Zorn - Wie sie töten - Stephan Ludwig - E-Book + Hörbuch

Zorn - Wie sie töten Hörbuch

Stephan Ludwig

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Beschreibung

»ICH WILL ZUSEHEN, WIE SIE STERBEN.« Hauptkommissar Claudius Zorn und der dicke Schröder in tödlicher Gefahr! In einer Winternacht wird ein Mensch vor die S-Bahn gestoßen. Niemand beobachtet den Mord, die Polizei geht von Selbstmord aus. Auch Hauptkommissar Claudius Zorn schenkt dem Vorfall keine Beachtung. Er ist damit beschäftigt, seinen ehemaligen Kollegen Schröder zu überreden, wieder sein Partner zu werden. Was jedoch weder Zorn noch Schröder ahnen: Der Täter ist ganz in ihrer Nähe. Und hat eine Reihe neuer Opfer im Visier. Menschen, die den beiden Ermittlern nahestehen … Der vierte Fall für Hauptkommissar Claudius Zorn und den dicken Schröder

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Zeit:8 Std. 47 min

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Stephan Ludwig

Zorn - Wie sie töten

Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoTEIL EINSEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnTEIL ZWEIZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigTEIL DREINeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigDank und Grüße

Für meine Mama.

The silicon chip inside her head

get switched to overload.

(The Boomtown Rats, 1979)

 

Ich hab keinen Bock auf diese Scheiße.

(Claudius Zorn, November 2013)

TEIL EINS

Eins

Noch sechs Minuten.

Die Frau auf dem Bahnsteig blies in die klammen Hände. Ihr Atem dampfte in der Januarluft, feine Wolken verloren sich im frostigen Abend. Es war kurz vor halb zehn, sie hatte noch Zeit.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, wärmte die Hände unter den Achseln. Eine blasse, zierliche Frau, ihr Alter war schwer zu schätzen. Die fellbesetzte Kapuze eines braunen Nylonanoraks hing ihr tief in die Stirn, jede Bewegung erzeugte ein deutliches Rascheln. Als sie hinauf zur Uhr über dem Fahrkartenautomaten sah, wirkten ihre Augen riesig hinter den dicken Brillengläsern, wie Fische in einem Aquarium.

Sechs Minuten noch, dann kam die S-Bahn.

Ein Ruck. Der Zeiger bewegte sich.

Fünf Minuten.

Sie war allein. Nach zwei Stationen kam der Hauptbahnhof. Drei, vielleicht vier Kilometer entfernt, und doch hätte man meinen können, man befände sich in einem rumänischen Bergdorf. Ein Plattenweg führte hinauf zu den Gleisen, Unkraut wucherte zwischen den Ritzen. Die Glaswände des Wartehäuschens waren zerkratzt, über und über mit Graffiti beschmiert, kryptische, geschwungene Buchstabenkombinationen, die keinerlei Sinn ergaben. Daneben eine riesige Plakatwand, ein unrasierter Mann im Businessanzug lächelte herab.

ICH WILL’S SANFT.

Die Frau schürzte verächtlich die Lippen, trat an die Kante des Bahnsteiges. Unter ihr glänzten die Gleise im Licht der Laternen, Raureif schimmerte auf den Schwellen. Hinter ihr rauschte der Verkehr einer vierspurigen Schnellstraße, links verloren sich die Schienen im Dunkel.

Zuletzt hatte es kurz nach Weihnachten geschneit. Das, was davon übriggeblieben war, lag in schmutzigen, hartgefrorenen Haufen zwischen abgestorbenem Gras, Zigarettenkippen und zerknüllten Zeitungen.

Eine Signallampe leuchtete auf.

Noch vier Minuten.

Sie würde pünktlich daheim sein, zeitig genug, um den Tatort nicht zu verpassen. Im Fernsehen kam nur eine Wiederholung, sie kannte den Film garantiert, trotzdem würde sie sich die Sendung noch einmal ansehen. Der Kühlschrank zu Hause war leer, doch das war unwichtig, ein Glas Rotwein und eine Tüte Chips reichten ihr aus. Sie mochte die Filme, genoss es, den Täter schon lange vor den Kommissaren enttarnt zu haben, etwas, das ihr fast immer gelang. Die ständig gleichen dramaturgischen Abläufe langweilten sie nie, im Gegenteil, sie hatten etwas Beruhigendes.

Die junge Frau mochte keine Überraschungen.

Drei Minuten.

Zunächst hörte sie die Schritte nicht. Schwere Stiefel, sie knirschten auf dem gefrorenen Boden, kamen rasch näher. Zwei Meter neben ihr blieb der Mann stehen, grußlos, sein Atem ging schwer. Sie nahm seinen Geruch war, Tabak und Pfefferminze. Taxierte ihn aus den Augenwinkeln: Schwarzer, kurzgeschnittener Vollbart mit grauen Strähnen. Markante Hakennase. Ein dunkler Wintermantel aus schwerer Wolle, den Kragen hatte er bis zu den Ohren hochgeschlagen. Der Mann war einen Kopf größer als sie, mindestens zwanzig Kilo schwerer.

Stumm standen sie nebeneinander, direkt an der weißen Sicherheitslinie. Außer ihnen war niemand hier. Sie sah sich um, zog fröstelnd die Schultern hoch. Es gab keine Kameras. Angst hatte sie nicht, was sollte ihr schon passieren?

Der Zeiger der Uhr bewegte sich.

Sie bemerkte den Eiszapfen außen am Glas des Ziffernblattes.

Zwei Minuten.

Ein Hund bellte.

Gegenüber, direkt hinter den Gleisen, erhoben sich die schwarzen Umrisse des Galgenberges. Tagsüber rutschten die Kinder mit ihren Schlitten schreiend über die kümmerlichen Schneereste auf der große Wiese am Nordhang, jetzt war dort niemand. Nur Dunkelheit.

Der Mann neben ihr hustete. Ein kurzes, trockenes Krächzen, als wolle er dem Hund antworten. Sie sah nach links. Bald würde der Zug auftauchen. Sie musste sich ein wenig vorbeugen, der massige Körper des Mannes verdeckte ihr die Sicht. Er hatte den Kopf abgewandt und blickte in dieselbe Richtung, dahin, wo die Gleise in einer sanften Rechtskurve zwischen kahlen Bäumen verschwanden.

Etwas war anders, eine Kleinigkeit nur. War er ein Stück näher gekommen?

Möglich. Ein paar Zentimeter vielleicht. Oder bildete sie sich das ein?

Eine Minute.

Ein hohes, elektrisches Surren, der Boden vibrierte. Die Betonplatten waren feucht, von einer Eisschicht überzogen. Das Surren verstärkte sich, wurde zu einem brausenden Donner, gemischt mit dem ohrenbetäubenden Kreischen der Bremsen. Scheinwerfer erschienen in der Dunkelheit, Licht zuckte über die Gleise.

Der Zug kam.

Noch zwanzig Sekunden.

*

Gerd Fahlberg, der Zugführer, hielt den Blick gerade nach vorn gerichtet. Ein sorgfältig rasierter, dünner Herr Ende fünfzig, in ein paar Monaten würde er in Pension gehen. Seit zwölf Jahren fuhr er dieselbe Strecke, kannte jeden Meter, jede Kurve, die kleinste Unebenheit auf den Schienen. Fahlberg liebte seinen Job, er mochte das Brausen des Windes, das sanfte Rütteln des Zuges, die Einsamkeit im Fahrerhaus. Neben dem Armaturenbrett stand sein altes Kofferradio, manchmal schaltete er es ein, obwohl es verboten war. Jetzt war es aus.

Der Zug näherte sich dem Bahnhof. Fahlberg sah auf seine Instrumente, drosselte das Tempo, warf einen vorschriftsmäßigen Blick auf die Strecke vor ihm. Fünfzig Meter entfernt stand eine einsame Gestalt an der Bahnsteigkante. Zumindest aus Fahlbergs Sicht wirkte es so, als würde nur eine Person da draußen in der Kälte warten, denn die Frau wurde durch den kräftigen Mann neben ihr verdeckt.

Ein Brausen, aus der Gegenrichtung rauschte eine Regionalbahn heran. Unwillkürlich sah Fahlberg nach links, hob grüßend die Hand. Nur wenige Sekunden war er abgelenkt, dann war der Gegenzug in der Dunkelheit verschwunden.

Ein Windstoß fegte über den Bahnsteig, die S-Bahn kam zum Stehen. Fahlberg löste die Türverriegelungen, gähnte kurz und sah in den Rückspiegel.

Der Bahnsteig war leer.

Fahlberg runzelte die Stirn. Er wusste nicht, dass gerade eben noch zwei Menschen an den Gleisen gewartet hatten. Und er konnte nicht ahnen, dass einer von den beiden in den Schatten des Wartehäuschens gesprungen war.

Der andere lag jetzt zwischen den Schienen.

Besser gesagt das, was von ihm übrig war.

Es war nur eine kurze Bewegung gewesen, ein blitzartiger, kräftiger Stoß in den Rücken. Der Schrei war im Quietschen der Bremsen untergegangen, den Aufprall hatte Fahlberg nicht bemerkt, ebenso wenig, wie die gusseisernen Räder der tonnenschweren Lok sich durch den menschlichen Körper fraßen wie heiße Messer durch schmelzende Butter, Knochen waren gebrochen wie morsches Treibholz, Blut ergoss sich auf die Schwellen und versickerte jetzt im gefrorenen Schotter.

Dies alles hatte Gerd Fahlberg nicht mitbekommen. Auch nicht, dass die Lok den Oberkörper der Leiche einige Meter mitgeschleift hatte, während die Beine weiter hinten zuckend zwischen den Rädern des ersten Waggons lagen.

