Zum Leben ist es schön, aber ich würde da ungern auf Besuch hinfahren - Tilman Birr - E-Book

Zum Leben ist es schön, aber ich würde da ungern auf Besuch hinfahren E-Book

Tilman Birr

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Beschreibung

Satirisch, intelligent und schon irgendwie komisch – eine kleine Heimatkunde, bei der man sich mitunter fragt: Wo bin ich hier überhaupt?

Deutschland ist ordentlich, seine Bewohner vernünftig und etwas langweilig, und alles geht mit rechten Dingen zu. Äh … nein! Wenn man genauer hinsieht, wähnt man sich irgendwo hinter den sieben Bergen. Menschen laufen in Hühnerkostümen durch Fußgängerzonen, nur weil einer von ihnen bald heiratet. Leute glauben, der Aufzug käme schneller, wenn man mehrmals auf den Knopf drückt und dabei flucht. Auf dem Land schenkt man Pumpernickelschnaps aus, und in der Stadt stehen nachts die Nachbarn vor der Tür und bitten darum, dass man doch etwas lauter E-Gitarre spielen und dazu singen möge. Ein Blick über den Zaun zeigt allerdings, dass es Länder gibt, die sich für noch zivilisierter halten, in denen es aber noch merkwürdiger zugeht. Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang?

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Seitenzahl: 247

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Buch

Irgendwo hinter den sieben Bergen liegt ein Land, das dem Besucher seltsam fremd vorkommt. Die Bewohner wirken distanziert und distanzlos gleichzeitig. Sie haben immer recht und sind nie schuld. Sie reden laut und beschweren sich über den Lärm. Sie lachen gern mal (wenn’s passt!), aber auf gar keinen Fall während der Arbeitszeit. Und sie fahren in einem Tempo Auto, als stünden die Nordkoreaner schon an der Oder.

Befolgt man ein paar einfache Regeln, kommt man hier aber bestens zurecht: In der Landgaststätte kann man ruhig auch mal den auf der Tafel angepriesenen »Gordon Bleu« bestellen. Man darf darüber diskutieren, ob wirklich alle meine Entchen auf dem See schwimmen oder ob das nicht eine klischeehafte Verallgemeinerung ist. Beim Sex sollte man auf gar keinen Fall den Fernseher laufen lassen, sonst riskiert man, dass einem Barbara Salesch in den Geschlechtsakt quatscht. Und man sollte bloß nicht alles zu ernst nehmen.

»Manche Eigenarten erschienen mir immer noch zu seltsam. Leute, die einen anguckten, als sei man grün und hätte Antennen auf dem Kopf. Einzelhändler, die überrascht schienen, dass jemand ihren Laden betrat und etwas wollte. Landesteile, in denen man offensichtlich nicht einfach einen Dialekt, sondern eine andere Sprache sprach (erstaunlich eigentlich, dass es hier keinen Separatismus gab). Vielleicht hielt man dieses Land auch nur aus, wenn man eine anständige Stammkneipe hatte.«

Autor

Tilman Birr begann seine Bühnenkarriere als Lesebühnenleser und Poetry Slammer. 2002 gründete er die »Lesebühne Ihres Vertrauens« in Frankfurt am Main. Seit 2008 ist er als Kabarettist und Musiker im deutschsprachigen Raum unterwegs. Für seine Bühnenprogramme wurde Tilman Birr bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Förderpreis des Deutschen Kabarettpreises 2013. Sein Debüt als Autor legte er mit »On se left you see se Siegessäule« vor.

Mehr zu Tilman Birr erfahren Sie unter www.tilmanbirr.de

Tilman Birr

Zum Leben ist es schön,

aber ich würde da ungernauf Besuch hinfahren

Eine kleine Heimatkunde

MANHATTAN

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es behandelt trotz gelegentlicher Nennung vermeintlich realer Namen typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gibt oder geben könnte. Diese Urbilder wurden durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel des Autors mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, das bewusst Grenzen verschwimmen lässt.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Manhattan Bücher erscheinen imWilhelm Goldmann Verlag, München,einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

1. Auflage

Erstveröffentlichung Mai 2014

Copyright © 2012 by Tilman Birr

Copyright © dieser Ausgabe 2014

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung

des Hans-im-Glück-Verlags, München

Umschlaggestaltung: Buxdesign | München

Umschlagmotive: Shutterstock.com: rangizzz; Potapov Alexander

Istock: Ace_Create

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12307-9V002www.manhattan-verlag.de

Inhalt

Einreise

Jetzt wird’s geil

Städtebeleidigungen I: Ruhrgebiet

Regeln für deutsche Restaurantgäste

Unterwegs

Deutsches Land

Städtebeleidigungen II: München

City of Angels

Heim

Ich höre fickende Menschen

Weddinghaus

Zwei Zimmer, Küche, Bitchfight

Angaschmang

Studentenpartygespräch

Das geht sonst kaputt

Landeskunde für Vorurteilslose

Stadt der Bengel

LG

Das regt mich auf!

