Zuckerbrot - Kaur Jaswal Balli - E-Book

Zuckerbrot E-Book

Kaur Jaswal Balli

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Beschreibung

Pin darf auf keinen Fall werden wie ihre Mutter, aber niemand will ihr sagen, warum. Sie sucht nach Hinweisen in den bunten Köstlichkeiten, die die Mutter je nach Gemütslage in der Küche zaubert – roter Chili steht für Gefahr, Kohl in Kokossauce für ›alles paletti‹ –, wenn sie nicht gerade andere Kämpfe austrägt: als Stipendiatin an einer Eliteschule, als sichtbare Punjabi in der multikulturellen Metropole Singapur, Tag für Tag rassistisch angegangen vom Schulbusfahrer, als einziges Mädchen in einer Jungenclique. Ihr Rückzugsort ist ihre kleine Familie, ihre zärtliche Beziehung zum Vater – bis die übergriffige Großmutter zu ihnen in die kleine Wohnung zieht, das Porträt eines wachsamen Sikh-Gurus an die Wohnzimmerwand hängt und eine neue Hausordnung installiert. Gut gehütete Geheimnisse aus der Vergangenheit drängen ans Licht. Ist Pin stark genug, um die Wahrheit auszuhalten? Ein komplexes Familiendrama, das die Spannungen zwischen Moderne und Tradition auslotet, und eine sehr tiefgehende, schmerzhaft-warmherzige Geschichte über Kindheit und Erwachsenwerden. Voll von Farben, Gerüchen, Geschäckern – von Leben. Shortlist Singapore Book Awards und Singapore Literature Prize

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Seitenzahl: 448

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Balli Kaur Jaswal, geb. 1983 in Singapur, hat selbst indische Wurzeln, lebte schon als Kind in vielen verschiedenen Ländern und studierte in den USA. 2014 wurde sie vom Sydney Morning Herald zur besten jungen australischen Romanautorin des Jahres gekürt. Seit ihrem Welterfolg mit Erotic Stories for Punjabi Widows (Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen, Goldmann 2018; u. a. ausgewählt für Reese Witherspoons Buchclub; Filmrechte verkauft) lebt sie vom Schreiben. Ihr Erstling Inheritance wurde 2017 verfilmt. Sugarbread war auf der Shortlist sämtlicher Singapurer Literaturpreise. Für The Unlikely Adventures of the Shergill Sisters (2019) existiert eine Option zur Verfilmung als US-TV-Serie; Now You See US erschien 2023.

Gabriele Haefs ist eine der bekanntesten Übersetzerinnen Deutschlands (u. a. von Jostein Gaarder, Camilla Grebe, Anne Holt, Máirtín Ó Cadhain, Yeoh Jo-Ann). Auszeichnungen u. a.: Gustav-Heinemann-Friedenspreis, Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk, Königlich-Norwegischer Verdienstorden.

BALLI KAUR JASWAL

Zuckerbrot

ROMAN

Aus dem Englischen übertragen von Gabriele Haefs

ALFRED KRÖNER VERLAG

Balli Kaur Jaswal

Zuckerbrot

Roman

Aus dem Englischen übertragen von Gabriele Haefs

1. Auflage, Stuttgart, Kröner 2024

ISBN DRUCK: 978-3-520-62505-2

ISBN E-BOOK: 978-3-520-62595-3

Originaltitel: Sugarbread

Copyright © 2016 by Balli Kaur Jaswal

Published in Singapore by Epigram Books

www.epigram.sg

ALL RIGHTS RESERVED

Supported by

Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Bildes von © Epigram Books

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2024 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Für meine Mutter, Tanten und Großmütter

Inhalt

Teil 1

Kapitel 1

1990

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

1967

Teil 2

Kapitel 5

1990

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1970

Teil 3

Kapitel 9

1991

Kapitel 10

1970

Teil 4

Kapitel 11

1991

Kapitel 12

Kapitel 13

Danksagungen

Glossar

Noch mehr preisgekrönte Literatur aus Singapur

Teil 1

1

1990

Es war Singapur und es war Juli. Die frühe Morgensonne leuchtete orange und rosa zwischen den Hochhäusern; Ströme von Licht flossen durch die reglosen Zweige der Bäume und Hitze stieg vom Straßenbelag auf. Ma und ich gingen unter Reihen von Leinenmarkisen im Schatten. Überall um uns herum wurden Gitter aufgeschlossen und hochgezogen. Sie ratterten laut, wie Züge, die mir direkt über die Ohren fuhren. Ladenbesitzer verzogen das Gesicht, während sie Ständer und Kisten voll mit Gardenia-Brot, Kokos-Kaya-Krügen, süßem Pandan-Brot, klebrigen rosa Cupcakes namens Kueh, Krabbencracker-Tüten, Brötchen, prall gefüllt mit roter Bohnenpaste und Twisties-Snacks auf die Straße zogen. Diese paar Dinge konnten die Sonne vertragen.

Drinnen waren die Läden schattige und kühle Höhlen. Dort gab es Kühlschränke für Milchkartons und Gefriertruhen für Eis am Stiel und Paddle-Pop-Eiscreme. Die wenigen frühen Kunden schoben sich seitwärts wie Krebse durch die engen Gänge. Hinten fläzten sich hohe Reissäcke, als gönnten sie sich eine Atempause von der Morgensonne. Über ihnen an der Wand leuchteten rote Altäre mit Orangen und glimmendem Räucherwerk als Opfergaben. Einige Vitrinen waren so früh am Morgen noch verriegelt und angekettet. Die Ladenbesitzer seufzten, wenn sie in die Hocke gingen, um den Schlüssel ins Schloss zu bugsieren. Sie waren immer am Seufzen, sie waren immer müde.

Ma ging mit energischen, langen Schritten und ich musste mich anstrengen, um mitzukommen. Ich hatte kurze Beine. Ich war das kleinste Mädchen in meiner Klasse. Ich dachte, dass ihr das klar sein müsste, aber wenn ich sie daran erinnerte, wurde sie ungeduldig und sagte: »Du wächst schon noch, Pin.« Sie war schon immer langbeinig und elegant gewesen, deshalb konnte sie sich nicht vorstellen, wie das für mich war. Aber ein bisschen kleiner zu sein, hatte auch seine Vorteile. Ich bemerkte so allerlei, während Ma einfach weitereilte, und genau deshalb nahm sie mich mit zum Markt. Es gab weniger bevölkerte Wege durch die offenen Untergeschosse der Wohnblocks, aber Ma ging lieber an den Läden vorbei, weil ich dann Sonderangebote erspähen konnte. Ich hatte gute Augen und ich war schnell im Addieren und Subtrahieren. Daddy nannte das »einen wachen Geist haben«, und ich dachte gern, dass Gott mir absichtlich einen wachen Geist gegeben hatte, um auszugleichen, was mir an Höhe fehlte.

Bei den Läden hielt ich Ausschau nach Schnäppchen, in der Hoffnung, dass Ma sich erinnern würde, dass sie etwas brauchte, und sich unser Ausflug zum Wochenmarkt verzögerte, und sei es nur für ein paar Minuten. »Da verkaufen sie Wäscheklammern!«, rief ich. Ma wurde langsamer. Ich zeigte auf einen Korb, der vor einem Kramladen stand. Dieser Laden war nicht so gut organisiert wie die anderen. Das alte Ehepaar, dem er gehörte, wirkte immer verwirrt, wenn die Kundschaft nach einem Set von irgendwas fragte. Sie verkauften sämtliche Artikel in Einzelstücken – Kleiderbügel, Nägel, Bleistiftminen, Papierhandtücher, Tigerbalsam. Ma nannte diesen Laden den Einzelstück-Laden, obwohl sein richtiger Name, wie auf dem Ladenschild zu lesen war, »Lee’s Goods« lautete. Ich zeigte auf den Korb, der vor dem Eingang stand, randvoll mit Plastik- und Holz-Wäscheklammern. WÄSCHEKLAMMER FÜNF CENT DAS STÜCK.

»Wir brauchen keine«, sagte Ma, nachdem sie das Schild gelesen hatte. Dann nahm sie ihr Tempo wieder auf, und ich musste wieder springen, um sie einzuholen.

»Ich mag Twisties«, sagte ich und beäugte die ausgestellten Tüten vor einem anderen Laden.

»Twisties sind Müll«, erwiderte Ma, und da wusste ich, dass es keinen Aufschub mehr geben würde. Wir würden zum Markt gehen, und zwar jetzt sofort.

