Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1) - Claire Legrand - E-Book

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1) E-Book

Claire Legrand

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Beschreibung

Rielle und Eliana. Zwei Königinnen, die die magische Macht besitzen, über das Schicksal der Welt von Avitas zu bestimmen. Doch wer von beiden wird sie retten, und wer sie zerstören? Rielle Dardenne rettet ihren Freund den Kronprinzen – mithilfe der sieben Arten der Elementarmagie. Doch die Einzigen, die diese außergewöhnliche Fähigkeit besitzen sollen, sind laut Prophezeiung zwei Königinnen: die Sonnenkönigin des Heils und die Blutkönigin der Zerstörung. Kann Rielle in sieben Prüfungen beweisen, dass sie die Sonnenkönigin ist? Tausend Jahre später: Die Kopfgeldjägerin Eliana Ferracora besitzt magische Kräfte und glaubt, damit unantastbar zu sein – bis eines Tages ihre Mutter und andere Frauen verschwinden. Eliana schließt sich einer gefährlichen Mission an und entdeckt, dass das Böse im Herzen des Imperiums noch schrecklicher ist, als sie es sich jemals hat vorstellen können … Der New York Times-Bestseller und "eine der größten neuen Jugendbuch-Fantasies" Entertainment Weekly

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Seitenzahl: 705

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Claire Legrand

Zorngeboren

Die Empirium-Trilogie (Band 1)

Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Rak und Ariane Böckler

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Furyborn – The Empirium Trilogy (Book 1) bei Sourcebooks Fire.

 

© by Arctis Verlag

Ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich 2019

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2018 Claire Legrand

 

Übersetzung: Alexandra Rak und Ariane Böckler

Lektorat: Ulrike Schuldes

Covergestaltung: David Curtis

Überarbeitung: Suse Kopp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-120-7

 

www.arctis-verlag.com

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Für Brittany,

die Celdaria als Erste kannte

EIN ENDE UND EIN NEUER ANFANG

 

»Einige behaupten, in ihren letzten Momenten sei die Königin verängstigt gewesen. Aber ich stelle mir lieber vor, dass sie wütend war.

Die Worte des Propheten

 

Kurz nach Mitternacht hörte die Königin auf zu schreien.

Simon hielt sich in ihrem Wandschrank verborgen und hatte die Finger in die Ohren gesteckt, damit er die Schreie nicht mit anhören musste. Seit Stunden schon hatte er mit angezogenen Knien und gebeugtem Kopf zusammengekauert dort gesessen. Seit Stunden hatten die Gemächer der Königin im Gleichklang mit ihren Schreien gebebt.

Jetzt herrschte Stille. Simon hielt die Luft an und zählte wie bei einem Gewitter, wenn man nach dem Blitz auf das Grollen des Donners wartete, die Sekunden: Zog dieses Unwetter vorbei oder kam es näher?

Eins. Zwei. Drei.

Als er bei zwanzig war, senkte er vorsichtig seine Hände.

Die Stille wurde von dem Weinen eines Babys durchbrochen. Simon lächelte und richtete sich auf, eine Welle der Erleichterung erfasste ihn.

Die Königin hatte ein Kind geboren – endlich. Jetzt konnten er und sein Vater diese Stadt verlassen und mussten nie wieder zurückschauen.

Simon zwängte sich an den Roben der Königin vorbei und stolperte in ihr Schlafgemach.

»Vater?«, fragte er atemlos.

Garver Randell, Simons Vater, drehte sich mit müden Augen, aber einem breiten Lächeln zu seinem Sohn. Hinter ihm lag Königin Rielle, ihre unbändigen schwarzen Haare klebten an ihrer blassen Haut, die Bettlaken und ihr weißes Nachthemd waren rot gefärbt. In ihren Armen hielt sie ein sich windendes Bündel.

Obwohl Simon beim Anblick der Königin vor Wut kochte, schlich er staunend näher ans Bett. Die neugeborene Prinzessin seines Königreiches war ein kleines Ding – mit zerknautschtem rotem Gesicht, die Haut etwas dunkler als die ihrer Mutter, großen braunen Augen und einem Büschel nasser schwarzer Haare.

Simon stockte der Atem.

Die Kleine sah ihrem verstorbenen Vater sehr ähnlich.

Rielle starrte das Kind an, dann blickte sie verblüfft zu Simons Vater.

»Ich dachte, ich würde sie umbringen«, sagte die Königin. Sie lachte und wischte sich mit zittrigen Fingern übers Gesicht. »Ich träumte davon. Und dennoch ist sie hier.« Unsicher rückte sie das Baby in ihren Armen zurecht. Babys zu halten, schien sie nicht gut zu beherrschen.

Es war eigenartig, die Königin so zu sehen. Vor ihren aufgetürmten Kissen wirkte sie schmächtig und kaum älter als ein junges Mädchen, obwohl sie bereits zwanzig Jahre alt war. Diese Königin, die sich mit den Engeln verbündet und ihnen dabei geholfen hatte, Tausende von Menschen umzubringen.

Diese Königin, die ihren Mann ermordet hatte.

»Audric hätte sie geliebt«, flüsterte Rielle und kämpfte gegen die Tränen.

Simon ballte seine kleinen Hände zu Fäusten. Wie konnte sie es wagen, über König Audric zu reden, wo sie ihn doch auf dem Gewissen hatte.

Über die Nacht, als die Hauptstadt fiel, wusste er nur ein paar Einzelheiten. Auf der breiten Terrasse, die vom dritten Stockwerk des Schlosses aus zugänglich war, hatte König Audric gegen Königin Rielle gekämpft. Im Schwert des Königs flammte das Licht der Sonne, seine mit Diamanten und Spiegeln besetzte Rüstung funkelte heller als die Sterne.

Aber nicht einmal König Audric der Lichtbringer, der mächtigste Sonnenbändiger seit Jahrhunderten, war stark genug gewesen, um Königin Rielle zu bezwingen.

Die Königin hatte aus dem Nichts ein Schwert geschaffen, eine grell blendende Waffe, geschmiedet vom Empirium selbst. Rielle und Audric kämpften Schwertschlag um Schwertschlag, aber der Kampf dauerte nicht lange.

Und als Rielle mit ihrer glühenden Hand in Audrics Brustkorb eintauchte, um sein Herz herauszureißen, und er zu ihren Füßen zu Asche zerfiel, lag in ihren Augen pure Mordlust.

Simon war kein gewalttätiges Kind, aber er befürchtete, wenn er die Königin noch eine Sekunde länger anschauen musste, würde er nach ihr schlagen.

Stattdessen murmelte er zu Audrics Ehren das Sonnenkönigin-Gebet – Möge das Licht der Königin ihn nach Hause führen – und drehte sich lieber zu seinem Vater.

In diesem Augenblick erstarrte Garver Randell. »Er weiß es«, flüsterte er und ging keuchend in die Knie.

Simon eilte zu ihm. »Vater? Was hast du? Was ist los?«

Garver umklammerte seinen Kopf, sein Körper zuckte. »Er weiß es, Gott steh uns bei, er weiß es«, stöhnte er, und als er aufsah, waren seine Augen grau verschleiert.

Simon wurde das Herz schwer. Er kannte solche Augen und wusste, was sie bedeuteten.

In den Geist seines Vaters war ein Engel eingedrungen.

Und dem Grauen nach zu urteilen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, musste es Corien sein.

»Vater, hör mir zu! Ich bin bei dir!« Simon packte ihn am Arm. »Lass uns aufbrechen. Wir können jetzt fort von hier! Bitte, beeil dich!«

Hinter Simon sang die Königin leise: »So hält man sein kleines Kind. So tötet man seinen Ehemann.« Ihr Lachen war tränenerstickt.

»Er weiß, wer ich bin«, sagte Garver mit rauer Stimme.

Simon fürchtete sich noch mehr und konnte sich nicht mehr rühren.

Corien wusste – dass sein Vater ein Gezeichneter war, genau wie Simon auch. Weder Engel noch Mensch, aber mit beider Blut in den Adern.

Plötzlich kamen Simon die Male auf seinem Rücken, die unter seinem Hemd versteckt waren, wie Leuchtfeuer vor, die jedem in der eroberten Stadt verrieten, wo er sich versteckte. Seit Jahren schon lebten er und sein Vater unentdeckt in Celdarias Hauptstadt und verbargen ihren gezeichneten Rücken und ihre verbotene Magie. Sie waren ehrliche und fleißige Heiler gewesen, die von Bürgern und Tempelrichtern und sogar von Mitgliedern des Königshauses aufgesucht wurden.

Aber jetzt … jetzt wusste Corien Bescheid.

Simon schob seinen Vater zur Tür. »Komm, Vater, bitte!«

»Geh weg von mir!«, würgte Garver hervor. »Sonst wird er dich finden!« Er packte Simon am Kragen und stieß ihn von sich.

Simon schlug mit dem Kopf gegen das Himmelbett der Königin und sackte benommen zu Boden. Er sah mit an, wie sein Vater sich abwandte, kurz lachte und wieder seinen Kopf umklammerte. Sah, wie sein Vater wütend fremde Worte vor sich hin murmelte, mit einer Stimme, die halb ihm und halb Corien gehörte – und wie er schließlich humpelnd zum Terrassenfenster eilte.

Dann stürzte Garver Randell sich mit einem heiseren Schrei vom Turm der Königin.