Stand your ground

Hass – ein ordentliches Gefühl

Shibboleth I

Antrag auf ständige Einreise

Shibboleth II

Ich finde das nicht lustig!

Städtebeleidigungen III: Hannover

Mentalitätskunde für leicht Voreingenommene

Alle meine Entchen

Feierabend

Nachspiel hinter dem Theater

Nach Hause

Danke

Einreise

»What you want here?«, fragte der Grenzbeamte, nachdem er meine Papiere durchgesehen hatte.

»Study«, sagte ich. »I’m a student.«

Der Grenzbeamte wechselte ein paar Worte mit seinen hinter ihm stehenden Kollegen. Einer zuckte die Schultern. Ein anderer antwortete etwas, das so klang, als würde er ihm Anweisungen geben, wie mit mir zu verfahren sei. Es hatte lange gedauert, bis ein Beamter aufgetrieben war, der wenigstens ein paar Brocken irgendeiner Sprache sprach, derer ich auch mächtig war. Zwar hatte ich die Landessprache ein bisschen gelernt und konnte sie einigermaßen lesen. Im Gesprochenen reichten meine Kenntnisse aber nur für »Wie heißt du?«, »Wie geht es dir?« und »Ich brauche einen Arzt«.

»Where you from?«

»I am from Germany, Sir«, sagte ich. Zu Autoritäten immer nett sein, dann gibt es kein Problem. Vielleicht auch mal einen kleinen Scherz machen, das lockert die Sache auf.

»East Germany or West Germany?«

»There is only one left«, sagte ich und lächelte.

Der Mann guckte mich ausdruckslos an. Er verstand nicht.

»West Germany«, sagte ich.

Wieder drehte er sich um und sprach mit seinen Kollegen. Diesmal sagte der eine einen Satz. Der andere redete lauter als zuvor und gestikulierte mit der flachen Hand unterm Kinn, als wolle er mir von dort ausströmende Luft zufächeln.

»Where you from, is there no university?«, fragte der erste.

Jetzt sah ich ihn an, wie er zuvor mich angesehen hatte.

»Why you come here? Why you not study in West Germany? Why we need man like you?«

War das die berühmte Gastfreundlichkeit dieses Volkes, von der mir vorher erzählt worden war? Ich war doch ausgesprochen höflich zu den Beamten, warum stellten sie mir solche Fragen, als wollten sie mich am liebsten gar nicht dahaben?

Ich erzählte ihm etwas von der großartigen Kultur und der Schönheit seines Landes und dem historischen Umbruch, in dem es sich befand und den man auf gar keinen Fall verpassen sollte, wenn man als alter Mensch seinen Enkeln etwas zu erzählen haben wollte. Er guckte mich mit leerem Blick an und sah zu seinem Kollegen. Der zuckte die Schultern. Ich machte es einfacher:

»Your country good!«. Ich streckte den Daumen nach oben. »I love your country. I want to see it. Very beautiful, very good people, very nice. Good university. And good culture.«

Diesmal sprach der Kollege sofort dazwischen. Er bellte und gestikulierte, zeigte auf mich und Richtung Horizont, zog die Augenbrauen hoch und klopfte gegen seine Pistole, dann fuchtelte er wieder mit der Hand unterm Kinn. Der erste Grenzbeamte machte eine beschwichtigende Geste in seine Richtung und drehte sich wieder zu mir:

»Too many people from other country. Too many people like you. We don’t need. You come here and make everything like you want.«

Ich war doch noch gar nicht da. Woher wollte er wissen, wie ich was machte? Außerdem kannte er mich doch gar nicht. Ich hatte schon gehört, dass man hier Besuchern gerne mal skeptisch gegenüberstand, besonders wenn sie aus dem Westen kamen. Ich dachte allerdings, diese Zeiten würden langsam vorbeigehen, und gerade von offizieller Seite wären da die Bemühungen am größten. Der Grenzer schien mich aber wegen meiner Herkunft für einen potentiellen Spion und Saboteur zu halten.