Sonntagmorgens hatte Ang Mo Kio einen leicht rauchigen, süßlichen Geruch. Der kurze Weg zum Markt war immer geprägt von diesen beiden Gerüchen – etwas Brennendem und etwas Verlockendem. Der schwere Brandgeruch kam von dem Rauch, der von den Woks in den nahe gelegenen 24-Stunden-Coffee-Shops aufstieg, wo rote Plastikstühle verstreut um schiefe weiße Tische herumlagen. Der Rauch brachte das Aroma von in Öl brutzelnden Zwiebeln und Knoblauch mit, von in Austernsoße gebratenen Reisnudeln, von gedämpftem Gemüse, das zusammen mit gehacktem Knoblauch vor sich hinköchelt, von Eiern und Butter und Teig, von wässriger Kokossauce und Fischcurry. Der süßliche Geruch stammte nicht unbedingt von etwas Essbarem, obwohl er überwältigend war, wenn wir an der Happy Garden Bakery mit ihren funkelnden Vitrinen voller Schoko-Mousse-Torten und vielstöckigem Kueh Lapis vorbeikamen. In der Sonntagsluft lag eine andere Art von Süße. Es waren die ordentlich aufgereihten Tröge mit Bougainvilleen, die die Straßen säumten, Body Lotion und Deodorant, gemischt mit Schweiß, Morgengrüße von einer Frau zur anderen, das Geld, das bei der 4D-Lotto-Annahmestelle gezählt wurde, neues Gummi und Leder im Fahrradladen. Nichts auf der Welt war wie unser Viertel an einem Sonntagmorgen. Ich lebte schon mein ganzes Leben lang dort. Ich war zehn Jahre alt.

Als wir uns dem Wochenmarkt näherten, wichen beide Gerüche etwas anderem, einem bitteren Geschmack, der in meiner Kehle seinen Ausgang nahm. Es war immer so. Angst presste mir die Eingeweide zusammen und verwandelte meine Glieder in Blei. Ich konnte mich nicht bewegen oder nach Ma rufen, die einfach weiterging. Irgendwann schaute sie sich um und kam zurück, mit ärgerlich verzogenem Gesicht.

»Komm schon! Du wirst nicht verlorengehen«, sagte sie.

Ich klammerte mich immer an Mas Hand, wenn wir irgendwo hingingen, wo viele Leute waren – die Einkaufspassagen in der Innenstadt, die Reihen von Verkaufsbuden in Ang Mo Kio Central, der Busbahnhof – aber manchmal, ohne dass sie es merkte, verlor sie mich doch. Sie gab es nie zu. Ein Jahr zuvor waren wir unten an der Straße beim Pasar Malam gewesen. Laternen schwebten wie kleine Monde am tintenschwarzen Himmel und aus Lautsprechern krächzte chinesische Musik. Wo immer wir hinkamen, riefen Händler die Preise von Kleidern, Spielzeug und Zuckerwatte aus. Ich erinnerte mich an das Gefühl, wie Mas Hand aus meiner geglitten war auf dem Weg zu einem Schnäppchen. Menschen füllten den kleinen Zwischenraum zwischen uns wie Flutwasser, das in einen Rinnstein strömt. Sie fand mich nach wenigen Minuten wieder, aber für mich hatte es Stunden gedauert, ein ganzes Leben. Als ich ihr sagte, dass sie zuerst losgelassen habe, wurde sie böse und fragte: »Warum sollte ich denn so etwas tun?«

Ich konnte jetzt schon die Hitze auf meinem Rücken spüren; der Schweiß klebte mir das dünne T-Shirt auf die Haut. Um uns herum bewegten sich Kauflustige in unterschiedliche Richtungen. Einige rannten in klappernden Sandalen an uns vorüber, andere ließen sich Zeit und machten sich breit. Es gab gerade Rücken, krumme Rücken, weite Blusen und hautenge T-Shirts. Ich sah Hautfarben in jeder möglichen Schattierung und die feinen, grünen Äderchen, die die Kniekehlen schmückten. Ich sah hervorstehende Knöchel und abgenutzte Gummilatschen. »Aiyah!«, rief ein Mann, als er seinen Flip Flop verlor, der dann über den nassen Boden rutschte und in einer seichten Eckgosse landete. Für einen Moment konnte ich seine Augen sehen, die wütend nach der Person Ausschau hielten, die ihm in die Hacke getreten war. Ich versteckte mich hinter Ma, für den Fall, dass er dachte, ich sei es gewesen, aber seine Wut hielt nur für wenige Sekunden an; ihm war offenbar aufgegangen, dass er nichts erledigen würde, wenn er sich jetzt nicht in Bewegung setzte. Er rannte zu der Gosse, schob seinen Fuß wieder in den Flip Flop und eilte weiter, als wäre nichts passiert.

»Nimm meine Hand«, sagte Ma. Ich gehorchte. »Also, was machst du jetzt?«

»Immer weiter deine Hand halten.«

»Und was darfst du auf keinen Fall tun?«

»In Panik geraten.«

»Oder?«

»Weinen«, sagte ich, ein bisschen leiser, weil es mir peinlich war.

»Fertig?«, fragte sie.

Ich nickte, und sie ging mit mir hinein. Als der Markt auf uns zustürzte, war mein erster Impuls, mich von Mas Hand loszureißen und wegzurennen. Das wusste Ma – ihr Griff wurde fester. Es gab kein Entrinnen. Die Welt wurde zu einem wogenden Meer aus Menschen, Stimmen und Farben. Es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten und meine Nase an die Feuchtigkeit und den Geruch von Blut, vermischt mit Blumen, vermischt mit Räucherwerk, vermischt mit reifem Obst. Wir waren durch einen engen Durchgang zwischen einem improvisierten Orchideenladen und einem Geflügelstand hereingekommen, wo gerupfte Hühner mit ihren Schnäbeln an C-förmigen Haken hingen. Von der grau-rosa Färbung ihrer pickligen Haut wurde mir schlecht, deshalb starrte ich auf einen anderen Stand, wo Räucherstäbchen und Papiergeld als Brandopfer für die Ahnen verkauft wurden. Weiter vorn stand eine ältere Frau auf einem niedrigen Schemel und zeigte auf einen Glasbehälter voller grauer Krebse, deren Scheren fest mit rosa Bast umwickelt waren. Die Krebse zappelten und kippten übereinander und tippten ununterbrochen Drohungen gegen das Glas. Ihre Augen waren schwarze Perlen.

Hier gab es keine Ordnung. Ganz Singapur war ordentlich und sauber, aber der Markt war eine andere Welt. Mir waren die sauberen Reihen und die Klimaanlage des NTUC-Supermarktes in Ang Mo Kio Central lieber, aber Ma bestand darauf, dass nichts wirklich gut war, das nicht frisch vom Wochenmarkt kam. Sie glitt fast schwerelos durch die Gassen und verhandelte Hüfte schwingend. Ich konnte mit dem Chaos des Marktes fertigwerden, wenn ich nur ihren Bewegungen folgte, aber ich musste aufpassen, dass sie das nicht sah. Ma machte sich die größten Sorgen, wenn ich ging wie sie.

An diesem Morgen hatte Ma mich geweckt, indem sie meine Zimmertür geöffnet und meinen Namen genannt hatte. »Pin«, hatte sie leise gerufen. Ich war bereits wach. Zwischen den Lamellen meiner Jalousien drang Sonnenlicht ins Zimmer. Ma schloss die Tür und ich lauschte auf ihre Schritte, die sich schnell durch die Wohnung bewegten. Mein Zimmer lag am Hauptgang an unserem Haus, und an den Wochenendmorgen beobachtete ich gerne die Schatten der Vorübergehenden und versuchte sie den Nachbarn zuzuordnen. Da war die junge Malaiin, die mit ihren ältlichen Eltern zusammenlebte. Sie war groß und dürr, mit kurzem stacheligen Haar. Eine vierköpfige Familie lebte ganz hinten am Ende des Ganges. Die Mutter hatte immer das Baby auf dem Arm, was ihrer Silhouette einen Klumpen hinzufügte. Das andere Kind war noch zu klein, um mein Fenster zu erreichen, aber ich erkannte die gebückte Gestalt des Vaters, wenn er mit dem Kleinen vorüberkam.

»Pin.« Ma öffnete wieder die Tür und stand jetzt am Fußende meines Bettes. »Aufwachen. Duschen. Anziehen. Ich hab heute eine Menge einzukaufen. Ich brauche dich, damit du mir hilfst, die Tüten vom Markt nach Hause zu tragen.« Ich sah sie durch die dünnen Bettlaken hindurch an. Schlanke Taille, die Hüften ausladend wie schmale Simse – die Gestalt von Ma.