Fahlberg stand auf und verließ sein Führerhaus. Er wollte nur kurz nachsehen, warum der Bahnsteig plötzlich so leer war. Sicherheitshalber, man konnte ja nie wissen.

Er würde nie wieder einen Zug besteigen.

*

Leise fiel die Wohnungstür ins Schloss. Mit einem Klappern landete der Schlüsselbund auf einem Mahagonibrett neben der Garderobe. Dielen knarrten, Schritte schlurften über beigefarbenen Teppich. Ein Fernseher flackerte auf, dann hallte die Titelmelodie des Tatortes durch das kleine Wohnzimmer.

Kurz darauf saß sie auf dem Sofa, ein Glas Rotwein in der Hand, auf dem Schoß eine Glasschüssel mit Paprikachips. Sie hatte das Licht nicht eingeschaltet, ihr Gesicht leuchtete bläulich im Schein des Fernsehers. Ihr Atem ging etwas schwer, sie hatte sich beeilen müssen. Konzentriert starrte sie auf den Bildschirm, obwohl sie den Film schon gesehen hatte.

Ihr Name war Berit Steinherz, sie war sechsundzwanzig Jahre alt.

Sie mochte Rotwein, Paprikachips und deutsche Krimis. Manchmal ging sie in ihrer Freizeit ins Kino, ihre Lieblingsfilme waren Die Tribute von Panem, die hatte sie dreimal gesehen. Ab und zu brachte sie Menschen um.

Berit Steinherz war eine Serienmörderin.

Zwei

Das Grab war frisch.

Die Kränze und die Blumen waren vor zwei Wochen weggeräumt worden, nur zwei einzelne Tulpen lagen auf der sorgfältig geharkten Erde. Es war früher Morgen, die Sonne stand noch tief, kaltes Licht strahlte durch die Zweige einer kahlen Buche. Der gedrungene Schatten eines Menschen fiel auf den Grabstein aus grauem Basalt. Ein Name war in den Stein gemeißelt, darunter ein paar Zahlen.

ROBERT SCHRÖDER

1939–2013

Seit zehn Minuten stand der kleine Mann allein vor dem Grab. Er hatte die Beine leicht gespreizt, die Hände waren vor dem Schoß gefaltet, als würde er beten. Sein Kopf war ein wenig auf die Brust gesunken, um den dicken Hals wand sich ein Schal bis hinauf zum Kinn. Über dem schwarzen Anzug trug er einen altmodischen Mantel mit Fischgrätmuster, sein Kopf wurde von einer Fellmütze bedeckt, die ein paar Nummern zu groß schien.

»Mama geht es gut. Ich soll dich von ihr grüßen, Papa.«

Der Kleine sprach laut und deutlich, als würde der Tote irgendwo gegenüber im gefrorenen Gras unter den Bäumen stehen.

»Du fehlst ihr.«

Er schob die Mütze aus der Stirn.

»Mir fehlst du auch. Sehr.«

Die Beerdigung war vor vier Wochen gewesen, seitdem kam er jeden Morgen her. Jedes Mal legte er zwei frische Blumen auf das Grab, die vom Vortag nahm er mit, wenn er nach ein paar Minuten wieder ging.

Die Äste der Buche bewegten sich sacht im Wind.

»Du hättest ruhig noch ein paar Jahre bleiben können.«

Eine Weile stand der Kleine schweigend da, den Kopf ein wenig schief gelegt, es schien, als lausche er in die morgendliche Stille.

»Ich weiß, dass ich ein guter Polizist bin«, sagte er laut. Er dachte einen Moment nach. »Nein«, verbesserte er sich dann, »ich war ein guter Polizist. Es war meine Entscheidung, aufzuhören. Und sie war richtig.«

Er ging in die Hocke, hob einen verdorrten Zweig auf und warf ihn beiseite.

»Das glaube ich zumindest. Ich konnte nicht wissen, dass du nur noch ein paar Wochen leben würdest.«

Sorgfältig strich er die Erde vor dem Grabstein glatt. Als er sich wieder aufrichtete, gab sein Knie ein lautes Knacken von sich.

»Im Frühjahr pflanz ich ein paar Blumen. Margeriten, was hältst du davon?«

Wieder lauschte er einen Moment.

»Mir ist klar, dass du dir nichts aus Blumen machst. Ich bin dein Sohn, ich kenne dich ziemlich gut. Hast du das vergessen?«

Er trat seitlich an den Grabstein heran, strich vorsichtig über den Basalt. Seine kurzen Finger waren von der Kälte gerötet.

»Ich muss jetzt los, Mama wartet bestimmt schon. Und ich will den Laden pünktlich aufmachen, vorher muss ich noch einkaufen.«

Die Schritte des kleinen Mannes knirschten über weißen Kies, dann drehte er sich noch einmal um.

»Bis morgen.«

Ein Eichhörnchen hüpfte am Stamm einer Tanne empor. Der kleine Mann sah zu, wie das Tier im Geäst verschwand. Seine stahlblauen Augen glitzerten in der Sonne.

»Schlaf schön, Papa.«

Langsam, in seinem typischen, schaukelnden Gang, ging der dicke Schröder davon.

*

Vom alten Wachturm bis zum Bahnhof betrug die Entfernung ungefähr einen Kilometer. Dazwischen lag der obere Boulevard, eine heruntergekommene Fußgängerzone, die ihre besten Zeiten wohl im Mittelalter gesehen hatte, als Pferdeknechte und Fuhrwerke ihren Weg Richtung Innenstadt nahmen.

Die Läden standen zum großen Teil leer. Warum, konnte niemand genau sagen, schließlich befand sich die Straße mitten im Herzen der Stadt. Trotzdem gingen die Geschäfte schlecht, kaum jemand kam hier vorbei, geschweige denn, dass er etwas kaufte. Ab und zu fand sich ein Wagemutiger und eröffnete zwischen schiefen Bauzäunen und überquellenden Papierkörben eine neue Pizzeria, einen Herrenfriseur oder einen Zeitungsladen. Die meisten schlossen nach kurzer Zeit wieder.

Die Glocke am alten Wachturm schlug ein Uhr, der Boulevard wirkte verlassen wie ein spanisches Bergdorf während der mittäglichen Siesta. Aus der Unterführung zum Bahnhof trat ein dunkelhaariger Mann in Jeans und kurzer Lederjacke, blinzelte kurz in der Sonne und steuerte dann direkt auf einen vietnamesischen Textilhändler neben einer geschlossenen Eisdiele zu. Er umrundete ein paar schiefe Kleiderständer unter einer verblichenen Markise, wich einem rostigen Fahrradständer aus und erreichte dann eine etwas nach hinten versetzte Ladentür. Quer über das frisch geputzte Schaufenster verlief ein gezackter Riss, neben dem Eingang hing ein poliertes Messingschild.

CHEZ SCHRÖDER

Vom Gourmet für Genießer

Mo–Do von 12–15 Uhr

Claudius Zorn öffnete die Tür, ein durchdringendes Bimmeln erklang. Missmutig verzog er das Gesicht, griff eine Tageszeitung von einem Haken neben der Garderobe, setzte sich an den einzigen Tisch direkt am Fenster und begann zu lesen.

Der kleine, schlauchartige Laden war leer, die hohen Wände frisch gestrichen. Es roch nach Bohnerwachs und seltenen Gewürzen. An der Decke drehte sich ein altmodischer Ventilator, am anderen Ende des Raumes stand ein hölzerner Tresen, dahinter, durch einen Vorhang abgetrennt, schien die Küche zu sein. Leise Musik drang heraus, Töpfe klapperten.

»Bin gleich da, Chef!«

Der Vorhang teilte sich, Schröder erschien und stellte ein Glas Wasser auf die blankpolierte Tischplatte.

»Es gibt Currygeschnetzeltes mit Kartoffelbrei. Selbstgemacht, natürlich.«

Schröder trug eine karierte Kochhose, sie war ihm zu groß, er hatte sie an den Beinen hochkrempeln müssen. Vor dem dicken Bauch spannte eine weiße, frisch gebügelte Schürze. Er setzte sich Zorn gegenüber.

»Wann schraubst du endlich diese bekloppte Glocke ab?«, knurrte Zorn, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. »Dieses Gebimmel raubt einem den letzten Nerv!«

»Diese Glocke stammt noch von meinem Großvater. Wenn sie läutet, merke ich, dass Gäste kommen.«

Zorn blätterte um.

»Soweit ich weiß, bin ich dein einziger Gast.«

Schröder erwiderte nichts, ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er sah Zorn an, der ausschließlich mit seiner Lektüre beschäftigt schien.

»Steht was Interessantes drin?«

Zorn klappte die Zeitung zusammen.

»Die Pferderennbahn wird abgerissen. Und bei Aldi gibt’s Thermosocken für eins fünfzig.«

»Pro Stück?«

»Pro Paar.«

»Unglaublich.« Schröder deutete nach draußen, auf die Kleiderständer seines vietnamesischen Nachbarn. »Bei ihm sind sie doppelt so teuer.«

»Die Thermosocken?«

»Sí, señor. Aber dafür hat er Taucherbrillen im Angebot.«

»Der verkauft Taucherbrillen? Jetzt, im Januar?«

»Ich hab gestern eine erstanden«, nickte Schröder ernst. »Nachbarschaftshilfe.«

Sie sahen aus dem Fenster. Eine hochschwangere Frau lief vorbei. Mit der einen Hand schob sie einen Kinderwagen, an der anderen hielt sie ein jammerndes Kind, das sie achtlos hinter sich herzerrte.

»Hast du Hunger?«, fragte Schröder.