Was aber gab es hier schon zu holen, was zu sabotieren? Ich wollte nicht respektlos sein. Dieses Land hatte viel durchgemacht in den letzten sechzig Jahren, war der Spielball der Blöcke im Kalten Krieg gewesen und von dieser Zeit immer noch gezeichnet. Es war aber sicherlich nicht die erste Wahl, wenn man durch internationales Verbrechen zu Reichtum kommen wollte. Die Hauptexportartikel waren Bällchen aus gehacktem Fleisch, eingelegter Kohl und ein ausgeprägter Nationalismus. Nationalgericht war ein Stück gekochtes Schweinebein mit Kartoffeln und eingelegtem saurem Kohl. Sehr beliebt war auch eine Art gefüllte Brottasche, die von vorderasiatischen Arbeitsmigranten vor einigen Generationen in die lokale Küche eingeführt wurde. Sie wurde von den Einheimischen gut aufgenommen, weil man in Brottaschen sehr gut gehacktes Fleisch und eingelegten Kohl hineinfüllen und mit einer Soße aus Joghurt und Mayonnaise übergießen konnte.

Das Land kassierte Millionen aus internationalen Hilfsfonds, sah sich aber außerstande, den Wohnungsmangel zu bekämpfen oder Züge nach Fahrplan fahren zu lassen. Schon gab es Länder, die sich weigerten, für dieses korrupte und wirtschaftlich unfähige Land weiter Geld zu bezahlen. Regierungschef war ein charismatischer Führer, der zwar schon über fünfzig war, aber viel Wert auf eine jugendliche Erscheinung legte. Dadurch verkörperte er die Tugenden des Landes in einzigartiger Weise und genoss fast kultische Verehrung. In den Nachbarländern wurde er aber hauptsächlich als unfähiger Trunkenbold, Homosexueller und Veranstalter von Sexpartys wahrgenommen. Das Einzige, was dem Land noch zum vollwertigen Schurkenstaat fehlte, war ein angrenzender Feindstaat, mit dem man sich über eine unbedeutende Bergregion von der Größe Bremerhavens stritt, oder ein fünfzig Jahre zurückliegender Völkermord an einer Minderheit, den zu erwähnen mit hohen Gefängnisstrafen belegt war.

Ich hatte einen Pass, ein Visum und sogar schon ein Zimmer. Ich hatte mich per Post an der Universität immatrikuliert. Es war alles da. Sollte ich jetzt an der Einreise scheitern? Leute, die schon mal hier gewesen waren, hatten mir erzählt, das sei alles gar kein Problem. Man solle nicht solche Vorurteile haben, es würde alles ganz gesittet zugehen, vielleicht zu Beginn etwas ungewohnt, aber bei uns sei ja auch vieles seltsam. Vielleicht war ja alles nur ein Missverständnis.

»What’s the problem?«, fragte ich. »My documents are in order, everything is fine. What else do you want?«

Das schien der Grenzer noch nie gehört zu haben. Er zog den Zeigefinger.

»Hey, you be careful, shavabakh! You don’t talk to me like dis!«

»Excuse me, Sir. Sorry, but I –«

»Don’t tell me! Shut up fuck, uss-holl!«

Er drehte sich wieder zu seinen Kollegen und beratschlagte.

Seit einigen Jahren bemühte sich das Land, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, um weiterhin Hilfsgelder einstreichen zu können. Die Geldgeber hatten das Übliche gefordert: Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, sauberes Trinkwasser, Bekämpfung der Korruption, Ausbau der Infrastruktur. Vielleicht störte das den Grenzbeamten, denn nun konnte er mit Ausländern nicht mehr verfahren, wie er wollte, nur weil sein Land in einen Verein eintreten wollte, den er ohnehin für überschätzt und eine Mitgliedschaft für den besten Weg in die Fremdherrschaft hielt. Vielleicht hatte er damit den wichtigsten Grund verloren, warum er überhaupt Grenzer geworden war.

»Sorry, but there seems to be a misunderstanding«, unterbrach ich ihr Gespräch. »Can I talk to your boss?«

Alle drei sahen mich an.

»Open suitcase«, sagte der Obergrenzer.

Ich musste meinen Koffer öffnen und alles auf einem Tisch ausleeren, musste alle Socken und Hemden auseinanderfalten und über jedes einzelne Behältnis in meinem Kulturbeutel Auskunft geben. Die Beamten hatten offensichtlich Spaß daran, jeden Gegenstand herumzugeben, genau zu betrachten, die Schultern zu zucken und schließlich zurückzulegen. Dies dauerte eine Dreiviertelstunde.