»Fünf Minuten«, murmelte ich.

Ein weiterer Schatten kam ganz langsam am Fenster vorbei. Ich musste mich aufsetzen, um zu entscheiden, wer das war. Eine plötzliche Brise bewegte die Jalousien und verzerrte die Umrisse. Ma kam wieder ins Zimmer gestürmt, obwohl noch keine fünf Minuten vorbei waren. »Pin!«, rief sie, als ob sie mich soeben beim Klauen erwischt hätte. Der Schatten hielt inne, verwirrt von Mas Stimme, dann setzte er seinen Weg fort. Ich schob mich aus dem Bett und ging unter die Dusche, ehe ich zu schimpfen anfing, damit das Wasser meine Stimme übertönen könnte.

Als ich in ihrem Zimmer saß und ihr dabei zusah, wie sie sich das Gesicht puderte und einen kleinen Knitter an ihrer Bluse glattstrich, verflog meine Wut. Ma war zu glamourös für den Markt. Sie bestand darauf, sich ordentlich anzuziehen, nichts Übertriebenes, aber auch nichts, was sie nur zu Hause tragen würde. Die meisten Hausfrauen, die zum Markt gingen, trugen Flip Flops und ausgebeulte Shorts mit T-Shirts. Sie kämmten sich nicht. Ma warf die Haare über den Kopf nach unten und bürstete sie, bis sie ihr Gesicht umstoben wie eine dunkle Wolke. Als sie im Badezimmer verschwand, versuchte ich es ihr nachzutun, aber die Bürste blieb in meinen Locken stecken. Auch ein weiterer Versuch schlug fehl – ich hatte Daddys Haare und nichts von Mas Anmut.

Jetzt löste sich Mas Griff von meiner Hand. Ich zog an ihrem Rock, um sie zu erinnern. Sie nickte, wie um zu sagen, dass sie mich nicht vergessen hatte, nur etwas in ihrer Handtasche suchte.

»Erst zum Fischstand. Bringen wir es hinter uns«, sagte Ma. Ich stöhnte leise, dann versuchte ich, den Atem anzuhalten, aber das half nichts. Der Fischhändler fächelte sich mit den Händen Luft ins Gesicht, während er die Preise ausrief. Fische mit offenen Mündern und glasigen Augen lagen in Reihen auf mit Eis gefüllten Tabletts. Ihre aufgefächerten Flossen sahen aus wie die Borsten an einem Besen. Es gab größere Fische, weißere Fische, Fische mit etwas, das aussah wie ein langer, spitzer Schnabel. Und über allem der scharfe, metallische Blutgeruch.

Als der Fischhändler Ma sah, grinste er und fragte sie auf Malaiisch: »Hallo, hätten Sie gern ein paar Fische?«

»Ja. Erstmal zwei, dann nennen Sie mir den Preis.«

Der Mann wog zwei schlaffe Fischstücke ab. »Acht Dollar.«

Ma musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, um abzuschätzen, ob man ihm trauen konnte. Nach einem Moment sagte sie: »Okay, dann noch einen.«

Ich verzog das Gesicht. Ich hasse Fisch, und das hier bedeutete, dass Ma bald welchen zum Abendessen braten würde. Der Mann sah meine Miene und lachte. »Ihre Tochter«, sagte er, mehr als Feststellung denn als Frage. Ich lächelte ihn an. Es gefiel mir, wenn andere erkannten, dass ich Mas Tochter war.

»Ja«, sagte Ma. »Danke.« Sie ließ sich von ihm die Plastiktüte geben und reichte sie mir. Ich schob das Handgelenk durch die Griffe und ließ die schwere Tüte heruntersacken, ohne mich darum zu kümmern, dass sie reißen könnte. Ma vertraute mir Fleisch und Gemüse an; Eier und schweres Obst trug sie selbst.

Auf dem Markt wurden alle vier Hauptsprachen gesprochen. Die Luft war angefüllt mit chinesischen Silben, flink wie Pinselstriche. Einige der älteren Standbesitzer konnten Malaiisch sprechen. Der dunkelhäutige Mann, der Hammelfleisch verkaufte, feilschte in schnellem Tamil. Manche Händler gebrauchten unsicher ihr gebrochenes Englisch, während andere demonstrativ ihre schlechte Grammatik herausposaunten. Meine Familie sprach Punjabi – eine Sprache, die die meisten Menschen in Singapur nicht einmal vom Hörensagen kannten –, und das nutzten wir zu unserem Vorteil. Am Obststand befahl Ma mir, die Röte der Äpfel zu überprüfen, während sie die Orangen auf Festigkeit hin untersuchte. Ich war klein genug, um die Früchte zu erreichen, ohne mich über den Korb beugen zu müssen. Ma mochte kein zu großes Interesse zeigen. Sich vorzubeugen signalisierte Bedarf; wir brauchten für gutes Obst nicht mehr zu bezahlen als nötig.

»Die sind reif«, bestätigte ich leise, obwohl ich Punjabi sprach und der Obsthändler es nicht verstehen würde. Uns begegneten nur sehr wenige Menschen aus dem Punjab, außer, wenn wir im Tempel waren; wenn wir sie irgendwo sahen, taten wir, als sähen wir sie nicht, weil Ma nicht stehenbleiben und plaudern wollte. Sie sagte, die meisten Punjabis seien ständig auf der Jagd nach Klatsch, um ihn mit nach Hause zu bringen, und noch die harmloseste kleine Auskunft könne sich in ihren Mündern in Nachrichten von nationaler Tragweite verwandeln.

»Sicher? Schau genau hin«, erwiderte Ma. Sie taxierte die Händlerin.

»Ich bin sicher«, sagte ich. Der Apfel in meiner Hand war rund und reif. Ich presste den Daumen in die Schale und es gab eine kleine Delle.

Ma nickte und kaufte ein paar Äpfel. Die Obsthändlerin war eine zierliche Frau mit einem wirren, kurzen, schneeweißen Lockenkopf. Als sie Ma das Wechselgeld reichte, konnte ich sehen, wie ihre Knöchel aus der bleichen Haut ragten.

»Ich bin müde«, verkündete ich Ma, während wir zum nächsten Stand weitergingen. Das Ende des Marktes war noch immer weit weg. Blattreiches Gemüse musste inspiziert werden, Bohnen mussten handverlesen und Hühnerschenkel abgewogen und verpackt werden. »Ich bin sehr müde«, sagte ich.

Falls Ma mich gehört hatte, stellte sie sich taub. Ich sah zu, wie sie feilschte wie eine Singapurerin. »Selber Preis, aber dicker lah«, sagte sie zu dem Mann, der vorsichtig dünne Tofuscheiben von einem größeren Stück abschnitt. Ma war wie meine Lehrerinnen in der Schule – sie konnte Singlisch nicht billigen, kam aber nicht umhin, es bisweilen trotzdem zu verwenden. Wenn sie mit Fremden sprach, war ihre Aussprache meistens so klar wie die einer Kanal-5-Nachrichtensprecherin. Aber tadelloses Englisch beeindruckte auf dem Markt niemanden – es hob nur die Preise an. Ich hatte Ma einmal darauf hingewiesen, dass ihre schöne Kleidung wahrscheinlich dazu führte, dass die Marktleute uns für wohlhabend hielten, aber ordentlich auszusehen war etwas, wo sie keine Kompromisse duldete.

Die Griffe der Plastiktüten schnitten mir in die Handgelenke. Die Stimmen von Händlern und Kundschaft verschmolzen zu einem einzigen lauten Summen. Ich sagte Ma noch einmal, dass ich müde war. »Und ich habe Durst«, fügte ich hinzu. Wir waren jetzt in der Nähe einer Treppe, die zu einer Reihe von Verkaufsbuden hinaufführte. Der erste Stand oben an der Treppe verkaufte eiskalten Zuckerrohrsaft. Ich wollte schon eine Pause vorschlagen, aber ich kannte auch die damit verbundene Gefahr. Es war nicht ratsam, Ma zu verärgern, wenn sie Essen kaufte. Es verdarb ihr die Laune und sorgte dafür, dass sie wichtige Dinge vergaß.

Nach dem Tofu kam der junge Spinat. Danach Tomaten und Möhren. Ich half Ma jedes Mal beim Aussuchen. »Keine Hektik«, mahnte sie. »Sorgfältig auswählen.« Aber die Luft um mich herum wurde drückender und erschwerte mir das Atmen.