»Natürlich«, log Zorn. »Warum sollte ich sonst hier sein?«

Nun, der Grund war einfach: Schröder war kein Polizist mehr. Wenn Zorn ihn sehen wollte, musste er herkommen. Er vermisste diesen kleinen, dicken Mann mit dem immer kahler werdenden Schädel. Das hätte er natürlich niemals zugegeben, aber zu behaupten, dass er etwas essen wolle, war ein guter Vorwand. Vom Präsidium waren es nicht mehr als ein paar Minuten Fußweg, Zorn verbrachte mittlerweile seine Mittagspause hier, stocherte in Schröders Essen, beschwerte sich über den ungenießbaren Fraß in der Kantine und tat, als habe er schlechte Laune. Wenn er ging, hatte er sein Essen kaum angerührt.

Aber er hatte jede Sekunde genossen.

Auch das sprach er nie aus. Das musste er auch nicht, sie wussten es beide.

»Es dauert noch ein paar Minuten«, sagte Schröder, nahm einen Lappen und wischte über die blitzblank gewienerte Tischplatte. »Wie läuft’s auf Arbeit?«

»Wie immer«, brummte Zorn. »Gestern gab’s einen Unfall, ein Mann ist vor eine S-Bahn gestürzt.«

»Selbstmord?«

»Das prüfen wir grad. Tu nicht so, als würde dich das interessieren.«

»Es interessiert mich aber.«

»Dann komm wieder zurück.«

Das klang spöttisch, aber es war anders gemeint. Ernst, sehr ernst sogar.

Schröder überhörte es.

»Was macht Malina?«, fragte er.

»Sie ist in Dubrovnik, auf Dienstreise. In drei Tagen kommt sie wieder.«

»Grüß sie von mir, Chef.«

»Ich bin nicht mehr dein Chef.«

»Wie soll ich dich denn sonst nennen?« Schröder tat, als müsse er überlegen. »Claudius vielleicht?«

Zorn rümpfte die Nase. Nur zwei Menschen nannten ihn bei seinem Vornamen: Der eine war seine Mutter. Natürlich, sie hatte ihm diesen Namen eingebrockt. Der andere war Malina, allerdings nur, wenn sie wütend auf ihn war. Oder wenn sie ihn ärgern wollte.

Und überhaupt, dachte Zorn. War ich das jemals? Schröders Chef? Auf dem Papier vielleicht, aber in Wirklichkeit hatte Schröder immer bestimmt, was geschah. Unauffällig, aber mit einem sanften, fast liebevollen Druck hatte Schröder ihn durch die Ermittlungen (und, wenn Zorn länger darüber nachdachte, auch durch sein Leben) geschoben.

Das war jetzt vorbei. Endgültig.

Schröder stand auf und strich die Schürze über dem Bauch glatt.

»Möchtest du noch ein Wasser?«, fragte er und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Claudius?«

Zorn nahm seine Brille ab und sah Schröder ausdruckslos an.

»Bring mir lieber mein Essen.«

»Sehr wohl, der Herr.«

Schröder deutete eine Verbeugung an. Zorn langte nach der Zeitung und schlug sie wieder auf. »Ein bisschen pronto, wenn ich bitten darf.«

*

Zwanzig Minuten später war Zorn auf dem Rückweg. Ein scharfer Wind war aufgekommen, er hatte den Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke vergraben und stapfte mit gesenktem Kopf über den Boulevard, die unvermeidliche Zigarette im Mundwinkel. Er ärgerte sich, dass er keinen dicken Pullover angezogen hatte. Wie immer hatte er am Morgen wahllos in den Schrank gegriffen und das übergestreift, was ihm als Erstes in die Hände gekommen war.

Das würde sich demnächst wieder ändern. In drei Tagen kam Malina. Sie passte genau auf, was Zorn anzog, er brummte zwar, wenn sie seine Jacke zuknöpfte und ihm zärtlich, aber bestimmt einen Schal um den Hals schlang, aber er genoss es. Und er freute sich auf sie.

Er erreichte die Unterführung zum Bahnhof, eine runde, von überdachten Ladengeschäften gesäumte Vertiefung im Zentrum des Kreisverkehrs. Auch hier stand ein Großteil der Geschäfte leer, immerhin waren die Fenster geputzt, die Papierkörbe sauber und die Gehwegplatten gefegt.

Zorn sah nach oben. Zwanzig Meter über ihm schwang sich die Hochstraße über den Kreisverkehr, er ließ eine Straßenbahn vorbei, sprang über die Schienen und zündete sich im Schutz eines Wartehäuschens eine neue Zigarette an. Wenn er zügig weiterlief, würde sie genau bis zum Präsidium reichen. Vier Zigaretten, das war sein übliches Pensum in der Mittagspause: zwei auf dem Weg zu Schröder und zwei auf dem Rückweg.

An den Freitagen war es anders, da hatte Schröders Imbiss geschlossen. Das waren auch die Tage, an denen Zorn besonders missmutig durch das Präsidium stapfte. Niemand dort wusste, warum das so war, schließlich stand das Wochenende bevor, allerdings interessierte es auch keinen. Zorn arbeitete wieder allein, und das, so fand er, war zumindest ein kleiner Lichtblick in seinem Arbeitsleben. Trotzdem, etwas fehlte.

Ach Schröder, dachte Zorn und lief weiter, warum hast du mich nur verlassen?

Das war jetzt gerade einmal zwei Monate her, und doch kam es ihm vor, als wären inzwischen Jahre vergangen. Schröder hatte sich um seinen Vater kümmern wollen, doch der war kurz darauf gestorben. Eine Zeitlang hatte Zorn die irrsinnige Hoffnung gehegt, Schröder würde zurückkommen, doch stattdessen hatte er zu Zorns Entsetzen diesen vermaledeiten Imbiss eröffnet.

»Warum?«, hatte Zorn gefragt, als er den Laden vor drei Wochen zum ersten Mal betreten und nach einer kleinen Ewigkeit die Sprache wiedergefunden hatte.

Schröder hatte ihn lächelnd angesehen.

»Warum nicht?«, hatte er dann gefragt.

Schröder war ein guter Koch, ein hervorragender Koch sogar. Doch er war mit Leib und Seele Polizist gewesen, das wusste Zorn, und sosehr er sich auch den Kopf zerbrach, er konnte sich einfach nicht erklären, was das alles bedeuten sollte. Ein Imbiss, am hässlichsten Ort der Welt! Genauso gut hätte Schröder am Polarkreis eine Eisdiele eröffnen können. Oder ein Sonnenstudio in der Sahelzone. Ein Wasserwerk auf Feuerland. Einen Weihnachtsmarkt auf den Osterinseln. Es war absurd, als würde man Lebensversicherungen am Toten Meer verkaufen.

»Warum ausgerechnet hier?«, hatte Zorn gefragt.

Wieder hatte Schröder gelächelt. Dieses verdammte, kaum sichtbare Schmunzeln, nicht viel mehr als ein Blitzen in den Augen, früher hatte es Zorn wahnsinnig gemacht, weil er nie wusste, was es bedeutete.

»Ich wollte schon immer Gutes tun«, hatte Schröder gesagt. »Früher habe ich Verbrecher gejagt, jetzt mache ich ihnen was zu essen.«

Ich werd wohl nie verstehen, was in deinem kahlen Schädel vorgeht, dachte Zorn, als er den Parkplatz vor dem Präsidium erreichte. Unwillkürlich wurde er langsamer, als wolle er keine Sekunde zu früh zurück auf Arbeit. Im Laufen schnippte er die Zigarette beiseite, sie landete auf der Motorhaube eines Streifenwagens.

Zorn achtete nicht darauf, zog die Schultern hoch und ging hinein.

*

Das Heim hieß Abendfrieden, ein christliches Seniorenstift, es lag in einer Niederung an einem Seitenarm des Flusses. Mehrere Gebäude standen unter uralten Bäumen verstreut in einem großen Park, die meisten davon verlassen. Früher hatte sich hier ein Gutshof befunden, Ställe, Scheunen und eine kleine Backsteinkapelle rotteten still vor sich hin. Direkt am Ufer stand das ehemalige Gutshaus, noch bis vor ein paar Jahren war das klassizistische Gemäuer als Krankenhaus genutzt worden. Von hier aus führte ein Glasgang am Rande des Parkes vorbei zum Haupthaus, einem schindelgedeckten, freundlichen Neubau, der etwas zurückgesetzt von der Hauptstraße stand, versteckt hinter einer mannshohen Porphyrmauer. Jedes der insgesamt fünfzig Appartements hatte einen Balkon, die Zimmer waren hell, ein wenig karg, aber zweckmäßig eingerichtet.

»Hallo, Mama.«

Schröder stand in der Tür. In der einen Hand hielt er einen kleinen Blumenstrauß, in der anderen eine Essensbox aus gelbem Kunststoff. Seine Mutter saß in einem Korbsessel, sie hatte ihm den Rücken zugewandt und sah aus dem Fenster.

»Ich hab dein Essen mitgebracht.«

Er ging zum Sessel und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Mama?«

Sie sah erschrocken auf. Als sie ihren Sohn erkannte, lächelte sie und nahm seine Hand.

»Ich hab dich gar nicht kommen hören.«

Die alte Frau war jetzt fast vollständig ertaubt. Auf dem Tisch lag ihr Hörgerät, ein ovales fleischfarbenes Ding, er hatte lange gebraucht, sie zu überreden, mit ihm zum Arzt zu gehen. Nach dem Tod seines Vaters hatte er sie zu Hause behalten wollen, doch bei der Beerdigung hatte sie ihn beiseitegenommen.

