei Runden um den Platz. Die erste in aller Ruhe, im Schutz der Dunkelheit. Mülltonne auf, ein paar Spritzer Brennspiritus rein. Die zweite Runde dann schneller, wie im Rausch ist er mit dem brennenden Feuerzeug von Tonne zu Tonne gerannt, zweiundvierzig hat er gezählt, fein säuberlich in einem großen Kreis aufgestellt.

Scheiße, er liebt dieses Geräusch, dieses WUSCH!, wenn der Spiritus sich entzündet. Zweiundvierzigmal hat er es gehört. Besser als alles auf der Welt. Geiler als Sex. Glaubt er zumindest, bisher hatte er noch keinen. Mädchen gucken ihn nicht mit dem Arsch an, kein Wunder, so, wie er aussieht. Ein pickliger Penner, der nichts auf die Reihe kriegt. Das glauben die zumindest, aber die haben keine Ahnung, was er draufhat. Null Ahnung haben die. Dämliche Fotzen.

Er steht vor dem Eingang eines Wettbüros. Eigentlich müsste er schon längst weg sein, das war zumindest sein Plan, einfach im Schutz der Dunkelheit in einer der sternförmig abzweigenden Straßen verschwinden. Aber er kann einfach nicht weg. Es ist wie ein Magnet, er muss hinsehen. Der Feuerkreis um den Platz, die züngelnden Flammen. Die Menschen, die mit offenem Mund vor ihren Häusern stehen.

»Gott, ist das furchtbar«, sagt eine Frau direkt neben ihm. Die Alte ist mindestens sechzig, sie trägt einen Bademantel und gelbe Hausschuhe, wahrscheinlich wohnt sie direkt über dem Wettbüro.

»Ja«, nickt Fascho. »Furchtbar.«

Er senkt den Kopf, damit sie sein Grinsen nicht sieht. Rauch hängt über dem Platz wie eine Glocke. Überall Gaffer, auf dem Bürgersteig, an den Fenstern. Schräg gegenüber glotzt ein fetter Typ in weißem Unterhemd aus dem zweiten Stock, er hat sich sogar ein Kissen geholt, damit er’s bequemer hat. Aus dem griechischen Restaurant kommt eine Gruppe laut diskutierender Teenager, einige filmen mit ihren Handys. Sirenen heulen auf, kommen näher. Ein großer, langhaariger Kerl in Lederjacke zieht einen unrasierten Penner in Regenmantel und Basecap von der Straße, um Platz für die Feuerwehr zu machen, die mit ohrenbetäubendem Lärm herangerast kommt. Staub wirbelt auf, Blaulicht flackert über den Platz.

Alles wegen mir, denkt Fascho. Ich hab das gemacht.

Ich. Ich. Ich.

Er wehrt sich gegen das Kichern, hält sich sogar die Hand vor den Mund. Aber er kann es nicht unterdrücken, es ist wie ein Schluckauf, ein Niesen. Das Gefühl ist unglaublich, er fühlt sich leicht, frei, irgendwie hibbelig, am liebsten würde er laut losschreien, ich hab das gemacht! Ich! Aber das geht natürlich nicht, er kann’s niemandem erzählen. Das ist scheiße, aber damit muss er leben. Die Zeitungen werden bestimmt drüber schreiben, vielleicht kommt sogar was im Fernsehen.

Geil, einfach nur geil.

Er spürt die Erektion unter den Jeans, heiß, pochend. Seine Finger krallen sich in das Plastik der Spiritusflasche, die er unter dem Kapuzenshirt verbirgt. Er hat sie im Supermarkt gekauft, eins neunundneunzig pro Flasche, ein bisschen ist noch übrig. Er hätte sie längst wegschmeißen sollen, das wird er auf dem Rückweg tun.

Gleich, nicht sofort. Ein bisschen wird er noch zugucken, bis die Bullen kommen. Dann wird er abhauen, aber vorher muss er es so lang wie möglich genießen. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, sieht, wie die Penner von der Feuerwehr aus ihrem Auto springen. Die Mülltonnen sind längst geschmolzen, aber die Feuer, die brennen immer noch. Wieder muss er kichern, lauter jetzt, es ist einfach zu geil, es …

»Wohnst du hier?«

Fascho fährt herum. Der Typ ist direkt hinter ihm, der Langhaarige mit der Lederjacke, den er vorhin schon gesehen hat. Keine Ahnung, wie lange der schon hier steht. Auch nicht, wie er hierhergekommen ist.

»Klar.«

Cool bleiben. Der Kerl sieht nicht aus wie’n Bulle.

»Wo?«

»Da drüben.«

Fascho deutet irgendwo durch den dichten Qualm über den Platz.

»Hast du’n Ausweis?«

»Nee. Jedenfalls nicht hier.«

Fascho wird wütend. Die ganze Euphorie ist weg. Verpufft. Wie Luft aus einem kaputten Reifen. Scheiße, was will der Kerl? Fascho ist einer von vielen, er ist doch nicht aufgefallen unter den ganzen Gaffern, er …

»Dann hol ihn.«

Nee, der Typ sieht wirklich nicht aus wie’n Bulle. Die Haare sind viel zu lang, wie ein Hippie sieht der aus in seiner zerkratzten Lederjacke. Irgendwas stimmt nicht mit dem Gesicht, die eine Hälfte ist ziemlich vernarbt.

»Kann ja nicht so schwer sein, wenn du hier wohnst, oder?«

Fascho blinzelt. Scheiße, er hätte sofort abhauen müssen. Zu spät, aber er kann den Kerl immer noch abwimmeln. Erst mal cool bleiben, zum Gegenangriff übergehen.

»Wieso?«, fragt Fascho. »Bist du’n Bulle?«

Keine Antwort. Der Typ verzieht keine Miene. Der blinzelt nicht mal, lässt Fascho nicht aus den Augen. Keine Sekunde. Steht einfach nur da und guckt. Irgendwie gelangweilt und gleichzeitig wach. Seine Hände stecken tief in den Jackentaschen, als würde er was verbergen.

»Okay«, sagt Fascho. »Ich hol ihn.«

Er muss weg hier. Der erste Streifenwagen steht schon auf dem Platz, ein zweiter kommt gerade um die Ecke. Fascho zuckt die Achseln, wendet sich ab. Sein Herz klopft bis zum Hals, aber er lässt sich nichts anmerken. Betont lässig schlendert er davon, jetzt bloß keine Eile. Zwei Schritte, dann legt sich eine Hand auf seinen Arm.