Simon raffte sich auf, hielt sich taumelnd an den Bettvorhängen fest, stolperte nach vorn und fiel. Mit rasenden Kopfschmerzen und nur mühsam unterdrücktem Brechreiz kroch er zur Terrasse. An der Brüstung peitschte ihm der Wind von den Bergen ins Gesicht und er wagte es nicht, hinabzusehen. Er presste seine Wange gegen den kühlen Stein und schlang seine Arme um zwei Pfosten. Irgendjemand oder irgendetwas schien schrecklich zu würgen.

»Simon«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er selbst es war, der da würgte.

Er sprang auf.

»Das ist deine Schuld«, fuhr er Königin Rielle an. »Du bringst uns alle um! Du bist ein Monster! Du bist böse!«

Er wollte noch mehr sagen: Sie hatte jeden im Königreich Celdaria hintergangen, nein, jeden auf der ganzen Welt. Sie war die verheißene Sonnenkönigin, ihre Retterin und Beschützerin. Und dennoch war sie zur Blutkönigin geworden. Zum Königsfluch. Zur Herrin des Todes.

Aber Simons Tränen erstickten seine Stimme. Der Wind, der über die Berghänge fegte, ließ ihn frösteln. Sein kleiner Körper schwankte, er bekam kaum Luft.

Seine Welt wurde aus den Angeln gehoben, und er schlang ganz fest die Arme um sich und presste die Augen zusammen. Doch er wurde das Bild nicht los, wie sein Vater auf die Terrasse rannte und sich über die Brüstung stürzte.

»Vater«, flüsterte er, »bitte, komm zurück.«

Behutsam ließ sich die Königin ihm gegenüber auf einer Sitzbank nieder. Ihr Baby hielt sie noch immer im Arm. Sie war barfuß, die Füße voller Blut, und ihr Nachthemd war schweißgetränkt.

»Du hast recht, weißt du«, sagte Rielle. »Ich habe es tatsächlich getan.«

Simon war froh, dass die Königin nicht versuchte, sich zu entschuldigen. Ganz gleich, was sie sagte, nichts würde irgendetwas besser machen.

»Ich glaube«, fuhr Rielle langsam fort, »dass er sie umbringen wird.«

Simon schniefte und wischte sich über den Mund. Seine Zähne schlugen aufeinander. Er konnte nicht aufhören zu weinen. »Was meinst du damit?«

Rielle drehte sich zu ihm, ihre Lippen waren aufgesprungen und rissig. Früher, erinnerte sich Simon, fand er die Königin schön.

»Meine Tochter.« Rielles Stimme war dumpf. »Ich glaube, Corien wird sie umbringen. Zumindest wird er es versuchen.«

»Er sollte lieber dich umbringen«, spuckte Simon ihr entgegen.

Da musste Rielle lachen, fast hysterisch klang es, sie konnte gar nicht mehr aufhören, und Simon starrte sie wütend und verängstigt an – bis sie sich zu ihrem Kind beugte und ihre Wange an die Wange der Kleinen schmiegte. Das Baby gurrte und seufzte.

»So hält man«, flüsterte Rielle, »sein kleines Kind.« Leise gab sie einen Klagelaut von sich. »Audric hätte sie geliebt.«

Da verzerrte sich das Gesicht der Königin und sie schrie vor Schmerz. Sie presste ihr Baby gegen ihren Bauch, krümmte sich und rang nach Luft.

Unter Simons Füßen bebten die Steine. Die Wände der Gemächer der Königin schoben sich nach vorn und wieder zurück, als würden sie gemeinsam mit ihr atmen.

Rielles Haut glühte, veränderte sich, und für einen kurzen schrecklichen Augenblick dachte Simon, er könnte durch ihr Fleisch die dahinterliegenden Knochen und das Blut sehen – und sogar das noch tiefer liegende Licht. Ihre Konturen schimmerten golden, wie hingetupft, ein leuchtendes Geschöpf aus Funken und Glut.

Dann verblasste das Licht, und Rielle war wieder schwach und menschlich.

Simon wurde von seiner Angst fast überwältigt. »Was war das?«

»Jetzt dauert es nicht mehr lange.« Rielle richtete ihren funkelnden Blick auf ihn, und Simon schauderte. Die Haut um ihre Augen war dunkel und dünn. »Viel länger kann ich mich nicht mehr zusammennehmen.«

»Willst du damit sagen … dass du stirbst?«

»Ich habe es so lange versucht«, murmelte Rielle, und dann schrie sie wieder auf und wurde ganz starr. Aus ihren Fingern schossen Lichtblitze und fuhren als leuchtender Bogen über der Stadt in die Nacht hinaus. Auf dem Terrassenboden bildeten sich verkohlte Streifen und Risse.

Rielle sah auf, ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Unter ihrer Haut pulsierte in Wellen das Licht. Simon konnte seinen Blick nicht abwenden: Sie war das lieblichste und gleichzeitig das grauenhafteste Geschöpf, das er je gesehen hatte.

»Hast du … Schmerzen?«, fragte Simon.

Rielle lachte, eigentlich war es eher ein überraschtes Aufkeuchen. »Ich habe immer Schmerzen.«

»Gut«, antwortete Simon und schämte sich dann doch ein wenig. Es stimmte zwar, sie war ein Monster, aber ein erschöpftes Monster mit bloßen Füßen und einem Kind, das sie liebevoll in ihren Armen hielt.

Die Königin, hatte sein Vater immer zu ihm gesagt, wenn Simon nicht wusste, wohin mit seinem Hass, war einmal ein einfaches Mädchen. Vergiss das nicht. Vergiss sie nicht.

Dann wurde Rielle ganz still.

»Oh Gott«, flüsterte sie. »Er kommt.«

Simon wich zurück, in seinen Ohren rauschte es. »Corien?«

Rielle drückte sich an der Wand hoch, ihre Gesichtszüge, die sich ständig veränderten, waren jetzt schmerzverzerrt. »Ich darf nicht zulassen, dass er dich findet. Garver hat dich gut versteckt, aber sobald ihm klar wird, dass du jetzt hier bist und was du bist …«

Simon berührte seinen Rücken, als könnte er die Male darauf verbergen. »Du … du weißt über uns Bescheid?«

Über Rielles Gesicht huschte eine Regung, die Simon nicht einordnen konnte. »Eine Freundin hat es mir erzählt. Für alle Fälle … nun ja. Für den Fall, dass ich es wissen muss.«

»Das verstehe ich nicht –«

»Und mir bleibt keine Zeit, es dir zu erklären. Versteck dich mit ihr, halte dich von hier fern. Ich werde ihn ablenken.«

Und schon drückte Rielle ihre Tochter in Simons Arme und eilte zurück in ihre Gemächer.

Simon blickte erstaunt auf die Kleine. Mit ihren dunklen, ernsten Augen sah sie ihn unverwandt an, als wäre er die interessanteste Sache der Welt. Trotz seines brummenden Schädels und des schrecklich dumpfen Schmerzes in seinem Bauch schenkte Simon ihr ein kleines Lächeln.

»Hallo«, sagte er und berührte sie an der Wange. »Ich bin Simon.«

»Hier, nimm das.« Rielle war wieder aufgetaucht und in ihrer Hand lag eine Halskette – ein flacher goldener Anhänger, in den ein geflügeltes Pferd mit ausgebreiteten Schwingen eingraviert war. Auf dem Pferd saß eine Frau mit wehenden dunklen Haaren und einem im Triumph erhobenen Schwert. Hinter ihr verliefen fächerförmig Sonnenstrahlen.

Seit die Kirche Rielle vor zwei Jahren zu der prophezeiten Sonnenkönigin erklärt hatte, war dieses Bild in Celdaria sehr verbreitet.

Wie sehr sie Rielle doch alle geliebt hatten, früher einmal.

Während die Königin die Kette in die Decke ihres Babys steckte, beobachtete Simon sie ruhig. »Tut dir leid, was du getan hast?«

»Würde es dir besser gehen, wenn es so wäre?«

Simon wusste es nicht.

Die Königin küsste ihre Tochter auf die Stirn. »Dich bekommt er nicht«, flüsterte sie. »Dich nicht, mein Schatz.«

Dann drehte sie sich zu Simon, und bevor er es verhindern konnte, strich sie seine aschblonden Haare zur Seite und drückte auch ihm einen Kuss auf die Stirn. Dort, wo ihre Lippen ihn berührten, brannte seine Haut; ihm stiegen Tränen in die Augen. Er hatte den Eindruck, als stünde er am Rand eines schwankenden Felsvorsprungs, als würde gleich etwas Schreckliches passieren und er könnte nichts dagegen tun.

»Geh nach Borsvall«, befahl Rielle ihm. »Suche König Ilmaire und Kommandantin Ingrid. Zeige ihnen die Halskette. Sie werden euch verstecken.«

In Rielles entlegeneren Gemächern wurden Türen laut aufgestoßen.

»Rielle?«, brüllte Corien.

Rielle legte eine Hand an Simons Wange und schaute ihm in die Augen. »Was auch immer passieren mag, pass auf, dass er dich nicht sieht.«

Als sie gehen wollte, griff Simon nach ihrer Hand. Ohne sie würde er ganz allein sein mit diesem Kind, und plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als sein Gesicht in ihren Armen zu vergraben. Monster oder nicht, jetzt war sie Mutter, und nach einer Mutter sehnte er sich am allermeisten.

»Kannst du nicht bleiben?«, flüsterte er.

Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. »Du bist stark, Simon. Du schaffst das.«

Dann eilte sie nach drinnen und stellte sich Corien mitten in ihrem Schlafzimmer entgegen.

»Wo ist es?« Coriens Stimme klang leise und gefährlich.