»Ich werde bald bei ihm sein«, hatte sie mit fester Stimme erklärt. »Bis dahin möchte ich unter meinesgleichen bleiben.«

Schröder kannte seine Mutter gut. Trotz ihrer Körperfülle wirkte sie zart, zerbrechlich und unsicher. Doch wenn sie einen Entschluss gefasst hatte, konnte nichts und niemand auf der Welt etwas daran ändern. Das wusste Schröder, und so hatte er eine Weile gesucht und schließlich diesen Platz gefunden. Das Heim war teuer, sehr teuer sogar, doch es galt als eines der besten. Profane Dinge wie Geld hatten Schröder noch nie sonderlich interessiert.

Er zog den Mantel aus und nahm in einem Sessel gegenüber Platz. Es fiel ihm schwer, seine Mutter in dieser ungewohnten, fast sterilen Umgebung zu sehen: die hellen Möbel, der fliederfarbene Teppich, die große Stehlampe neben der Balkontür. Sie hatte so gut wie nichts von zu Hause mitgenommen, keinen Stuhl, keine Tischdecke, auch keine Bilder. Dies, so hatte sie gesagt, würde sie nur an ihren Mann erinnern. Und die Wartezeit war schwer genug.

»Wie geht’s dir, Mama?«

Er hatte sich vorgebeugt, damit sie sein Gesicht erkennen und die Worte von seinen Lippen ablesen konnte.

»Es ist schön hier«, sagte sie. »Du musst dir keine Sorgen machen, ich fühle mich sehr wohl. Die Pflegerinnen sind sehr nett. Und es ist lieb, dass du mir immer das Essen bringst. Ich lass es mir nachher aufwärmen.«

Schröder kochte täglich nur ein Gericht, und davon genau fünf Portionen. Eine für sich, eine für Zorn und eine für seinen vietnamesischen Nachbarn. Die vierte brachte er abends seiner Mutter, während die fünfte für den Notfall gedacht war, dann nämlich, wenn unvorhergesehenerweise ein wirklicher Gast seinen Imbiss betreten würde. Dies war bisher noch nicht der Fall gewesen und würde wohl auch nie geschehen, was in Schröders Augen unwichtig war. Geschäftliche Dinge kümmerten ihn nicht.

Zwanzig Jahre hatte er gut verdient und kaum etwas ausgegeben. Jetzt, so fand er, war es an der Zeit, etwas Sinnvolles damit zu tun, und sei es nur, die Miete für seinen kleinen Laden zu bezahlen. Egal, was andere darüber dachten. Auch das hatte Schröder noch nie interessiert.

»Brauchst du sonst noch etwas?«

Er musste die Frage wiederholen, dann verstand sie ihn.

»Ich? Nein.« Sie beugte sich vor und strich ihm eine dünne Haarsträhne aus der Stirn. Ihre knotigen Finger waren angenehm kühl, Schröder schloss einen Moment die Augen. »Ich hab alles, mein Junge. Es riecht ein wenig muffig, findest du nicht?«

»Nein, Mama.«

»Doch, doch.« Sie lachte leise. »Das kommt von mir. Ich bin fast achtzig, mein Sohn, da fängt man an zu riechen.«

Schröder wollte etwas erwidern, doch sie fiel ihm ins Wort.

»Bist du so gut und kippst das Fenster an?«

Das tat Schröder, ging wieder zu ihr, rückte das Kissen in ihrem Rücken zurecht und setzte sich neben sie. Ein paar Minuten verbrachten sie schweigend, ein kalter Luftzug wehte herein, die Gardinen bewegten sich sacht.

Dann öffnete sich die Tür, eine Pflegerin in einem weißen, kurzärmeligen Leinenkittel erschien.

»Schön, dass Sie da sind, Herr Schröder.«

Er stand auf. Sie gab ihm die Hand, eine zierliche Frau mit dunklem, streng nach hinten gekämmtem Haar, im Nacken zu einem dünnen Zopf gebunden. Mit schnellen, routinierten Bewegungen lief sie durchs Zimmer, nahm eine Wolldecke, breitete sie aus und legte sie der alten Frau auf den Schoß.

»Wir wollen doch nicht, dass Sie sich erkälten, oder?«

Schröders Mutter murmelte eine Erwiderung. Die Pflegerin ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre Hände.

»Soll ich Sie nachher zur Abendandacht abholen?«

Die alte Frau schien unsicher, sie warf Schröder einen fragenden Blick zu.

»Ich finde«, sagte er laut, »das ist eine gute Idee.«

»Ach«, sagte Frau Schröder, nachdem sie einen Moment überlegt hatte, »ich werde lieber auf dem Zimmer bleiben und ein wenig fernsehen.«

»Wie Sie möchten.«

Die Pflegerin stand auf, legte die Hand auf Schröders Arm und nahm ihn beiseite. »Ihre Mutter fühlt sich wohl bei uns«, sagte sie leise. »Sie müssen sich keine Sorgen machen.«

»Danke.«

Sie rückte ihre Brille zurecht, nahm die Packung mit dem Essen und ging zur Tür. »Ich mach ihr das nachher warm. Wenn Sie Fragen haben, können Sie jederzeit zu mir kommen. Seien Sie so gut und machen Sie das Fenster zu, wenn Sie gehen.«

Ein kurzes, aufmunterndes Nicken, dann verließ sie das Zimmer.

Die folgende halbe Stunde saß Schröder schweigend bei seiner Mutter, sie hatte seine Hand genommen und hielt sie fest in ihrem Schoß. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Das mussten sie auch nicht.

*

Später Nachmittag.

Die Sonne schien schräg in das Schwesternzimmer. Die Pflegerin saß an einem kleinen Tisch und blätterte in einer Illustrierten. Die Brille hatte sie abgesetzt, neben ihr stand eine halbleere Tasse Kaffee. Sie sah auf die Uhr, stand auf, zog die Vorhänge zu und schaltete das Licht ein. Ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Über der Tür hing ein hölzernes Kreuz, darunter ein gerahmtes Bild mit einem Bibelspruch.

Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

Sorgfältig trocknete sie ihre Hände ab, warf einen Blick in den Spiegel und strich das Haar nach hinten. Dann öffnete sie einen Wandschrank und begann, die abendlichen Medikamentendosen in kleine Schälchen zu verteilen.

Ihr Name war Berit Steinherz.

Sie roch nach Seife und frisch gestärkter Wäsche.

Keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte sie einen Mann vor einen fahrenden Zug gestoßen.

Drei

Zweiundzwanzig Jahre. Seit zweiundzwanzig verdammten Jahren war Claudius Zorn Polizist.

Das waren über achttausend Tage. Auf ein paar mehr oder weniger kam es nicht an, eine unendlich lange Zeit, es schien, als habe er im Mesozoikum seinen Dienst angetreten.

Es war kurz nach neun Uhr morgens, Zorn hatte sich in seinem Bürosessel zurückgelehnt, die Füße hochgelegt und beobachtete interessiert, wie die Spitzen seiner braunen Lederstiefel neben der Kaffeetasse auf und ab wippten. Er dachte nach.

Ja, es stimmte. Er hatte so ziemlich jeden einzelnen Tag gehasst. Wenn er sich nicht irrte, musste er jetzt ziemlich genau die Hälfte seiner Dienstzeit hinter sich haben. Früher hatten ihn die Gedanken an das, was noch vor ihm lag, mit einem unbestimmten, diffusen Unbehagen erfüllt, im Laufe der Zeit war dieses Unbehagen einer Art hilfloser Wut gewichen, hilflos deshalb, weil es kein Ziel gegeben hatte, gegen das er diese Wut richten konnte. Niemand war dafür verantwortlich, dass Zorn sich jahrelang durch ein dröges, irgendwie klebriges Beamtendasein geschmuggelt hatte, einzig und allein darauf bedacht, so wenig wie möglich in der eigenen Ruhe gestört zu werden.

Wem sollte er daran die Schuld geben?

Niemandem außer sich selbst.

Das hatte Claudius Zorn noch wütender gemacht.

Er seufzte leise. Über achttausend Tage Beamtendasein lagen hinter ihm. Und genauso viele würden noch folgen. Eine Hälfte war vorbei. Er hatte den Zenit überschritten. Die zweite Halbzeit lief. Bergfest. Jetzt ging’s abwärts.

War das gut? War das schlecht?

Zorn schob die Brille in die Stirn und rieb sich müde die Augen.

Ach, es war egal.

Nichts würde sich ändern.

Nothing, wie Schröder gesagt hätte.

Schröder, der sich einfach vom Acker gemacht hatte. Seitdem war Zorns Wut auf dieses fade Leben einer dumpfen Resignation gewichen, jetzt, wo klar war, dass Schröder es ernst gemeint hatte.

Zorn stemmte sich aus dem Sessel und ging zum Schreibtisch gegenüber. Der Arbeitsplatz war noch genauso, wie Schröder ihn verlassen hatte. Zorn hatte nichts verändert, warum, war ihm selbst nicht klar. Es war wohl derselbe Impuls, der Eltern dazu veranlasst, die Zimmer ihrer erwachsenen Kinder unberührt zu lassen in der absurden Hoffnung, dass sie irgendwann zurückkehren und sich daumenlutschend in ihre Bettchen legen, als hätten sie nie das Haus verlassen.

Ein paar Sekunden stand Zorn vor dem penibel aufgeräumten Schreibtisch, dann setzte er sich. Es quietschte leise, als er sich auf dem Sessel hin und her drehte. Seine Oberschenkel stießen gegen die Tischkante, der Stuhl war viel höher gestellt als sein eigener. Die Akten auf dem Schreibtisch waren verschwunden, ansonsten sah es so aus, als wäre Schröder nur kurz aus dem Zimmer gegangen. Neben der Tastatur stand eine abgewetzte Blechbüchse mit Stiften, Büroklammern und Radiergummis. Das grüne Mousepad war an den Rändern geschwärzt, doch akkurat zur Tischkante ausgerichtet. Daneben lag Schröders Kugelschreiber. Zorn hob ihn auf, ein einfacher, silberner Stift, ein wenig zerkratzt vom jahrelangen Gebrauch. CARPE DIEM war in den Schaft graviert. Vorsichtig legte Zorn ihn wieder zurück, strich mit dem Finger über die Kante des Monitors. Schluckte. Kämpfte gegen die Trauer, das Gefühl, den Nachlass eines Verstorbenen zu betrachten.

