Zorn - Wie du mir - Stephan Ludwig - E-Book
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Zorn - Wie du mir E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Hauptkommissar Claudius Zorn und der dicke Schröder ermitteln in ihrem vertracktesten Fall, der Zorn alles abverlangt. Der sechste Band der Kult-Thriller-Serie von Bestseller-Autor Stephan Ludwig Hauptkommissar Claudius Zorn kann es nicht fassen, als er am Morgen seines fünfundvierzigsten Geburtstags neben Staatsanwältin Frieda Borck aufwacht. Wie, bitteschön, konnte das passieren? Auf dem Präsidium kommt es fortan zu peinlichen Zusammentreffen der beiden, und zwischendurch wartet Zorn wie ein liebeskranker Teenager darauf, dass die Staatsanwältin auf seine SMS antwortet. Doch eigentlich hat Zorn noch ein viel gravierenderes Problem: Schröder und er ermitteln in einem neuen Fall, die Leiche eines jungen Mannes wurde an einen Baum gefesselt am Flussufer gefunden. In seinem Oberschenkel steckt ein Zimmermannsnagel, ein möglicher Hinweis auf Folter. Schröder bittet Zorn, die Anruferliste auf dem Handy des Toten durchzugehen. Zorn, nicht ganz bei der Sache, kümmert sich erst viel zu spät darum. Nur, um auf etwas zu stoßen, was er lieber nie gefunden hätte. Denn der Tote hat kurz vor seiner Ermordung eine Nummer gewählt, die Zorn kennt. Und plötzlich steckt Zorn mitten in etwas drin, das ihn vor ein schier unlösbares moralisches Dilemma stellt … Der sechste Fall für Hauptkommissar Claudius Zorn und den dicken Schröder Zorn und Schröder sind auch Fernseh-Stars. Alle Bände der Zorn-Reihe sind mit Stephan Luca und Axel Ranisch in den Hauptrollen fürs Fernsehen verfilmt.

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Seitenzahl: 479

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Stephan Ludwig

ZORN 6 - Wie du mir

THRILLER

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzig

Und da er sah einen Schädel auf dem Wasser treiben, redete er ihn an und sprach: Weil du ertränkt hast, ertränkte man dich, und die dich ertränkten, werden ertrinken. Talmud

Eins

Zweitausendfünf. Mitte Februar.

Er lag auf dem Rücken und zählte die Sterne.

Es war kalt, sehr kalt. Ein eisiger Windhauch wehte durch die Schlucht, streifte die schroff um ihn aufragenden Felsen, rauschte in den Wipfeln der froststarren Bäume. Sein Atem kondensierte in der klirrenden Luft. Spitze, scharfkantige Steine bohrten sich in seine Haut.

Er spürte es nicht. Er zählte.

Funkelndes Licht auf nachtschwarzem Samt. Ein ovales, flimmerndes Leichentuch, gesäumt von den Rändern des Talkessels. Knorrige, von Alter und Wind gekrümmte Bäume krallten sich hoch oben in den felsigen Grund, reckten die kahlen Äste in die Dunkelheit.

Er lag genau in der Mitte der Schlucht. Ein älterer Herr Mitte fünfzig, die dünnen Beine ausgestreckt, die Arme flach neben dem nackten Körper. Reglos, als nähme er ein Sonnenbad an einem heißen, stickigen Hochsommertag. Seine Haut schimmerte bläulich, das spärliche Haar auf der mageren Brust war mit Raureif überzogen, hob und senkte sich im ruhigen Takt seines Atems. Ansonsten bewegte er sich nicht. Nur seine Augen, starr nach oben gerichtet, blinzelten ab und zu.

Er zählte.

Acht. Neun. Zehn.

Weiter kam er nicht, dann fing er von vorn an. Wie viele Male er das bisher wiederholt hatte, wusste er nicht. Oft, sehr oft. Er lag schon eine Weile hier. Es ging nicht um das Ergebnis, wie auch? Es gab keines. Eine unvorstellbare Menge. Myriaden, wie es hieß. Äonen. Unendlich viele Sterne in unendlich vielen Größen. Unendlich weit entfernt.

Und schön. Unendlich schön.

Sinnlos, sie zu zählen.

Er tat es trotzdem, um die Zeit des Wartens zu verkürzen.

Ein stilles, zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Die Lippen, bleich, blutleer, hatten die Farbe von bröckelndem Beton angenommen. Die Spur seiner bloßen Füße zog sich über hundert Meter in einer schnurgeraden Linie auf der hauchdünnen Schneedecke vom Eingang der Schlucht bis zu der Stelle, an der er nun lag. Seine Sachen baumelten in den Zweigen einer Kiefer, jedes Kleidungsstück sorgfältig aufgehängt wie an den Haken einer Garderobe. Darunter standen seine schwarzen Lackschuhe, bedeckt von den in der Mitte gefalteten Strümpfen.

Anfangs hatte er die Kälte noch gespürt, das Ausziehen war nicht einfach gewesen. Der altmodische Filzhut und der Kaschmirschal, den Katja ihm damals zu ihrem fünften Hochzeitstag geschenkt hatte, waren schnell abgestreift gewesen, doch mit dem schweren Wollmantel hatte er Probleme gehabt. Seine Finger waren taub gewesen, es hatte eine Weile gedauert, bis er die samtüberzogenen Knöpfe geöffnet hatte.

Er hatte alles zurückgelassen, dort, am Eingang der Schlucht neben dem Plateau, auf dem im Sommer die Bühne für die Freiluftkonzerte errichtet wurde. Fast alles. Seine Finger tasteten neben den nackten Oberschenkeln über den gefrorenen Schotter, schlossen sich um kaltes Messing.

Ein Schatten huschte über ihm durch die Nacht. Ein Vogel, wahrscheinlich eine Krähe. Vielleicht auch ein Habicht, er hatte gelesen, dass die Tiere sich immer mehr in den Städten breitmachten, langsam, aber unbarmherzig verdrängt aus ihren natürlichen Lebensräumen. Lautlos verschwand der Vogel hoch oben zwischen den Bäumen. Irgendwo dort, sagte man, hatte im Mittelalter der Galgen gestanden, von dem die Schlucht ihren Namen hatte. Wo genau, wusste niemand, doch die Gehenkten, hieß es, würden noch immer umgehen.

Deshalb hatte er diesen Ort nicht ausgesucht. Er glaubte nicht an das alberne Getuschel über ruhelose Tote, deren klagende Rufe in mondlosen Nächten von den zerklüfteten Felsen widerhallten. Sicherlich, er hätte es woanders zu Ende bringen können, doch hier war er richtig. Es fühlte sich zumindest richtig an, er war kein analytisch denkender Mann, er war Musiker, ein Bauchmensch. Oft genug hatte er auf der großen Bühne unter den Felsen gesessen, die Trompete an den Lippen, den Blick über das Notenpult auf den Dirigenten und die Köpfe der andächtig lauschenden Masse gerichtet, ein paar Dutzend Meter von der Stelle entfernt, an der er jetzt lag. Das war der Grund, warum er diesen Ort gewählt hatte. Sicherlich, es war lange her, doch hier war er zufrieden gewesen, der Gedanke an diese Momente hatte etwas Tröstliches.

Ein Käuzchen schrie. Einmal, noch einmal, dann verhallte der Schrei, ging unter im misstönenden Kreischen der Bremsen einer S-Bahn. Das Echo schwebte eine Weile zwischen den Felsen, dann war es wieder still, abgesehen vom stetigen Rauschen des nächtlichen Verkehrs und dem ruhigen, gleichmäßigen Schlag seines Herzens.

Puck. Puck.

Er schloss die Augen.

Puck. Puck.

Schneekristalle hingen in seinen Wimpern.

Puck. Puck.

Dies war der Ort. Das Ziel. Sein Leben lang war er darauf zugesteuert, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er hätte es nicht verhindern können, auch nicht, wenn er gewollt hätte. Es war logisch. Die letzte, endgültige Konsequenz. Er war angekommen, nach vierundfünfzig Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen. Endlich.

Die Frage war nur, warum es so lange gedauert hatte.

Eine weitere Böe fegte durch die Schlucht. Trockener, pulvriger Schnee wirbelte auf, sank wieder herab. Sein Körper glänzte, bedeckt mit einer hauchzarten Schicht. Puderzucker auf kaltem, erstarrtem Kerzenwachs.

Er hatte ihn immer in sich getragen, diesen Wunsch nach Ruhe. Sein Dasein war geprägt gewesen von einer unerklärlichen Trübsal, einer freudlosen Mischung aus Tristesse und Melancholie. Der einzige Halt, den er gefunden hatte, war die Trompete. Er war gut, hieß es, einer der besten, bekannt für seine glasklare, sichere Intonation, ein virtuoser Meister seines Fachs. Trotzdem, glücklich war er nie gewesen. Zufrieden vielleicht, abgelenkt von der Musik für einen gewissen Zeitraum, ein kurzes Auftauchen aus sumpfigem Morast.

Ein paar Wochen vor seinem vierzigsten Geburtstag war Katja gekommen und mit ihr das Glück. Dieser dunkle Drang, alles hinter sich zu lassen, verzog sich allmählich, und später, als die Kinder kamen, als sie eine Familie wurden, verschwand er für ein paar Jahre.

Jedenfalls so lange, wie sie bei ihm waren.

Zuerst war Katja gegangen. Ein Blutgerinnsel, hatten die Ärzte gesagt. Ein schneller, gnädiger Tod, hatten sie gesagt. Schicksal, hatten sie gesagt, nicht zu ändern.