Simon verlagerte sein Gewicht ein wenig und lugte durch den schmalen Spalt der Vorhänge. Als er den Anführer der Engel erblickte – ein schöner Mann, blass und wie in Stein gemeißelt, mit glänzendem schwarzem Haar und vollen Lippen, die ein grausamer Zug umspielte –, setzte sein Herzschlag einen Moment lang aus.

»Sie«, verbesserte Rielle ihn. »Ich habe eine Tochter.«

Coriens Blick war noch immer tödlich. »Und wo ist sie?«

»Ich habe sie weit weggeschickt. Mit jemandem, der so mächtig ist, dass du sie niemals finden wirst.«

Simon schöpfte Mut. War etwa jemand unterwegs, um ihnen zu helfen?

Corien lachte unfreundlich. »Ach ja? Und wer soll das sein?«

»Versuche gern, die Wahrheit herauszufinden«, sagte Rielle, »aber dann wirst du schnell merken, dass du nicht länger in mir willkommen bist.«

Mit einem Knurren schlug Corien ihr fest ins Gesicht. Rielle stolperte, ihre Lippen waren blutverschmiert, und Simon fing ihren Blick auf. Ihre flammend goldenen Augen wirkten entschlossen und triumphierend. Ihre erschöpfte Miene strahlte eine Stärke aus, die er so an ihr nicht kannte.

Ich habe sie weit weggeschickt. Mit jemandem, der so mächtig ist, dass du sie niemals finden wirst.

Du bist stark, Simon. Du schaffst das.

Und plötzlich wurde Simon klar, dass niemand kommen würde, um ihnen zu helfen.

Er selbst war der mächtige Jemand.

Es lag also allein an ihm, die Prinzessin zu retten.

Wenn er sie beide Hunderte von Kilometern nach Borsvall und in Sicherheit bringen wollte, würde er seine magischen Kräfte gebrauchen müssen – die Magie eines Halbblut-Gezeichneten, die Reisemagie, die fast jedem seiner Art bisher Unglück gebracht hatte.

Rielle richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Corien.

»Du solltest besser nicht so wütend werden«, sagte sie zu ihm. »Wenn du wütend wirst, machst du Fehler. Wenn du nicht so blind vor Wut gewesen wärst, dann wärst du bei mir geblieben und hättest sie in dem Moment, als sie geboren wurde, gepackt, um ihr an Ort und Stelle die Gurgel durchzuschneiden.«

Corien lächelte kalt. »Dafür hättest du mich wahrscheinlich getötet.«

Die Königin zuckte mit den Schultern. »Womöglich töte ich dich sowieso.«

Simon wandte sich ab, seine Brust war vor Angst wie zugeschnürt. Wie sollte ihm das bloß gelingen? Er war erst acht Jahre alt. Natürlich hatte er seine Reisebücher ein ums andere Mal gelesen, aber er begriff noch immer nicht alles, was darin stand. Und nach dem, was sein Vater ihm über die vergangenen Zeiten erzählt hatte, als die Gezeichneten noch nicht von Menschen und Engeln zur Strecke gebracht worden waren, versuchten die meisten seiner Art sich erst im Erwachsenenalter am Reisen.

Du schaffst das, Simon, erklang eine Stimme. Eine Frauenstimme, doch nicht die der Königin. Vertraut, aber …

Er wirbelte herum, spähte in die Dunkelheit, entdeckte jedoch niemanden.

Du musst das schaffen, sagte die Stimme. Du und das Kind, Simon, ihr seid die Einzigen, die uns retten können. Beeile dich jetzt. Bevor er dich entdeckt. Dein Vater hat dich gut versteckt, aber ich kann dich nicht weiter schützen.

Aus dem Schlafzimmer kam ein sattes, volles Geräusch. Glas zerschellte am Boden. Die Königin schrie auf und Corien zischte ihr etwas Hasserfülltes zu.

Das Schloss stöhnte. Die Wand, hinter der Simon sich verbarg, grollte, als würde etwas tief im Inneren des Schlosses erwachen. Aus dem Schlafzimmer drang explosionsartig ein Schwall heißer Luft, die Fenster zersplitterten. Simon beugte sich tief über das Baby und drückte es gegen seine Brust. Die Kleine wand sich und stieß einen gedämpften, wütenden Schrei aus.

»Scht, bitte!«, flüsterte Simon. Um ihn herum vibrierte die Luft, die Terrasse unter seinen Füßen schwankte. Schweißperlen liefen ihm den Rücken hinab. Aus dem Schlafzimmer quoll surrend ein helles Licht, das immer strahlender leuchtete.

Er schloss die Augen, versuchte die seltsame Frauenstimme zu vergessen und sich zu konzentrieren. Er musste sich an die Worte aus seinen verbotenen Büchern erinnern, die jetzt verwaist unter den Bodendielen im Geschäft seines Vaters lagen:

Das Empirium ruht in jedem Lebewesen und jedes Lebewesen ist Teil des Empiriums.

Seine Macht verbindet nicht nur Haut mit Knochen, Wurzeln mit Erde, Sterne mit Himmel, sondern auch Straße mit Straße und Stadt mit Stadt.

Augenblick mit Augenblick.

Nur Gezeichnete, das wusste Simon, hatten diese mächtige Gabe. Die Gabe zu reisen. Die Fähigkeit, von einem Augenblick zum anderen riesige Entfernungen zu überwinden und einfach durch die Zeiten hindurchzuspazieren, so wie Menschen Straßen entlangspazierten.

Simon hatte sich schon oft vorgestellt, wie es wäre, wenn er in die Zeit zurückreisen könnte, bevor die Pforte gebaut wurde – lange vor den frühen Kriegen, damals, als Engel noch auf der Erde wandelten und Drachen den Himmel bevölkerten.

Aber über Zeit durfte er nicht nachdenken, nicht jetzt. Zeit war gefährlich und nur schwer fassbar. Er sollte lieber über Entfernungen nachdenken: von Celdaria nach Borsvall.

»Nein, Rielle«, schrie Corien. »Nein! Tu das nicht!«

Simon warf einen Blick in Rielles Gemach zurück, wo die Königin kniete, ihr Gesicht dem Himmel zugewandt, und sich nur mühsam aufrecht hielt, während sie von strahlendem Licht umhüllt wurde. Corien schlug auf das Licht ein und verbrannte sich die Fäuste, aber es gelang ihm nicht, sie zu berühren. Er schlug und brüllte, verfluchte sie und flehte sie an.

All seine Beschimpfungen waren nutzlos. Rielles Körper öffnete sich in lange Lichtstrahlen, ihre Haut platzte ab und wurde wie Asche vom Wind verweht.

Simon wandte seinen Blick ab. »Keine Angst, ich lass dich nicht los«, flüsterte er der Prinzessin zu. »Ich halte dich fest.«

Er schloss die Augen, biss sich auf die Lippe und ignorierte Coriens verzweifelte Schreie und das blendende Licht, das von der Königin ausging. Er richtete seine Gedanken nach Nordosten auf Borsvall. Dann lenkte er seinen Atem in jede Faser seines Körpers, jeden Muskel und jeden Knochen, genau so, wie er es in seinen Büchern gelesen hatte.

Jetzt.

Er riss die Augen auf.

Vor ihm schwebten dünn und durchscheinend ineinander verschlungene Bänder aus Licht.

Mit pochendem Herzen und nur einem Arm hielt Simon die Prinzessin eng an sich gedrückt und streckte den anderen aus. Er hörte in sich hinein, tief in seinem Inneren kannte er den Weg, so wie er wusste, wann er laufen musste, schlucken oder atmen. Er fühlte in die Nacht hinein und suchte nach den richtigen Bändern von hier nach dort. Irgendwo da draußen lag ein Weg, den er zwar nicht sehen konnte, den die Macht, die durch seine Adern pulsierte, aber zweifellos kannte. Jetzt musste er nur noch das entsprechende Band finden, es aufknüpfen und wie einen Teppich vor seinen Füßen ausrollen.

Da.

Vor seinen Fingerspitzen tanzte ein einzelnes Band, das heller als die anderen leuchtete.

Simon traute sich fast nicht, danach zu greifen. Wenn er sich zu langsam oder zu schnell bewegte oder sich nicht genug konzentrierte, würde das Band ihm entwischen.

Hinter ihm schrie die Königin Corien an, ihre Stimme war voller Zorn. »Ich gehöre dir nicht mehr!«

Zum Zaudern blieb keine Zeit. Simon griff nach dem hellsten Band und wickelte es wie eine glänzende Haarlocke vorsichtig um seine Finger.

Lass dir einen Moment Zeit, hatte in seinen Büchern gestanden, um dein Band kennenzulernen. Je vertrauter es dir ist, desto wahrscheinlicher wird es dich dorthin bringen, wohin du willst.

Während Simon auf das Band starrte, das in seiner Hand schwebte, nahmen andere an Helligkeit zu und trieben durch die Kraft seiner Gedanken in seine Richtung.

Obwohl die Bänder unangenehm auf der zarten Haut seiner Handteller brannten, nahm er sie auf und lenkte sie durch die kalte Nachtluft. Schon bald hatte er sie zu einem flackernden Ring gewunden und hinter diesem Ring führte ein Weg in die Dunkelheit.

Das erste Band, das hellste, näherte sich Simons Brustkorb, verfing sich dort wie eine Dornenranke und zog ihn sanft vorwärts.

Simon kam sich albern vor, schickte dem Band in Gedanken aber trotzdem ein Hallo.

Der Druck, mit dem es ihn berührte, ließ etwas nach.