In der vergangenen Nacht hatte ich nicht viel geschlafen. Ich hatte den Kopf voller Zahlen gehabt. »Vier Ziffern«, hatte Daddy gesagt, während er auf meiner Bettkante saß. »Denk scharf nach.« Es klang einfach, sich Zahlen zu überlegen, aber es mussten Glückszahlen sein, oder er würde bei der 4D-Lotterie verlieren. »Nutz deinen wachen Geist, Pin«, sagte Daddy immer und sah mir dabei tief in die Augen.

Jeden Sonntagmorgen stand er in der Schlange vor dem 4D-Kiosk, trat von einem Fuß auf den anderen und hoffte, dass nicht schon irgendwer seine Kombination getippt hatte. Er hatte noch nie gewonnen, war aber immer dicht davor. An meinem ersten Schultag hatte ich ihm die Nummer meines Klassenzimmers genannt, allerdings bestand die nur aus drei Ziffern. Ich hatte einfach eine weitere hinzugefügt und war bei 1123 gelandet, weil ich fand, dass sich das wahrscheinlich anhörte. Die Gewinnerzahl an diesem Wochenende war ganz nah dran gewesen: 1121. Wenn Daddy in der Zeitung nachsah und feststellte, dass er fast gewonnen hätte, ballte er jedes Mal die Fäuste, knirschte mit den Zähnen und sagte: »So dicht dran!« Wenn keine seiner auserwählten Zahlen dabei war, hielt er den Mund und schob längere Schichten im Hotel. Ma glaubte nicht an die Lotterie und nannte sie eine gewaltige Geldverschwendung. Obwohl sie wusste, dass Daddy jede Woche für den Tippschein Schlange stand, erwähnte sie es so gut wie nie, deshalb war die Lotterie unser Geheimnis, etwas, das nur wir verstehen konnten. Daddy glaubte allen Ernstes, dass er eines Tages gewinnen würde. Aber Ma sagte gern, dass Glücksspiel ebenso sinnlos sei wie Beten, wenn man Probleme hatte.

Es standen noch vier weitere Verkaufsstände an, aber meine Beine fühlten sich an wie Gummi. Ma ließ solche Ausflüchte nicht gelten. »Reiß dich zusammen, Pin!«, befahl sie mir auf Englisch, wenn mich der Markt überwältigte. Wir waren beim Durian-Stand, als mir aufging, dass ich einen anderen Vorwand brauchte, einen schwerwiegenderen. Ein Markthändler kauerte auf dem nassen Boden vor einem hölzernen Block und durchtrennte mit einem großen Messer die harte Schale einer Durian-Frucht. Die beiden Hälften fielen auseinander und gaben den Blick frei auf das cremefarbene Fruchtfleisch, rund und fleischig wie ein Herz. Für einen Moment, ehe der stechende Geruch der Durian-Frucht die Luft erfüllte, war ich gebannt davon, wie der Händler mit der dicken, stacheligen Schale umging. Die meisten Marktleute trugen Handschuhe, aber dieser hier machte sich nicht die Mühe. Er schnappte sich eine Durian nach der anderen aus einem Strohkorb, der so groß war wie ich, und nachdem er sie mit dem Messer angeritzt hatte, zog er die beiden Schalenhälften mit bloßen Händen auseinander. Ich suchte auf seinen Handflächen nach Schwielen – sie mussten doch rau werden, wenn er sie immer wieder auf diese spitzen Stacheln drückte. Und da kam mir die Idee.

Ich fing an, indem ich herumzuzappeln begann, zuerst nur ein bisschen, dann hörte ich wieder auf. Ma sah sich weiter die Durians an und überlegte, ob sie welche kaufen sollte. Dieses Früchte waren ihr Ressort. Ich wusste nicht, wie ich diese stachelige Schale auf ihre Reife hin überprüfen sollte. Als Ma sich zu mir umdrehte, fing ich wieder an herumzuzappeln.

»Hör auf!«, sagte Ma. Sie dachte, ich sei einfach nur ungeduldig, aber ich arbeitete auf etwas Größeres hin. Ich hörte kurz auf, um dann, als sie zum nächsten Stand weiterging, weiterzumachen. Diesmal hob ich ein Bein und kratzte, bis ich eine lange rote Schramme hatte. Ma bemerkte noch immer nichts. Unsere nächste Station war der Geflügelstand. Die Händlerin dort war eine junge Frau mit einem Sohn, der sich an den Saum ihrer Shorts klammerte und uns anstarrte. Sie schüttelte sich den Jungen vom Bein, nannte Ma die Preise und zog gleichzeitig eine klumpige lila Masse aus einem Huhn. Ich hockte mich auf den Boden, bohrte mir die Fingernägel ins Fleisch und zog sie hin und her, bis ich die Kratzgeräusche hören konnte.

Ma, mitten in den Verhandlungen, sah auf mich herab. »Pin, was machst du da? Was ist denn los?« Ich verzog das Gesicht, um zu zeigen, dass ich Schmerzen hatte, und kratzte weiter. Normalerweise, wenn Ma sich ihrer eigenen vernarbten Haut widmete, war das Geräusch für mich so Übelkeit erregend wie die Marktgerüche. Aber jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit.

»Juckt«, sagte ich und wand mich unbehaglich. Ich war dabei, mich selbst zu überzeugen.

Ma ging vor mir in die Hocke. Sie ließ all ihre Plastiktüten fallen. Wasser kroch in den Saum ihres knöchellangen Rocks und färbte den Rand dunkel. Es kümmerte sie nicht. Sie sah sich mein Bein an, wo ich einen beunruhigenden Ausschlag produziert hatte. »Wenn wir hier fertig sind, gehen wir nach Hause«, sagte sie, als sie sich aufrichtete, um die Händlerin zu bezahlen, die stillschweigend das Wechselgeld einsackte.

Ma führte mich aus den Gängen heraus, fort von den erdrückenden Geräuschen, dem gelblichen Licht, dem kalten Blutgeruch. Draußen wich die feuchte Marktluft der vertrauten drückenden Hitze. Leute liefen herum im hellen Morgen und verschmolzen mit der weißen Luft. Wir traten hinaus auf einen ebenen Gehweg, vor blühende Büsche und dröhnende Busse, die abbremsten, um an den Haltestellen zu stoppen. Ich stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Das hier war wieder Singapur – oder wenigstens Singapur, wie ich es kannte.

•   •   •

Ein Geheimnis: Ich ließ Ma in dem Glauben, dass ich sie nicht gern zum Markt begleitete, weil ich Angst davor hatte, verloren zu gehen, aber in Wirklichkeit war das nicht meine größte Angst. Der Markt war absolut nicht mein Lieblingsort auf der Welt, aber ich konnte so tun, als wäre ich unter Wasser oder als wäre ich eine Touristin, die exotische Früchte kaufen will, oder eine Marsbewohnerin, die mit kühlem Blick das Leben auf einem anderen Planeten erforscht. Irgendwann schaffte ich es sogar, den Blutgeruch und das Geschrei der Marktleute auszublenden und aufzupassen, wo ich hintrat, so dass ich auf dem feuchten Boden nicht ausrutschte. Was unsere Besuche auf dem Markt für mich so schrecklich machte, war, was Ma danach auf dem Heimweg immer zu mir sagte:

»Versprich mir, dass du nicht so wirst wie ich.«

Als Ma das zum ersten Mal sagte, wartete ich auf eine Erklärung, aber es kam keine. Ich fragte sie, warum, und sie sagte: »Dafür gibt es viele Gründe, Pin. Du bist noch zu jung, um das alles zu verstehen, aber du kannst dafür sorgen, dass du nicht dieselben Fehler machst wie ich. Ich will nur, dass du daran denkst. Ich war nicht viel älter als du, als alles schiefging.«

Als sie mich das zweite Mal ermahnte, erinnerte ich sie daran, dass sie es mir schon in der Woche zuvor gesagt hatte. Sie warf mir einen strengen Blick zu. »Und ich werde es so oft sagen, bis du es gelernt hast, Pin«, fauchte sie. »Werde nicht so wie ich.« Ich schämte mich. Ma hätte mich nicht zu erinnern brauchen, wenn sie nicht gesehen hätte, wie ich ihren Gang nachahmte oder versuchte, mir die gleiche Frisur zu machen wie sie. Ich dachte, es sei vielleicht einfach so – Töchter und Mütter sollten sich nicht ähnlich sein. Für mich ergab das keinen Sinn, aber Ma war unerbittlich, und sie wiederholte das nur sonntags, deshalb wurde es zu unserem wöchentlichen Nach-dem-Markt-Ritual.