»Warte«, sagt der Typ. »Was ist mit deinen Augenbrauen?«

Scheiße, denkt Fascho. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich hab mir die Augenbrauen versengt. Wahrscheinlich bin ich total schwarz im Gesicht. Fuck, warum bin ich nicht sofort abgehauen?

»Du hast mir überhaupt nix zu sagen!« Faschos Stimme überschlägt sich. In zwei Wochen wird er achtzehn, trotzdem klingt er, als sei er gerade erst in den Stimmbruch gekommen. »Lass mich los, du Wichser!«

Das Arschloch denkt nicht dran. Seine Finger krallen sich fest in Faschos Oberarm, die rechte Hand steckt noch immer in der Jackentasche. Er verzieht keine Miene. Oder doch? Grinst er?

»Ich hab gesagt …« Fascho will sich losmachen, »du sollst loslassen!«

Er zerrt noch einmal, nimmt alle Kraft zusammen. Keine Chance. Etwas entgleitet seinen Fingern, fällt klappernd zu Boden. Der Typ sieht nach unten, dann wieder in Faschos weitaufgerissene, panische Augen. Falls er bisher nicht gegrinst hat, tut er es jetzt. Unübersehbar.

»Was haben wir denn da?«

Die Spiritusflasche.

Scheiße.

Fascho fängt an zu weinen.

Vier

Montag.

»Melde mich gehorsamst zum Innendienst, Chef.«

Zorn deutete eine Verbeugung an, während Schröder sich mit einem knappen Brummen begnügte, ohne von der Akte aufzusehen, die er gerade durchblätterte.

»Ich hoffe«, Zorn hängte die Jacke auf, »du hast gut geschlafen?«

»Aber sicher doch. Ein wenig kurz vielleicht.«

»Ach.« Zorn sank in seinen Bürostuhl. »Hast du schlecht geträumt?«

»Nein. Ich wurde geweckt. Von meinem Handy.«

»Du Armer.«

»Ich bin mitten in der Nacht angerufen und ins Präsidium gebeten worden, weil am späten Abend ein siebzehnjähriger mutmaßlicher Brandstifter festgenommen wurde«, sagte Schröder. »Und zwar auf Betreiben eines äußerst aufmerksamen Bürgers, der den jungen Mann laut Bericht an zwei Kollegen von der Streife übergeben hat. Der Name dieses aufmerksamen Bürgers ist«, Schröder blätterte zurück, fuhr mit dem dicken Zeigefinger über ein eng beschriebenes Formular, »Claudius Zorn.«

»Echt?«

»So steht’s hier.« Schröder sah kurz auf. »Das scheint ein äußerst bescheidener Mensch zu sein, er wollte den Kollegen zuerst nicht sagen, wie er heißt. Erst nach mehrmaligem Drängen hat er ihnen seine Personalien gegeben.«

»Sachen gibt’s …« Zorn schüttelte den Kopf. »Und dann?«

»Dann hat er ihnen meine Handynummer gegeben und gesagt, dass sie sich an mich wenden sollen.«

»Und dann?

»Ist er verschwunden.«

»Einfach so?«

»Ja«, nickte Schröder. »Einfach so.«

Er verschränkte die kurzen Arme vor der Brust und sah Zorn ausdruckslos an.

»Vielleicht«, sagte Zorn, »hatte er ja was Wichtiges zu tun, dieser, äh …«

»Zorn«, half Schröder. »Claudius Zorn.«

»Genau.«

»Oder«, Schröder deutete mit dem Doppelkinn auf die Akte, »er hatte einfach keine Lust auf den Schreibkram.«

Ein paar Sekunden vergingen. Schröder hatte sich frisch rasiert, seine Wangen glänzten rosig, doch der Blick, mit dem er Zorn musterte, war kühl. Schließlich war es Zorn, der das Schweigen brach.

»Nun spiel’ hier nicht die beleidigte Leberwurst.«

»Mach ich nicht.«

»Ich wollte mich heute früh drum kümmern.«

Keine Antwort.

»Und außerdem«, Zorn fuchtelte mit der gesunden Hand durch die warme Büroluft, »ich konnte nix machen. Echt nicht.«

Schröder hob stumm die Brauen.

»Ich wollte ja.« Zorn senkte die Stimme. »Aber ich durfte nicht.«

»Warum, wenn man fragen darf?«

Zorn klopfte mit dem linken Zeigefinger auf die Tischplatte, unter der seine verstümmelte Hand auf dem Oberschenkel ruhte.

»Ich hab Innendienst.«

»Das«, nickte Schröder, »ist mir bekannt.«

»Und wer Innendienst hat, darf draußen nicht arbeiten.«

»Wer sagt das?«

»Die … äh …, die Vorschrift. Deshalb heißt’s ja Innendienst. Sonst müsste es Draußendienst heißen. Ich weiß, wie doof das ist«, seufzte Zorn, »aber ich darf leider nur innerhalb geschlossener Räume arbeiten, Schröder. Wir wollen ja beide nicht, dass ich mich strafbar mache, ich meine …«

»Sei bitte so gut«, unterbrach Schröder, »und sag mir, was genau passiert ist, ja?«

Es geschah selten, doch selbst Claudius Zorn hörte den leicht gereizten Unterton heraus. Er räusperte sich, wurde ernst und erzählte, allerdings blieb er nicht ganz bei den Tatsachen. Die Begegnung mit dem unrasierten Schnorrer zum Beispiel erwähnte Zorn nicht, und aus dem abendlichen Spaziergang wurde in seinen Worten ein spätes, knallhartes Jogging (du weißt schon, um wieder in Form zu kommen, Schröder). Erst, als es um das eigentliche Thema ging, kehrte er zur Wahrheit zurück.