Der Schmerz hatte ihn fast zerrissen. Ein wütendes Tier, das nie wieder von seiner Seite weichen sollte. Trotzdem hatte er weitergemacht. Ein Vater muss für seine Kinder da sein. Für die Jungs, gerade erst in die Schule gekommen. Und für Sascha, die Kleinste. Die Nachzüglerin. Die Schönste von allen. Sascha, die ihrer Mutter folgte, bevor sie zehn Jahre alt wurde. Schreiend, in einem qualvollen, diabolischen Höllenritt, umgeben von einem Meer aus Blut.

Er öffnete die Augen. Sein Körper war taub, jegliches Gefühl war aus ihm gewichen. Er spürte die Kälte nicht, sein Hirn, von Tabletten und Alkohol umnebelt, gaukelte ihm eine wohlige Wärme vor. Wieder begann er zu zählen, sein Blick wanderte über den funkelnden Himmel. Eine Sternschnuppe zog in einem majestätischen Bogen über ihn hinweg, er sah, wie der Lichtschweif hinter den Bäumen verglühte.

Ein Wunsch, schoss es ihm von Ferne durch den Kopf, er konnte sich etwas wünschen. Ein Lächeln teilte seine bleichen Lippen, es gab nichts mehr, das er wollte. Nur diesen einen, endgültigen Wunsch, den er sich jetzt endlich erfüllte.

Seinen Tod.

Er hatte lange gewartet. Selbst, nachdem Sascha gestorben war, hatte er noch ein paar Jahre durchgehalten. Hatte gekämpft, um die Schuldigen zu bestrafen, ein sinnloser Kampf, den er verloren hatte. Spätestens da hätte er Schluss machen müssen, doch er war nicht allein gewesen, seine Söhne, sie waren zu jung, hatten niemanden außer ihm. Er hatte weitergemacht, war durch sein Leben gestrampelt wie ein Schwimmer mit bleiernen Gewichten an den Füßen, nicht, um das Ufer zu erreichen, sondern einzig und allein mit dem Ziel, endlich versinken zu dürfen.

Ein ferner, einsamer Glockenschlag hallte durch die Nacht. Stille, dann ein zweiter. Die Turmuhr der Backsteinkirche auf der anderen Seite des Flusses, tagsüber ging das Läuten im städtischen Lärm unter. Dort, auf dem Hügel stand das Haus, in dem er zuletzt mit seinen Söhnen gelebt hatte. Sie schliefen jetzt, tief und fest. Morgen früh würden sie pünktlich aufwachen, er hatte ihnen den Wecker gestellt, damit sie nicht zu spät zur Schule kamen. Das Frühstück stand auf dem Küchentisch, Cornflakes und frische Milch, er hatte ihre Wintersachen zurechtgelegt, sie sollten sich nicht erkälten. Erst letzte Woche hatte er ihnen neue Mäntel gekauft, sie wuchsen so schnell. Je älter sie wurden, desto mehr erinnerten sie ihn an ihre Mutter.

Trotzdem. Sie waren immer noch zu jung, viel zu jung.

Doch er hatte nicht mehr warten können.

Er war beim Arzt gewesen. Eigentlich, um das Zittern behandeln zu lassen, ein gelegentliches, unkontrollierbares Zucken der Muskeln. Zunächst hatte er es in den Beinen bemerkt. Kurze, schwache Stromstöße, die irgendwann auch an den Armen auftraten. Er hatte Angst gehabt, dass seine Hände in Mitleidenschaft gezogen würden, seine Finger, er brauchte sie zum Trompete spielen. Sein Geist, hatte er gedacht, mochte womöglich verrücktspielen, er hatte keinen Einfluss darauf, doch sein Körper sollte gefälligst bis zum Ende funktionieren.

Dann hatte er die Diagnose bekommen.

Er hatte immer geahnt, dass etwas nicht stimmte. Die Trauer, die sein Gemüt umgab wie ein schmutziger Kokon. Die Todessehnsucht, die manchmal aufkeimende, unerklärliche Wut. Aussetzer, Zeitsprünge. Dieses Zittern. Alles hing zusammen.

Er war krank. Unheilbar krank. Sein Weg war von Anfang an vorgezeichnet gewesen, seit seiner Geburt. Er würde als zuckendes, schreiendes Bündel enden. Es gab keine Medikamente. Keine Therapie.

Es lag in den Genen. Eine Erbkrankheit, weitergegeben von Generation zu Generation. Ein Fluch, der über seiner Familie lag, sie trugen es in sich. Sein Großvater, der sich eine Schrotflinte in den Mund gesteckt hatte. Sein Onkel, erstickt am eigenen Erbrochenen. Seine Großtante, verblutet, nachdem sie versucht hatte, sich selbst die Gebärmutter zu entfernen. All die anderen, versunken in Wahnsinn, Depression und Demenz.

Es war Schicksal. Ein chemischer Prozess, der das Hirn vergiftete, die Zellen nach und nach implodieren ließ. Dieses Gift, er hatte es weitergegeben. Die Wahrscheinlichkeit lag bei fünfzig Prozent, hatte der Arzt gesagt. Einer seiner Söhne trug es in sich, statistisch gesehen. Womöglich beide.

An diesem Punkt hatte er aufgegeben. Er konnte es ihnen nicht sagen, sie waren zu jung. Helfen konnte er ihnen ebenfalls nicht, wie auch? Er war nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen.

Ein Mensch, hatte er gedacht, ist dazu da, die zu schützen, die er liebt. Wenn er das nicht kann, ist er nutzlos.

Er hatte es aufgeschrieben, irgendwann würden sie es lesen. Vielleicht würden sie damit zurechtkommen, besser als er. Vielleicht auch nicht. Er würde es nie erfahren.

Wieder schlug die Glocke. Drei dünne, klägliche Schläge, wie ein fernes, ängstliches Rufen. Nein, er hatte keine Angst. Weder Angst noch Schmerzen. Sein Körper war längst taub, passte sich der Umgebungstemperatur an. Ein logischer Prozess. Reine Physik.

Die Sterne verschwammen über ihm, verschmolzen miteinander, ein pulsierendes, flimmerndes Wabern. Sein Kopf sank zur Seite, ein dürrer, steifgefrorener Grashalm streifte seine Wange, er spürte es nicht. Die Trompete lag neben ihm, kaum einen Meter entfernt zwischen reifbedecktem Unkraut und gefrorenen Hundehaufen. Eisblumen schimmerten auf dem geschwungenen Messing, er wollte die Hand heben, noch einmal über die Ventile streichen, eine letzte Berührung zum Abschied. Seine Muskeln gehorchten nicht.

Nur sein Herz schlug noch.

Puck.

Leiser jetzt.

Puck.

Langsamer.

 

Puck.

 

Gut so, er war müde.

 

 

Puck.

 

 

Dann kam sie endlich.

 

 

 

Puck.

 

 

 

Die Ruhe.

Zwei

Jetzt.

Scheiße.

Ein Wort, das im Leben des Claudius Zorn eine besondere Bedeutung hatte. Er benutzte es häufig, in den verschiedensten Variationen und Lautstärken. Im Laufe der Jahre hatte er eine beachtliche Bandbreite entwickelt, sie reichte vom resignierten Stoßseufzer über diverse Zwischentöne bis zum martialisch gebrüllten Wutschrei. Manchmal, in Abhängigkeit der Sachlage, benutzte er das Wort in Verbindung mit einem Adjektiv, auch hier war die Auswahl alles andere als originell –»verdammte«, »verfickte« oder »dämliche Scheiße« – in den meisten Fällen allerdings blieb es bei diesen beiden Silben.

Scheiße.

Zum einen, weil sein Wortschatz relativ begrenzt war – Hauptkommissar Zorn mochte viele Eigenschaften haben, Kreativität gehörte definitiv nicht dazu –, zum anderen hatte er oft die Gelegenheit, er war ein Mensch, der ständig in Situationen kam, die einfach nur als beschissen zu bezeichnen waren. Irgendwo in seinem Inneren musste der liebe Gott einen Magneten verbaut haben, er zog das Pech an, tappte mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit in jede Falle, sein Weg, da war er sicher, war gepflastert mit Fettnäpfchen in allen erdenklichen Größen, Formen und Farben.

Scheiße.

Es kam selten vor, dass Claudius Zorn das Wort direkt nach dem Aufwachen benutzte, doch in dieser kühlen, feuchten Novembernacht, kurz vor dem Morgengrauen war es das erste, was ihm durch den Kopf ging. Der Kontext allerdings war neu. Zorn war weder wütend noch traurig, auch nicht genervt oder frustriert.

Er war verwirrt.

Er war nackt. Und er war müde.

Drei, vier Stunden hatte er höchstens geschlafen. Im Flur brannte das Licht, ein schmaler Strahl drang durch die halboffene Tür ins Schlafzimmer. Die Decke lag irgendwo am Fußende des Betts auf dem Teppich, im Schlaf musste er sich freigestrampelt haben.

Die Matratze bewegte sich. Die Frau neben ihm wandte ihm den Rücken zu, schläfrig murmelnd kuschelte sie sich tiefer in das gestreifte Kissen. Sie war ebenfalls nackt, ihre Schulterblätter bewegten sich unter der glatten Haut. Das lange, lockige Haar floss wie Wasser über das Laken, sie zog die Bettdecke über die schmalen Hüften, kratzte sich im Schlaf an der Wade und lag wieder still.