Mir gefiel das nicht, weil es sich anhörte, als sei ich in Gefahr, und ich wollte mehr wissen, aber Ma mochte keine Fragen. Sie gab nur selten Antworten, und nur, wenn sie es wollte. Ich war mir bei Ma nur über wenige Dinge sicher. Ich wusste, dass sie ein schönes Gesicht hatte, aber vernarbte, zerstörte Haut an Armen und Beinen. Ich wusste, dass sie gern Hindi-Filme sah und dass sie manchmal den Topfpflanzen vor unserer Wohnung etwas zuflüsterte. Wenn ich mehr wissen wollte, musste ich in ihrem Essen nach Hinweisen suchen.

Wir gingen nach Hause und Ma wurde langsamer, damit ich Schritt halten konnte. Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Lass mich das nehmen«, sagte sie und riss mir die Tüte mit dem Tofu aus der Hand. Wenn wir zu unserem Block zurückgingen, nahmen wir immer den Weg, der uns um die Menschentrauben herumführte, die zum Markt schlurften. »Wie gut, dass wir früh gegangen sind. Sieh dir doch nur all die Leute an, die jetzt gehen. Da drin wird die Hölle los sein«, sagte sie.

Unser Block hatte die Nummer 549. Daddy hatte schon mal einen Tippzettel mit diesen Ziffern gekauft, jede Woche kombiniert mit einer neuen Zahl. Direkt gegenüber von unserem Block war das leere Untergeschoss von 547 vollgestellt mit Rattan-Vogelkäfigen. Einige Männer halfen, die Käfige unter der Decke an Haken zu hängen, um dann Nummern darüber zu befestigen. In den Käfigen gaben braune Singvögel ein schrilles Tschirp-Konzert, als versuchten sie, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Es gab ein Schild mit chinesischen Schriftzeichen und der englischen Übersetzung darunter. Es ging um einen weiteren Singvogelwettbewerb. Jede Woche fand unter einem anderen Block einer statt. Alte, dickbäuchige Onkels in weißen Unterhemden und schwarzen Shorts saßen mit schräggelegten Köpfen unter den Käfigen und horchten nach dem lieblichsten Gesang.

»Für mich hören die sich verdammt nochmal alle gleich an«, murmelte Ma, als wir den Fahrstuhl verließen und den Gang entlang zu unserer Wohnung liefen. Wir konnten die Vögel selbst auf unserer Etage hören – das schrille Gezwitscher würde noch den ganzen Tag lang durch die Küchenfenster dringen, bis endlich der Sieger bekanntgegeben würde.

Ma ging in ihr Schlafzimmer und kam mit einem Fläschchen mit Balsam zurück. Sie strich ihn auf den Ausschlag, den ich meinem Bein verpasst hatte. »Alles gut?«, fragte sie, aber ehe ich antworten konnte, sagte sie leise: »Ja, das wird wieder gut.«

Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, weil ich so getan hatte, als hätte ich einen Ausschlag, dass ich alle Plastiktüten ordentlich an den Küchenwänden aufreihte. Ma schritt einige Male vor der Anrichte auf und ab wie ein General vor einer Armee. Ich öffnete die Kühlschranktür und verschob einen Milchkarton, um Platz zu schaffen. Die Lebensmittel wurden nach einem bestimmten System in den Kühlschrank einsortiert, und alles hing ab vom Speiseplan der Woche. Ich sah zu, wie Ma Spinat und Bohnensprossen ins Gemüsefach lud, die Hähnchenschenkel und den metallischen Fisch ins Gefrierfach packte und die Tofuscheiben in eine mit Wasser gefüllte Schüssel legte. Ich versuchte, die Essenskombinationen für diese Woche zu erraten, so, wie ich mir den Kopf nach Daddys Gewinnerzahlen zerbrach, aber ich kam zu keinem Ergebnis. Nichts ergab einen Sinn. Nur Ma kannte den Plan. Als sie fertig war, war der Kühlschrank vollgestopft und strotzte vor Farben, und es war fast Mittag.

Ich ging zurück in mein Zimmer, schaltete den Ventilator ein und streckte mich auf dem kühlen Fliesenboden aus. Das gnadenlose Sonnenlicht wurde weicher, wenn es in Fetzen durch die Spalten in meiner Jalousie drang. In unserem kleinen Wohnzimmer machte Ma sich an den Möbeln zu schaffen, als Vorwand, um fernzusehen, und irgendwann machte sie es sich auf dem Rattansofa gemütlich. Weiterhin kamen die verschwommenen Schatten von Nachbarn vorbei, und ich erriet den Besitzer von jedem Einzelnen und wusste, dass ich richtiglag. Ich konnte mir auch ausrechnen, wie der restliche Tag verlaufen würde. Bald würde Daddy von seiner Nachtschicht im Hotel zurückkommen und den Kopf in mein Zimmer stecken, um mir seine Lottozahlen zu verraten. Ma würde ein schlichtes Mittagessen zubereiten, nichts, was zu satt machte, denn es war Sonntag und sie kochte gern große Menus für unser Sonntagabendessen. Ich würde essen, beim Abräumen helfen, dann in mein Zimmer gehen, während Ma und Daddy zusammen auf dem Sofa vor dem Fernseher säßen. Ich würde vor mich hindösen und Lieder aus den nachmittäglichen Hindi-Filmen würden in mein Zimmer wehen, während die Sonne unterging und das Licht aus unserem Zuhause entwich.

•   •   •

In unserem Haus wurden die Mahlzeiten nicht einfach zubereitet und verzehrt, um unseren Hunger zu stillen. Ma kreierte Gerichte je nach Laune, Wetter oder außerordentlichen Ereignissen. Ich kaute beim Essen immer sorgfältig und suchte dabei nach Hinweisen. Kohlblätter, getränkt mit süßer Kokossoße, verrieten mir, dass Ma milde gestimmt war. Vielleicht hatte es an diesem Nachmittag geregnet und ich hatte es durchs Klassenzimmerfenster nicht bemerkt. Lorbeerblätter und saure Soße wiesen auf Raffinesse hin – Ma inspirierte mich dazu, die engen Gänge dieses Wohnblocks zu verlassen, wo die Nachbarn lauschten und sich gegenseitig über die Füße stolperten. Zimtstangen waren Mas Art, mich zu trösten, wenn sie einen Riss im Weltbild bemerkte und versuchte, den Schlag abzumildern. Das scharfe Aroma von Kumin verriet zuverlässig, dass Ma sich über irgendetwas Sorgen machte. Es gab oft Kumin-Gerichte.

Es war Daddy, der mir beibrachte, die verborgenen Bedeutungen in Mas Essen zu ergründen. Er sagte, das sei eine nützliche Fähigkeit, vor allem, wenn sie verärgert oder traurig war. Als er mir zum ersten Mal davon erzählte, war ich begeistert. Ich dachte, nun könnte ich Ma endlich verstehen. Aber alles, was ich entdeckte, waren ihr Gefühlszustand. Ich konnte Wut aus der Menge an Chili-Pulver und Senfkörnern herauslesen, die sie in ein Curry streute, und ich wusste, dass sie glücklich war, wenn sie Hähnchen mit heller Sojasoße und Anissamen anbriet und auf weißem Reis servierte. Aber ich sehnte mich danach, mehr über Ma in Erfahrung bringen. Sie war voller Geheimnisse, das wusste ich, seit ich zum ersten Mal gesehen hatte, wie sie am Fenster stand und völlig in sich versunken die Gebäude in der Ferne und den Himmel dahinter betrachtete. Das tat sie oft, alles vergessend außer dem weiten Himmel vor sich. Ich war nie sicher, ob sie etwas anschaute oder nach etwas Ausschau hielt. »Deine Ma sagt nicht immer, was sie denkt oder fühlt«, sagte Daddy. »Aber wenn sie kocht, ist sie mit ihren Gedanken und ihrem Herzen dabei, und dann lernst du jedes Mal etwas über sie.« Also suchte ich Ma in ihren Gewürzen und Saucen, ihren Gemüsekombinationen und ihren süßen Nachtischen.

Ma hatte erst damit angefangen, den Markt zum Teil unserer sonntäglichen Routine zu machen, nachdem wir aufgehört hatten, den Sikh-Tempel zu besuchen. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich schlimmer fand. Es machte mir nichts aus, ein Salwar Kamiz zu tragen oder meinen Kopf zu bedecken und barfuß zu laufen. Ich mochte die friedliche Stille der Gebetshalle mit ihren unterschiedlichen Bereichen für Männer und Frauen. Ich tat, als wäre ich eine Berühmtheit, wenn ich über den schmalen, blassroten Läufer schritt, und verbeugte mich tief vor dem großen Heiligen Buch und dem bärtigen Priester, der laut den Text vorlas und niemals aufschaute. Ich konnte den Gottesdienst ertragen – im Schneidersitz unter Ventilatoren hockend, die die Luft zerschnitten, und den ächzenden Akkordeons lauschend, die die Hymnen anstimmten. Aber ich fand es fürchterlich, im Tempel zu essen, und dafür würde mich Gott ganz sicher bestrafen.