»Das war Zufall. Ich weiß nicht, wie viele Leute dort waren, vielleicht fünfzig. Alle waren total schockiert, und dann steht da einer dazwischen und lacht. Ich meine, überall ist Chaos, es brennt, es stinkt. Und diese halbe Portion guckt sich das an und grinst wie’n Honigkuchenpferd.«

»Er ist dir also aufgefallen.«

»Yes«, nickte Zorn. »Der war völlig aufgedreht. Sein Gesicht war total verrußt. Und er hat nach Spiritus gestunken wie’n Wiedehopf.«

»Und das alles hast du mitgekriegt?«

»Klar. Der Kerl war verdächtig, also hab ich ihn mir näher angeguckt.«

»Sehr gute Beobachtungsgabe.« Schröder schob anerkennend die Unterlippe vor. »Das war hervorragende Arbeit.«

»Manchmal«, Zorn senkte bescheiden den Blick, »kann ich mich einfach nicht dagegen wehren. Du kennst das ja, einmal Bulle, immer Bulle.«

»Stimmt, das kenn ich.« Schröder stemmte sich aus seinem Stuhl, kam um den Schreibtisch herum und baute sich vor Zorn auf. »Da wären allerdings zwei Dinge, die ich mit dir klären muss.«

»Ach.«

Schröder sah ernst auf Zorn hinab.

»Du hast also einen Verdächtigen bemerkt, hast ihn zur Rede gestellt und dafür gesorgt, dass er in Gewahrsam kommt. Richtig?«

Zorn blinzelte verwirrt. Er hatte keine Ahnung, worauf Schröder hinauswollte. Aber es war definitiv nichts Gutes.

»Als dein Vorgesetzter«, fuhr Schröder fort, »bin ich verpflichtet, die Fakten zu betrachten und danach zu handeln. Und nach Lage der Dinge …«

Scheiße, dachte Zorn. Er hat mich am Arsch.

»… hast du gestern Abend einen eklatanten Verstoß gegen die Vorschriften begangen.«

Schröder musterte Zorn aus zusammengekniffenen Augen.

»Moment, Schröder, ich …«

»Du hast gearbeitet, obwohl du Innendienst hast!«

»Aber nur ganz kurz!«

»Außerhalb geschlossener Räume!«

»Aber nicht mit Absicht!«

»Das kann jeder behaupten!«

Ein letzter, äußerst ernster Blick, dann ging Schröder zum Fenster. Dort stand er eine Weile mit auf dem Rücken gefalteten Händen, wippte auf den Zehenspitzen vor und zurück. Zorn lauschte dem leisen Knarren seiner altmodischen Ledersandalen. »Weißt du, was ich die ganze Zeit überlege?«, fragte Schröder schließlich. Die Morgensonne spiegelte sich auf seiner Glatze.

»Ob du mich vom Dienst suspendierst?«

»Nee, für heute belasse ich’s bei einer mündlichen Rüge.«

»Gracias, Schröder.«

»De nada.« Schröder wandte sich um, lehnte sich an die Heizung und fuhr mit der flachen Hand nachdenklich über den kahlen Schädel. »Ich frage mich was anderes.«

»Das wäre?«

»Was ist eigentlich der Plural von Wiedehopf?«

»Keine Ahnung.« Zorn zuckte die Achseln. »Wiedehopfe?«

»Oder Wiedehöpfe?«

»Keine Ahnung«, wiederholte Zorn. »Und es ist mir auch scheißegal. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich gesagt, dass der Verdächtige gestunken habe wie ein Wiedehopf. Singular.«

»Richtig. Jedenfalls, was die Behauptung betrifft, der Wiedehopf stinke. Das liegt am Feindverhalten. Wenn der Vogel angegriffen wird, sondert er ein übelriechendes Sekret aus der Bürzeldrüse ab, um den Angreifer zu vertreiben. Eindeutig falsch hingegen ist die Behauptung, der Wiedehopf stinke nach Spiritus, das kann der gar nicht, selbst wenn er wollte. Es sei denn, er hätte eine Tankstelle überfallen oder …«

»Okay«, seufzte Zorn, »ich hab’s verstanden.«

Er langte über den Tisch nach der Akte, schlug sie auf.

»Ignaz Stein«, las er. »Wo ist der Typ jetzt?«

»Er hat alles zugegeben. Das Jugendamt war da. Im Moment redet die Staatsanwaltschaft mit ihm.«

»Wer genau übernimmt … ich meine …«

Zorn schluckte, stellte die Frage dann doch nicht. Das war auch nicht nötig. Schröder, der trotzdem wusste, was gemeint war, nickte stumm.

Ach, dachte Zorn, du fehlst mir, Frieda. Du fehlst mir sehr.

*

»Du bist minderjährig, Ignaz. Du musst nicht mit mir reden, wenn du nicht willst.«

Die Alte sah gut aus, fand Fascho. Relativ jung für eine Staatsanwältin, höchstens dreißig. Die Titten vielleicht ein bisschen zu klein, aber ansonsten ziemlich geil.

»Betrachte es einfach als Gespräch. Ich will mir ein Bild von dir machen. Du bist nicht verpflichtet, es zu führen.«

F. Borck stand auf dem Messingschild an der Bürotür. Staatsanwaltschaft. Fascho fragte sich, wofür das F wohl stand. Franziska?

»Ist schon okay«, sagte Fascho.

»Entschuldige das Chaos.« Die Staatsanwältin deutete auf einen Stapel Umzugskartons, das halbleere Regal hinter ihrem Schreibtisch. »Ich bin beim Ausräumen. Du bist sozusagen mein letzter Fall.«

Fascho saß auf der vordersten Kante des Stuhls, die Hände auf den Knien gefaltet. Der Rücken leicht gekrümmt wie ein reumütiger Teenager, der Mist gebaut hat. Fascho hoffte zumindest, dass es so wirkte.

»Ich darf dich doch duzen?«, fragte die Staatsanwältin.

»Klar.«

Du darfst alles. Du darfst mir sogar den Schwanz lutschen.

»Du wohnst bei deiner Mutter?«

»Ja. Ich … ich hab vorhin mit ihr telefoniert. Sie holt mich nachher ab.« Fascho sprach leise, stockend, den Blick auf die Hände gerichtet. Seine Stimme zitterte, aber nur ein bisschen. Nicht übertreiben. »Ich … ich weiß selbst nicht, warum ich das gemacht habe.«

»Aber das solltest du.«

Sie lehnte am Schreibtisch, sah auf ihn hinab. Kühl, aufmerksam. Die spielt definitiv in der Oberliga, dachte Fascho und stellte sich vor, wie sie ohne diesen dämlichen Hosenanzug aussehen würde.