Zorn gähnte, schloss die Augen. Überlegte, wie er sich verhalten sollte, wenn sie aufwachte. Ein lässiges Grinsen vielleicht, ein Kuss auf die Wange oder ein lockerer Spruch. Ein paar Worte nur, nett, aber trotzdem cool.

Scheiße konnte er ja schlecht sagen.

Er drehte sich zu ihr um, legte den Arm um ihre Schulter, atmete ihren Duft. Lauschte ihrem ruhigen Atem. Spürte ihre Wärme. Ihr Haar kitzelte seine Nase.

Irgendwas, dachte er, muss ich mir einfallen lassen. Irgendwas.

Er schlief wieder ein.

*

Der zerlumpte Mann hatte es eilig.

Die schiefgetretenen Absätze seiner klobigen Schuhe klapperten auf dem Bürgersteig, der rissige Beton war feucht, verschwand teilweise unter einer glitschigen Schicht aus nassem, verwelktem Laub. Es war noch dunkel, das Licht der Laternen spiegelte sich auf der mit Kopfstein gepflasterten Straße. Die fleckigen Dächer der verfallenen Mietskasernen waren feucht von nächtlichem Tau.

Er lief zügig, mit kurzen Schritten, bestrebt, das Obdachlosenheim so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Die Nacht war schlimm gewesen, wie immer. Seit zwölf Jahren lebte er jetzt auf der Straße, trotzdem, er würde sich wohl nie daran gewöhnen. An das Schnarchen der anderen, den Gestank nach Männerschweiß und Urin.

Nach hundert Metern blieb er stehen. Sah sich schnaufend um, stellte fest, dass er allein war. Dann lief er weiter. Langsamer jetzt, mit hängenden Schultern, das unrasierte Kinn in den Maschen eines zerschlissenen Wollschals vergraben, den Blick aus alter Gewohnheit zu Boden gerichtet, jederzeit auf der Suche nach etwas, das sich zu Geld machen ließ.

Er stand immer vor den anderen auf, um als Erster seine Runde drehen zu können. Zwei Kilometer die Straße entlang, bis sich die Fahrbahn teilte und vierspurig in Richtung Südstadt führte. Die Papierkörbe am Straßenrand wurden erst am späten Vormittag geleert, er sammelte die Flaschen ein, das Pfandgeld reichte für zwei, drei Bier, manchmal fand er genug, um sich ein Päckchen Tabak leisten zu können. Er bettelte nicht wie die meisten anderen, schnorrte keine Zigaretten. Diesen letzten, kläglichen Rest Würde hatte er sich bewahrt.

Er lief an einem schiefen Bauzaun entlang, Unkraut rankte zwischen den Maschen empor. Dahinter erstreckte sich die graue Fassade eines halbfertigen Sportcenters. Der Bau ruhte seit Jahren, das Dach war nie gedeckt worden, leere Fensterhöhlen gähnten in mit Graffiti verschmiertem Beton. Im Sommer schlief er manchmal in der Ruine, notdürftig mit Zeitungen zugedeckt, zwischen rostenden Eisenträgern und altem Baumaterial.

Sein Atem dampfte in der kühlen Luft. Es roch nach nassem Laub und kaltem Rauch, der raue Duft des Herbstes. Bald würde der erste Frost kommen, die harte Zeit des Jahres.

Der erste Papierkorb. Er bückte sich, wühlte mit einem Stock in den Abfällen. Keine Flaschen, stattdessen förderte er ein grünes Einwegfeuerzeug zu Tage. Ein Klicken, mit einem zufriedenen Nicken betrachtete er die gelbliche Flamme, verstaute das Feuerzeug in einer Tasche seines speckigen Wintermantels und schlurfte weiter.

Eine Straßenbahn rauschte vorbei. Er sah nicht auf, das halbe Dutzend Menschen in den Wagen interessierte ihn nicht. Es war eine andere Welt, längst nicht mehr die seine. Noch vier Papierkörbe lagen auf seinem Weg, dann würde er den Parkplatz vor dem Supermarkt kontrollieren. Beim nächsten Papierkorb hatte er mehr Glück, eine Bierflasche mit Bügelverschluss. Fünfzehn Cent, nicht schlecht für den Anfang.

Er verstaute die Flasche in einer Plastiktüte. Vor ihm vollzog die Straße eine Rechtskurve, sein Blick fiel auf die andere Straßenseite, er kniff die geröteten Augen zusammen. Gegenüber befand sich eine verwilderte Laubenkolonie zwischen den leerstehenden Häusern, ein wenig zurückversetzt von der Straße. Sein Interesse galt der Bank auf dem schmalen Grünstreifen, besser gesagt dem, was dort zwischen leeren Pizzaschachteln, zerknüllten Zigarettenpackungen und angebissenen Dönerresten im zertretenen Gras verstreut lag.

Ein paar Teenager mussten letzte Nacht dort gefeiert haben, sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihren Müll zu beseitigen – das taten sie nie. Allerdings hatten sie mehr hinterlassen als wertlose Essensreste. Sicherlich, dachte er, weil sie zu betrunken gewesen waren, vielleicht war es ihnen einfach egal. Wahrscheinlich beides.

Er zählte drei, nein vier braune Flaschen. Die Schnapsflasche war wertlos, die silbern schimmernden Red-Bull-Dosen allerdings brachten fünfundzwanzig Cent pro Stück, es schien fast ein Dutzend zu sein.

In der Ferne erklang das tiefe Dröhnen eines Diesels. Er beachtete es nicht, er rechnete. Drei Euro lagen dort drüben neben der Bank, wenn nicht mehr. Er betrat die Straße, im Laufen streifte er den Rucksack ab, die Tüte würde nicht reichen. Rechts von ihm näherte sich das Motorengeräusch, dicke Reifen holperten über Kopfsteine, ein schwerer Wagen näherte sich, er fuhr schnell, noch verborgen hinter der Kurve.

Der zerlumpte Mann erreichte die Straßenmitte, blieb auf den Schienen stehen, den Blick noch immer nach drüben gerichtet. Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere, wartete, dass der Wagen vorbeifuhr. Die Tüte in seiner Hand schwang hin und her, die Flaschen klirrten leise. Er straffte sich, als er den leeren Bierkasten erblickte, der hochkant drüben an der Bank lehnte, registrierte am Rande, dass die Reifengeräusche plötzlich leiser wurden, in Gedanken war er bei dem Kasten, der weitere ein Euro fünfzig brachte. Sein Herz hüpfte vor Freude, er überlegte, was er mit dem Geld anstellen würde. Kuchen, er konnte sich ein Stück Kuchen kaufen, er hatte ewig keinen gegessen. Vielleicht würde er sich auch Zigaretten holen, keinen Tabak, nein, richtige Filterzigaretten, und als die Scheinwerfer aufflammten und der Wagen, der nun in der Mitte der Straße fuhr, mit achtzig Stundenkilometern direkt auf ihn zuraste, schwankte der zerlumpte Mann noch immer zwischen einem Stück Kuchen und einer Packung Zigaretten.

Heute ist definitiv mein Glückstag, dachte er noch, dann brach seine Hüfte, barst wie brüchiges Holz unter dem Aufprall der Stoßstange des bulligen Geländewagens. Er wurde emporgeschleudert, wirbelte durch die Luft, sein Herz, noch immer pochend in freudiger Erregung, verstummte schlagartig, als er mit dem Rücken voran auf die Bordsteinkante prallte, die Wirbelsäule zertrümmert wie sprödes Glas.

Das Letzte, was er in seinem Leben sah, war das Flackern der Bremslichter, was er zuletzt hörte, war das kurz darauf folgende Quietschen der durchdrehenden Reifen. Als der Geländewagen mit aufheulendem Motor in einer Nebenstraße verschwand, war er bereits tot, er bemerkte es nicht mehr.

Niemand bemerkte es.

Drei

Er lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und wartete. Sie schlief noch immer, tief und fest, ihr Kopf lag auf seiner Brust, hob und senkte sich im Rhythmus seines Atems. Die Sonne schien schräg durchs Fenster, er spürte die Wärme auf den nackten Unterschenkeln. Die Scheiben, staubig nach einem heißen, trockenen Sommer, mussten dringend geputzt werden, er schob es seit Wochen vor sich her.

Zorn blinzelte. Im Moment hatte er andere Probleme.

Er brauchte dringend eine Zigarette. Seit einem Jahr rauchte er kaum noch in seiner Wohnung, wenn, dann nebenan im Wohnzimmer am geöffneten Fenster. Jetzt allerdings war ihm das egal, es war ein Notfall. Sein Körper schrie förmlich nach Nikotin.

Seine Sachen lagen in einem zerknüllten Haufen vor der Heizung, Strümpfe, Unterhose, T-Shirt. Die Jeans hing über einem Stuhl neben der Tür, das linke Hosenbein war zur Hälfte umgekrempelt, die Zigarettenschachtel lugte halb aus der Tasche hervor.

Sein linker Arm war eingeschlafen, er bewegte sich sacht, um die Muskeln zu lockern. Sie knurrte im Schlaf, schmiegte sich enger an ihn. Mit der freien Hand strich er sich ihr Haar aus dem Gesicht, vorsichtig, er wollte sie nicht wecken.

Er brauchte noch Zeit. Musste die Gedanken ordnen, herausfinden, was da überhaupt passiert war. Wichtiger noch, warum es dazu gekommen war, doch je mehr er überlegte, desto größer wurde seine Ratlosigkeit.