Das Essen im Tempel bestand aus angebranntem Roti – Weizenmehl und Wasser, zu einem weichen Teigklumpen gerollt, plattgedrückt und auf einer flachen Eisenplatte gebacken –, Blumenkohl, mit Gewürzen vermischten Kartoffeln und klumpigem Dhal, die in riesigen Töpfen und Pfannen über blauen Flammen verrührt wurden, die sich blähten wie auf den Kopf gestellte Röcke, und dünnem, wässrigem Joghurt mit Möhren- und Gurkenstreifen. Das alles hatte nicht Ma gekocht. Die Frauen in der hinten gelegenen Küche lebten von Klatsch und tauschten Geschichten über Kinder und Ehen ihrer Freundinnen aus. Ich hörte sie immer reden, wenn ich hereinkam, um meinen Teller ins Spülbecken zu stellen. Einmal fing eine von ihnen meinen Blick auf, als ich vorüberging, und stupste ihre Freundin an. »Ist das nicht …?«, fragte sie. Sie hatte nicht leise genug gesprochen. Auf dem Heimweg hatte ich immer noch den Geschmack ihres Essens im Mund, trocken und sauer wie ihr geflüsterter Klatsch, und ich sagte Ma, ich könne nicht mehr im Tempel essen.

»Es ist Gottes Speise«, sagte Ma immer bestimmt, als wäre das eine Erklärung für alles. Ich müsse dankbar dafür sein, eine Sikh zu sein, erinnerte sie mich, denn in unserer Religion würden alle beim Essen gleich behandelt. »Alt und jung, arm und reich, so lange du an Ihn glaubst, bist du zum Essen im Tempel willkommen.« Ich musste zugeben, dass es durchaus großzügig von Gott war, allen etwas zu essen zu geben. Aber ich wünschte mir trotzdem, Er könnte Seine Speisen ein bisschen ansprechender machen. Bei Ma herumzujammern, war keine gute Idee; sie duldete es einfach nicht. Im Tempel versuchte ich nie den Kratz-Trick, denn das war zu riskant mit so vielen Menschen, die zusahen. Sie sollten nichts von Mas Hautproblemen wissen. Das war etwas, das wir drei für uns behielten. Sie litt an etwas, das ihre Haut jucken und beängstigend rot werden ließ. Sie ging zu einem Arzt, von dem sie eine spezielle Salbe bekam und der sie ermahnte, nicht zu kratzen, aber sie sagte, manchmal sei es einfach unerträglich. Wenn sie sich aufregte, wurde ihre Haut sogar noch schlimmer. Die Pusteln wurden größer, breiteten sich aus und bedeckten ihren ganzen Körper. Ma trug im Tempel lange Ärmel, sogar an den heißesten Tagen, und zog sie sich über die Hände, wenn jemand zu starren begann. Immer starrten die Leute – spitznasige Damen mit ihren riesigen Augen und ihrem ergrauenden Haar, jüngere Frauen, deren Blicke schnell davonhuschten, nur um gleich wieder zurückzukehren. Auf den Männern ruhten ihre Blicke länger. Ich hatte Ma einmal gefragt, warum sie immer zu uns hersahen. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Als das mit meinen Hautproblemen losging, hatten sie alle ihre eigene Meinung dazu. Ein blöder, abergläubischer Haufen ist das.«

Um mich dazu zu bringen, im Tempel zu essen, hatte Ma es mit gutem Zureden versucht. Sie hatte gebettelt. Sie hatte gedroht. Sie hatte es sich sogar einmal erlaubt, ihre Stimme zu einem Fast-Schrei zu erheben, aber so viele Menschen hatten aufgeschaut, dass sie sie wieder hatte senken und sich geschlagen geben müssen. Schließlich, als ich ungefähr sechs Jahre alt war, hatte sie eine Idee. In ihrer Handtasche nahm sie, neben Servietten und einem Geldbeutel, prallvoll mit Münzen, eine kleine Zuckerdose mit. Nachdem sie sich umgeschaut hatte, um sicherzugehen, dass niemand hinsah, erlaubte sie mir, den Zucker auf das heiße Roti zu streuen. Ich schaute immer zu und wartete, bis er in den Teig geschmolzen war, bevor ich ein Stück abriss um zu probieren. Immer, wenn Ma mich dieses Zuckerbrot essen ließ, schüttelte sie den Kopf und murmelte: »Das war jetzt aber das letzte Mal.« Doch sie nahm diese Dose jeden Sonntag mit, zu jedem Tempelbesuch. Sie erzählte mir einmal, Roti sei das Einzige gewesen, was ihre eigene Mutter in ihrer Kindheit gekocht habe. Das überraschte mich nicht, denn meine Nani-ji ernährte sich immer noch ausschließlich von Roti.

»Manchmal mussten wir es auch ein bisschen variieren. Nur zur Abwechslung«, hatte sie gesagt, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. So lächelte sie, wenn sie sich an etwas erinnerte, das sie glücklich machte. Es war kein Ausdruck, den ich oft bemerkte, denn meistens zeichnete die Vergangenheit Schatten in Mas Gesicht.

Nani-ji war jeden Sonntag im Tempel, sie saß im Frauenbereich und trug ihr Witwen-Weiß. Ihre Haare waren so dünn, dass schmale rosa Streifen ihrer Kopfhaut durch den dünnen Stoff ihres Tuchs schimmerten. Immer, wenn ich hereinkam und sie sah, fasste ich schnell nach oben, um sicherzugehen, dass mein Tuch meinen Kopf bedeckte und meinen kurzen Pferdeschwanz verbarg. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Ma dasselbe tat. Nani-ji wusste, dass wir uns die Haare schnitten, und das gefiel ihr überhaupt nicht, deshalb gaben wir uns alle Mühe, um die Sünde zu verbergen, so dass sie sie nicht sah und kommentierte. Sikhs sollen sich nicht die Haare schneiden oder sich rasieren; die Mädchen und Frauen haben Zöpfe, die ihnen wie Taue den Rücken hinunterhängen, die Männer tragen Turbane und üppige Bärte, die ihre Gesichter verdecken. Ma und ich waren modern mit unseren kurzen Haaren, und Daddy auch, mit diesen paar Stoppelfeldern auf seinen Wangen. Er schaffte es meistens, sich vor dem Tempel zu drücken, weil er Sonntagsschichten im Hotel übernahm. Er war nicht besonders religiös, gestand er mir. Er sagte, er habe nichts gegen Gott, aber er halte es auch nicht für nötig, jede Woche bei Ihm zu Hause herumzusitzen und Tee zu trinken.

Nani-ji war zu alt und zu schlecht zu Fuß, um allein zum Tempel zu gehen. Mas Bruder, Mama-ji Sarjit, fuhr sie am frühen Morgen hin. Sie saß immer ganz vorne, zusammen mit seiner Frau, meinem Fetten Tantchen, und deshalb saßen wir hinten. Ma und ihr Bruder wechselten nur wenige Worte miteinander, noch weniger sprach sie mit Fettes Tantchen. Es hatte einige Jahre zuvor einen Streit gegeben, bei dem Fettes Tantchen Mama als Schandfleck der Familie bezeichnet hatte, weil sie nicht an ihren Hauseinweihungsgebeten teilgenommen hatte. Das wusste ich, weil Ma einige unschöne Worte über die Figur von Fettes Tantchens verloren hatte, vor allem über ihren Hintern. Danach hatten wir den Tempel für einige Wochen gemieden, dann wurde Nani-ji krank und musste ins Krankenhaus, also mussten sie wieder miteinander reden. Sie sagten höflich hallo und umarmten einander unwillig von der Seite, wenn wir uns zum Essen anstellten. Die Spannung zwischen ihnen hing in der Luft und senkte sich in den milchigen Tee, den ich trinken musste, um das harte Brot durch meine Kehle zu zwingen.

»Den mag ich nicht«, sagte ich zu Ma und schwenkte die Tasse in ihre Richtung. In schwarzen Flocken stiegen die Teeblätter an die Oberfläche. »Er ist … unfreundlich.«

»Bitter«, korrigierte mich Ma, aber sie hatte beim Test versagt. Ich hatte herausfinden wollen, ob sie ebenfalls Gefühle schmecken konnte. »Es gibt keinen unfreundlichen Geschmack. Was dich da ein bisschen stört, ist Kardamom, er nimmt die Süße weg.« Sie hatte also keine Ahnung von den Hinweisen, die sie jeden Tag preisgab.