»Was hast du dir dabei gedacht?«

Schweigen. Dann ein kurzes Nagen an der Unterlippe.

»Ich …«, ein ratloses Kopfschütteln, »das war dämlich.«

»Du hättest die halbe Stadt abfackeln können.«

Fascho sah es vor sich. Brennende Dächer, rauchende Trümmer. Er dachte an die Hitze, roch den Qualm. Senkte den Kopf, damit sie sein Grinsen nicht sah.

»Es ist ein Glück, dass niemand verletzt wurde.«

»Ja«, hauchte Fascho. »Ein Glück.«

Sie wandte sich um, blätterte in einer Akte auf ihrem Schreibtisch. Sein Blick wanderte an ihrem Rücken nach unten. Geiler Arsch. Klein und fest. Die Umrisse des Schlüpfers zeichneten sich unter dem dünnen Hosenstoff ab. Er stellte sich vor, wie er mit einer heißen Nadel hineinstach. Brennendes Kerzenwachs, das auf ihren Hintern tropfte. Ein Feuerzeug, mit dem er über ihre Oberschenkel strich, die feinen Härchen versengte, das fand die bestimmt geil, obwohl sie so cool tat. Sie würde ihn anbetteln, dass er weitermachte, anflehen würde sie ihn, los, tu mir weh, ich brauch das, ich …

»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«

Er tauchte wieder auf, sie stand vor ihm, sah ihm direkt in die Augen. Der Puls dröhnte in seinen Ohren. Sie hatte irgendwas von Anklageerhebung gefaselt, Verhandlung, Jugendstrafrecht.

Wieder murmelte Fascho, dass es ihm leidtue. Dass es nie wieder vorkommen würde, nie, nie wieder. Er wusste genau, wie er auf andere wirkte, er war hässlich, da musste man sich nichts vormachen, hässlich wie die Nacht mit dem spitzen Vogelgesicht, den engstehenden Augen, dem Überbiss und dem schmalen, verkniffenen Mund. Oft genug wurde er deswegen gehänselt, doch jetzt konnte das von Vorteil sein, bei Erwachsenen zumindest. Die meisten hatten Mitleid mit dem kleinen, rattenköpfigen Außenseiter, dem man sofort ansah, dass er nicht gemocht wurde, nicht gemocht werden konnte. Niemand ahnte, dass es Fascho egal war. Völlig egal, doch er hatte gelernt, dieses Wissen zu nutzen, so wie er’s bei dem Penner vom Jugendamt gemacht hatte, den sie ihm geschickt hatten. Naiv wirken, ein bisschen zurückgeblieben, trotzdem harmlos. Es hatte geklappt, er hatte den Kerl um den Finger gewickelt, und genau das würde er auch mit dieser Staatsanwältin tun. Die machte hier einen auf obercool, aber in Wahrheit wollte die einfach mal ordentlich durchgevögelt werden, so richtig, mit allem Drum und Dran. Fascho schluckte, der Gedanke war einfach zu geil, aber er musste sich konzentrieren. Im Moment war nur wichtig, dass er schnell aus dieser Sache rauskam.

»Ich …«, er knetete die Hände im Schoß, versuchte, seiner Stimme einen kindlichen Ausdruck zu verleihen, »ich werde für den Schaden aufkommen.«

Scheiße, wenn er nur nicht so schwitzen würde. Wie ein Schwein.

»Das wirst du, Ignaz. Aber wenn du glaubst, die Sache hätte sich mit ein paar Sozialstunden erledigt, dann hast du dich geschnitten.«

»Es tut mir leid.«

»Das sagtest du bereits.«

Fascho runzelte die Stirn. Irgendwas lief hier schief. Und zwar gewaltig.

»Weißt du was? Ich kauf dir das nicht ab.« Ihre Augen verengten sich. »Du ziehst hier ’ne Nummer ab, aber damit lass ich dich nicht durchkommen. Das war keine Kurzschlusshandlung, kein Dumme-Jungen-Streich.«

Natürlich nicht. Aber was, dachte Fascho, soll der ganze Aufriss? Wegen ein paar verkohlten Mülltonnen und ’nem angekokelten Kinderwagen? Spiel dich hier nicht so auf. Dämliche Kuh.

Sie kam näher. Er roch ihr Parfum. Irgendwas Teures, Exotisches.

»Du hast das alles geplant«, sagte sie ruhig. »Hast dir den Brennspiritus besorgt. Warum bist du nicht abgehauen? Du wolltest es so lange wie möglich genießen, kann das sein?«

Er sah zu ihr auf. Sie erwiderte seinen Blick. Kühl, sachlich.

»Ich bin noch nicht sicher, welche Strafe ich für dich beantragen werde. Aber Fakt ist eins: Du brauchst Hilfe, Ignaz.«

»Ich weiß nicht, was Sie damit …«

»Professionelle Hilfe.«

Eine Viertelstunde später verließ Ignaz Stein, genannt Fascho, das Büro mit hängenden Schultern. Diesmal war seine Verzweiflung nicht gespielt, und als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, streifte sein Blick noch einmal das polierte Messingschild: F.  Borck. Staatsanwaltschaft.

Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

Er wusste jetzt, wofür das F stand.

Fotze.

*

»Hallo Frieda«, sagte er, ohne die Augen zu öffnen.

Zorn wusste, dass sie es war, noch bevor er ihr Gewicht neben sich auf der Bank spürte. Vielleicht lag es am Klang ihrer Schritte, vielleicht an ihrem Geruch, einer Mischung aus frischgeschnittenen Blumen und duftender Seife. Egal, er wusste es einfach.

»Hi«, sagte sie.

Es war kurz nach Mittag. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, spiegelte sich dutzendfach auf der verglasten Rückseite des Präsidiums wie in einem gesplitterten Spiegel.

»Hast du alles gepackt?«, fragte er.

Noch immer blieben seine Augen geschlossen. Er hatte die Arme auf der Lehne ausgestreckt, hielt das Gesicht in die Sonne.