Sicherlich, Zorns Verwirrung wäre zu jedem Zeitpunkt die gleiche gewesen, doch heute war ein Tag, an dem er sich traditionell unwohl fühlte, meist zog er sich zurück. Er mochte weder Feiertage noch Jubiläen, hasste es, Geschenke zu bekommen. Abgesehen davon war er seit Ewigkeiten nicht mehr neben einer Frau aufgewacht, hatte es auch nicht darauf angelegt, er war zu beschäftigt gewesen mit anderen, wichtigeren Dingen. Sicherlich, irgendwann wäre es passiert, er war kein Mönch, dass es aber ausgerechnet diese Frau sein musste, hätte er im Traum nicht erwartet. Es war nicht nur verwirrend, sondern auch unklug, jedenfalls für jemanden wie ihn, Zorn, der vor allem auf seine Ruhe bedacht war, und die, davon musste er ausgehen, war jetzt gefährdet, sowohl zu Hause als auch auf Arbeit, wie sollte er …

Eine Bewegung riss ihn aus seinen Gedanken. Ihre Hand tastete über die Decke, schloss sich um seine Finger. Zorn versteifte sich, sein Mund wurde trocken. Scheiße, jetzt kam der Moment, an dem er etwas sagen musste.

Das musste er dann doch nicht, sie kam ihm zuvor.

»Guten Morgen«, murmelte Frieda Borck. »Alles Gute zum Geburtstag.«

*

Es war Schröders Idee gewesen.

Er hatte es als nettes kleines Beisammensein bezeichnet, eine Einladung zum Essen. Zorn hatte sich nichts weiter dabei gedacht, in letzter Zeit hatten sie sich öfter getroffen. Er mochte das Haus, das Schröder vor ein paar Monaten gekauft hatte, den Garten, den Blick über den See. Dass Schröder womöglich Hintergedanken haben könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, ihre Geburtstage waren tabu, weder schenkten sie sich etwas, noch gratulierten sie einander, eine stumme Vereinbarung, die sie bisher immer eingehalten hatten – für Claudius Zorn eine einfache Sache, da er nicht einmal wusste, wann Schröder Geburtstag hatte. Er selbst nahm an seinem Ehrentag gewöhnlich frei, führte die unvermeidlichen Telefonate mit seiner Mutter und seinem Bruder und wartete auf den Abend, um schnellstmöglich wieder in seinen alltäglichen Trott verfallen zu können.

Zunächst hatte er keinen Verdacht geschöpft. Ein wenig verwundert war er gewesen, als er bemerkte, dass sie den Abend nicht zu zweit, sondern zu dritt verbringen würden. Er wusste, dass Schröder und Frieda Borck sich mochten, es war allerdings das erste Mal, dass sie sich in ihrer Freizeit trafen. Wie immer hatte Schröder ein üppiges Mahl aufgetischt, Tomatensuppe als Vorspeise, danach gefüllte Hühnerbrust, Salat, zum Dessert gezuckerte Himbeeren mit Schlagsahne. Sie hatten lange gegessen, Wein getrunken, hatten durch das große Wohnzimmerfenster hinaus auf den See geschaut und geredet. Sie hatten über das Haus gesprochen, im nächsten Frühjahr würde Schröder das Dach neu decken lassen, Zorn hatte – wie immer, ohne die geringste Ahnung zu haben – Tipps gegeben, sie hatten über den Garten geplaudert, über Rasenpflege, Zorn hatte die Himbeeren gelobt (lecker, Schröder, echt jetzt!), dieser war plötzlich aufgestanden, hatte eine Flasche Champagner aus der Küche geholt und dem verdutzten rüstigen Jubilar alles Gute gewünscht. Es war genau Mitternacht gewesen, die Staatsanwältin hatte Zorn einen Kuss auf die Wange gegeben. Das Kribbeln, das der nun fünfundvierzigjährige Hauptkommissar in diesem kurzen Moment verspürte, war sofort dem üblichen Unwohlsein gewichen. Das Gespräch war ins Stocken geraten, Zorn hatte verlegen an seinem Champagner genippt, nach einer Viertelstunde schließlich hatte er zum Telefon gegriffen und ein Taxi bestellt.

»Alles okay?«, fragte sie.

Frieda Borck sah ihn an. Sie lag neben ihm auf der Seite, den Kopf mit der Hand abgestützt. Das Haar hing in wilden, ungezähmten Locken über ihre nackten Schultern. Es war das erste Mal, dass er sie so sah, er kannte sie nur mit nach hinten gebundenem Zopf.

»Ja«, sagte er.

Das war es. Irgendwie. Irgendwie auch nicht.

Sie war mitgefahren, logisch, schließlich mussten sie in die gleiche Richtung. Was genau auf dieser Fahrt durch die nächtliche Stadt zwischen ihnen geschah, würde Zorn sich nie erklären können, schweigend hatten sie auf dem Rücksitz des Taxis gesessen, kein Wort, keine Berührung. Etwas änderte sich in diesen stillen Minuten, als würde eine unsichtbare Wand lautlos in sich zusammenrutschen, und als das Taxi schließlich vor Zorns Wohnhaus hielt, diesem riesigen, vierzehnstöckigen Betonklotz, da war alles irgendwie klargewesen, logisch, selbstverständlich und er kannte ihre Antwort, bevor er die Frage gestellt hatte.

Ob sie mitkommen wolle.

Ja, hatte sie gesagt. Mehr nicht.

»Bist du sicher?«, fragte sie.

»Ob alles okay ist? Aber klar doch.«

Das sollte entspannt klingen, locker. Ähnlich gelassen wie die Staatsanwältin, die wie selbstverständlich in seinem Bett lag, als wäre es ihres. Es gelang ihm nicht ganz, seine Finger krallten sich in die Laken. Er war es, der sich wie ein Fremdkörper vorkam. Ein Störfaktor im eigenen Bett.

Sie schwieg. Blickte ihn nur an, ihre Augen blitzten hinter den widerspenstigen Locken. Zorn sah ihr nicht an, was sie dachte, aber das war ihm noch nie gelungen in den Jahren, die sie jetzt zusammenarbeiteten. Nun gut, bisher hatte es ihn nie interessiert. Sie war es, die bestimmte Entscheidungen traf, er hatte sie auszuführen, ein klares, dienstliches Verhältnis. Er wusste nicht viel über sie, außer, dass sie ihren Job ernst nahm. Sehr ernst. Hauptkommissar Zorn hatte es oft genug zu spüren bekommen.

»Magst du Kaffee, Frieda?«

Nichts war passiert. Gar nichts, überlegte Zorn, die Menschen treffen sich und gehen wieder auseinander, manchmal bleiben sie länger zusammen, manchmal nicht. Wir werden keinen Stress auf Arbeit bekommen, sie ist kein naives, dummes Ding. Sie ist klug, weiß, was sie will.

Und schön ist sie. Herrgott, wie schön sie ist.

Frieda Borck strich sich mit dem Zeigefinger das Haar hinter die Ohren, eine knappe Geste, die er schon tausendmal an ihr gesehen hatte. Sinnlos, der größte Teil fiel ihr sofort wieder über die Augen.

»Glaubst du, dass es ein Fehler war?«, fragte sie.

»Quatsch.«

Wir werden vernünftig sein, dachte er, schließlich sind wir erwachsene Leute. Na ja, Frieda zumindest ist es, obwohl sie

Zehn? Fünfzehn Jahre?

jünger ist als ich. Ich selbst bin ein Kindskopf, sie hält es mir auf Arbeit immer wieder vor, und sie hat recht. Wobei man meinen sollte, dass ich langsam alt genug bin. Mehr noch, eigentlich geht’s schon dem Ende zu, was für eine beschissene, dämliche Zahl: Fünfundvierzig, das klingt wie ’ne Bankrotterklärung, das riecht schon nach Gruft, nach Moder, ich kann langsam einpacken, ein paar Jahre noch, dann ist Feierabend, Schluss, Sense, aus und vorbei, ich …

»Du siehst aus, als hättest du grade eine Ohrfeige bekommen, Claudius.«

Claudius. So hatte sie ihn noch nie genannt. Entweder bei seinem Nachnamen, oder, wenn sie besonders sauer auf ihn war, bei seinem Titel. Herr Hauptkommissar.

»Ich«, druckste Zorn, »ich hab nur gedacht, dass …«

»Was?«

»Ach, nichts.«

»War’s denn so schlimm?«

»Nee. Es war«, er erwiderte ihr Grinsen, »beachtlich.«

»Ist das ein Kompliment?«

»Ich denke schon.«

Es war umwerfend gewesen. Sie waren buchstäblich übereinander hergefallen. Ein Rausch, zeitlos, jegliches Denken beiseitefegend. Anders hätte es Claudius Zorn kaum ausdrücken können, allenfalls in abgedroschenen, blumigen Floskeln, auch hier versagte sein eingeschränkter Wortschatz. Er wusste nur, dass er diese Nacht nie in seinem Leben vergessen würde, egal, wie viel Zeit ihm noch blieb.

Sein Puls beschleunigte sich, Zorn wurde sogar ein wenig rot bei dem Gedanken an das, was sie miteinander getrieben hatten. Weder sein Äußeres noch sein Auftreten ließen darauf schließen, doch tief in seinem Inneren war Claudius Zorn ein wenig verklemmt.

Sie richtete sich auf, stützte sich auf den Ellbogen ab. Eine dünne Goldkette blitzte zwischen ihren kleinen Brüsten, er sah den Leberfleck, direkt unterhalb ihres linken Schlüsselbeins. Ein kleiner, schokoladenbrauner Halbmond, Zorn hatte ihn oft bemerkt, vor allem im Sommer, wenn sie anstatt einer hochgeschlossenen Bluse ein leichtes Kleid trug. Er hatte nicht weiter darauf geachtet, sie war ein Neutrum gewesen. Zumindest hatte er versucht, sie als solches zu betrachten.