»Is everything alright now?«, fragte ich, nachdem ich alles wieder in meinen Koffer gestopft hatte.

»Schuss!«, sagte der Grenzer und zeigte auf meine Füße.

Ich musste Schuhe und Socken ausziehen, meine Hosentaschen leeren und über jeden einzelnen Gegenstand Rechenschaft ablegen, sogar über meine Ohrstöpsel. Immer wieder sagte der Grenzer: »I have to see. What is this? This dangerous? You from West Germany, you dangerous.«

Ich antwortete nur noch reflexhaft: »No, Sir. No, I’m not dangerous. I am a friend of your people. I like your country. Please! Everything is alright.«

»Jacket«, sagte der Beamte. Ich leerte den Inhalt meiner Jackentaschen auf den Tisch: drei leere Notizzettel, ein stumpfer IKEA-Bleistift, ein kopierter Flyer, der das Konzert einer lokalen Punkband im Jugendzentrum Oberursel anderthalb Jahre zuvor bewarb, eine Eintrittskarte zur Aussichtsplattform des Empire State Building von meiner letzten New-York-Reise, auch von dort eine Eintrittskarte für Besucher des UN-Hauptquartiers, eine ausgedruckte E-Mail mit der Wegbeschreibung zu einer Schrebergartenparty, drei lose und mit Fusseln verklebte Halsbonbons, ein leerer Bonbonstreifen und ein Kondom.

»What dis?«, sagte der Grenzer und griff sofort nach dem Eintrittsticket.

»United Nations«, sagte ich.

Er beugte sich mit dem Ticket in der Hand ins Licht und kniff die Augen zusammen. Dann sah er in meinen Pass, dann in mein Gesicht, dann Pass, Ticket, Gesicht.

»You United Nations?«

Auf dem Ticket stand mein Name. Die Sicherheitsvorkehrungen waren streng gewesen und die Eintrittskarten personalisiert.

»I was there, yes. Half a year ago. I was in New York.«

Er zeigte das Ticket seinen Kollegen. Die reichten es herum und machten einen ratlosen Eindruck.

»Wait«, sagte der Wortführer und ging weg. Die anderen beiden starrten mich an. Zehn Minuten wich ich ihrem Gestarre aus. Dann fünfzehn Minuten. Zwanzig Minuten. Der eine Grenzer begann, leise zu singen. Dann kehrte der Grenzbeamte zurück. Schon von Weitem rief er seinen Kollegen etwas zu. Sofort machte die Spannung in ihren Gesichtern einer lesbaren Enttäuschung Platz. Schade, doch kein Standgericht mehr heute.

»Okay«, sagte er zu mir und reichte mir das Ticket zurück.

»Okay what?«, fragte ich.

»Go«, sagte er. »Go. Quick!«

Er reichte mir meine Papiere, ich steckte sie in die Innentasche meiner Jacke, klaubte die losen Sachen vom Tisch und stopfte sie hinterher.

»Goodbye«, sagte ich und griff nach meinem Koffer.

»Pff …«, machte einer. Ein anderer röhrte ein Wort mit langgezogenen Vokalen und spuckte auf den Boden. Alle lachten. Ich lief über den Grenzstrich.

*

Ich greife zum Bierglas und nehme einen großen Schluck.

»Na ja gut«, sagt Lina und zieht die Augenbrauen ganz leicht nach oben. »Für mich war’s auch komisch am Anfang. Das ist aber bei jedem so: Eine neue Stadt ist immer ein Bruch. Und wenn man gerade von zu Hause ausgezogen ist sowieso. Aber du tust ja so, als läge Berlin irgendwo … weiß ich nicht … hinter den sieben Bergen.«

»Für mich hat es sich halt so angefühlt damals«, sage ich.

»Ist das heute immer noch so?«

»Heute nicht mehr so viel. Aber immer noch genug.«

»Aber jetzt bist du doch schon so lange hier.«

»Ich meine ja auch nicht in Berlin.«

»Sondern?«

»Überall. Hinter den sieben Bergen ist überall.«

Jetzt wird’s geil

Vorhang auf.

Es ist Nacht. Ich laufe durch den Berliner Bezirk Wedding, Ortsteil Gesundbrunnen. Vor mir eine große Kreuzung. Auftritt aus dem Zuschauerraum, also von hinten an mir vorbei: ein Fahrradfahrer. Schnell, im Stehen tretend und ohne Licht fährt er auf die Ampel zu, die gerade Rot zeigt. Der wird doch nicht?