Hinter dem Durchgang, der sich ständig veränderte, aber immer deutlicher wurde, zeichneten sich schwach Umrisse ab: ein sich windender Pfad aus schwarzen Steinen, ein hohes, schmales Tor. Berge mit schnee- und eisbedeckten Gipfeln. Soldaten, die ehrfürchtig auf etwas zeigten und sich in ihrer harten Borsvall-Sprache etwas zuriefen.

In Simons jungem Körper spannten sich alle Muskeln. Die Welt verblasste mit jedem Atemzug mehr. Und doch stieg ein Lachen in ihm auf. Glücklicher würde er wohl nie wieder sein. Diese Macht war nicht einfach zu steuern, aber sie fühlte sich richtig an und sie gehörte ihm.

Plötzlich rief Königin Rielle etwas, Simon verstand sie nicht. Ihre Stimme brach.

Coriens verzweifelte Schreie klangen heiser und gequält.

Simon holte Luft, seine Ängste umkreisten ihn wie ein Schwarm Insekten.

Dann schluckte plötzlich vollkommene Stille jedes Geräusch – das Weinen des Säuglings, die sirrenden Bänder. Die Welt verstummte.

In dem Moment, als Simon zurückschaute, schoss eine Lichtsäule aus dem Schlafzimmer der Königin hinaus in die Nacht und tauchte den Himmel in helles Dämmerlicht. Simon schützte sein Gesicht und beugte den Kopf über den Säugling in seinen Armen. Seine Reisehand zitterte vor Anstrengung. Eine Sekunde später zerbrach die Stille mit einem ohrenbetäubenden Knall, der die Berge zum Beben brachte und Simon beinahe von den Füßen riss.

Das Schloss rutschte unter ihm weg. In der Luft über der Hauptstadt lag plötzlich ein Brandgeruch. Einer der umliegenden Berge stürzte in sich zusammen, und dann noch einer und noch einer.

Halte sie gut fest – da war die Frauenstimme wieder, hoch und deutlich hörte Simon sie in seinem Kopf. Lass sie auf keinen Fall los.

Die Bänder entglitten dem Zugriff seiner Gedanken. Simon spürte einen Zug, der von der Stelle, wo das Band an seiner Brust zerrte, bis zu seinen Füßen reichte.

Geh, Simon!, rief die Frauenstimme. Jetzt!

Simon schritt auf den Ring aus Licht zu, der nach Osten zeigte – als sich hinter ihm eine glutheiße Hitze ausbreitete.

Die letzten Dinge, die Simon wahrnahm, begriff er nur allmählich:

Eine grelle Feuerwand, brausend wie unzählige Feuersbrünste, rast von allen Seiten auf ihn zu. Während er den Ring aus Bändern durchquert, verschieben sich die Luftmassen und gleiten wie kaltes Wasser über seine Haut. Die Prinzessin in seinen Armen schreit.

Die Berge von Borsvall verblassen.

Das Band, das sich an sein Herz geheftet hat, verändert sich. Verdreht sich.

Wird dunkler.

Und reißt mit einem Donnerschlag.

Etwas kracht mit voller Wucht gegen ihn und zieht ihn vorwärts.

Das Baby wird aus seinen Armen gerissen, ganz gleich wie sehr er es festzuhalten versucht.

Ein Stück Stoff, das in seinen Fingern zerreißt.

Und dann, nichts.

1RIELLE

 

»Lord Kommandant Dardenne kam in tiefer Nacht zu mir, seine Tochter in den Armen. Sie rochen nach Feuer, ihre Kleider waren versengt. Er vermochte kaum zu sprechen. Ich hatte den Mann noch nie in Furcht erlebt. Er drückte mir Rielle in die Arme und sagte: ›Hilf uns. Hilf ihr. Lass nicht zu, dass man sie mir wegnimmt.‹«

Aussage des Großmagisters Taliesin Belounnon

über Lady Rielle Dardennes Beteiligung am Massaker von Boon Chase

29. April im Jahr 998 des Zweiten Zeitalters

 

ZWEI JAHRE ZUVOR

Rielle Dardenne stürzte in Tals Studierzimmer und warf die Nachricht auf seinen Schreibtisch.

»Prinzessin Runa ist tot«, verkündete sie.

Es war nicht gerade aufregend für sie – denn zwischen ihrem eigenen Königreich Celdaria und ihrem nordöstlichen Nachbarn Borsvall herrschte schon so viele Jahrzehnte ein angespanntes Verhältnis, dass es kaum der Rede wert war, wenn etwa ein Handelsschiff aus Celdaria vor der Küste Borsvalls sank oder Patrouillen an der Grenze aneinandergerieten.

Aber der Mord an einer borsvallianischen Prinzessin? Das war etwas Neues. Und Rielle wollte der Sache genauestens auf den Grund gehen.

Tal legte seufzend den Stift beiseite und fuhr sich mit den tintenfleckigen Händen durch sein zerzaustes blondes Haar. Die an seinen Kragen geheftete Flamme aus blankem Gold blinkte in der Sonne.

»Vielleicht«, hob Tal an und bedachte Rielle mit einem Blick, der nicht missbilligend, aber auch nicht erfreut war, »solltest du in Erwägung ziehen, dir deine Begeisterung über den Mord an einer Prinzessin nicht allzu sehr anmerken zu lassen.«

Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Ich bin nicht froh darüber oder so. Ich bin einfach neugierig.« Rielle zog das Papier wieder zu sich her und las die mit Tinte geschriebenen Wörter ein weiteres Mal. »Dann glaubst du also, es war Mord? Audric glaubt das.«

»Versprich mir, dass du heute nichts Dummes anstellst, Rielle.«

Sie lächelte ihn zuckersüß an. »Wann habe ich je etwas Dummes angestellt?«

Er hob eine Braue. »Die Wachen der Stadt sind in höchster Alarmbereitschaft. Ich will, dass du hierbleibst, im sicheren Tempel, falls irgendetwas passiert.« Er nahm ihr das Blatt ab und überflog es. »Woher hast du das überhaupt? Nein, warte, ich weiß. Audric hat es dir gegeben.«

Rielle erstarrte. »Audric hält mich auf dem Laufenden. Er ist ein guter Freund. Was ist schon dabei?«

Tal erwiderte nichts, doch das brauchte er auch nicht.

»Wenn du mir etwas zu sagen hast«, zischte sie, während ihr die Röte in die Wangen stieg, »dann sag es einfach. Sonst lass uns mit dem Unterricht beginnen.«

Tal musterte sie noch eine Weile, dann drehte er sich um und nahm vier dicke Bücher aus dem Regal hinter ihm.

»Hier«, sagte er und ignorierte ihre aufsässige Miene. »Ich habe ein paar Abschnitte markiert, die du lesen sollst. Heute ist Stillarbeit. Und ich frage dich später ab, also komm gar nicht erst auf die Idee, nur querzulesen.«

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Rielle das Buch, das obenauf lag. »Eine kurze Geschichte des Zweiten Zeitalters, Band I: Die Nachwirkungen der Engelskriege.« Sie verzog das Gesicht. »Das sieht für mich gar nicht kurz aus.«

»Es ist alles eine Frage der Perspektive«, sagte Tal und wandte sich wieder den Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu.

Rielles Lieblingsplatz in Tals Studierzimmer war der Fenstersitz mit Blick auf den größten Innenhof des Tempels. Hier lagen stapelweise dunkelrote Kissen mit goldenen Paspeln, und wenn sie darauf saß und die Beine in der Sonne baumeln ließ, konnte sie fast vergessen, dass es jenseits des Tempels und ihrer Stadt eine riesige Welt gab – eine Welt, die sie niemals zu Gesicht bekommen würde.

Sie setzte sich ans Fenster, streifte die Stiefel ab, raffte die schweren spitzenbesetzten Röcke und stellte ihre nackten Füße auf das Fensterbrett. Die Frühlingssonne legte sich warm auf ihre Beine, und schon bald sah sie im Geist vor sich, wie Audric an heiteren Tagen wie diesen immer aufblühte. Wie seine Haut geradezu leuchtete und um Berührung flehte.

Tal räusperte sich und zerstörte ihren Tagtraum.

Tal kannte sie viel zu gut.

Sie schlug Eine kurze Geschichte auf, warf einen Blick auf die winzigen verblassten Zeilen und hätte das Buch am liebsten aus dem Fenster in den Innenhof des Tempels geworfen, wo die Bürger gerade zum Morgengebet herbeiströmten – zweifellos um zu erbitten, dass die Reiter gewannen, auf die sie beim heutigen Rennen gesetzt hatten. Jeder Tempel der Hauptstadt war gerade mit solch gierigen Seelen gefüllt, nicht nur Tals Tempel des Feuers, wo die Menschen die heilige Marzana als Feuerzeichnerin anbeteten, sondern auch das Haus des Lichts und das Haus der Nacht und die Tempel der Bäder und des Firmaments, der Schmiede und der Burg. Gewisperte Gebete in allen sieben Tempeln, an alle sieben Heiligen und deren Elemente.

Verschwendete Gebete, dachte Rielle mit einem Kribbeln der Erregung. Die anderen Reiter werden im Vergleich zu mir wie Kinder auf Ponys wirken.