Hinter seinem dicken Bart drückte der Mund meines Mama-ji permanent Missbilligung aus. Er grüßte durch ein Nicken. Er ließ Fettes Tantchen so viel reden, wie sie wollte. Im Tempel war sie immer die Lauteste. Vom Frauenbereich drang ihre schrille Stimme herüber und wurde zwischen den Stahlplatten und den blassgelben Wänden hin- und hergeschleudert. Sie verstand sich gut mit den Tempeldamen. Ich war nicht sicher, ob meine Großmutter sie leiden mochte, weil Nani-ji überhaupt niemanden leiden mochte, aber Fettes Tantchen war immer an ihrer Seite. Jedes Mal, wenn Nani-ji aufstand, eilte Fettes Tantchen ihr zu Hilfe. Jedes Mal, wenn Nani-ji hustete, klopfte Fettes Tantchen ihr auf den Rücken mit einer Miene, die eher nach Konzentration aussah als nach Besorgnis. Bei diesen Gesten presste Ma die Lippen zusammen, als ob sie sie verschlucken müsste, um eine böse Bemerkung zu unterdrücken. Weil sie so empfand, tat ich das auch. Ich verbrachte meine Mahlzeiten im Tempel damit, mich darauf zu konzentrieren, Fettes Tantchen zu hassen, und ich konnte den süßen Reispudding und die fettigen, goldenen Jalebi-Ringe nicht essen wegen der Wut, die meine Geschmacksnerven überlagerte und mir bitter im Rachen steckte.

Wir gingen nicht mehr in den Tempel, weil Ma sich mit Fettes Tantchen gestritten hatte. Ich wusste nicht genau, wo sie nicht einer Meinung gewesen waren, weil es nichts gab, wo sie einer Meinung gewesen wären. Es passierte vor ungefähr einem Jahr nach einem langen Gottesdienst im Speisesaal.

Ich war gerade mit Essen fertig und starrte auf die Porträts an der Wand. Es gab fünf Porträts der Gurus, und ich versuchte, die Geschichten zu entschlüsseln, die sie erzählten. Ein Porträt zeigte Guru Nanak hoch zu Ross, seine Gewänder erleuchtet von einem sanften Heiligenschein. Ein anderes zeigte drei Männer mit Speeren, die auf eine Armee zustürmen. Auf einem anderen Bild saßen alle Gurus im Schneidersitz nebeneinander, hinter ihnen ragte ein Tempel auf. Ich baumelte unter dem Tisch mit den Beinen. Nan-ji und Fettes Tantchen saßen uns gegenüber. Die Nichte von Fettes Tantchen war dabei – ein Mädchen namens Harpreet mit langen Haaren und einem spitzen Kinn. »Wir sind Kusinen«, teilte sie mir beiläufig mit. »Meine Tante ist deine Tante.« Ich ging der Sache in Gedanken nach, und wir waren nicht wirklich verwandt. Die Schwester von Fettes Tantchen war Harpreets Mutter. Aber Harpreet war ganz nett, und als ich ihr aus Versehen unter dem Tisch einen Tritt versetzte, sagte sie fröhlich, »macht nix«, bevor ich mich überhaupt entschuldigen konnte.

Ma und Fettes Tantchen sprachen auf Englisch miteinander, und Nani-ji verzehrte langsam ihre Mahlzeit, indem sie das Roti mit den Fingern aufmatschte und es sich in den Mund schaufelte. Sie runzelte die Stirn, während die beiden redeten, weil sie nicht verstand, was sie sagten. Das Gespräch drehte sich um sie. »Sie ist zu alt, um allein zu leben«, sagte Fettes Tantchen immer wieder. »Aber zu mir kann sie nicht. Ich habe meine beiden Jungs, um die ich mich kümmern muss.« Sie zeigte auf ihre zwei Söhne, meine Vettern Devjit und Gurpreet. Sie waren Teenager und sahen überhaupt nicht aus, als ob sie es nötig hätten, dass jemand sich um sie kümmerte. Ich merkte erst, dass ich sie anstarrte, als Devjit mir einen finsteren Blick zuwarf, also richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Ma.

»In meiner Wohnung ist kein Platz«, sagte Ma. »Sie ist zu klein. Du hast mindestens ein Gästezimmer. Du weißt, dass ich mich auf ihre alten Tage um meine Mutter kümmern möchte. Es ist nur einfach nicht machbar.«

»Willst du dich um sie kümmern?«, gab Fettes Tantchen zurück. »Oder suchst du nur Ausreden?«

Ma starrte sie an und ich konnte ihren kochenden Zorn spüren. »Was willst du damit sagen?«, fragte sie leise.

»Nichts. Es ist nur sehr typisch für dich. Es passt dir nicht, Verantwortung für die Familie zu übernehmen. Und man weiß nie, wann du die Wahrheit sagst.« Sie warf einen vielsagenden Blick auf Mas Handgelenke, die aus ihren langen Ärmeln herausguckten. An diesem Morgen hatte die Sonne gebrannt auf unserem Weg vom Wohnblock zur Bushaltestelle, und Mas Haut war scharlachrot.

»Kommst du mit raus zum Spielen?«, fragte mich Harpreet. Ich wollte nein sagen, aber Ma drehte sich zu mir um und sagte: »Pin, geh mit deiner neuen Freundin.« Sie schenkte Harpreet ein warmes Lächeln.

»Deine Mutter ist sehr hübsch«, sagte Harpreet, als wir die Regale draußen nach unseren Schuhen absuchten. Ich hatte meine auf die von Ma gestellt, aber dann waren weitere Leute gekommen und hatten ihre Schuhe abgestreift, und der Boden war ein einziges Chaos aus schwarzen Lederschuhen, Turnschuhen, hochhackigen Pailletten-Sandalen und flachen Slippern. Endlich fand ich meine Schuhe, aber Harpreet sagte: »Zieh sie nicht an. Wir wollen ein Rennspiel spielen.« Wir verließen das Tempelgebäude und gingen die Treppe hinunter, die auf einen Hofplatz führte, wo ich auf die anderen Kinder traf. Ma und ich waren noch nie sehr lange im Tempel geblieben, deshalb kannte ich die anderen Kinder nicht. »Das ist meine Kusine Parveen«, sagte Harpreet und drückte meine Hand. »Ich bin Pin«, korrigierte ich sie. Niemand nannte mich bei meinem vollen Namen. Daddy witzelte gerne, er sei zu lang für mich.

Der Hof war ein weiter, offener Platz, umgeben von hohen, grauen, von Moos und Kletterpflanzen bedeckten Mauern. Der Boden unter meinen Füßen war rau und uneben, aber Harpreet beteuerte, dass ich mich daran gewöhnen würde, wenn ich erst losgerannt wäre. Sie durfte das Spiel aussuchen, weil sie die Älteste war. »Können wir Fangen spielen?«, fragte ein Junge.

»Später«, erwiderte Harpreet, dann sah ich, wie sie zur Seite schaute und leise »choos« sagte. Sie bemerkte meinen Blick und schaute sich um, ehe sie flüsternd erklärte: »Das habe ich von meiner Freundin in der Schule gelernt. Wenn du etwas sagst, aber es stimmt nicht, musst du danach ›choos‹ sagen. Sonst bestraft dich Gott, weil du gelogen hast.« Ich merkte es mir.

Wir spielten »Wie spät ist es, Mr Wolf?« Jemand musste Mr Wolf sein und mit dem Rücken zu uns vor einer Mauer stehen. »Wie spät ist es, Mr Wolf?«, riefen wir, und Mr Wolf rief eine Uhrzeit. Dann schlichen wir uns so viele Schritte an Mr Wolf heran, wie seine Uhrzeit Stunden hatte. Sobald man dicht genug an Mr Wolf herankam, musste man versuchen, die Mauer zu berühren und wegzurennen, bevor er einen kriegte. Wen er kriegte, wurde der nächste Mr Wolf.

Wir spielten das Spiel wieder und wieder, bis sich plötzlich eine Wolkendecke vor die Sonne schob und ihren Schatten in den Innenhof warf. »Regen!«, rief Harpreet und tanzte im Kreis herum, als ob es schon angefangen hätte zu gießen. In der Ferne hörten wir Donnergrollen. Ein starker Windstoß brachte den Geruch von feuchter Erde von einem anderen Teil der Insel mit, wo es bereits regnete. Ich dachte, dass Ma längst hätte aus dem Tempel kommen sollen, aber sie ließ sich nicht blicken.