»Hast du Milch?«, fragte sie.

»Was?«

»Für den Kaffee.«

»Hab ich. Cornflakes auch.«

»Kaffee reicht.«

Sie setzte sich auf, saß jetzt im Schneidersitz neben ihm. Im Licht der Herbstsonne glänzte ihre Haut wie geschmolzenes Karamell, eine Farbe, die ihn an dunklen Honig erinnerte. Winzige Staubflocken umtanzten sie, ein fast schon kitschiges Bild, wie eine Aktfotografie aus den siebziger Jahren.

Wie jung sie war. Wie zerbrechlich. Wie makellos.

Noch eine dieser Floskeln, dachte Zorn.

Aber gab es ein besseres Wort für Schönheit?

»Ich glaub auch nicht, dass es einer war«, sagte sie. »Ein Fehler, meine ich. Wenn’s einer war, sollten wir ihn nicht wiederholen.«

Sie klang sachlich, ein wenig kühl. Zu kühl, fand Zorn, als säße sie im Büro vor seinem Schreibtisch und würde einen Fall analysieren. Das störte Claudius Zorn ein bisschen, aber sie hatte recht. Sie mussten vernünftig sein.

»Warum …« Er räusperte sich, setzte noch einmal an. »Warum bist du …«

»Warum ich mitgekommen bin?«

Sie sah auf ihre Hände, dachte nach. Er bemerkte die winzige Falte an ihrer Nasenwurzel.

»Weil ich’s wollte«, sagte sie schließlich achselzuckend. »Und weil ich das Gefühl hatte, dass es dir genauso ging. Wir sind beide ziemlich lange allein gewesen, es hat uns gutgetan. Mir jedenfalls.«

Mir auch, dachte Zorn. Mir auch.

»Wir sollten das für uns behalten«, fuhr sie fort. »Es ist so schon kompliziert genug, findest du nicht?«

Sie lächelte ihn an, den Kopf ein wenig schiefgelegt. Er sah den Abdruck auf ihrer linken Wange, da, wo sie eben noch auf seiner Brust gelegen hatte, dachte, dass sie noch nicht gehen sollte, er wollte sie noch einmal anfassen, das Gesicht in ihrem Haar vergraben, wollte sie riechen, ihren Duft nach Sommer und frischen Blumen.

»Klar«, sagte er, grinste zurück und hoffte, dass sie ihm nicht ansah, was er dachte. »Wir sind schließlich erwachsen.«

»Du sagst es.«

Sie schwang die Beine aus dem Bett, bückte sich und klaubte ihre Sachen vom Teppich. Eine rote Spielzeugfeuerwehr hatte sich in den Maschen ihrer Strumpfhose verfangen, sie legte das Auto auf das Kopfkissen, stand auf und sah auf ihn hinab.

»Irgendwo hab ich noch ’ne frische Zahnbürste«, sagte er. »Im Schrank über dem Waschbecken, glaub ich.«

»Kann ich bei dir duschen?«

Alles, was du willst.

»Sicher doch. Wenn du mir das Bad nicht einsaust.«

»Ich geb mein Bestes, Herr Hauptkommissar.«

Ein paar Minuten später war er allein im Bett, lauschte dem Rauschen des Wassers, das aus dem Bad in sein Schlafzimmer drang, und überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. Sein Blick fiel auf die Spielzeugfeuerwehr auf dem Kopfkissen, er seufzte, streckte den Rücken.

Es war kompliziert, hatte sie gesagt. O ja, das war es.

Ein weiteres Seufzen. Er schloss die Augen, seine Gedanken kreisten umher, doch wie er es auch drehte, von welcher Seite er es betrachtete, er gelangte immer wieder an den gleichen Punkt, zu dem Wort, das ihm nach dem ersten Aufwachen schon durch den Kopf gegangen war.

Scheiße.

Vier

»Schön, dass du trotzdem gekommen bist«, sagte Schröder.

Sie saßen an ihren Schreibtischen. Die Sonne strahlte von einem stahlblauen Himmel durch das Bürofenster, ein freundlicher, heller Novembermorgen.

»Es war mir ein Bedürfnis«, erwiderte Zorn.

Nach Schröders Anruf war er fast erleichtert gewesen, zu Hause war ihm die Decke auf den Kopf gefallen. Obwohl er freihatte, war er sofort aufgebrochen, froh, etwas zu tun zu haben, die peinlichen Gratulationen hatte er ja bereits hinter sich.

»Es gibt keine Zeugen«, sagte Schröder. »Von den Anwohnern hat niemand was gesehen, ein paar Leute sind durch den Knall geweckt worden und haben gehört, wie ein Auto davongerast ist.«

Zorn kannte die Gegend. Heruntergekommene Mietskasernen wechselten sich ab mit verfallenen, längst leerstehenden Industriebauten, ein graues, freudloses Viertel.

»Ich wundere mich«, sagte er, »dass da überhaupt noch jemand wohnt.«

»Es gibt Menschen, die sich nicht aussuchen können, wo sie leben.«

Schröder sah kurz auf. Er hatte sich einen Schnauzbart wachsen lassen. Anfangs hatte Zorn ihn noch aufgezogen, wenn auf dem Kopf nichts mehr wächst, hatte er gesagt, dann lässt man’s halt unter der Nase sprießen. Wie immer waren seine Sticheleien ins Leere gelaufen, und er hatte es sein lassen, auch, weil er merkte, dass der kurze Bart bei näherer Betrachtung nicht schlecht aussah. Eigentlich sogar gut, Schröder wirkte älter, nicht mehr so harmlos, sein rundliches, freundliches Gesicht flößte fast Respekt ein und das, fand Zorn, entsprach auch den Tatsachen.

Wenn nur die alberne Frisur nicht gewesen wäre. Claudius Zorn war ein störrischer Mensch, er stritt sich oft, auch über Geschmack, obwohl das Sprichwort das Gegenteil besagte. Was Schröders Haarschnitt betraf, hielt er mittlerweile den Mund. Es war sinnlos, über die kümmerlichen, von einem Ohr zum anderen quer über die Glatze gekämmten Strähnen zu diskutieren, in diesem Punkt war Schröder eisern. Kein Streit würde seine Meinung ändern, wahrscheinlich nicht mal ein Weltkrieg. Aber das, dachte Zorn, war im Moment nicht wichtig. Er hatte andere Probleme.

»Ist irgendwas?«, fragte Schröder.

»Nö. Wieso?«

»Du wirkst so abwesend.«

»Das«, erwiderte Zorn, »ist naheliegend. Ich denke nach.«

»Worüber?«

Darüber, was letzte Nacht geschehen ist. Dass ich möglicherweise nicht nur zum Arbeiten hier bin, sondern auch, weil ich in ihrer Nähe sein will.

»Über den Fall natürlich«, sagte Zorn, der sich hütete, seine Gedanken laut auszusprechen. »Worüber sonst?«

Sie hatten die Personalien des Toten. Paulus Gernhardt, ein dreiundvierzigjähriger Mann, obdachlos, ohne festen Wohnsitz. Im Moment deutete alles auf einen Unfall mit Fahrerflucht, die Spurensicherung war noch am Tatort, es würde dauern, bis sie den ersten Bericht bekamen.

Die Tür öffnete sich.

Sie kam herein. Nickte zunächst Schröder zu, freundlich wie immer. Dann wandte sie sich an Zorn, und auch jetzt klang Frieda Borck, als wäre nie etwas geschehen.

»Ich dachte, Sie haben heute frei?«

Das, erwiderte Zorn, sei richtig, und als er hinzufügte, dass sein verehrter Chef ihn kurzfristig ins Büro zitiert habe, um bei einem wichtigen Fall behilflich zu sein, wunderte er sich selbst über den üblichen, lockeren Plauderton, den er zustande brachte. Gleichzeitig ging ihm noch etwas anderes durch den Kopf.

Hab ich grad richtig gehört? Die siezt mich?

Die Staatsanwältin erklärte indessen, dass sie die Presse informiert habe, um weitere Zeugen ausfindig zu machen, und war wieder verschwunden, bevor Claudius Zorn dreimal Luft geholt hatte.

Krass, dachte er. Einfach nur krass.

»Seid ihr eigentlich gut nach Hause gekommen?«

Zorn, der ihr nachgesehen hatte und noch immer mit offenem Mund auf die geschlossene Tür starrte, wandte sich stirnrunzelnd an Schröder.

»Wie meinst du das?«

»Gestern Nacht«, sagte Schröder beiläufig, er blätterte in einer Akte. »Mit dem Taxi.«

»Logisch. Warum fragst du?«

»Nur so.«

Zorn kniff misstrauisch die Augen zusammen.

»Was heißt das? Nur so?«

»Nur so eben«, murmelte Schröder achselzuckend.

Zorn lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie Schröder die Akte schloss und sich einer anderen widmete.

Nee Freundchen, dachte er, verarschen kann ich mich alleine. Du sagst nie irgendwas nur so, alles, was du fragst, hat einen Sinn. Du ahnst was, vielleicht weißt du’s sogar.