Sie blätterte ein paar Seiten durch und kaute an ihrer Unterlippe, bis sie sich ruhig genug fühlte, um zu sprechen. »Ich habe gehört, dass viele am borsvallianischen Hof Celdaria für Runas Tod verantwortlich machen. Wir würden so etwas doch nicht tun, oder?«

Tals Stift kratzte über das Papier. »Natürlich nicht.«

»Aber es spielt keine Rolle, ob es die Wahrheit ist oder nicht, stimmt’s? Wenn König Hallvards Berater ihn davon überzeugen, dass wir seine Tochter getötet haben, erklärt er uns doch noch den Krieg.«

Mit einem verärgerten Schnauben ließ Tal den Stift fallen. »Heute komme ich wohl zu gar nichts, was?«

Rielle verkniff sich ein Grinsen. Wenn du wüsstest, wie recht du hast, liebster Tal …

»Es tut mir leid, wenn ich Fragen zur politischen Situation unseres Landes habe«, sagte sie kühl. »Fällt das in die Kategorie von Themen, die wir nicht diskutieren dürfen, weil sonst mein armes, zartes Gehirn unter der Anstrengung zusammenbrechen könnte?«

Ein Schmunzeln umspielte Tals Mundwinkel. »Borsvall könnte den Krieg erklären, ja.«

»Dich scheint diese Möglichkeit nicht zu beunruhigen.«

»Ich halte es für unwahrscheinlich. Wie stehen schon seit Jahrzehnten am Rande eines Krieges mit Borsvall, und doch ist es nie so weit gekommen. Und es wird auch in Zukunft nie so weit kommen, denn die Leute von Borsvall mögen zwar Kriegstreiber sein, aber König Hallvard ist krank und nicht dumm. Wir würden seine Armee dem Erdboden gleichmachen. Er kann sich keinen Krieg leisten, und erst recht nicht gegen Celdaria.«

»Audric hat gesagt …« Rielle zögerte. Sie verspürte ein leichtes Unbehagen. »Audric glaubt, dass der Tod von Prinzessin Runa und der Sklavenaufstand in Kirvaya darauf hindeuten, dass es jetzt so weit ist. Dass die Königinnen kommen.«

Stille legte sich über den Raum wie ein Leichentuch.

»Audric war schon immer fasziniert von der Prophezeiung«, sagte Tal mit verdächtig gelassener Stimme. »Er sucht seit Jahren nach Anzeichen für die Ankunft der Königinnen.«

»Diesmal klingt er ziemlich überzeugt.«

»Ein Sklavenaufstand und eine tote Prinzessin reichen wohl kaum für –«

»Aber ich habe Großmagister Duval davon sprechen hören, dass es in Meridian, auf der anderen Seite des Ozeans, Stürme gegeben hat«, drängte sie weiter, während sie ihn prüfend musterte. »Und sogar in Ventera und Astavar. Seltsame Stürme, außerhalb der Saison.«

Tal blinzelte. Ah, dachte Rielle. Das wusstest du nicht, was?

»Gelegentlich gibt es auch außerhalb der Saison Stürme«, sagte Tal. »Die Wege des Empiriums sind unergründlich.«

Rielle vergrub die Finger in ihren Röcken und tröstete sich damit, dass sie schon bald in Reithosen und Stiefeln stecken würde, den Kragen geöffnet im Wind.

Sie würde am Start sein.

»In dem Bericht, den ich gelesen habe«, fuhr sie fort, »stand, dass ein Staubsturm in Süd-Meridian den gesamten Hafen von Morsia tagelang lahmgelegt hat.«

»Audric soll aufhören, dir jeden Bericht zu zeigen, der über seinen Schreibtisch wandert.«

»Audric hat mir überhaupt nichts gezeigt. Ich habe den Bericht selbst gefunden.«

Tal hob eine Braue. »Du meinst, du hast dich in sein Studierzimmer geschlichen, als er nicht dort war, und seine Papiere durchwühlt.«

Rielles Wangen wurden heiß. »Ich habe nach einem Buch gesucht, das ich dort liegen gelassen hatte.«

»Tatsächlich. Und was würde Audric sagen, wenn er wüsste, dass du ohne seine Erlaubnis in seinem Studierzimmer warst?«

»Es wäre ihm egal. Ich darf kommen und gehen, wie es mir beliebt.«

Tal schloss die Augen. »Lady Rielle, du kannst nicht einfach Tag und Nacht die Privaträume des Kronprinzen aufsuchen, als wäre nichts dabei. Ihr seid keine Kinder mehr. Und du bist nicht seine Verlobte.«

Rielle vergaß für einen Augenblick zu atmen. »Das ist mir wohl bewusst.«

Tal winkte ab und stand auf, und schon war das Gespräch über die Prophezeiung und die Königinnen beendet.

»Die Stadt ist heute voller Menschen und unberechenbar«, sagte er, ehe er quer durch den Raum ging und sich noch eine Tasse Tee einschenkte. »Der Tod von Prinzessin Runa spricht sich überall herum. In einem solchen Klima könnte sich das Empirium auf ähnlich unberechenbare Art und Weise verhalten. Vielleicht sollten wir ein paar Gebete sprechen, um unseren Geist zu sammeln. Inmitten des Chaos der Welt ist die brennende Flamme ein Anker, der uns in Frieden an das Empirium und an Gott bindet.«

Rielle funkelte ihn an. »Sprich nicht in deinem Magister-Tonfall, Tal. Dabei klingst du so alt.«

Seufzend nippte er an seinem Tee. »Ich bin alt. Und verdrießlich – was ich dir zu verdanken habe.«

»Zweiunddreißig ist doch nicht alt, und erst recht nicht, wenn man schon Großmagister des Feuers ist.« Sie hielt inne. Nun musste sie vorsichtig sein. »Es würde mich nicht wundern, wenn du zum nächsten Archon ernannt werden würdest. Mit jemandem an meiner Seite, der so begabt ist wie du, könnte ich das Rennen gefahrlos von deiner Loge aus verfolgen …«

»Versuch nicht, mir zu schmeicheln, Lady Rielle.« Er sah sie mit blitzenden Augen an. Das war der Tal, den sie mochte – der temperamentvolle Hitzkopf, nicht der fromme Lehrer. »Es ist momentan nicht sicher für dich dort draußen, außerdem wäre es auch für alle anderen gefährlich, wenn dich etwas aus der Fassung bringen und du die Beherrschung verlieren würdest.«

Rielle schlug Eine kurze Geschichte zu und verließ den Fenstersitz. »Verdammt noch mal, Tal.«

»Nicht im Tempel, bitte«, mahnte Tal über den Tassenrand hinweg.

»Ich bin kein Kind mehr. Glaubst du nicht, dass ich es inzwischen besser weiß?«

Ihre Stimme bekam einen spöttischen Unterton. »›Rielle, lass uns zusammen beten, damit du dich beruhigst.‹ – ›Rielle, lass uns ein Lied über Sankt Katell die Herrliche singen, um dich abzulenken.‹ – ›Nein, Rielle, du darfst nicht zum Maskenball gehen. Du könntest dich vergessen. Du könntest dich amüsieren, Gott bewahre.‹ Wenn es nach Vater ginge, würde ich den Rest meines Lebens eingesperrt bleiben, die Nase in einem Buch oder kniend ins Gebet vertieft, und mich jedes Mal selbst kasteien, wenn versehentlich ein zorniger Gedanke in mir aufsteigt. Ist das die Art von Leben, die auch du mir wünschen würdest?«

Tal musterte sie ungerührt. »Wenn das hieße, dass du in Sicherheit bist und dass auch die anderen sicher sind? Ja, dann schon.«

»Hinter Schloss und Riegel wie eine Verbrecherin.« Ein vertrautes Gefühl der Enttäuschung wallte in ihr auf, das sie vehement zurückdrängte. Sie würde nicht die Beherrschung verlieren, nicht ausgerechnet heute.

»Weißt du eigentlich«, sagte sie in gezwungen heiterem Tonfall, »dass mein Vater mich, wenn ein Gewitter naht, immer nach unten in die Dienstbotenquartiere bringt und mir Taubwurz gibt? Davon schlafe ich ein, und dann lässt er mich eingesperrt dort zurück.«

Tal antwortete erst nach einer Pause. »Ja.«

»Ich habe mich immer gegen ihn gewehrt. Doch er hat mich niedergerungen, mich geschlagen und mir die Nase zugehalten, bis ich keine Luft mehr bekam und den Mund öffnen musste. Dann hat er mir das Fläschchen zwischen die Lippen gesteckt und mich zum Trinken gezwungen. Ich habe alles wieder ausgespuckt, doch er zwang mich weiter, den Trank herunterzuschlucken, und flüsterte mir all meine Verfehlungen ins Ohr, und während ich ihm ins Gesicht schrie, wie sehr ich ihn hasse, schlief ich ein. Und als ich wieder aufwachte, war das Gewitter vorbei.«

Eine längere Pause. »Ja«, erwiderte Tal leise. »Ich weiß.«

»Er glaubt, Gewitter provozieren mich zu sehr. Sie geben mir gewisse Gedanken ein, sagt er.«

Tal räusperte sich. »Das war meine Schuld.«

»Ich weiß.«

»Aber die Medizin war seine Idee.«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Und hast du versucht, es ihm auszureden?«

Er antwortete nicht und seine geduldige Miene brachte sie zur Weißglut.

»Ich kämpfe nicht mehr gegen ihn an«, sagte sie. »Wenn ich einen Donnerschlag höre, gehe ich sofort nach unten, noch ehe er mich dazu auffordert. Wie armselig ich doch geworden bin.«

»Rielle …« Tal seufzte und schüttelte den Kopf. »Alles, was ich dir sagen könnte, habe ich schon gesagt.«

Sie ging auf ihn zu, und die Einsamkeit, die sie sonst vor ihm – und vor allen – verbarg, ließ ihr Gesicht weich erscheinen. Komm, braver Magister Belounnon. Bemitleide deine süße Rielle. Er wandte als Erster den Blick ab. Ein Anflug von Kummer huschte über sein Gesicht, und sein Kiefer verspannte sich.