Es half nichts. Claudius Zorn war traurig. Sehr traurig.

Das sollte sich auch den ganzen Tag nicht ändern.

*

Sag mir, wie es war.

Das hab ich doch schon, oft genug.

Erzähl’s mir noch mal.

Was genau willst du wissen?

Hat er geschrien, als du ihn vor den Zug gestoßen hast?

Er hat gebrüllt wie ein Tier.

Was war noch?

Die Bremsen haben gequietscht. Ich hätte mir fast die Ohren zugehalten.

Hast du gehört, wie seine Knochen gebrochen sind?

O ja, das habe ich. Was soll ich noch erzählen?

Alles. Ich will alles hören.

*

Am Abend wurde es diesig. Die Temperatur war gefallen, von den Wiesen am Fluss zog Nebel in dünnen Schwaden herauf, sammelte sich im Park hinter dem Seniorenheim und bildete triefende, kreisrunde Heiligenscheine um die Laternen unter den hohen Bäumen, senkte sich auf das schindelgedeckte Dach des Neubaus. Ein blaues, vier Meter hohes Neonkreuz über dem Eingang schimmerte trübe im Dunst, das Licht spiegelte sich auf der schmalen, geteerten Zufahrt.

Ein alter Mann stand unter dem gläsernen Vordach, zog an einer Zigarette und stampfte ab und zu mit den Stiefeln auf, um die Füße zu wärmen. Herr Lehmann war siebenundsechzig, ein kleiner, von Arthritis geplagter Mann. Seit über zehn Jahren arbeitete er hier als Nachtportier und besserte so seine kümmerliche Rente auf. Viel verdiente er nicht, doch es reichte zum Leben, für die Miete, seine Zigaretten und das Futter für Luna, die Katze. Mehr brauchte er nicht, Herr Lehmann war froh, auf niemanden angewiesen zu sein. Noch kam er allein zurecht, wie es später einmal werden würde, verdrängte er. Ein Zimmer im Altersheim würde er sich sowieso niemals leisten können.

Gierig sog Herr Lehmann an seiner Zigarette, die nächste würde er erst in zwei Stunden rauchen können. Hinter ihm öffnete sich lautlos die Tür, ein warmer Luftstrom drang aus der Eingangshalle. Eine schlanke Frau in einem braunen Kapuzenanorak kam hastig heraus, in der Hand hielt sie eine schwarze Ledertasche. Lehmann wandte sich um, die Zigarette noch immer in der Hand. Funken flogen, Glut stob auf.

»O Gott«, sagte Herr Lehmann, »das tut mir aber leid, Schwester!«

Die Zigarette lag zerbrochen am Boden. Lehmann betrachtete das große Brandloch auf der linken Jackentasche der Frau und hob erschrocken die Hände.

»Ich hab Sie gar nicht kommen hören!«

Die Frau stellte die Tasche ab, trat einen Schritt zurück, sah auf das Loch in der Jacke, dann zu Lehmann. Ihre Augen waren hinter der Brille nicht zu erkennen, blaues Licht spiegelte sich in den Gläsern.

»Dieser Dederonstoff«, murmelte Herr Lehmann verwirrt, »brennt wirklich wie Zunder. Ich werd Ihnen den Schaden natürlich ersetzen.«

Die Frau schwieg, ihr Gesicht blieb starr.

»Das macht nichts«, sagte sie nach einer Weile.

»Wirklich?« Herr Lehmann atmete erleichtert auf. »Ich bin nicht versichert, aber wenn Sie mir sagen, was die Jacke gekostet hat, gebe ich Ihnen das Geld zurück.«

Die Frau griff nach ihrer Tasche und wandte sich zum Gehen.

»Nicht nötig.«

»Sind Sie sicher? Es ist wirklich nicht schlimm?«

Herr Lehmann war einfach gestrickt, doch sehr pflichtbewusst. Verantwortung hatte er sein ganzes Leben lang übernommen.

»Nein.« Berit Steinherz lächelte. »Es ist überhaupt nicht schlimm.«

Sie ging.

Vier

Am nächsten Morgen stand Claudius Zorn im Büro und starrte mit verquollenen Augen aus dem Fenster. Es hatte zu schneien begonnen, der Neuschnee hatte bereits eine dünne, glitzernde Schicht auf dem Parkplatz gebildet.

Zorn gähnte. Hinter ihm türmten sich ungelesene Akten, Berichte und Gesprächsprotokolle auf dem Schreibtisch, im Rechner warteten Dutzende E-Mails auf Antwort.

Geistesabwesend fuhren seine Finger über den Henkel von Schröders Teetasse, sie stand noch immer auf dem Fensterbrett, direkt neben der Kaffeemaschine. Auch seinen tragbaren CD-Player hatte Schröder dagelassen, ein graues ovales Plastikgerät mit vergoldeten Knöpfen, das vor fünfzehn Jahren einmal futuristisch gewirkt hatte.

»Die Stopptaste klemmt ein bisschen«, hatte Schröder zum Abschied gesagt. »Aber er klingt immer noch hervorragend.«

Zorn zögerte einen Moment, dann drückte er auf Play. Ein Surren, dann ertönten die ersten Akkorde eines klassischen Klavierkonzertes. Zorn sah den wirbelnden Flocken zu, lauschte den getragenen Klängen und dachte daran, dass er Schröder immer verboten hatte, in seinem Beisein Musik zu hören, angeblich, weil er sich dann nicht auf seine Arbeit konzentrieren könne. Das stimmte auch zu einem gewissen Teil, vor allem aber hatte Zorn sich daran gewöhnt gehabt, keinerlei Rücksicht auf Schröder zu nehmen, diesen gutmütigen, selbstlosen Menschen, während er, Zorn, ein eitler Ignorant war, ohne Interesse an dem, was andere dachten. Wahrscheinlich, überlegte Zorn weiter, war Schröder erleichtert, dass er endlich seine Ruhe hatte, es musste die Hölle gewesen sein, tagein, tagaus von einem mürrischen, unfähigen Angeber durch die Gegend gescheucht zu werden und …

»Sie hören Rachmaninow?«

Zorn fuhr erschrocken herum. Wie lange Frieda Borck schon in der Tür stand, wusste er nicht.

»Die Stopptaste klemmt.«

Das war das Erste, was ihm einfiel. Die junge Staatsanwältin lehnte im Türrahmen und sah ihn schweigend an. Zorn wurde rot, er kam sich vor wie ein ertappter Schuljunge.

»Muss ich mich jetzt entschuldigen?«

»Weil die Stopptaste klemmt?«

»Weil ich …«

Er zögerte. Wie hieß der Typ?

»… Rachmaninow höre.«

Verlegen wandte er sich dem CD-Player zu, um die Lautstärke hochzuregeln.

»Das tu ich öfter.«

Er verwechselte die Knöpfe, stattdessen drehte er die Bässe auf Anschlag. Das Gerät reagierte sofort: Die perlenden Klaviertöne mutierten zu einem verzerrten Brummen.

»Aha«, meinte Frieda Borck.

Zorn drückte die Stopptaste, nichts geschah. Das Brummen wurde lauter, verstärkte sich zu einem asthmatischen Rumpeln.

»Dann kann ich mich besser auf meine Arbeit konzentrieren.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich ans Fensterbrett und sah die Staatsanwältin ausdruckslos an. Sie erwiderte seinen Blick. In diesem Moment wurde Zorn klar, dass sie genau wusste, was in ihm vorging. Wie sehr er Schröder vermisste. Und er ahnte, dass es bei ihr genauso war.

Der CD-Player vibrierte, als würde er jeden Moment explodieren.

Frieda Borck gab sich einen Ruck.

»Es gibt Arbeit«, sagte sie.

»Toll«, erwiderte Zorn.

*

Der Mann war drei Schritte neben der Bank zu Boden gesunken. Er schien schon eine Weile hier zu liegen, sein Mantel war mit einer Schneeschicht bedeckt. Die Beine hatte er dicht an den Bauch gezogen, die dunkle Hose war ein Stück hochgerutscht, man sah die schwarzen Nylonstrümpfe, darüber ein Stück der behaarten Unterschenkel. Das Gesicht war nicht zu erkennen, der linke Arm bedeckte die Augen, als wäre es ihm peinlich, hier, an einem Dienstagmorgen, tot neben einer Bank in der Mitte des Stadtparkes zu liegen.

Zorn lehnte rauchend am efeubewachsenen Stamm einer Eiche. Schräg gegenüber gabelte sich der Weg, ein schiefer Gedenkstein stand auf dem Rasen. Er trat näher, schob die Brille nach oben und versuchte, die verwitterte Inschrift zu entziffern.

Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit.

Haha, dachte Zorn und lachte freudlos auf. Passt perfekt.

Er setzte die Brille wieder auf, sah hinüber zu den Männern der Spurensicherung. In ihren weißen Schutzanzügen wirkten sie, als wären sie soeben einem Raumschiff entstiegen.

Er hörte Schritte, drehte sich um. Ein uniformierter Beamter kam den Kiesweg heraufgeschlendert.

»Herzinfarkt, wie’s aussieht.«

Schnaufend blieb er neben Zorn stehen. Der Mann ging auf die fünfzig zu, er war klein, kräftig gebaut, die dick gefütterte Uniformjacke spannte über der breiten Brust. Er wirkte wie ein etwas aus der Form geratener Boxer, die Haut seines Gesichtes war grau, ein wenig teigig. Dazwischen kleine, stechende Augen, sie schienen ständig in Bewegung zu sein.