Darüber wollte Claudius Zorn nicht weiter nachdenken. Frieda hatte recht, es war kompliziert, sie hatte offensichtlich beschlossen, dem Ganzen keine weitere Bedeutung beizumessen, das hatte sie ihm deutlich gezeigt. Nun, sie war eine Frau, von Natur aus wesentlich emotionaler als er, Zorn, ein

alter Sack

Kerl in bestem Mannesalter. Wenn ihr das gelang, dann sollte er es erst recht schaffen. Das würde er auch. Weitermachen wie bisher. Cool und lässig bleiben.

Schröder klappte die Akte zu, faltete die Hände vor dem dicken Bauch und sah Zorn an.

»Was machst du heute noch?«, fragte er.

»Weiß ich noch nicht.«

»Darf ich ihn abholen?«

»Nee.«

»Schade.«

Schröder schlug enttäuscht die Augen nieder. Zorn tat, als müsse er angestrengt nachdenken. Ein paar Sekunden vergingen, dann senkte er den Kopf zu einem gnädigen, huldvollen Nicken.

»Na gut«, sagte er. »Du darfst mitkommen.«

*

Der Junge war knapp zwei Jahre alt, allerdings ziemlich groß für sein Alter. Er saß in der Sandkiste, eine Spielzeugschaufel in der Hand, und war damit beschäftigt, Sand in einen grünen Plastikeimer zwischen seinen kurzen Beinen zu schippen. Die beiden Männer auf der Bank direkt daneben ließen ihn keine Sekunde aus den Augen.

»Er wird sich erkälten, Schröder.«

»Wird er nicht.«

Im Sommer herrschte hier Hochbetrieb, heute verteilte sich kaum eine Handvoll Kinder auf den großen Spielplatz am Fluss, begleitet von ihren Eltern, die auf den Bänken ringsum in der Sonne saßen und ihre Sprösslinge mehr oder weniger aufmerksam überwachten.

»Malina macht mir die Hölle heiß, wenn er Schnupfen kriegt«, sagte Zorn.

»Er kriegt keinen.«

Sie redeten leise, als fürchteten sie, den Kleinen zu stören, der mit gerunzelter Stirn vor ihnen im Sand saß und vollständig in seiner Arbeit aufging. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sowohl Zorn als auch Schröder die gleiche Haltung eingenommen: vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände unter dem Kinn gefaltet, einen verträumten, fast ehrfürchtigen Ausdruck im Blick.

»Kriegt er doch«, beharrte Zorn.

»Nein.«

»Es ist viel zu kalt am Hintern.«

»Er hat ’ne Windel um.«

Der Kleine legte die Schippe beiseite, wühlte in dem halbvollen Eimer. Sie folgten jeder seiner Bewegung mit Argusaugen.

»Vielleicht sollte er lieber rutschen«, sagte Zorn.

Schröder antwortete nicht.

»Oder schaukeln.«

»Lass ihn doch.«

Der Junge förderte einen Stein zutage, drehte ihn in den winzigen Fingern und betrachtete ihn mit ernstem, konzentriertem Blick. Sein Mund öffnete sich, Zorn straffte sich sofort.

»Nicht, Edgar.«

Das klang eher wie eine Bitte als eine Warnung. Der Kleine verharrte in der Bewegung, sah erst zu Zorn, dann zu Schröder auf. Dann wieder auf den Stein in seiner Hand.

»Das ist ein Stein«, sagte Zorn. »Steine isst man nicht, du Eumel.«

Der Junge sah Zorn mit großen Kulleraugen an.

»Nicht essen«, wiederholte er ernst.

Dann steckte er den Stein in den Mund.

»Ich warne dich, Kumpel.«

Der Junge erwiderte Zorns Blick, die Lippen fest aufeinandergepresst. Die rosigen Wangen bewegten sich, er zog die Stirn kraus, lutschte an dem Stein, schob ihn im Mund hin und her wie ein Bonbon. Es schien ihm zu schmecken. Zorn richtete sich auf, Schröder legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Spuck’s aus, mein Großer«, sagte er sanft.

Umgehend landete der Stein zwischen den Beinen des Kleinen.

»Fein gemacht«, lächelte Schröder. »Komm her.«

Der Junge rappelte sich sofort auf, tapste unsicher durch den Sand herbei. Seine Arme schlossen sich um Schröders Bein, er schmiegte sich an die Cordhose, während Schröder ihm sanft über den Kopf strich.

»Er sollte auf mich hören und nicht auf dich«, sagte Zorn. Er versuchte, mürrisch zu klingen, es gelang ihm nicht ganz. »Ich bin sein Vater, nicht du.«

»Das tut er doch«, sagte Schröder, nahm das Gesicht des Jungen in die Hände und sah auf ihn hinab. »Stimmt’s, Ede?«

»Papa«, nickte Edgar. »Hören.«

»Siehst du?«

Schröder hob den Kleinen auf seinen Schoß.

»Du verhätschelst ihn«, brummte Zorn. »Deshalb macht er alles, was du sagst. Weil du ihm alles durchgehen lässt, Schröder.«

»Ögi«, murmelte Edgar und schlang die kurzen Arme um Schröders Hals. »Mein Ögi.«

»Genau«, lächelte Schröder. »Ich bin dein Ögi.«

Manchmal stritten sie, welches Wort Edgar zuerst ausgesprochen hatte: Papa oder Ögi, wie Edgar seinen geliebten Schröder von Anfang an in kindlichem Kauderwelsch tituliert hatte, ein Name, der Schröder gefiel. Im Gegenzug nannte er den Kleinen Ede, niemand außer ihm tat das.

»Wann bringen wir ihn zurück?«, fragte Schröder.

»Um fünf, hab ich mit Malina ausgemacht.«

Zorn sah, wie sein Sohn sich enger an Schröder schmiegte, dieser lehnte sich zurück, schloss die Augen, hielt das Gesicht in die Sonne und wiegte den Jungen in den Armen.

»Das ist gut«, murmelte Schröder. »Dann haben wir ja noch Zeit.«

»Ja«, nickte Zorn. »Die haben wir.«

*

Er liebte seinen Sohn abgöttisch. Manchmal wunderte er sich über die unglaubliche Macht dieses Gefühls, einer Kraft, die ihn weich machte, schutzlos, es gab nichts, das er dieser Liebe entgegenzusetzen hatte. Er sah Edgar regelmäßig, holte ihn mindestens dreimal pro Woche aus dem Kindergarten ab, und wenn der Kleine bei ihm übernachtete, schlief Claudius Zorn schlecht, ständig wachte er auf, schlich ins Wohnzimmer und saß dann minutenlang an dem kleinen Gitterbett und lauschte den regelmäßigen Atemzügen seines Sohnes.

Zorn verstand sich gut mit Malina, sie hatten es beide geschafft, ihre eigenen Interessen hinter die ihres Sohnes zu stellen. Nur einmal hatten sie noch gestritten, kurz vor der Geburt, sie hatten sich nicht auf einen Namen einigen können. Malina hatte sich für Edgar entschieden, so hatte ihr Großvater geheißen. Zorn war dagegen gewesen, er hatte einen anderen Namen im Kopf gehabt. Es hatte lange gedauert, bis sie einen Kompromiss gefunden und beschlossen hatten, dass der Junge zwei Namen bekommen sollte. Irgendwann, hatte Zorn gesagt, würde er selbst entscheiden, wie er genannt werden wollte, den zweiten Vornamen benutzten sie so gut wie nie, um den Kleinen nicht durcheinanderzubringen. Nur manchmal, wenn Zorn ihn zur Ordnung rufen wollte und seine Ermahnungen – wie in den meisten Fällen – keine Wirkung zeigten, nannte er ihn so.

Rüdiger.

Dass Zorn seinen Sohn nach Schröders totem Bruder genannt hatte, war keine bewusste Entscheidung gewesen, es hatte sich einfach richtig angefühlt. Schröder hatte sich nichts anmerken lassen, als er es erfuhr. Er hatte genickt, dann war er aus dem Büro gegangen. Als er ein paar Minuten später wieder hereingekommen war, hatten seine Augen ein wenig geglänzt.

Zorn konnte nicht erklären, was genau die beiden verband. Sicherlich, er war der Vater, eine tiefere Verbindung konnte es schon von Natur aus kaum geben, doch die Beziehung zwischen Schröder und seinem Sohn funktionierte anders, auf einer besonderen, fast metaphysischen Ebene. Die beiden hatten eine eigene Art der Kommunikation entwickelt, manchmal stumm, mit Blicken, Gesten, einem kurzen Lächeln. Schröder führte auch lange Gespräche mit Zorns knapp zweijährigem Sohn, ernsthafte, äußerst wichtige Gespräche – das vermutete Zorn zumindest, denn viel verstand er nicht, außer einem glucksenden Gebrabbel. Dann konnte es vorkommen, dass er sich ein wenig ausgeschlossen fühlte, doch Eifersucht spürte er nie, egal, ob die beiden gefühlte Ewigkeiten die Köpfe über einem Biene-Maja-Buch zusammensteckten, einen Grashalm untersuchten oder gebannt einen Trickfilm schauten, ohne auch nur die geringste Notiz von Zorn zu nehmen.

Ögi und Ede.

Die wichtigsten Menschen in seinem Leben, nur das zählte.

*

»Wollen wir ihm noch ein Eis holen?«

»Nee, Schröder. Es ist zu kalt.«

Es war tatsächlich kühler geworden, die Sonne stand tief am Horizont. Zorn schloss das niedrige Metalltor, das den Spielplatz begrenzte, während Schröder den Kinderwagen in Richtung des künstlichen Sees lenkte. Wie immer hatten sie gestritten, wer Edgar schieben durfte, wie immer hatte sich Zorn nach einer kurzen Diskussion scheinbar genervt geschlagen gegeben.