Gut.

»Er würde mich mein ganzes Leben verschlafen lassen, wenn er könnte«, sagte sie.

»Er liebt dich, Rielle. Er macht sich Sorgen um dich.«

Hitze zerrte an Rielles Fingerspitzen und steigerte sich zusammen mit ihrem Groll. Plötzlich widerspenstig und wütend, ließ sie es zu. Sie wusste, dass das nicht passieren durfte, dass ein Ausbruch es für sie nur noch schwerer machen würde, sich davonzuschleichen, doch mit einem Mal war es ihr einfach egal.

Er liebt dich, Rielle.

Ein Vater, der seine Tochter liebte, machte sie nicht zur Gefangenen.

Sie griff sich eine der Kerzen von Tals Schreibtisch und beobachtete mit grimmiger Zufriedenheit, wie der Docht zu einer flackernden, unbeherrschbaren Flamme aufloderte. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Wut als einen dahinströmenden Fluss, der über seine Ufer trat und die Flamme in ihren Händen nährte.

Die Flamme wuchs – zur Größe eines Stiftes, eines Dolches, eines Schwerts. Dann folgten alle anderen Kerzen, ein Wald aus lodernden Klingen.

Tal entfernte sich von seinem Schreibtisch und nahm den feinen, blanken Schild von seinem Ständer in der Ecke. Jeder Elementherrscher, der je gelebt hatte – jeder Wasserwandler und Windflüsterer, jeder Schattenwerfer und auch Tal der Feuerzeichner –, brauchte eine Urform, einen mit seinen eigenen Händen gefertigten Gegenstand, um damit Zugang zu seiner Macht zu erhalten. Zu seiner einzigartigen Macht, dem Element, das er beherrschen konnte.

Aber nicht Rielle.

Sie brauchte keine Urform, und Feuer war nicht das einzige Element, das ihr gehorchte.

Ihr gehorchten alle.

Tal stellte sich hinter sie, in der einen Hand den Schild, während die andere sanft auf ihrer lag. Als Kind, als sie noch geglaubt hatte, Tal zu lieben, hatten solche Berührungen sie beglückt.

Jetzt zog sie ernsthaft in Erwägung, ihm einen Hieb zu versetzen.

»Im Namen von Sankt Marzana der Glorreichen«, murmelte Tal, »widmen wir dieses Gebet den Flammen und hoffen, dass das Empirium unsere Bitte erhören und uns Kraft schenken möge: Leichtfüßiges Feuer, lodere nicht mit Wut oder Gier. Brenne ruhig und treu, brenne sauber und hell.«

Rielle verkniff sich barsche Worte. Wie sie das Beten hasste. Jedes der altbekannten Worte kam ihr wie ein weiterer Gitterstab des Käfigs vor, den ihr Vater und Tal für sie gebaut hatten.

Der Raum begann zu beben – das Tintenfass auf Tals Tisch, die Glasscheiben in dem offenen Fenster, Tals halb volle Teetasse.

»Rielle?«, hob Tal an und bewegte seinen Schild.

Sie spürte die Hitze in seinem Körper hinter ihr aufwallen, während er sich bereit machte, ihr Feuer mit seiner Macht zu löschen. Ohne dass sie es verhindern konnte, löste die Betroffenheit in seiner Stimme leichte Reue in ihr aus. Sie wusste, dass er es gut meinte. Er wollte unbedingt, dass sie glücklich wurde.

Im Gegensatz zu ihrem Vater.

Also beugte Rielle den Kopf und schluckte ihren Ärger hinunter. Schließlich konnten ihre Pläne Tal für immer gegen sie einnehmen. Sie würde ihm diesen kleinen Sieg gönnen.

»Lodere nicht mit Wut oder Gier«, wiederholte sie und schloss die Augen. Sie schob innerlich auch den letzten Rest an Gefühlen, jedes Geräusch, jeden Gedanken beiseite, bis ihr Geist nur noch ein weites dunkles Feld war – abgesehen von dem winzigen Lichtfleck, den die Flamme in ihren Händen bildete.

Dann ließ sie die Dunkelheit auch über diese Flamme wandern und blieb in der kühlen, stillen Leere ihres Geistes allein zurück.

Der Raum wurde ruhig.

Tals Hand fiel herab.

Rielle lauschte, als er den Schild wieder zurück auf den Ständer stellte. Das Gebet hatte sie gereinigt, und nach der Wut, die sie empfunden hatte, fühlte sie nun … nichts. Ein hohles Herz und ein leerer Kopf.

Als sie die Augen aufschlug, waren sie trocken und müde. Verbittert fragte sie sich, wie es wohl wäre, ohne den ständigen Refrain der Gebete in ihren Gedanken zu leben, die sie vor ihren eigenen Gefühlen warnten.

Die Tempelglocken läuteten elf Mal. Rielles Herz hüpfte vor Erleichterung. Jetzt würde sie jeden Moment Ludivines Signal vernehmen.

Rielle wandte sich zum Fenster. Gebete und Lesungen waren beendet. Jeder Muskel in ihrem Körper strotzte vor Energie. Sie wollte reiten.

»Ich wäre lieber tot, als die Gefangene meines Vaters zu sein«, erklärte sie schließlich. Etwas zu theatralisch, doch das kümmerte sie nicht.

»Tot wie deine Mutter?«

Rielle erstarrte.

Als sie Tal in die Augen sah, hielt er ihrem Blick stand. Mit dieser Grausamkeit hatte sie nicht gerechnet – von ihrem Vater schon, aber nicht von Tal.

Die Erinnerung an lange erloschene Flammen flackerte vor ihrem inneren Auge vorüber. Sie sprach mit tonloser Stimme.

»Hat mein Vater dich angewiesen, das vorzubringen, wenn ich mich ungebührlich verhalte?«, fragte sie. »Wegen des Pferderennens und allem?«

»Ja«, erwiderte Tal ungerührt.

»Tja, dann kann ich dir gern verraten, dass ich nur das eine Mal getötet habe. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«

Nach einem kurzen Moment drehte er sich um und machte sich an den Büchern auf seinem Schreibtisch zu schaffen. »Es geht um deine Sicherheit wie um die aller anderen. Wenn der König erfährt, dass wir die Wahrheit über deine Kräfte jahrelang verschwiegen haben … du weißt, was dann passieren könnte. Vor allem deinem Vater. Und trotzdem tut er es, weil er dich mehr liebt, als du je begreifen wirst.«

Rielle lachte hell auf. »Das ist kein Grund, mich so zu behandeln. Ich werde es ihm nie verzeihen. Eines Tages werde ich es auch dir nicht mehr verzeihen.«

»Ich weiß«, sagte Tal. Seine Stimme klang so traurig, dass Rielle beinahe Mitleid empfand.

Beinahe.

Doch dann ertönte von unten ein lautes Krachen, dazu ein unverkennbarer Aufschrei.

Ludivine.

Tal warf Rielle den üblichen Blick zu, den er schon so häufig auf sie gerichtet hatte – als sie mit sieben im Tempel der Bäder das Becken zum Überlaufen gebracht hatte oder als er sie mit fünfzehn dabei erwischt hatte, wie sie sich zum ersten Mal in Odos Taverne geschlichen hatte. Dieser Blick besagte: Womit habe ich solche Prüfungen verdient?

Rielle sah ihn unschuldig an.

»Bleib hier«, befahl er. »Das ist mein Ernst, Rielle. Ich verstehe deine Enttäuschung – ganz ehrlich –, aber hier geht es um mehr als um die Ungerechtigkeit, dass du dich langweilst.«

Rielle kehrte zum Fenstersitz zurück in der Hoffnung, dass ihre Miene betreten genug wirkte.

»Ich liebe dich, Tal«, sagte sie und das war so wahr, dass sie sich selbst ein wenig dafür hasste.

»Ich weiß«, antwortete er. Dann legte er sein Magistergewand an und rauschte zur Tür hinaus.

»Magister, es ist etwas mit Lady Ludivine«, erklang eine panische Stimme im Flur – einer von Tals jungen Tempeldienern. »Sie war gerade erst in der Kapelle eingetroffen, Mylord, als sie plötzlich bleich wurde und zusammenbrach. Ich weiß nicht, was geschehen ist!«

»Hole meinen Heiler«, wies Tal ihn an, »und schicke der Königin eine Nachricht. Sie ist bestimmt schon in ihrer Loge am Startplatz. Sage ihr, dass ihre Nichte krank geworden ist und nicht zu ihr in die Loge kommen kann.«

Nachdem sie gegangen waren, zog Rielle lächelnd ihre Stiefel an.

Hierbleiben?

Ausgeschlossen.

Eilig schritt sie durch den Wohnraum, der vor Tals Studierzimmer lag, und hinaus auf die Korridore des Tempels mit ihren Wänden aus rot geädertem Marmor und den dicken Teppichen, die mit Stickereien von glühenden Flammen verziert waren. Am Eingang zum Tempel, dessen Parkettboden zu goldenem Glanz poliert worden war, herrschte reges Treiben, während Gläubige, Tempeldiener und Dienstboten auf die spitzbogigen Türen der Kapelle zueilten.

»Es ist etwas mit Lady Ludivine«, flüsterte eine junge Tempeldienerin ihrer Begleitung zu, als Rielle vorüberging. »Offenbar ist sie krank geworden.«

Rielle grinste und stellte sich vor, wie sich alle besorgt um die arme Ludivine scharten, die theatralisch hingegossen auf dem Fußboden des Tempels lag. Ludivine würde die Aufmerksamkeit genießen – und die Erinnerung daran, dass sie die ganze Hauptstadt wie eine Marionette an den Fäden gehalten hatte.