»Fast.« Sie seufzte leise. »Ist ja nicht viel. Und es sind ja noch ein paar Tage Zeit.«

»Gibst du eigentlich ’ne Party?«

»Warum?«

»Zum Ausstand. Ich meine«, er streckte die Beine, die Hacken seiner Stiefel scharrten über den Kies, »macht man das nicht so, bevor man ’ne neue Stelle antritt? Eine kleine Abschiedsfeier unter Kollegen? Mit Sekt und Schnittchen und so?«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie saß neben ihm, den Rücken kerzengerade, die Hände auf dem Schoß gefaltet.

»Bist du immer noch sauer?«, fragte sie. »Ich dachte, wir hätten lange genug darüber gesprochen.«

Das hatten sie. Und anfangs war Zorn tatsächlich sauer gewesen, allerdings nur kurz. Bis er eingesehen hatte, dass er nicht das Recht dazu hatte. Es war ihre Entscheidung, eine Stelle bei der Generalstaatsanwaltschaft anzutreten, und er wusste, dass sie sich diese Entscheidung nicht leichtgemacht hatte. Er selbst war viel zu feige, sich zu einem Neuanfang aufzuraffen, und sah auch keinen Grund dazu, seine kleine, bequeme Welt zu verlassen. Nur die Tatsache, dass sie ihn nie gefragt hatte, ob er mitkommen wolle, nagte noch immer an ihm, obwohl er es sich nicht eingestehen wollte.

Die Landeshauptstadt war nicht einmal hundert Kilometer entfernt, eigentlich ein Katzensprung, doch Zorn fragte sich immer wieder, wie (ob?) es mit ihnen weitergehen sollte. Viele Menschen führten eine Fernbeziehung, das war nichts Außergewöhnliches, doch Claudius Zorn war ja kaum in der Lage, aus der Nähe eine zu führen.

Sie schwiegen eine Weile.

»Dieser Junge«, sagte sie schließlich, »der Brandstifter, den du letzte Nacht festgenommen hast, er …«

»Ich hab ihn nicht festgenommen«, unterbrach Zorn. »Ich hab ihn«, er dehnte die Stimme, »den zuständigen Organen übergeben.«

»Ich mein’s ernst, Claudius.« Das hätte sie nicht aussprechen müssen, ihr Blick sagte mehr als genug. »Der wollte nicht einfach nur rumkokeln, da steckt mehr dahinter. Er ist nicht strafmündig, hat einen festen Wohnsitz. Also mussten wir ihn erst mal gehen lassen. Ich hab ihn dazu verdonnert, den psychologischen Bereitschaftsdienst anzurufen.«

Zorn hob eine Augenbraue.

»Darfst du das?«

»Nee.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber es wird ’ne Weile dauern, bis es zur Verhandlung kommt. Ich will nicht, dass er noch mal Mist baut. Vielleicht hilft’s ihm, wenn er mit jemandem redet. Irgendwas stimmt nicht mit dem. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.«

»Schröder wird sich drum kümmern.«

»Wie immer.«

»Ja«, nickte Zorn. »Wie immer.«

Er blinzelte in den stahlblauen Himmel. Der Wind rauschte im Gebüsch hinter ihm, ein Zweig streifte seinen Nacken. Frieda sah auf die Uhr.

»Ich muss wieder ins Büro.«

Sie trug ihr Haar anders. Heller, das natürliche Rotbraun durch eine Tönung verstärkt, die wilden, widerspenstigen Locken im Nacken kurz geschnitten. Sie sah schön aus, fand Zorn, etwas seriöser vielleicht. Aber schön. Wunderschön.

»Bleib noch ein bisschen, Frieda.«

»Ich hab noch ’ne Menge zu erledigen. Und ich muss meine Klamotten packen, ich …«

»Lass uns über was anderes reden.«

»Worüber?«

»Keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln. »Was Schönes.«

»Okay«, nickte sie. »Dann reden wir über was Schönes.«

Ihre Blicke trafen sich.

»Mir fällt grade nichts ein«, sagte sie. »Hast du ’ne Idee?«

Nein. Die hatte Zorn nicht.

Fünf

»Das ist alles?«

»Ja«, nickte Fascho. »Mehr war da nicht.«

Der Typ sah definitiv nicht aus wie ein Psychologe, fand Fascho. Jeans, weiße Turnschuhe, hellblaues Abercrombie & Fitch-T-Shirt. Dreißig, höchstens Mitte dreißig. Dichtes, lockiges Haar, Dreitagebart. Er hatte sich als Marek vorgestellt, nicht als Dipl.-Psych. Marek Schleef, wie auf dem Schild am Eingang unter der Aufschrift Freies Therapiezentrum Neustadt – Psychologische Praxis zu lesen war. Die Begrüßung war knapp gewesen, ein kurzer, fester Händedruck, dann war Fascho mit einem Kopfnicken aufgefordert worden, auf einem der beiden cordbezogenen Sessel Platz zu nehmen.

»Du bist also dabei erwischt worden, wie du aus Langeweile ein paar Mülltonnen angezündet hast«, sagte Marek Schleef. »Die Polizei hat dich eine Nacht festgehalten, dann wurdest du unter der Auflage freigelassen, dass du dich beim Bereitschaftsdienst meldest. Und die wiederum haben dich zu mir geschickt.«

Wieder nickte Fascho. Er hatte keine Mühe gehabt, die Adresse zu finden. Drei langgestreckte, zweigeschossige Betonflachbauten bildeten so etwas wie das Zentrum der Neustadt, boten Platz für zwei Apotheken, diverse Imbisse, ein Nagelstudio, eine kleine Postfiliale und ein halbes Dutzend Secondhand-Läden. Die Praxis befand sich im Obergeschoss des mittleren Flachbaus über einem verlassenen Küchenstudio, dessen Fenster mit Spanplatten vernagelt waren. Fascho kannte die Gegend wie seine Westentasche. Früher hatte er ständig hier rumgehangen, auf der bröckelnden Skaterbahn neben dem verwahrlosten Spielplatz im grauen Schatten der Hochhäuser.

»Ich sollte dir ein paar Dinge erklären.« Schleef schob eine dünne Nickelbrille auf der Nase zurecht. Das einzige Detail, das zum Bild eines Psychologen passte. »Die Praxis ist fünf Tage pro Woche geöffnet, trotzdem ist es schwer, einen Termin bei mir zu bekommen. Einmal in der Woche habe ich abends Bereitschaft, da sieht’s anders aus. Meist passiert nicht viel, ich hänge hier rum, erledige irgendwelchen Kram und langweile mich. Insofern bin ich dir dankbar für die Abwechslung. Das ist die eine Sache. Die andere ist, dass du nicht hättest herkommen müssen.«

Fascho sah überrascht auf.