»Wenigstens ein kleines, wir …«

»Ich hab nein gesagt.«

»Eis!«, strahlte Edgar. »Eis, Ögi!«

»Da hast du’s«, knurrte Zorn, prüfte die Windrichtung und zündete sich eine Zigarette an. »Hör auf, ihn auf dumme Gedanken zu bringen.«

Sie überquerten die Straße, dann folgten sie dem asphaltierten Weg, der im Schatten der Trauerweiden am Ufer des kreisrunden Sees entlangführte. Eine Weile schlenderten sie schweigend nebeneinander her, Zorn hielt ein wenig Abstand, achtete darauf, dass der Zigarettenrauch nicht in Richtung des Kinderwagens wehte. Hunde tollten über die Wiese, Radfahrer fuhren vorbei. Eine alte Dame mit Kopftuch und dunklem Mantel verließ gerade das Ufer, sie hatte Brot an die Enten verteilt und ging mit kurzen Schritten davon. Zorn sah, wie sie an einem Papierkorb Halt machte und einen Blick hineinwarf.

»Komisch«, sagte er. »Sie sieht nicht so aus, als ob sie’s nötig hätte.«

»Wie sollte sie denn deiner Meinung nach aussehen?«, fragte Schröder, der die Frau ebenfalls bemerkt hatte. »Wie der arme Kerl, der letzte Nacht überfahren wurde?«

Darauf wusste Zorn keine Antwort, schweigend schnippte er die halb aufgerauchte Zigarette beiseite. Der Bericht der Spurensicherung war ernüchternd gewesen. Es gab so gut wie keine Hinweise auf den Unfallwagen, weder Lackreste noch Splitter, zumindest nicht an der Unfallstelle. Wahrscheinlich würden sie an der Kleidung des Toten fündig werden, doch die wurde noch untersucht. Immerhin, die Zeitungen hatten berichtet, ein Taxifahrer hatte sich daraufhin gemeldet und bezeugt, dass ihm kurz vor dem Unfall ein schwarzer Geländewagen entgegengekommen war.

Die Frau ging langsam weiter. Schröder blieb stehen und beobachtete, wie sie hinter einer Trauerweide verschwand. Seine linke Hand hielt den Griff des Kinderwagens, mit der rechten schob er die Baskenmütze zurecht, die er sich vor kurzem zugelegt hatte, ebenso wie den schwarzen Wollmantel mit dem hohen Kragen und den goldenen Knöpfen an den Ärmeln.

»Wahrscheinlich hat sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet«, murmelte er. »Und jetzt reicht die Rente gerade mal, dass sie sich die Miete leisten kann. Wenn überhaupt.«

Auch darauf wusste Zorn keine Antwort. Er war fast erleichtert, als Edgar unruhig wurde und in seinem Wagen hin und her rutschte.

»Weiter!«, befahl Edgar.

»Zu Befehl!«

Schröder reagierte auf der Stelle und gab dem Wagen einen Schubs, der umgehend mit einem zufriedenen Glucksen quittiert wurde. Zorn folgte den beiden, beschwerte sich zunächst noch einmal über Schröders angeblich zu weichen Erziehungsstil, danach über den Kinderwagen, genauer gesagt über ein quietschendes Hinterrad, das Zorns Meinung nach dringend geölt werden musste. Auf Schröders Frage, warum Zorn das nicht selbst übernehme, erwiderte dieser, dass Schröder nun mal der technisch Versiertere sei, außerdem habe er, Zorn, absolut keine Lust, sich die Finger schmutzig zu machen, schon gar nicht an seinem Geburtstag.

Sie hatten den See fast umrundet, als Zorns Handy klingelte.

*

»Alles Gute, Bruderherz«, sagte Cornelius.

Zorn hatte sich etwas zurückfallen lassen. Er lauschte der sonoren Stimme seines Bruders, gleichzeitig kramte er die Zigaretten aus der Lederjacke, eine unbewusste Reaktion, wie ein Pawlowscher Reflex, hervorgerufen durch das Klingeln des Telefons.

»Danke«, erwiderte Zorn.

Sie telefonierten höchstens zwei-, dreimal im Jahr, noch seltener trafen sie sich. Beide sahen sie keinen Anlass dazu, sie waren einfach zu verschieden. Cornelius, drei Jahre älter, der erfolgreiche Architekt mit Beziehungen zu den wichtigsten gesellschaftlichen Kreisen der Stadt – oder dem, was sich dafür hielt –, war ein angesehener Unternehmer mit einem Dutzend Angestellten, ein gefragter und gerngesehener Gast bei jedem erdenklichen Anlass, ein eloquenter Redner, selbstsicher, schlagfertig und überzeugend.

»Wie geht’s dir?«

»Gut«, sagte Claudius Zorn, dem weder Talent noch Charakter seines Bruders in die Wiege gelegt worden war. Eine Tatsache, die ihm durchaus bewusst, allerdings herzlich egal war.

»Und die Arbeit?«

»Auch gut.«

Das Gespräch stockte, wie immer. Es war nicht so, dass sie sich nicht mochten. Sie hatten einfach keine gemeinsamen Interessen, es gab keine Themen, über die sie ernsthaft hätten reden können, da war nichts, das sie verband. Außer ihr Nachname natürlich, doch selbst der hatte in den Augen von Claudius Zorn keine Bedeutung, eine Aneinanderreihung von vier Buchstaben, mehr nicht. Was ihre Vornamen betraf, waren sie beide vom Schicksal geschlagen, auch davon war Claudius Zorn überzeugt, der schon oft überlegt hatte, wen von ihnen beiden das schlimmere Los erwischt hatte. Claudius oder Cornelius, er war noch immer nicht sicher, was er dämlicher fand.

»Hat sich Renate gemeldet?«

»Noch nicht.«

Sie nannten ihre Mutter beim Vornamen. Eine stille Übereinkunft, die sich im Laufe der Jahre von selbst ergeben hatte für eine Frau, die ihre Söhne zwar nie geschlagen, doch mit der Herzlichkeit eines geöffneten Kühlschranks großgezogen hatte.

»Feierst du heute?«

»Ein bisschen«, wich Zorn aus. Zeit für eine Gegenfrage. »Und bei dir so?«

»Ach«, sagte Cornelius, »wie immer. Arbeit, Stress, den Laden am Laufen halten. Kaum Ruhe, immer was zu tun. Du kennst das ja.«

Zorn verzog das Gesicht. Vor allem kannte er den leisen, überheblichen Unterton in der Stimme seines älteren Bruders, den Spott, Cornelius hatte ihn noch nie sonderlich ernst genommen.

Ein paar Meter vor ihm kramte Schröder eine blaue Plastikdose aus dem Netz am Gestänge des Kinderwagens. Zorn lauschte der Stimme seines Bruders, der jetzt über eines seiner Großprojekte redete und sich wortreich über die unfähigen Betonköpfe in der Stadtverwaltung echauffierte, während Schröder neben dem Kinderwagen in die Hocke ging und Edgar einen Apfelschnitz reichte.

»Seit elf Monaten«, beschwerte sich Cornelius, »ist der Bauantrag durch. Der Rohbau ist zur Hälfte fertig, und plötzlich kommt so ein kleiner Pupser in der Verwaltung auf die Idee, dass die Registratur einen separaten Lastenaufzug benötigt. Und warum? Weil das alte Finanzamt auch einen Lastenaufzug hatte. Deshalb, so die Logik, braucht das neue ebenfalls einen. Dass die mittlerweile fast alles in ihren Rechnern speichern und kaum noch Akten durch die Gegend schleppen, interessiert keine Sau. Ganz zu schweigen davon, dass ich es bin, der die Bude geplant hat und diesen Schwachsinn neu projektieren soll. Jetzt, nachdem der Kasten schon steht!«

Zorn kannte die Tiraden seines Bruders, er wusste, dass weder Verständnis noch eine Antwort von ihm erwartet wurde. Cornelius, der solche Probleme gewöhnlich bei einem Kaffee mit dem stellvertretenden Bürgermeister oder einem der Amtsleiter zu lösen pflegte, nutzte die Gelegenheit, um Dampf abzulassen.

»Aber ich will nicht jammern«, fuhr Cornelius fort. »Es gibt Schlimmeres. Irgendein Vollidiot hat mir heute Mittag die Stoßstange eingeschlagen. Eine fette Beule, wahrscheinlich mit einem Hammer. Am helllichten Tag, mitten in der Innenstadt. Gerade mal drei Monate ist die Kiste alt und schon in der Werkstatt.«

Bei der Kiste, das wusste Zorn, handelte es sich um einen schwarzen Mercedes-Jeep mit Vollausstattung. Vor ein paar Wochen hatten sie zufällig nebeneinander an einer Ampel gestanden. Cornelius, lautstark telefonierend einen halben Meter höher in seinem bulligen Geländewagen sitzend, hatte seinen Bruder nicht bemerkt. Claudius hatte sich weder versteckt noch den Kopf abgewandt, bemerkbar hatte er sich allerdings auch nicht gemacht, und als die Ampel endlich auf grün schaltete, hatte er erleichtert aufgeatmet, während Cornelius mit durchdrehenden Reifen davongebraust war.

»Tja«, sagte er, »dann …«

»… alles Gute noch mal.«

»Ja.«

»Wir sehen uns.«

»Das machen wir, Cornelius.«

Zorn stieß den Rauch durch die Nase aus. Schröder hatte den Kleinen aus dem Wagen gehoben, sie waren zum See gegangen und warfen Steine ins Wasser. Schröder kniete neben Edgar, Zorn registrierte beruhigt den Arm, den Schröder um die Hüfte des Jungen gelegt hatte, bereit, sofort zuzugreifen, falls Edgar das Gleichgewicht verlieren sollte.