Trotzdem war Rielle ihr nach diesem Auftritt einen riesigen Gefallen schuldig.

Was auch immer sie verlangen würde, es wäre die Sache auf jeden Fall wert.

Ludivines Pferd stand neben ihrem eigenen direkt vor dem Tempel, von einem jungen Stallburschen gehalten, der einer Panik nahe zu sein schien. Als er Rielle erkannte, fiel er vor Erleichterung förmlich in sich zusammen.

»Entschuldigen Sie bitte, Lady Rielle, aber geht es Lady Ludivine gut?«, fragte er.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Rielle und schwang sich in den Sattel. Sie griff nach den Zügeln, und schon jagte ihre Stute die Hauptstraße hinab, die vom Tempel des Feuers ins Zentrum der Stadt führte. Die Hufe klapperten über die Pflastersteine. Eine bunte Ansammlung von Wohnhäusern und Tempelbauten erhob sich zu beiden Seiten – graue Steinmauern, auf denen Szenen von der Gründung der Hauptstadt eingraviert waren, Kuppeldächer aus poliertem Kupfer, hohe, von üppigem Efeu umrankte Säulen und Brunnen, die mit Abbildern der ins Gebet vertieften sieben Heiligen geschmückt waren. Anlässlich des Pferderennens waren so viele Besucher aus der ganzen Welt nach Âme de la Terre gekommen, dass die kühle Frühlingsluft mittlerweile schon muffig und verbraucht war. Die Stadt roch nach Schweiß und Gewürzen, schnellen Pferden und schnellem Geld.

Als Rielle die Straße entlanggaloppierte, teilte sich die Menge erschrocken vor ihr, und die Leute stießen derbe Flüche aus – bis sie begriffen hatten, wer sie war, und verstummten. Sie lenkte ihre Stute durch die kurvenreichen Straßen und hielt auf die Hauptstadttore zu, ihr Körper aufs Äußerste angespannt.

Doch heute würde sie ihrer Macht nicht nachgeben.

Sie würde am Boon-Chase-Pferderennen teilnehmen, wie es jedem Bürger zustand, und ihrem Vater beweisen, dass sie sich beherrschen konnte, selbst wenn ihr Leben in Gefahr war und die Blicke der ganzen Stadt auf ihr lagen.

Sie würde ihm und Tal beweisen, dass sie es verdient hatte, ein normales Leben zu führen.

2ELIANA

 

»Eliana sagt, an dem Tag, als das Imperium unsere Stadt einnahm, konnte man vor lauter Blutgeruch kaum atmen. Sie sagt, ich soll froh sein, dass ich noch ein Baby war, aber ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern. Vielleicht wäre ich dann ja stärker. Ein Krieger. So wie sie.«

Tagebuch von Remy Ferracora, Bürger von Orline

3. Februar im Jahr 1018 des Dritten Zeitalters

 

1020JAHRESPÄTER

Eliana war auf der Jagd, als sie den ersten Schrei hörte.

In der Großstadt Orline waren Schreie nichts Ungewöhnliches, besonders in den Brachen, wo sich die Elendsviertel über die Landungsbrücken erstreckten und ein düsteres Bild des Jammers boten.

Dieser allerdings war hoch und grell – der Schrei eines jungen Mädchens – und brach so abrupt ab, dass Eliana glaubte, sie hätte sich ihn nur eingebildet.

»Hast du das gehört?«, fragte sie Harkan flüsternd, der neben ihr an die Wand gepresst stand.

Harkan straffte sich. »Was gehört?«

»Diesen Schrei. Von einem Mädchen.«

»Ich habe keinen Schrei gehört.«

Eliana warf einen kurzen Blick in das verdunkelte Fenster neben ihnen, zupfte ihre neue Samtmaske zurecht und bewunderte ihre schlanke Figur. »Tja, wir alle wissen ja, wie scheiße du hörst.«

»Ich höre nicht scheiße«, brummte Harkan.

»Zumindest nicht so gut wie ich.«

»Es können schließlich nicht alle so großartig sein wie der Fluch von Orline.«

Eliana seufzte. »Traurig, aber wahr.«

»Allerdings glaube ich, dass selbst ich mit meinem bescheidenen Gehör einen Schrei hören würde. Wahrscheinlich hast du dir den nur eingebildet.«

Was Eliana bezweifelte.

In letzter Zeit waren immer wieder Mädchen und Frauen aus Orline verschwunden. Sie waren weder zu den Arbeitslagern des Imperiums verschifft noch in den Jungferntrakt des Palastes des Lords von Orline verschleppt worden. Darüber wäre geredet worden, das hätte irgendwelche Spuren hinterlassen.

Diese kürzlich verschwundenen Mädchen waren einfach geholt worden. In einem Moment waren sie noch da gewesen und im nächsten verschwunden.

Anfangs war Eliana das gleichgültig gewesen. Aus ihrem Stadtviertel war noch niemand weggeholt worden, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Imperium seine bevorzugten Bürger jemals entführen würde. Ihre Familie war in Sicherheit. Und deshalb war das alles nicht ihr Problem.

Aber je mehr Mädchen verschwanden und je mehr Geschichten sie über Frauen hörte, die sich scheinbar in Luft auflösten, desto schwerer fiel es ihr, die Lage zu ignorieren. So viele Schwestern waren fort, so viele Mütter – ihren Angehörigen entrissen, im Schlaf geraubt. Keine Verbrecher, keine Rebellen der Roten Krone.

Und dann gab es diese Gerüchte, die sich in manchen Kreisen hartnäckig hielten, obwohl sie völliger Unsinn waren, über ein Loch im Himmel auf der anderen Seite der Welt. Vielleicht in Celdaria. Vielleicht in den Sunderlands. Jedes Gerücht erzählte etwas anderes. Und manche Leute glaubten, dass alles miteinander zusammenhing – das Loch im Himmel, die verschwundenen Mädchen.

Eliana nicht. Ein Loch im Himmel? Das klang eher nach einer Befürchtung, die sich selbstständig gemacht hatte. Die Leute wurden tatsächlich so hysterisch, dass sie in uralten Legenden nach irgendwelchen Hinweisen und nach Trost suchten.

Eliana weigerte sich, da mitzumachen.

Dann hörte sie es wieder: ein zweiter Schrei. Näher diesmal.

Eliana überkam ein ungutes Gefühl, ihr jagten heftige Schauer über den Rücken. Die Welt kippte, erstarrte und richtete sich wieder auf. Der süße Duft, den die weißen Blüten des Gemmabaums über ihrem Kopf verströmten, roch auf einmal ranzig.

Harkan verlagerte leicht sein Gewicht. »Alles in Ordnung?«

»Spürst du das nicht?«

»Was soll ich spüren? Was ist heute Abend mit dir los?«

»Da ist …« Die Ränder ihres Gesichtsfeldes flirrten wie bei einer Luftspiegelung. »Ich weiß auch nicht, was da ist. Als wäre ein Adatrox in der Nähe, nur noch schlimmer.«

Als sie die Soldaten des Imperiums erwähnte, verlor Harkan seine Gelassenheit. »Ich sehe keine Adatrox. Bist du dir sicher?«

Ein dritter Schrei – noch verzweifelter diesmal, und er wurde sofort erstickt.

»Egal, wer das ist«, murmelte Eliana nervös und wütend, »sie sind in der Nähe.«

»Was? Wer?«

»Arabeths nächste Mahlzeit.«

Eliana grinste Harkan kurz an, dann zog sie Arabeth aus der Scheide – einen langen Dolch mit gezackter Klinge, den sie an der Hüfte trug. »Zeit zum Spielen.«

Nachdem sie einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild geworfen hatte, flitzte sie aus dem Verborgenen in die engen, schmutzigen Gassen der Unterstadt von Orline. Harkan rief ihr nach, doch sie ignorierte ihn. Wenn er sie aufhalten wollte, sollte er das ruhig versuchen, allerdings würde er dann in zwei Sekunden flach auf dem Rücken liegen.

Eliana grinste. Das letzte Mal, als sie ihn so festgenagelt hatte, war auf seinem Bett gewesen.

Sie konnte sich wirklich nicht entscheiden, welches Umfeld ihr besser gefiel.

Jetzt wollte sie aber keinen Streit vom Zaun brechen. Nicht wenn sie einen Mädchenfänger jagen musste.

Sie betrat die Brachen und schlüpfte zwischen geflickten Zelten und windschiefen Bretterbuden hindurch, hier und da glomm schwach eine Feuerstelle. Hinter dem Gelände schob sich der weite Fluss vorüber, Berge von schwärendem weißem Moos verstopften die Ufer.

Als sie mit zehn Jahren zum ersten Mal in diesem Elendsviertel gewesen war, hätte sie sich beinahe übergeben, so schlimm war der Gestank. Das hatte ihr einen strengen Blick ihrer Mutter eingebracht.

Heute, acht Jahre später, fiel ihr der Gestank kaum noch auf.

Sie spähte in die Nacht. Ein Bettler leerte die Taschen eines ohnmächtigen Betrunkenen. Ein hagerer junger Mann, fein frisiert und gepudert, lockte eine Frau durch eine bemalte Tür.

Wieder ein Schrei. Leiser. Sie waren auf dem Weg zum Fluss.

Das Gefühl, das Eliana über den Rücken kroch, wurde klarer. Es war – anders ließ es sich nicht beschreiben –, als hätte es einen eigenen Willen.