»Wenn ich das richtig sehe, wird es irgendwann zur Verhandlung kommen.« Schleef saß ihm gegenüber, die Beine übereinandergeschlagen, der linke Turnschuh wippte auf und ab. »Niemand kann dich zu einer Therapie zwingen, es sei denn, es gibt einen Gerichtsbeschluss.«

»Dann …« Fascho runzelte die picklige Stirn. »Dann hat mich diese …«

Fotze

»… Staatsanwältin also verarscht.«

»So weit würde ich nicht gehen. Ich kenne die Dame nicht, aber sie wird ihre Gründe gehabt haben. Allerdings ist das nebensächlich, ich arbeite grundsätzlich weder mit der Polizei noch mit irgendwelchen Gerichten zusammen. Es geht mir um die Leute. Alles, was hier gesprochen wird, bleibt in diesem Raum. Mir ist scheißegal, ob jemand Ärger mit dem Gesetz hat, es geht darum, zu helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe«, murmelte Fascho.

»Okay.«

Schleef zuckte die Achseln, stemmte sich aus dem Sessel, streckte den Rücken und unterdrückte ein Gähnen. Der kräftige Oberkörper zeichnete sich unter dem T-Shirt ab. Nein, er sah definitiv nicht aus wie ein sesselfurzender Seelenklempner. Eher wie ein Fußballer. Oder ein Rockmusiker.

»Dann kann ich gehen?«, fragte Fascho.

»Sicher doch.«

Schleef hatte sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt, wandte sich einem Stapel Briefe zu. Fascho sah sich unschlüssig in dem schmucklosen Büro um. Graue Auslegware, passend zu den beiden Sesseln. Vergilbte Gipskartondecke mit viereckigen eingelassenen Neonlampen. Keine Pflanzen, kein Schmuck, bis auf das schwarzweiße Motörhead-Plakat neben dem Ikea-Regal. Ansonsten nur ein weißer Kleiderschrank und ein Waschbecken neben der Tür, darüber ein kleiner, ungerahmter Spiegel.

»Es turnt dich an, oder?«

Schleef klang beiläufig. Er hatte einen der Briefe geöffnet, studierte eine Rechnung.

»Was?«

»Das Feuer, Ignaz.« Ein kurzer Blick aus dunklen, fast schwarzen Augen über den Brillenrand. »Es macht dich geil.«

»Bullshit!«

»Die Narben an deinen Händen«, fuhr Schleef seelenruhig fort und öffnete den nächsten Brief, »und die am Hals. Das sind Brandwunden, oder? Du machst das schon, seit du klein bist.« Er überflog eine weitere Rechnung, schürzte die Lippen und schob sie beiseite. »Das kann Hertha erledigen. Meine Sekretärin«, fügte Schleef hinzu, als habe Fascho nachgefragt. »Sie hat Urlaub. Normalerweise krieg ich gar nicht mit, was sie den lieben langen Tag so macht, aber wenn ich mir das so ansehe«, seufzend betrachtete er den Stapel mit den restlichen Briefen, »sollte ich ihr ’ne Gehaltserhöhung geben.«

Er sah Fascho an, als erwarte er eine Antwort. Dieser hockte wie festgenagelt in seinem Sessel, hektische Röte überzog seine pickligen Wangen.

»Ach komm, Ignaz.« Ein feines Lächeln teilte die Lippen von Marek Schleef, begleitet von einem kaum merklichen Kopfschütteln. »Ich erkenne, wenn jemand lügt. Das gehört zu meinem Job. Ich hab dich beobachtet, als du vorhin erzählt hast. Man nennt das Körpersprache. Blickrichtung, Augenkontakt, Stimmlage, ich will dich jetzt nicht mit Kleinkram nerven, aber …«

»Ich muss mir diese Scheiße nicht anhören!«

Fascho sprang so heftig auf, dass der Sessel fast umkippte.

»Nee, musst du nicht.«

Schleef hob entschuldigend die Hände, wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. Die kleinen Augen des Jungen blitzten vor Wut, seine Hände ballten sich in den Taschen des Kapuzenshirts. Er sah zur Tür. Wollte weg. Raus hier. Einfach nur raus.

»Eins würde ich dir gerne noch sagen, Ignaz. Wenn ich darf.«

Etwas in Schleefs Stimme ließ Fascho innehalten.

»Du musst dir keine Vorwürfe machen. Jeder Mensch hat seine Eigenheiten. Was abartig ist, bestimmst du selbst. Nicht die Gesellschaft.«

Schleef saß zurückgelehnt an seinem Schreibtisch, spielte mit einem Kugelschreiber. Hinter ihm fiel die Abendsonne schräg durchs Fenster. Draußen wurden Stimmen laut, zwei Betrunkene stritten um ein Bier.

»Manche lassen sich gern schlagen, manche führen ’ne glückliche Beziehung mit ’nem Staubsauger. Ich zum Beispiel steh auf Füße. Brüste oder Hintern sind mir egal, ich bin«, er tippte sich an die Schläfe, »halt anders konditioniert.«

Ein Bild tauchte vor Faschos Augen auf, er sah den Psychologen nackt an einem Frauenzeh lutschen, schob es schnell wieder weg.

»Du findest das eklig, aber es ist mir egal. Es ist meine Sache, solange ich niemandem schade. Verstehst du, was ich meine?«

Das tat Fascho irgendwie, aber irgendwie auch nicht.

»Du kokelst gern«, fuhr Schleef fort. »Na und? Es gibt einen Fachbegriff dafür, Pyromanie. Das klingt wie ’ne Krankheit, aber du bist nicht krank oder bekloppt. Du bist anders. Feuer hat die Menschheit verändert, hat sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Die meisten haben das vergessen. Du nicht. Du bist was Besonderes.«

Was Besonderes?, dachte Fascho. Ich?