»Pass auf dich auf, wir werden alle nicht jünger, Claudius. Jetzt geht’s los mit den ersten Zipperlein, ich kann ein Lied davon singen. Die Bandscheiben, das Knie, irgendwas kommt immer.«

Zorn trat die Zigarette aus und wartete auf den Witz, mit dem sein großer Bruder ihre Telefonate gewöhnlich beendete.

»Denk dran, Claudius. Irgendwann kommt die Zeit, da wachst du morgens auf und wenn dir dann nichts weh tut …«

Da war er, der Witz.

»… bist du tot.«

Zorn lachte pflichtschuldig auf, froh, dass Cornelius sein Gesicht nicht sehen konnte. Auch was den Sinn für Humor betraf, lebten sie auf verschiedenen Planeten.

Eine letzte Floskel, nichtssagend, freundlich wie immer. Dann legten sie auf. Zorn bückte sich, klaubte ein paar Kiesel aus dem kurzen Gras und gesellte sich zu Schröder und seinem kleinen Sohn. Die Sonne stand tief am Horizont, die Schatten wurden länger, doch bevor dieser Tag zu Ende ging, hatte Claudius Zorn noch etwas zu erledigen. Etwas Wichtiges.

Steine ins Wasser werfen.

Fünf

Morgengrauen.

Drei Tage waren vergangen. Sonnige, freundliche Herbsttage, es schien, als habe der Wettergott – oder wer auch immer dafür verantwortlich war – vor Einbruch des Winters noch einmal tief in die Tasche gegriffen und sämtliche Klischees vom goldenen Herbst hervorgezaubert, angefangen vom stahlblauen Himmel über das rostrot flammende Laub in den Wäldern bis zu den in der Sonne blitzenden Kirchtürmen. Bilder, die selbst für eine Postkarte zu kitschig waren.

Auch dieser Tag würde ähnlich werden. Der Vollmond, der die ganze Nacht über der Stadt gestrahlt hatte, verblasste allmählich, im Osten färbte sich der Horizont. Zartes, rosafarbenes Licht schien durch die alten Bäume am Fluss.

Der Mann lehnte am Stamm einer der uralten Buchen, die sich am Rande der Wiese am Ufer verteilten. Sein Alter war schwer zu schätzen, nur seine Sachen verrieten, dass er noch jünger war. Er trug Jeans und ein blaues Sweatshirt, sein Gesicht verschwand im Schatten der Kapuze, die tief in die Stirn gezogen war. Nur sein Mund war zu erkennen, zusammengepresste Lippen, darunter ein markantes Kinn. Die hellblauen Turnschuhe waren im feuchten Laub verborgen, das seine Füße bis zu den Knöcheln bedeckte.

Er bewegte sich nicht. Sein Kopf war stromabwärts gewandt, etwas geneigt, als lausche er dem entfernten Rauschen des Wehres, das einen Kilometer weiter hinter einer Biegung an der verlassenen Papiermühle lag. Nebel trieb über das dunkle, ruhig nach Norden strömende Wasser, sammelte sich in der Senke hinter dem jungen Mann, hing in geisterhaften Schwaden zwischen den Stämmen der hundertjährigen Bäume.

Die Nacht war feucht gewesen. Tau blitzte im Gras, die Bänke rings um die Wiese waren nass, ebenso der asphaltierte Weg, der parallel zum Ufer zu der alten Treppe hinauf in die Felsen führte. Die schmalen, grob in den Porphyr gehauenen Stufen waren glitschig, Tau hing in schweren Tropfen an den rostigen Geländern. Auch die Sachen des Mannes waren klamm, er schien schon eine Weile hier zu stehen.

Fünfhundert Meter flussaufwärts donnerte eine Straßenbahn über die Brücke. Im Gestrüpp unterhalb der alten Burg wurde eine weiße Ente aufgescheucht, das Tier kreiste ein paarmal über dem Fluss und landete dann wieder, eine schnurgerade Linie auf dem Wasser hinterlassend. Langsam trieb die Ente flussabwärts, stieß, als sie die Gestalt am Ufer entdeckte, ein kurzes Gackern aus und steuerte sofort das Ufer an. Es gab keine Feinde hier unten am Fluss, selbst die verfetteten Hunde der Spaziergänger stellten keine Gefahr dar, und was die Menschen betraf, gab es zwei Kategorien: Entweder sie ignorierten die Vögel oder sie gaben ihnen Futter. Letzteres trieb die Ente dazu, die sandige Böschung zu erklimmen, über den Asphaltweg zu watscheln und schließlich im Gras zu verharren, fünf Meter entfernt, doch nah genug, um die erwarteten Brotkrümel sofort erreichen zu können.

Das Tier sah aus schwarzen, glänzenden Knopfaugen hinauf zu dem Mann mit der Kapuze, der regungslos am Baum lehnte, den Kopf erhoben, als würde er lauschen, auf etwas warten. Ein paar Sekunden vergingen. Die Ente sträubte die weißen Federn, öffnete den Schnabel.

Gaak!

Keine Reaktion.

Watschelnd kam der Vogel näher.

Gaaaak!

Nichts.

Gahahaaaaaak!

Das Schnattern wurde lauter, fordernd. Der reglose Mann mit der Kapuze verströmte keine Gefahr, die Ente – ein Weibchen – spreizte die Flügel, ihr Blick bekam etwas Fragendes.

Gaak?

Blätter raschelten unter den rosafarbenen, durch Schwimmhäute verbundenen Krallen, der Vogel watschelte heran, pickte, den Hals vorgereckt, zwischen den Füßen des Mannes im Laub. Offensichtlich erfolglos, das Gackern, mit dem sich die Ente wenige Sekunden später wieder zurückzog, klang frustriert. Mit wackelndem Hinterteil stolzierte sie davon, als wolle sie Gleiches mit Gleichem vergelten, Nichtbeachtung durch Nichtbeachtung. Als sie sich auf dem Asphaltweg noch einmal umwandte, waren die hellen, flaumigen Federn an Brust und Bauch verfärbt, bedeckt von einer dunklen, öligen Schicht.

Ein letzter Blick zurück, die Kulleraugen stierten vorwurfsvoll. Noch nie in ihrem kurzen Erdendasein war die Ente so schnöde ignoriert worden. Unmöglich zu sagen, ob das Tier die dünnen Stricke registrierte, mit denen der Körper des jungen Mannes an den Baumstamm gefesselt war, einer unterhalb der Knie, einer um die Hüfte, ein weiterer um die Stirn. Der vierte, teilweise verborgen unter dem Stoff des blauen Kapuzenshirts, hatte sich tief in die Haut oberhalb des Kehlkopfes gegraben.

Die Ente legte den Kopf schief, als hätte sie das Eisen bemerkt, das aus dem rechten Oberschenkel des Mannes ragte, ein stählerner, dreißig Zentimeter langer Nagel. Das Hosenbein war durchnässt, ebenso das Laub zu Füßen des reglosen Mannes.

Die Ente putzte sich. Als sie den Schnabel öffnete, glänzte er rot von dem Blut, das sich im Gefieder verfangen hatte, als sie im Laub unter dem Baum nach etwas Essbarem gesucht hatte. Ein kurzes Zögern, als solle dem Toten Gelegenheit zu einer Erklärung gegeben werden, vielleicht auch zu einer Entschuldigung. Beides blieb – natürlich – aus, und da die Ente weder über eine Nase verfügte, die sie rümpfen konnte, noch über eine Stirn, die sie hätte runzeln können, begnügte sie sich mit einem abschließenden, schnippischen Gackern.

Gaak.

Und flatterte davon.

*

»Er wurde erwürgt.«

Schröder wartete einen Moment, doch Zorn antwortete nicht, er starrte schweigend hinüber zu den Villen am anderen Ufer.

»Vor fünf, sechs Stunden, meint der Rechtsmediziner.«

Sie standen hundert Meter flussaufwärts an einer Stelle, die genutzt wurde, um Boote zu Wasser zu lassen. Das Ufer war flach, zwei schmale Betonstreifen für die Bootsanhänger verliefen parallel über die kiesbedeckte Böschung hinab und verloren sich im trüben Wasser.

»Verstehst du das alles?«

»Nee, Schröder. Ich verstehe hier gar nichts.«

Widerwillig wandte Zorn sich um. Der Tote lehnte noch immer am Stamm der Buche, umringt von einem halben Dutzend Männern in den Schutzanzügen der Spurensicherung. Sie hatten sich kreisförmig um den Baum geschart und untersuchten den Boden. Das Bild wirkte gestellt, wie inszeniert, sechs weißgekleidete Männer, die sich um einen Altar versammelt hatten, eine verschworene, geheime Sekte, andächtig vor ihrem Götzen kniend. Oder vor einem Priester, ein Eindruck, der durch die Kapuze über dem Kopf der Leiche noch verstärkt wurde. Eine religiöse, andächtige Szene, ungeachtet der flatternden Absperrbänder, der Streifenwagen und der blinkenden Blaulichter. Zorn dachte an mystische Zeremonien, geheime Riten und okkulte Geheimbünde. Die Gestalt, hoch aufgerichtet an den Baum gefesselt, den Kopf flussabwärts gewandt, wirkte lebendig, wie ein Wächter, nein, als warte sie auf etwas.