»Scheißkälte.«

Zorn wusste, dass er sich unter der tief in die Stirn geschobenen Mütze eine Glatze rasiert hatte. Dass er sämtliche amerikanischen Polizeiserien im Fernsehen sah und versuchte, wie eine Mischung aus Chuck Norris und Jack Nicholson zu wirken. Und dass er Karnick hieß. Oder so ähnlich. Mehr wusste Zorn nicht über ihn. Es interessierte ihn auch nicht.

»Man friert sich noch die Eier ab«, knurrte Karnick, der in Wahrheit Bert Kanthak hieß, Oberwachtmeister war und seit Jahren vergeblich auf eine Beförderung wartete. Als er zu Zorn aufsah, entblößte er zwei Reihen großer, gelblicher Zähne. »Musste der Kerl ausgerechnet bei diesem Wetter die Hocke machen?«

Zorn sog schweigend an seiner Zigarette. Nein, er mochte den Mann nicht. Er erinnerte ihn an eine schlechte Kopie von Schröder. Eine laute, äußerst vulgäre Kopie.

»Der Tote heißt Herbert Lehmann, siebenundsechzig Jahre alt. Er hatte seine Papiere dabei.« Kanthak deutete über die Schulter. »Dort hinten hat er gewohnt, neben diesen Angebervillen, oben auf dem Berg beim Gymnasium.«

Der Park lag im nördlichen Teil der Stadt, auf einem hügeligen, bewaldeten Gelände. Im Osten wurde er durch eine Reihe alter herrschaftlicher Häuser begrenzt. Kieswege durchzogen die gepflegten Gärten, Tafeln erinnerten daran, dass schon Goethe auf diesen Pfaden gewandelt war. Noch etwas, das Claudius Zorn herzlich egal war.

Direkt vor ihnen fiel das Gelände sanft ab. Links lag ein Spielplatz, rechts erstreckte sich eine Wiese bis zu einer hohen Hecke, dahinter rauschte der Verkehr einer Schnellstraße.

»Er hat als Nachtportier im Altersheim gearbeitet«, fuhr Kanthak fort, »unten am Fluss. Seine Schicht war morgens um vier zu Ende. Wahrscheinlich wollte er nach Hause, der Weg führt direkt hier an der Bank vorbei. Er setzt sich hin und …« Kanthak fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals. »Herzinfarkt. Den Rest hat ihm die Kälte gegeben.«

Räder knirschten auf dem Kies. Ein Leichenwagen tauchte unter den Bäumen auf und näherte sich im Schritttempo.

»Wie lange hat er da gelegen?«, fragte Zorn.

Kanthak sah auf seine Armbanduhr, ein klobiges, vergoldetes Rolex-Imitat.

»Viereinhalb, vielleicht fünf Stunden.«

»Irgendwelche Auffälligkeiten?«

»Auffälligkeiten?« Kanthaks Lachen erinnerte an das Bellen einer erkälteten Bulldogge. »Da drüben liegt ’ne Leiche, ist das nicht auffällig genug? Ich meine, was soll denn noch …«

»Fremdeinwirkung«, unterbrach Zorn ruhig.

Kanthak zuckte die Achseln.

»Kann mir nicht vorstellen, dass die Marsmännchen was finden.«

Die Männer der Spurensicherung unterhielten sich leise. Einer von ihnen hatte das Handy am Ohr, gab den anderen ein Zeichen. Sie begannen, ihre Koffer zu packen.

»Zeugen?«, fragte Zorn.

»Nee.«

Kanthak verschränkte die Arme auf dem Rücken und wippte auf den Schuhsohlen vor und zurück. Zorn sah unangenehm berührt beiseite. Schröder tat dasselbe, wenn er nachdachte.

Fehlt nur noch, dass er nothing, Chef sagt, dachte Zorn. Dann spring ich ihm ins Gesicht. Mit Anlauf.

»Vielleicht«, sagte Kanthak, »hat ihm jemand hier aufgelauert. Schließlich scheint er jede Nacht hier langgelaufen zu sein. Man musste sich nur hinter der Bank verstecken und …«

»Das Spekulieren sollten Sie anderen überlassen. Wir sind hier nicht im Kino. Ich bin nicht Columbo, und Sie sind nicht Doktor Watson.«

Obwohl du’s gern wärst, du Affe, fügte Zorn in Gedanken hinzu.

Der Mann mit dem Handy kam schwerfällig näher. Er bewegte sich langsam, der Schutzanzug raschelte. »Wir müssen weiter«, erklärte er und zog den Mundschutz nach unten. »Es gibt einen Einbruch im Landesmuseum.«

Hinter ihm wurde ein Reißverschluss aufgezogen. Zwei Männer in schwarzen Mänteln hievten den Toten in einen Leichensack.

»Irgendwelche Auffälligkeiten?«, wiederholte Zorn.

»Der Notarzt tippt auf Herzinfarkt.«

Kanthak breitete die Arme aus und sah zu Zorn auf.

Hab ich’s nicht gesagt?

»Wie’s aussieht, wollte er sich kurz ausruhen, hat sich auf die Bank gesetzt und eine Zigarette geraucht.« Der Mann von der Spurensicherung streifte seine Handschuhe ab. »Das war dann die letzte in seinem Leben.«

Er nickte Zorn müde zu und ging steifbeinig davon.

Wieder ließ Kanthak ein kurzes, meckerndes Lachen ertönen, dann schlug er Zorn mit der flachen Hand auf den Rücken. »Wie sag ich immer? Rauchen kann tödlich sein. Solltest du dir merken.«

Ein Motor wurde gestartet. Langsam fuhr der Leichenwagen davon.

Zorn sah Oberwachtmeister Kanthak ausdruckslos an.

»Seit wann duzen wir uns?«

Kanthak blinzelte. Seine kleinen Augen verengten sich einen Moment. Dann grinste er kurz, schob die Mütze aus der Stirn und ging davon. Nach drei Schritten blieb er stehen und spuckte in den Schnee.

»Dummes Schwein«, knurrte er, ohne sich umzudrehen. Dann lief er weiter.

Claudius Zorn hatte es gehört.

Aber auch das war ihm egal.

Natürlich war es das.

*

Früher Abend. Der Schneefall war stärker geworden.

Die Wolken hingen über dem Park wie ein Haufen ungewaschener Bettlaken. Kein Wind. Flocken taumelten zwischen den hohen Bäumen zur Erde, verteilten sich über Wiesen, Wege, efeubedeckte Mauern. Ein schimmernder Schleier aus geborstenem Glas.

Im Park war es still. Nur selten verirrte sich jemand nach Einbruch der Dunkelheit hierher. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte der Park als gefährlich gegolten, vor Jahren waren innerhalb weniger Wochen vier Frauen von einem Unbekannten angefallen worden. Der Mann wurde nie gefasst, er ging als Grapscher vom Bürgerpark in die Annalen der lokalen Presse ein und war schnell wieder vergessen, ebenso wie die Diskussion, Laternen aufzustellen, um den Park vor allem im Winter sicherer zu machen.

Am Spielplatz ertönte ein Quietschen, gefolgt von einem metallischen Knacken. Reifen knirschten auf der dünnen Schneedecke, dann war ein Keuchen zu hören. Ein magerer, höchstens zwölfjähriger Junge kam näher, er stemmte sich gegen den Lenker eines altmodischen Damenfahrrades. Er musste es schieben, der Vorderreifen war platt. Handschuhe hatte er nicht, auch keine Jacke, zum Schutz vor der Kälte hatte er die Ärmel seines dünnen Kapuzenpullovers über die Hände gezogen. Langsam kam der Junge voran, bemüht, auf dem glatten Boden nicht den Halt zu verlieren. Was ihm nur teilweise gelang, denn als er die Bank in der Mitte des Parks passierte, rutschte er aus, das Rad entglitt seinen Händen und krachte auf den Kiesweg.

»Scheißding!«

Der Junge schniefte und sah in den Himmel. Schneeflocken schmolzen auf seinem schmutzigen Gesicht. Es war dunkel hier. Unten, von der Straße, fiel ein wenig Licht durch die Bäume in den Park.

Ein wenig unheimlich, aber nur ein bisschen. Der Junge war gerade mal zwölf, aber er war Schlimmeres gewohnt. Vielleicht hätte er sich gefürchtet, wenn er gewusst hätte, dass vor wenigen Stunden genau auf dieser Bank ein Mann gestorben war. Aber davon hatte der Kleine keine Ahnung.

Er versetzte dem Fahrrad einen Tritt. Vor knapp zwei Minuten hatte er es gestohlen, direkt vor einer Apotheke, der platte Reifen war ihm zu spät aufgefallen. Mehr als zehn Euro würde er nicht dafür bekommen, die Hälfte musste er seinem Vater abgeben. Für die Haushaltskasse. So nannte der Alte die zerbeulte Blechbüchse, in der er das Geld für den Schnaps sammelte.

Noch ein Tritt.

Die Spitze des dünnen Stoffturnschuhs verfing sich in den Speichen, der Junge taumelte zurück, machte ein paar unsichere Schritte, stolperte rückwärts über die Bank und landete direkt dahinter auf dem Rücken.

Einen Moment lag er benommen da. Sein Hinterkopf pochte, er hatte sich an einem Stein gestoßen. Er war müde, alles tat ihm weh. Aber er weinte nicht, das hatte er sich schon lange abgewöhnt.

Er lag direkt unter einer großen Blautanne. Sein linker Fuß war verdreht, Steine piksten in seinen Rücken. Etwas streifte seine Finger. Er hob es auf, ein Stück rot-weiß gestreiftes Band, mit schwarzen, fetten Buchstaben bedruckt. Der Junge war nicht sonderlich gut in der Schule, aber mit dem Lesen kam er mittlerweile halbwegs zurecht. POLIZEIABSPERRUNG entzifferte er.