»Hättest du Lust, ein paar Leute kennenzulernen? Sie sind bei mir in Behandlung, aber sie mögen es nicht, wenn man sie als Patienten bezeichnet. Du musst nicht sofort antworten«, unterbrach Schleef, als Fascho den Mund öffnete. »Wir treffen uns regelmäßig hier. Einfach so, zum Reden. Ab und zu unternehmen wir was zusammen, machen Ausflüge und so. Ein paar von ihnen nennen’s die Freakshow. Dämlicher Name, ich weiß, aber er ist nicht von mir.« Schleefs Grinsen wirkte wie das eines Teenagers. »Komm einfach vorbei, wenn du Lust hast. Du kannst dich in die Ecke setzen und zuhören. Wenn du nicht willst, erfahren die anderen nicht mal deinen vollen Namen. Es läuft ein bisschen ab wie bei den Anonymen Alkoholikern, niemand muss reden, wenn er nicht will. Wenn du’s doof findest, haust du wieder ab. Aber ich denke, es könnte dir gefallen.«

*

Als Ignaz Stein wenig später im hereinbrechenden Abend durch die Betonwüste der Neustadt nach Hause schlurfte, gingen ihm drei Dinge durch den Kopf. Der erste Gedanke galt seiner Mutter, mit der er in einer winzigen Zweizimmerwohnung an der Magistrale lebte und deren nervendes Gebrabbel er jetzt mindestens zwei Stunden lang würde über sich ergehen lassen müssen, genauer gesagt bis Viertel nach acht. Erst dann würde sie Ruhe geben, eine Tüte Chips aus der uralten Anbauwand holen, ihren fetten Hintern auf das zerschlissene Sofa hieven und die nächste Zeit vor der x-ten Wiederholung von Grey’s Anotomy verbringen wie ein gestrandeter Pottwal. Faschos zweiter Gedanke galt Schleef (Marek? Sollte er den Typen wirklich Marek nennen?), der gesagt hatte, er sei was Besonderes. Das war neu für Fascho, eine irritierende, gleichzeitig faszinierende Vorstellung für jemanden, dessen einziges nennenswertes Erfolgserlebnis aus einem zweiten Platz in der Matheolympiade bestand; kurz nach der Einschulung, ein paar Jahre, nachdem sein Vater die Familie wegen einer rumänischen Prostituierten verlassen hatte. (Was auch verständlich war. Scheiße, wer wollte sein Leben schon mit einem sprechenden Fleischkloß verbringen?)

Schleef war Psychologe, aber er hatte ihn nicht behandelt wie einen Patienten. Klar, der Typ war mit allen Wassern gewaschen, und die Behauptung, er würde auf Füße stehen (Fascho verzog das Gesicht, die Vorstellung war wirklich verdammt eklig), war bestimmt nur eine Masche gewesen, um Fascho zu manipulieren. Trotzdem, er hatte ihn ernst genommen, auf Augenhöhe behandelt, und das war irgendwie … schmeichelhaft.

Das war Faschos zweiter Gedanke, und auch der dritte drehte sich um Marek Schleef, beziehungsweise um das, was dieser zum Abschied gesagt hatte.

Akzeptier dich, wie du bist. Hauptsache, du schadest niemandem.

Er trug es in sich, seit er denken konnte. Nein, die stundenlangen Spiele, die hatten niemandem geschadet, damals, als er klein gewesen war, allein mit einer Kerze in seinem muffigen Zimmer, unbeobachtet von seiner Mutter, die nebenan vor der Glotze gehockt hatte. Das alles war harmlos gewesen. Auch später, als er angefangen hatte, im Internet nach Filmen zu suchen, Pornos, in denen nackte Frauen mit Kerzenwachs und heißem Öl traktiert wurden, auch da hatte er definitiv niemandem geschadet, er hatte einfach nur dagesessen, stundenlang, eine Hand auf der Computermaus, die andere an seinem pochenden Schwanz.

Er erreichte die Magistrale, bog nach links ab und lief stadtauswärts. Über ihm flackerten Laternen auf, er näherte sich dem Eingang zu seinem Wohnblock, einem von Dutzenden, äußerlich kaum zu unterscheidenden Eingängen entlang der vierspurigen, von Straßenbahnschienen geteilten Schnellstraße, und während der Verkehr an ihm vorbeirauschte, dachte Fascho, dass jetzt alles anders war. Nicht etwa wegen letzter Nacht. Die Aktion mit den Mülltonnen war cool gewesen, keine Frage. Aber nichts, absolut nichts im Vergleich zu der Sache vor einem Monat.

Die Plakate hingen immer noch an den Laternenmasten. Ein paar jedenfalls, von der Sonne gebleicht, an den Rändern zerfetzt. Grobkörnige Schwarzweiß-Kopien mit dem Foto eines Hundewelpen, der aus großen, feuchten Augen in die Kamera glotzte. WER HAT UNSEREN BALDUIN GESEHEN? war in fetten Buchstaben unter dem Foto zu lesen. Darunter stand eine Telefonnummer und der Hinweis auf eine Belohnung.

Nun, Fascho wusste, wo der kleine Köter war, doch die Belohnung – immerhin fünfzig Euro – würde er sich nicht holen können. Aber das machte nichts. Kein Geld der Welt wog das auf, was Fascho erlebt hatte, nachdem er den Hund mit einem Wurstbrot in den Wäschekeller gelockt hatte.

Er hatte sich Zeit gelassen. Und er hatte alles abgespeichert, jede Einzelheit. Den Geruch des brennenden Fells. Das Jaulen. Das Strampeln im Todeskampf.

Das, was er dazu benutzt hatte, lag sicher versteckt im Wäschekeller in einer Umhängetasche hinter den Heizungsrohren. Lötlampen. Brennspiritus. Feuerzeuge. Nadeln, Zangen und Scheren, die Spitzen schwarz und verrußt, nachdem sie über dem Feuer geglüht hatten.

Fascho erreichte den Eingang zu seinem Block. Auf der anderen Straßenseite schräg gegenüber erhob sich die hell erleuchtete Fassade des Multiplexkinos wie ein riesiges Raumschiff. Vor den Mülltonnen blieb Fascho stehen.

Akzeptier dich, wie du bist, hatte der Psychologe gesagt.

Das tat Fascho. Die Frage war, wo es enden würde. Sicherlich, letzte Nacht war gut gewesen. Definitiv gut. Aber es waren nur Mülltonnen. Ein Test. Ein Vergleich. Er wusste jetzt, was besser war. Noch geiler war es, wenn das, was da brannte, sich bewegte.