»Lasst uns weiterspielen. Ich möchte Mr Wolf sein«, sagte ein Junge namens Jaswinder. Er war eigentlich gar nicht an der Reihe, aber alle waren müde, und wir spielten ohnehin nur noch halbherzig mit. Jaswinder rannte zur vorderen Mauer. »Fertig?«, rief er. »Okay, fragt mich.«

Die Erwachsenen kamen jetzt nach und nach heraus und blickten hinauf zum zinngrauen Himmel. »Wie spät ist es, Mr Wolf?«, fragten wir. Er antwortete nicht.

»Hey! Wie spät ist es, Mr Wolf?«

Noch immer nichts.

»WIE SPÄT IST ES, MR WOLF?«, brüllten wir alle wie aus einem Munde.

Jaswinder drehte sich langsam um und grinste uns an. Und dann sagte er: »Fuck!« Alles verstummte. Ein paar Jungs fingen an zu kichern. Die Mädchen waren entsetzt. »Das sag ich deiner Mutter!«, schimpfte Harpreet. Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. »Ich kenne seine Mutter«, sagte sie zu mir. Ihm schien das egal zu sein. Kichernd gab er das Wort noch einmal zum Besten. Die anderen Jungs kreischten vor Lachen, aber niemand wagte zu wiederholen, was der Junge gesagt hatte. Die Mädchen drängten sich aneinander.

Harpreet brauchte es seiner Mutter nicht zu sagen. Sie war eine von den Eltern, die aus dem Tempel gekommen waren, als der Himmel angefangen hatte sich zu verdunkeln. Sie jagte wie ein Blitzstrahl auf uns zu. »Sag das noch mal!«, forderte sie ihn auf, ehe sie ihn zweimal hart ins Gesicht schlug. Ich zuckte zusammen. Harpreet stemmte die Hände in die Hüften und machte ein zufriedenes Gesicht. Jaswinder heulte und jammerte, als seine Mutter ihn am Ohr wegzerrte. »Vor allen Leuten im Tempel Unflätigkeiten von dir geben! Warte du nur, bis ich das deinem Vater erzähle. Der wird dir zu Hause eine Tracht Prügel verpassen, dass dir Hören und Sehen vergeht. Warte nur!«

Wir blieben einen Moment lang schweigend stehen, als ob wir den Verlust eines Soldaten betrauerten. »Vielleicht sollten wir Fangen oder Verstecken spielen«, schlug ein dürres Mädchen namens Neelu vor. Harpreet stimmte zu und fragte, ob ich auch mitspielen wollte. Ich wollte gerade ja sagen, als ich Ma mit meinen Schuhen in der Hand aus dem Tempeleingang kommen sah. Sie ging schnell und etwas stimmte nicht. Ich konnte es an ihrem Blick sehen; fast als schaute sie direkt durch mich hindurch, weil sie den Kopf voll hatte mit so vielen anderen Dingen.

»Wir gehen jetzt, Pin«, sagte sie mit scharfer Stimme.

»Wir spielen Verstecken«, erklärte ich Ma.

»Nein. Nimm deine Schuhe. Wir gehen jetzt.«

Ich drehte mich zu Harpreet um. »Dann eben nächste Woche«, sagte ich verlegen. Der Tempel gefiel mir besser, jetzt, wo ich die anderen Kinder kannte. Das Herumrennen und Spielen ließ mich Gottes schlechtes Essen vergessen.

»Nein. Wir kommen nächste Woche nicht wieder her. Wir kommen überhaupt nicht wieder her«, sagte Ma. Harpreets Augen weiteten sich.

Nachdem ich meine Schuhe wieder angezogen hatte, nahm Ma meine Hand und führte mich aus dem Hinterhof heraus. Die Erwachsenen traten schweigend zur Seite, um uns durchzulassen. Die Kinder machten verwirrte Gesichter. Harpreet winkte, aber Ma zog mich so energisch weiter, dass ich nicht zurückwinken konnte.

An der Bushaltestelle sah ich, dass Mas Handrücken wund und schorfig waren. Sie rang die Hände, biss sich in die Unterlippe und versuchte, die Tränen zurückzublinzeln, die ihr trotzdem über die Wangen liefen. Ich legte den Kopf an ihre Schulter und schob meine Hand in ihre, aber sie schüttelte mich ab. »Gott sieht alles, Pin«, sagte sie schließlich, als unser Bus näher kam. »Vergiss das nie.« Ich fühlte, wie eine Welle der Schuld über mich schwappte, weil ich mit dem unflätigen Jaswinder »Wie spät ist es, Mr Wolf?« gespielt hatte. Gott hatte alles gesehen.

Am nächsten Sonntag fingen wir an, auf den Markt zu gehen, und Ma machte eine Religion daraus, Lebensmittel zu kaufen und sie mit ihren Rezepten in köstliche Mahlzeiten zu verwandeln. Ich wusste, dass Fettes Tantchen etwas Entsetzliches gesagt haben musste, um sie so wütend zu machen, aber ich traute mich nicht zu fragen, was das gewesen war. Ich begleitete sie einfach nur zum Markt, und als Ma mir zum ersten Mal sagte, ich dürfe nie so werden wie sie, sagte ich: »Okay.« Dann drehte ich mich zur Seite und sagte: »Choos, choos, choos.« Dreimal, weil es dann bestimmt besser wirkte.

•   •   •

Ich schrak aus meinem Nickerchen auf, weil ich hörte, wie das Sicherheitsschloss aufsprang und sich das Gitter seufzend öffnete. »Hallo, Daddy«, murmelte ich, als er in mein Zimmer trat.

»Hallo, Pinny«, sagte er mit einem Grinsen in der Stimme. »Spielst du heute nicht Fußball?«

»Sonntags spiele ich nicht«, erklärte ich ihm. Die Jungs aus dem Viertel ließen mich manchmal beim Fangen und Fußball Spielen mitmachen. Ich hatte einen starken Schuss, und ich war klein genug, um in die engen Abflussrohre zu passen, wo der Ball manchmal landete. Ich war außerdem ein Mädchen, weshalb die Leute im Viertel nicht so sehr schimpften, wenn wir sie aus Versehen abschossen, weil ich gut darin war, traurig und bekümmert auszusehen, wenn ich ausgeschimpft wurde.

»Ich hab die Jungs unten gesehen«, sagte Daddy. Er verschränkte seine Beine zu einer Brezel und setzte sich auf den Boden, dann schaute er sich um, als ob er Ausschau nach Spionen hielte. Er senkte die Stimme. »Versprichst du mir, es niemandem zu erzählen?« Ich nickte. »Versprochen? Versprochen, versprochen?« Er zog einen Packen Lose aus der Tasche, gefaltet wie Dollarscheine. Ich machte große Augen. Es mussten mehr als 20 Lose sein.

»So viele?«, fragte ich und schnappte mir die Lose, verteilte sie auf dem Boden und sah mir die Nummern an. Vier davon waren Zahlenkombinationen, die ich ihm genannt hatte, die anderen sagten mir nichts. Ich zeigte wahllos auf einige Lose und fragte: »Woher kommt das da? Warum hast du dir dieses ausgesucht?« Daddy hatte unterschiedliche Erklärungen. Seine Zahlen waren wie Mas Gerichte – voller Geschichten und Kombinationen. 4402 war die Autonummer eines reichen Hotelgastes. 2421 hatten seine neuen Schuhe gekostet, 24,21 $. 6748 war ihm bei einer Spätschicht in den Kopf gekommen, und er nahm es als Wink des Schicksals.

»Diese Woche gab es so viele wichtige Nummern, Pin«, sagte er. »Ich konnte nicht nur eines oder zwei kaufen.« Er musste es mir nicht erklären. Wenn Ma es rausfand, würde sie toben. Sie fand, die Lotterie war eine Verschwendung von Geld, das wir nicht hatten. »Warum suchst du dir keinen besseren Job, statt deinen ganzen Lohn in diese dummen 4D-Lose zu stecken?«, fragte sie immer in einem Ton, der klarmachte, dass es sich nicht um eine Frage handelte.

»Ich werde nichts verraten«, sagte ich Daddy, während er die Lose zählte und zurück in seine Taschen stopfte.

»Danke, Pinny«, sagte er und glättete die widerspenstigen Locken auf meinem Kopf, aber sie stellten sich sofort wieder auf.

»Ich muss zum Friseur«, erklärte ich ihm. Das feuchte Wetter ließ einzelne Locken von meinem Kopf abstehen und verlieh mir so einen skurrilen Heiligenschein. In der Schule band ich meine Haare immer in einen festen Pferdeschwanz,