Der Kleine hustete und sah nach rechts. Gefrorenes Gras kitzelte an seiner Wange. Direkt unter der Bank, da, wo der Schnee nicht hinfiel, hatte sich ein dunkles Rechteck gebildet. Einen Meter dahinter wuchs eine Hecke, zwischen abgebrochenen Zweigen und totem Laub blitzte etwas auf.

Der Junge war ständig auf der Suche nach etwas, das sich zu Geld machen ließ, sein geübtes Auge erkannte sofort, wenn er etwas Nützliches fand. Er rappelte sich auf, rutschte auf den Knien ein Stück vorwärts. Kurz darauf hielt er eine Zehncentmünze in den Händen, die halb verdeckt im Gras gelegen hatte. Die schmale Hülse aus durchsichtigem Plastik direkt daneben ignorierte der Kleine, er hatte keine Ahnung, dass es sich um die Schutzabdeckung einer Einwegspritze handelte.

Der Junge steckte die Münze ein und trat zurück auf den Weg. Zehn Cent, das war so gut wie nichts, aber besser als überhaupt nichts. Es war ihm egal, von wem das Geld stammte. Natürlich konnte er nicht wissen, dass letzte Nacht an genau dieser Stelle eine Frau im Gebüsch gewartet hatte, dass sie einen braunen Anorak getragen hatte mit einem Brandloch in der linken Tasche, dass die Münze durch ebendieses Loch gerutscht war, als die Frau nach vorn geschnellt war und dem alten Mann auf der Bank eine Einwegspritze in den Oberschenkel gerammt hatte.

Selbst wenn er es gewusst hätte, es wäre dem Jungen wohl egal gewesen. Mit hängenden Schultern machte er sich auf den Weg, ohne das gestohlene Rad auch nur eines Blickes zu würdigen. Zu Hause würde sein Vater ihn verprügeln.

Auch das war der Kleine gewohnt.

*

Ist er tot?

Ja.

Hat er geschrien?

Nein. Es ging schnell.

Wie sah er dabei aus?

Es war dunkel. Ich habe kaum etwas gesehen.

Hat es lange gedauert, bis er tot war?

Nein. Das Gift wirkt schnell.

Erzähl mir mehr! Ich will mehr wissen!

Es gibt nicht viel mehr zu erzählen.

Dann war es sinnlos. Wenn du mir nichts erzählen kannst, war es sinnlos.

Fünf

Sie atmet ein.

Ein hohes, irgendwie schmieriges Quietschen ertönt, die Plastikfolie vor ihrem Mund wölbt sich nach innen. Ein weiterer, sinnloser Versuch, ihr Körper biegt sich, bäumt sich auf, dreht sich um die eigene Achse. Sie sackt zurück, spürt etwas Hartes im Rücken. Ihre Brille, sie liegt unter ihr auf dem Teppich. Das braune Plastikgestell ist verbogen, er muss sie ihr aus der Hand geschlagen haben, als er sie angegriffen hat.

Das kann nicht länger als eine Minute her sein. Sie hat geschlafen, tief und fest, plötzlich, wie aus dem Nichts war er über ihr, mit der einen Hand hat er ihr das Kissen ins Gesicht gedrückt, die Finger der anderen schlossen sich um ihren Hals. Sie hat gestrampelt, doch er ist stark, sehr stark. Instinktiv griff sie neben sich auf den Nachttisch, dahin, wo sie die Brille gestern Abend abgelegt hatte, wehrte sich mit allen Kräften. Fast hätte sie ihm den Bügel ins Auge gerammt, sie hat gehört, wie er aufschrie, sein Griff allerdings lockerte sich nicht. Wahrscheinlich hat sie ihn nur an der Nase erwischt, vielleicht auch an der Oberlippe, sie weiß es nicht, sie hat nichts gesehen.

Dann muss sie kurz ohnmächtig geworden sein, wahrscheinlich nur ein paar Sekunden. Als sie wieder zu sich kam, zerrte er sie an den Haaren zur Schlafzimmertür. Er hatte sich ihr Haar um die Hand gewickelt wie einen Strick, zog sie mit einem Ruck vom Bett, als wäre sie eine Schaufensterpuppe. Sie griff nach seinem Handgelenk, es schien, als würde ihr die Kopfhaut stückweise vom Schädel gerissen.

Wieder dieses widerliche Zischen, als sie erneut zu atmen versucht. Das Geräusch kommt von der Einkaufstüte, er hat sie ihr über den Kopf gestülpt. Sie riecht das Plastik, ein sonderbarer Geruch nach Staub und Klebstoff, dazu ihren eigenen sauren Atem und etwas anderes. Hefeteig. Er muss die Tüte aus der Küche geholt haben, sie hatte die Brötchen darin aufbewahrt. Krümel jucken auf ihrem Gesicht, Schweiß läuft ihr in die Augen.

Sie verliert die Kontrolle über ihren Körper, jede Faser, jede Zelle schreit, nein kreischt nach Sauerstoff, sie zerrt an der Fessel, das Leder des Gürtels gräbt sich tief ins Fleisch ihrer Handgelenke. Dann ein Poltern, als würde jemand mit bloßen Fäusten gegen eine Wand hämmern. Nein, es sind nicht die Nachbarn, die sich wegen des Lärms beschweren. Die Wände sind dick, niemand im Haus kann sie hören. Es sind ihre Füße, sie trommeln auf den Teppich, verheddern sich in der Bettdecke, die halb auf dem Boden liegt.

Wieder biegt sich ihr Körper durch, es scheint, als müsse ihr Rückgrat jeden Moment brechen. Ein Zittern. Dann erschlafft sie.

Die Sekunden vergehen.

Drei. Vier. Fünf.

Die Tüte wird ihr vom Kopf gerissen. Sie bekommt einen Schlag ins Gesicht. Leicht, fast spielerisch, mit der flachen Hand. Ein Röcheln, rasselnd füllen sich ihre Lungen, als würden sie keine Luft, sondern Kieselsteine einatmen.

Berit Steinherz öffnet die Augen.

»Das war gut«, murmelt sie. Ihre Stimme klingt belegt, sie hat sich auf die Zunge gebissen. »Etwas zu früh, aber gut.«

*

Claudius Zorn verabscheute große Räume, vor allem, wenn sie mit Menschen gefüllt waren. Folgerichtig hatte er sich in eine Ecke der riesigen Wartehalle am Flughafen verzogen, lehnte an der Wand neben einer Frühstücksbar, nippte an einem Pappbecher mit Cappuccino und war froh, wenigstens hier einigermaßen seine Ruhe zu haben. Der Kaffee war geradezu unglaublich teuer gewesen und schmeckte, wie Zorn missmutig feststellte, nach einer Mischung aus verbrannten Autoreifen und verwesenden Gummibärchen.

Sechs Uhr morgens.

Es passierte selten, dass Zorn pünktlich zu einem Termin erschien, noch seltener war es, dass er zu früh kam. Auf der großen Anzeigentafel gegenüber war zu lesen, dass Malinas Flieger in zwanzig Minuten landen würde.

Zorn gähnte. Er hatte noch Zeit.

Vielleicht fünfzig Menschen verteilten sich im Terminal, ein halbes Dutzend hatte sich an einen der Aluminiumtische in der Nähe des Cafés verirrt, die meisten lasen Zeitung, tranken frisch gepressten Orangensaft und aßen eines der belegten Brötchen, die hier petit pain aux herbes et fromage hießen und mehr kosteten als ein komplettes Mittagessen in der Kantine des Präsidiums – inklusive Nachtisch.

Die Kaffeeverkäuferin, eine untersetzte Frau mit blondem (für Zorns Begriffe eindeutig zu blondem) Haar, wuselte geschäftig hinter dem Tresen umher, ab und zu warf sie Zorn einen Blick zu, den er nicht recht deuten konnte. Und auch nicht wollte: Die Zeiten, in denen er mit einer Kellnerin geflirtet hätte, waren vorbei. Es gab Malina, andere Frauen interessierten ihn nicht. Schon gar nicht, wenn sie weiße, gestärkte Hemden anhatten, eine giftgrüne Fliege um den Hals trugen und eine Weste, auf der ein Button mit der Aufschrift GENIESSEN AN365TAGEN IM JAHR! prangte.

Zorn rieb den steifen Nacken, trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und postierte den halbvollen Becher auf dem Rand eines Papierkorbes.

»Schmeckt’s Ihnen nicht?« Die Kellnerin schien Zorns Gesichtsausdruck bemerkt zu haben. Sie war ungefähr in seinem Alter, ihr Haar musste dringend nachgefärbt werden, die Ansätze wurden bereits schwarz. »Ich kann Ihnen auch einen Marocchino machen.«

»Einen was?«

Sie wiederholte das Wort. In Verbindung mit ihrem singenden, sächsischen Tonfall klang es wie eine seltene Spinnenart. Oder ein brasilianischer Fußballer.

»Das ist ein Espresso mit Milchschaum«, erklärte sie mit wichtiger Miene. »Mit Kakaostreuseln obendrauf.«

»Nicht nötig«, wehrte Zorn ab. »Meiner ist total lecker.«

»Das wollte ich hören, junger Mann.«

Die Kellnerin zwinkerte ihm zu, ging zu einem leeren Tisch und begann, das Geschirr abzuräumen.

Zorn gab seinem Kaffeebecher einen unauffälligen Schubs, er verschwand mit einem dumpfen Ploppen im Papierkorb.

Er gähnte, sah hinauf zur Anzeige, las die Namen der Abflughäfen.

Djerba. Alicante. Valencia. Antalya.