Sie stand vornübergebeugt, stützte sich auf den Knien ab und presste die Augen zusammen. Hinter ihren Lidern tanzten farbige Punkte. Neben ihr hatte jemand eine alberne Zeichnung von einer schwarz gekleideten, maskierten Frau auf einen ramponierten Stützbalken gekritzelt, die mit einem Messer in jeder Hand durch die Luft sprang.

Obwohl dieses üble Gefühl ihre Sehkraft beeinflusste, musste Eliana grinsen.

»Bei aller Liebe zu den Heiligen, was machst du da, El?« Harkan trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was ist los? Bist du verletzt?«

»Ich? Verletzt?« Sie musste stark gegen den Brechreiz ankämpfen. »Liebster Harkan.« Großspurig zeigte sie auf die Zeichnung. »Wie kannst du so etwas nur vom Fluch von Orline denken?«

Und schon rannte sie los und sprang vom höchsten Stockwerk der Hafenanlage zu einem etwa dreißig Meter tiefer liegenden. Den Aufprall nahm sie nur als leichten Ruck wahr. Im Nu stand sie wieder auf den Beinen und rannte weiter. Bei einem solchen Sprung würde Harkan sich beide Beine brechen, er musste den langen Weg nach unten nehmen.

Wenn Remy jetzt hier wäre, würde er sagen, dass sie sich nicht so auffällig verhalten sollte.

»Die Leute bekommen das allmählich mit«, hatte er erst kürzlich zu ihr gesagt. »Ich habe sie in der Bäckerei reden hören.«

Eliana hatte ausgestreckt auf dem Boden ihres Schlafzimmers gelegen und unschuldig »Was reden sie denn?« gefragt.

»Wenn ein Mädchen mitten auf dem Gartenplatz drei Stockwerke tief herunterfällt und sofort wieder auf den Beinen ist, bemerken das die Leute normalerweise. Besonders wenn es einen Umhang trägt.«

Beim Gedanken an ihre großen Augen und ehrfurchtsvollen Mienen hatte Eliana lächeln müssen. »Und was, wenn ich will, dass sie mich bemerken?«

Remy hatte eine ganze Weile geschwiegen. Dann sagte er: »Willst du etwa, dass der Invictus kommt und dich mir einfach wegnimmt?«

Daraufhin war sie verstummt. Sie hatte in das blasse, schmale Gesicht ihres kleinen Bruders geschaut und ihr war anders geworden.

»Tut mir leid«, hatte sie leise gesagt. »Ich bin so ein Esel.«

»Es ist mir egal, ob du ein Esel bist«, hatte er geantwortet. »Gib einfach nicht so an.«

Sie wusste, dass er recht hatte. Das Problem war nur, dass sie gern angab. Wenn sie schon ein Sonderling mit wunderbarem Körper war, dem kein Sturz etwas anhaben konnte, wollte sie wenigstens ein bisschen Spaß damit haben. Dann blieb ihr auch keine Zeit, sich zu fragen, warum ihr Körper das alles konnte.

Oder was das Ganze zu bedeuten hatte.

Während sie durch die Hafenanlage rannte, folgte sie der Spur der Ungerechtigkeit wie dem Geruch einer Beute. Im untersten Stock des Gebäudes war es ruhig, die Sommerluft hing reglos und schwer zwischen den Mauern. Sie rannte um eine Ecke und um eine zweite – und hielt inne. Am Rand dieses wackeligen Piers wurde der Geruch, das Gefühl aufgewirbelt. Sie zwang sich weiterzugehen, obwohl ihr Magen rebellierte und ihr das Blut in den Ohren rauschte. Ihr ganzer Körper schrie geradezu, nicht näher hinzugehen.

Dort am Rand des Stegs warteten zwei Gestalten – maskiert und in dunklen Reisekleidern – in einem langen eleganten Boot. Vermutlich Männer, ihrem großen, kräftigen Körperbau nach zu schließen. Eine dritte Person trug ein kleines Mädchen mit goldbrauner Haut, genau wie die von Harkan. Das Mädchen wehrte sich, in seinem Mund steckte ein Knebel und es war an Hand- und Fußgelenken gefesselt.

Rote Krone? Unwahrscheinlich. Was wollten die Rebellen mit gestohlenen Kindern? Und wenn die Rote Krone in diese Entführungen verwickelt wäre, hätte Eliana bestimmt schon Gerüchte aus der Unterwelt gehört.

Vielleicht waren es ja Kopfgeldjäger, so wie sie, aber warum sollte das Unsterbliche Imperium für etwas bezahlen, was es sich doch einfach nehmen konnte? Und dann in einer Gruppe zusammenarbeiten? Äußerst unwahrscheinlich.

Eine der beiden Gestalten im Boot streckte die Arme aus, um das Mädchen entgegenzunehmen. Auf dem Boden lagen dicht an dicht einige Bündel – weitere Frauen, weitere Mädchen, gefesselt und bewusstlos.

Elianas Wut war entfacht.

Sie zog den langen dünnen Pfeifer aus ihrem linken Stiefel.

»Wohin des Wegs, meine Herren?«, rief sie und rannte auf sie zu.

Als der Mann auf dem Pier sich umsah, war Eliana schon bei ihm. Sie machte eine halbe Drehung und erwischte ihn mit dem Stiefel unter dem Kinn. Er fiel und rang nach Luft.

Einer der Männer sprang vom Boot auf den Kai. Eliana zog ihm Arabeth über die Kehle und stieß ihn zu seinem Kameraden ins Wasser.

Siegesgewiss wandte sie sich zu dem Entführer, der noch im Boot wartete, und winkte ihm zu.

»Kommst du, Schätzchen?«, sagte sie gurrend. »Oder hast du etwa Angst vor mir?«

Früher war sie vor dem Töten zurückgeschreckt. Ihr erstes Mal lag sechs Jahre zurück, damals war sie zwölf gewesen. Rozen Ferracoara, Elianas Mutter, hatte sie bei einem Auftrag mitgenommen – dem letzten, den Rozen vor ihrer Verletzung angenommen hatte –, aber irgendjemand hatte sie verpfiffen. Die Rebellen wussten, dass sie kommen würden. Sie waren in einen Hinterhalt geraten.

Rozen hatte zwei von ihnen niedergestreckt, während Eliana im Verborgenen blieb. Ich halte dich vom Töten fern, solange es geht, meine Süße, hatte ihre Mutter immer gesagt. Schau fürs Erste nur zu. Lerne. Übe. Ich bringe dir bei, was mein Vater mir beigebracht hat.

Als einer der Rebellen Rozen zu Boden drückte, spürte Eliana nichts als blinde Wut.

Sie hatte sich auf die Rebellin gestürzt und ihre kleine Klinge tief in den Rücken der Frau gestoßen. Danach stand sie fassungslos da und sah dabei zu, wie die Frau in einer Lache aus Blut ihr Leben aushauchte.

Rozen hatte Eliana an der Hand genommen und war mit ihr davongeeilt. Zu Hause in der Küche hatte ihr Bruder Remy – er war damals fünf Jahre alt – große Augen gemacht, als Elianas Schock in Panik umschlug. Mit Händen, noch immer rot vor Blut, hatte sie sich in den Armen ihrer Mutter heiser geschluchzt.

Zum Glück war das Töten einfacher geworden.

Aus den Schatten stürzten zwei maskierte Gestalten, die kleine Bündel mit sich trugen. Noch mehr Mädchen? Sie warfen die Bündel zu ihrem Kameraden ins Boot und stellten sich ihr entgegen. Geschickt wich sie einem Schlag aus, und noch einem, musste dann aber einen harten einstecken, der sie im Magen traf, und bekam einen heftigen Kinnhaken verpasst.

Sie stolperte, schüttelte sich. Der Schmerz verging so rasch, wie er gekommen war. Sie fuhr herum und erstach einen weiteren der brutalen Kerle, der ins schmutzige Wasser kippte.

Dann wurde ihr speiübel, so schlimm, als würde ihr jemand einen Stiefelabsatz in den Bauch bohren. Sie ging in die Knie und rang nach Luft. Auf ihren Schultern lastete ein schweres Gewicht, sie konnte nicht mehr klar sehen und wurde fest auf den glitschigen Kai gepresst.

Fünf Sekunden. Zehn. Dann verschwand der Druck. Die Luftmassen um ihren Körper waren nicht länger verschoben, ihre Haut kribbelte nicht mehr. Sie hob den Kopf und zwang sich, die Augen zu öffnen. Das Boot glitt davon.

Wutentbrannt kam Eliana auf die Füße, ihr war immer noch schwindelig. Gerade als sie zum Kopfsprung ansetzte, legte sich ein starker Arm um ihre Taille und hielt sie zurück.

»Lass mich los«, sagte sie gereizt, »sonst werde ich ungemütlich.« Sie rammte Harkan ihren Ellenbogen in die Rippen.

Er fluchte, ließ aber nicht los. »Hast du den Verstand verloren, El? Diese Mädchen gehen dich nichts an.«

»Sie haben sie entführt.« Sie trat heftig auf seinen Spann, wand sich aus seinem Griff und rannte zum Ende des Kais.

Harkan folgte ihr, schnappte sie am Arm und zog sie zu sich herum. »Das tut nichts zur Sache. Es geht dich nichts an.«

Ihr Lächeln war eiskalt. »Wann ist es je zu deinem Vorteil ausgegangen, wenn du mich zurückgehalten hast? Oh, warte …« Sie kam näher und lächelte freundlich. »Ein, zwei Gelegenheiten fallen mir doch tatsächlich ein –«