Atmete.

Wie würde es sein, wenn es nicht bellte, sondern um Hilfe rief?

*

Der folgende Tag verlief ruhig. Claudius Zorn verbrachte ihn in gewohnter Manier (mehr oder weniger gelangweilt vor dem Computer sitzend), Schröder kümmerte sich um den Rest der Arbeit (was zugegebenermaßen nicht viel war), während Frieda Borck für ihren Nachfolger die Anklage gegen Ignaz Stein wegen vorsätzlicher Brandstiftung vorbereitete. Nach Feierabend trafen sich die drei, holten Edgar, Zorns mittlerweile knapp dreijährigen Sohn, aus dem Kindergarten ab und fuhren zu Schröders kleinem Haus am Rand des Stadtwalds. Edgar verbrachte den größten Teil des Nachmittags auf einer blauen Plastikschaukel, die Schröder ihm in den Zweigen einer Kiefer aufgehängt hatte, Zorn und Frieda saßen auf der Terrasse unter einem gelben Sonnenschirm, aßen Schröders selbstgebackenen Pflaumenkuchen und unterhielten sich über Nebensächlichkeiten, während Schröder mit Unkrautzupfen beschäftigt war. Zorn war nicht ganz bei der Sache, seine Aufmerksamkeit galt seinem schaukelnden Sohn. (Schröder war ein guter Handwerker, klar, er hatte die Schaukel sicher stabil befestigt, und rausfallen konnte Edgar auch nicht, aber der Baum war alt, was war, wenn der verdammte Ast brach?) Gleichzeitig drehten sich seine Gedanken um die frustrierende Frage, warum um alles in der Welt niemand die Zeit anhalten konnte, das musste doch irgendwann mal möglich sein.

Am Abend begann es zu nieseln. Als Zorn später in seiner Wohnung im vierzehnten Stock eine Tiefkühlpizza in den Ofen schob, brachte Ignaz Stein, genannt Fascho, kaum einen Kilometer Luftlinie entfernt endlich den Müll runter, nachdem ihn seine Mutter stundenlang genervt hatte, doch wenigstens ein bisschen im Haushalt zu helfen.

Der Regen wurde stärker. Missmutig stopfte Fascho den Müllbeutel in die Tonne, rümpfte die Nase wegen des Gestanks. Er wollte eilig zurück, hielt noch einmal inne, den Blick auf die grauen, schief stehenden Tonnen gerichtet. Die Stelle, an der er vor ein paar Wochen den verkohlten Hundekadaver im Gebüsch verscharrt hatte, war kaum noch zu erkennen. Fascho zog die Kapuze über den Kopf und dachte an die letzten Worte des Psychologen.

Hauptsache, du schadest niemandem.

Tja. Hier lag der Hund begraben.

Im wahrsten Sinne des Wortes.

Sechs

Mittwoch.

»Melde mich gehorsamst zum …«

»Auch dir«, unterbrach Schröder, »einen schönen guten Morgen, Chef.«

»… Innendienst«, vollendete Zorn.

Schröder sprang auf, half dem verwunderten Zorn aus der Jacke, führte ihn zum Schreibtisch und drückte ihn sanft in den Bürostuhl.

»Ich hab nachgedacht«, sagte er.

»Ach«, brummte Zorn. »Hast du das?«

Er ahnte, nein, er wusste, dass Schröder etwas im Schilde führte. Aber was? Misstrauisch beäugte er über den Rand seiner Brille, wie Schröder gemächlich zu seinem Platz ging, die Hände auf dem Tisch faltete und einen Moment mit gesenktem Kopf verharrte.

»Wir kennen uns jetzt schon sehr lange«, begann Schröder schließlich. »Als dein Vorgesetzter und als Freund weiß ich, wie wichtig dir deine Arbeit ist.«

Ach du Scheiße. Es ging um die Arbeit.

»Du hast eine schwere Reha hinter dir«, fuhr Schröder mit salbungsvoller Stimme fort. »Du hast hart und tapfer an dir gearbeitet. Sehr hart, und das rechne ich dir hoch an.«

Das war eindeutig übertrieben, aber ein Fünkchen Wahrheit enthielten Schröders Worte dennoch. Die Reha war definitiv schmerzhaft gewesen, Zorn hatte sich gequält, um wieder auf die Beine zu kommen. Allerdings nicht, weil er seinen Job so unendlich liebte, sondern weil er einen Deal mit Schröder gemacht hatte. Wenn Zorn sich Mühe gebe, hatte Schröder angeboten, würde er den Schnauzbart abnehmen, den er sich vor ein paar Monaten hatte wachsen lassen. Allein das war ein Grund gewesen, sich anzustrengen. Nicht der Hauptgrund, aber der dämliche Schnäuzer war weg. Und jedes Mal, wenn Zorn in Schröders glattrasiertes, rosiges Gesicht blickte, empfand er eine diebische Freude ob dieses Triumphes über seinen ehemaligen Untergebenen, der jetzt sein Vorgesetzter war.

»Ich habe dich in den letzten Wochen beobachtet«, sagte Schröder ernst. »Und ich merke, wie du dich quälst. Wie sehr dich dieses Nichtstun belastet.«

Okay, dachte Zorn, du willst mich mal wieder verarschen. Dann spielen wir eben ein Spielchen, du kleiner moppliger Scheißer.

»Das stimmt«, sagte er und senkte traurig den Kopf. »Dieses ständige Rumsitzen ist wirklich schlimm. Ich würde mich so gern stärker einbringen, dir mehr helfen, aber was soll ich machen? Dieser verdammte Innendienst.«

»Herrje«, nickte Schröder, »das verstehe ich. Und wir wollen ja beide nicht, dass du dich strafbar machst. Aber ich kann einfach nicht mehr mit ansehen, wie sehr du dich zermürbst. Wir sollten etwas dagegen unternehmen, findest du nicht?«

»Ach«, winkte Zorn ab, »ich komm schon klar. Ich muss ja.«

Er kratzte sich unbehaglich die vernarbte Wange, gleichzeitig versuchte er, ein lässiges Grinsen aufzusetzen. Es gelang ihm nicht. Natürlich nicht.