Er kannte diese Orte nur vom Hörensagen, aber er wusste, dass es dort jetzt warm war, dass die Sonne schien. Kein Winter, kein Schnee, kein Matsch auf den Straßen.

Ein ungewohntes Puckern machte sich in Zorns Magen breit, vielleicht, tippte er, war das ja so etwas wie Fernweh? Oder kam das vom Kaffee?

Er wusste es nicht genau.

Auf der Tafel begann es zu blinken, neben einem weiteren Namen: Dubrovnik.

Das Puckern im Bauch verstärkte sich, und Zorn ahnte jetzt, dass es weder vom Kaffee noch vom Fernweh kam.

Malina, sie war gelandet. Er freute sich auf sie.

Eine Woche war sie weg gewesen. Die ersten beiden Tage hatte Zorn sogar ein wenig genossen, es war fast wie früher, abends hatte er oben in seiner Wohnung am Fenster gestanden, Musik gehört und rauchend hinab auf die frierende Stadt gesehen. So, wie er es jahrelang getan hatte. Bald hatte er gespürt, dass etwas fehlte, eigentlich von Anfang an, seit dem Moment, in dem die Wohnungstür hinter Malina ins Schloss gefallen war, dass es eben nicht wie früher war, dass er die ganze Zeit auf etwas wartete. Darauf, dass die Tür wieder aufging. Dass Malina zurückkam.

Da war ihm klargeworden, dass jetzt alles anders war. Endgültig. Etwas in ihm – der alte, störrische Zorn – sagte ihm, dass das nicht gut war, dass er seine Freiheit verloren hatte, jetzt, da er von einem anderen Menschen abhängig war. Aber was sollte er schon dagegen tun?

Er konnte sich nicht wehren, also ließ er es geschehen. Und das war gut so.

Schräg gegenüber wurden ein paar Rollos hochgezogen, der Buchladen öffnete. Ein junger Mann in blauem Overall schob müde einen Ständer mit Zeitschriften heraus.

Aus versteckten Lautsprechern erklang eine computergenerierte Frauenstimme, Zorn verstand nicht, was genau gesagt wurde, die abgehackten Sätze flatterten zwischen den hohen Glaswänden wie ein aufgescheuchter Krähenschwarm. Eine weitere Durchsage, diesmal noch unverständlicher. Zorn war nicht sicher, aber er schätzte, dass das Kauderwelsch auf Englisch (oder Inuit?) wiederholt wurde.

Es kam Bewegung in die Halle. Ein paar Menschen erhoben sich, weiter hinten glitten Glastüren auseinander. Reisende in leichter Kleidung strömten herein, ihre Gesichter waren gebräunt, Rollkoffer klapperten über den glatten Boden.

Zorn erhob sich ebenfalls. Einem ersten Impuls folgend, wollte er die Brille abnehmen, noch immer war es ihm peinlich, mit diesem Ding gesehen zu werden. Das ließ er dann aber bleiben, schließlich war es Malina gewesen, die ihn überredet hatte, zum Optiker zu gehen.

Er wartete, sein Puls beschleunigte sich.

Dann sah er sie, und im Herzen des Claudius Zorn ging die Sonne auf.

Eine Minute darauf hielt er Malina im Arm.

Endlich.

*

»Möchtest du Tee?«, fragte Berit Steinherz.

Es war kalt in der kleinen Küche. Auf der Uhr über der Spüle war es kurz nach sieben, im Radio lief der Wetterbericht. Heute, brüllte Guido, der Wettermän, gutgelaunt in sein Mikrophon, würde es noch kälter werden, ein neues Tiefdruckgebiet näherte sich von den Britischen Inseln, am Nachmittag sollte es über Deutschland eintreffen und neuen Schnee mitbringen. Das, kreischte Guido, wäre schlichtweg phantastisch.

Phan-tas-tisch! Endlich Winter! Spiel! Spaß! Gute Laune!

Berit Steinherz wiederholte die Frage.

Der junge Mann sah kurz auf, schüttelte schweigend den Kopf. Er war ein paar Jahre jünger als sie, Anfang zwanzig, über einen Meter neunzig groß. Ein hagerer, dünner Mann, mit langen, affenartigen Armen, er wog nicht mehr als siebzig Kilo. Doch er war stark. Und schnell, wenn es darauf ankam. Das war einer der Gründe, weswegen sie ihn ausgesucht hatte.

Sie saßen am Tisch direkt unter dem Fenster, wie ein Studentenpärchen beim Frühstück. Berit Steinherz trank Tee aus einer roten Porzellantasse mit weißen Punkten, sie hatte zwei Teller und eine Blumenvase auf den Tisch gestellt. Im Radio lief jetzt ein Song von Robbie Williams, sie beugte sich hinüber und drehte lauter. Ihr Haar war nass, sie hatte geduscht. Die Lippen waren noch immer geschwollen, ihre Augen gerötet, am Hals, dort, wo sie gewürgt worden war, hatten seine Fingernägel kleine, halbmondförmige Wunden hinterlassen.

Sie schnitt eine Scheibe Brot ab, bot ihm schweigend davon an. Wieder schüttelte er den Kopf, fuhr sich verlegen mit der Hand über das raspelkurze Haar. Am Hinterkopf glänzte eine runde Stelle, wie ein Loch im Rasen eines schlechtgepflegten Fußballplatzes. In ein paar Jahren würde er vollständig kahl sein.

Sie trank einen Schluck Tee, musterte ihn über den Rand der Tasse. Die buschigen Augenbrauen, die großen, etwas unregelmäßigen Zähne. Über seinem linken Jochbein glänzte ein roter, blutunterlaufener Striemen, der Brillenbügel hatte sein Auge tatsächlich nur knapp verfehlt.

»Beim nächsten Mal wirst du härter zuschlagen.«

Er nickte und sah auf seine großen, langgliedrigen Hände, mit denen er sie eben noch fast erwürgt hatte. Es war gut, fand sie, dass er so wenig redete. Noch besser war, dass er selten Fragen stellte, nur dann, wenn es wichtig war. Als wüsste er, was sie von ihm erwartete.

Er nahm ein Stück trockenes Brot und begann, langsam und bedächtig zu kauen. Dumm war er nicht, ein wenig langsam vielleicht. Er tat alles, was sie von ihm verlangte. Alles. Nicht weil er geistig zurückgeblieben war, sondern weil sie, Berit Steinherz, es so wollte. Ein weiterer Grund, weswegen er ab und zu bei ihr sein durfte. Der Hauptgrund.

»Wenn ich mit dir zufrieden bin, darfst du vielleicht mit mir schlafen.«

Das war ihm peinlich, unangenehm berührt sah er beiseite.

»Willst du das?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen.

»N-nein.«

Ein Stottern. Das passierte ihm manchmal, wenn er unsicher war.

Sie nickte zufrieden. Er war anders, gut so.

Den meisten Männern kam es nur darauf an, fast alle waren so, wollten nichts anderes. Berit Steinherz kräuselte verächtlich die Lippen. Es war nicht zu ändern. Aber man konnte es sich zunutze machen.

Die Musik im Radio wurde leiser.

Come and hold my hand, I want to contact the living.

Noch immer spürte sie den salzigen Blutgeschmack im Mund. Vorsichtig trank sie einen Schluck Tee. Besser.

»Du wirst mich niederschlagen. Kein Kissen diesmal.«

»Wann?«, fragte er.

»Das überlass ich dir. Überrasch mich. Aber ich will wach sein.«

Er straffte sich unmerklich.

»Nicht jetzt.« Sie stand auf. »Ich muss auf Arbeit.«

In der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Im Küchenschrank liegt alles, was du brauchst. Du weißt, was wir besprochen haben. Sei vorsichtig.«

Er nickte.

Natürlich wusste er es.

Und er würde sich daran halten.

*

Es war noch dunkel, als sie auf der Autobahn zurück in Richtung Stadt fuhren. Malina saß neben Zorn auf dem Beifahrersitz, den linken Arm hatte sie um seinen Nacken gelegt. Es herrschte kaum Verkehr, die Straße war trocken. Trotzdem fuhr Zorn langsam, er genoss jede Sekunde, ihre kühlen Finger in seinem Haar, ihren Duft, die Wärme, die von ihr ausging.

»Alles gut?«, fragte sie nach einer Weile.

»Klar doch.«

Zorn drosselte das Tempo, vor ihm schlich ein Lastwagen über die Autobahn. Die Fahrbahn war dreispurig, er hätte ohne Probleme überholen können, tat es aber nicht.

»Wie war’s bei dir?«, fragte er stattdessen.

Sein Blick war stur auf die Rücklichter des LKW gerichtet, doch aus den Augenwinkeln registrierte er, dass sie ihn verwundert ansah.

»Interessiert dich das wirklich?«

»Sicher doch.«

Er wusste, dass Malina in Kroatien für ein Reisebüro arbeitete, Tauchtouren in der Adria organisierte und die meiste Zeit mit langweiligem Papierkram beschäftigt war. Im Moment war ihm egal, was sie erzählte. Er wollte ihre Stimme hören, mehr nicht.

»Es war wie immer«, sagte sie. »Ein bisschen öde vielleicht. Ich habe drei neue Touren entworfen, ungefähr tausend Verträge unterschrieben und zehn kroatische Hotelpagen gevögelt.«

»Gleichzeitig?«

Sie lachte.

»Nee. Aber pro Tag.«

Gott, wie er dieses Lachen liebte.

Malina kuschelte sich tiefer in ihren Sitz und sah aus dem Fenster. Rechts von ihnen tauchten die Lichter des Chemiewerkes auf, ein surreales Bild, als würden sie an einer sibirischen Raumstation vorbeifahren.

»Hast du mich vermisst, Claudius?«