Auftritt von links in die Kreuzung fahrend: ein Streifenwagen. Der Fahrradfahrer scheint ihn nicht zu sehen und rast weiter auf die rote Ampel zu. Jetzt wird’s geil.

Als ich fünfzehn war, wurde ich Zeuge einer ähnlichen Situation. Ich fuhr mit einem Freund mit dem Fahrrad durch eine Wohngegend unserer Heimatstadt. Der Stadtteil war menschenleer, denn es war zwar Samstag, aber bereits nach 22:00 Uhr. An einer Kreuzung sprang die Ampel auf Rot. Ich blieb stehen, mein Freund jedoch – er hieß übrigens Markus Lohmeier, und wenn ich so darüber nachdenke, war er eigentlich gar nicht mein Freund –, mein Bekannter Lohmeier also, fuhr weiter. Auch hier erschien von links ein Streifenwagen und holte Lohmeier in der Mitte der Kreuzung ein.

Jetzt wird’s geil, hätte ich mir auch damals denken können. Stattdessen dachte ich: Scheißescheißescheiße, Polizei, scheißescheißescheiße! Vorsichtig in Zigarettenpapier eingepackt und ordentlich im Kleingeldfach meines Portemonnaies verstaut führte ich nämlich einen Krümel Haschisch mit mir. Er war klein, kaum der Rede wert, aber doch eine Menge, wie sie einem Fünfzehnjährigen zu diesem seligen Gefühl großer Aufregung gereicht, so wie es ein Jahr zuvor die Flasche Apfelkorn tat, die mir eine unachtsame Kassiererin in einem Supermarkt tatsächlich verkauft hatte, und so wie es ein paar Monate später die entblößte weibliche Scham tun sollte, die mir eine ebenso unachtsame Mitschülerin an einem Badesee zeigte. Alkohol, Hanf and a glimpse of pussy. Die Trias der höchsten Glückseligkeit für einen Halbwüchsigen.1

Das Polizeiauto stellte Lohmeier, und ich dachte: Jetzt sind wir geliefert. Jetzt wird Lohmeier einkassiert, und mich nehmen sie auch gleich mit. Beihilfe zum Überfahren einer roten Ampel mit dem Fahrrad werden sie mir vorwerfen und mich in eine Zelle stecken, wo mich zwei Polizisten durchsuchen werden.

»Einmal ausziehen. Striptease«, wird der böse Bulle zu mir sagen. »Und Hose gleich zum Kollegen.« Sein Kollege wird meinen Hoseninhalt durchsuchen, wird »Was haben wir denn da?« sagen, und anderthalb Stunden später wird mein Vater auf der Wache erscheinen und mir zuallererst eine schallende Ohrfeige verpassen. Vor einem Jugendrichter werde ich landen. »Ich habe jeden Tag mit Arschlöchern wie dir zu tun«, wird er sagen und mich zu Sozialstunden verurteilen, die ich in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt werde ableisten müssen, zusammen mit anderen Fünfzehnjährigen, die aber nicht wegen eines Viertelgramms weicher Drogen verurteilt wurden, sondern weil räuberische Erpressung und gefährliche Körperverletzung ihre Hobbys sind und sie auch während des Vollzugs nur schwer von diesen Gewohnheiten lassen können.

Meine Eltern werden schwer enttäuscht sein. Gerade jetzt, wo sie es im Golfclub endlich zur Platzreife geschafft haben, stellt der Bengel so etwas an und macht sie damit in der gesamten Gesellschaft unmöglich. Sie werden mich auf ein katholisches Jungeninternat ins finsterste Westfalen schicken, wo ich jeden Tag verprügelt werde, erst von den Mitschülern, dann von den Lehrern. An eine Schlägergang von der benachbarten Hauptschule werde ich Schutzgeld zahlen müssen und beim Kekswichsen jedes Mal verlieren. Notgedrungen werde ich meine Jungfräulichkeit ohne Liebe, ohne das Erlebnis, gemeinsam neues Land zu betreten, für fünfzig Mark in einem Provinzpuff verlieren, und zwar für die fünfzig Mark, die meine Oma mir zum Geburtstag geschickt haben wird und von denen ich mir eigentlich eine lange Unterhose und eine dicke Jacke hätte kaufen sollen. Der folgende Winter wird von Frost und Tripper geprägt sein.

Als gebrochener Jüngling, desillusioniert und unfähig zur Liebe, werde ich nach dem Abitur nach Hause zurückkehren, werde die Welt verachten und deshalb Soldat, Rechtsanwalt oder Mathelehrer werden. Mein Leben wird ein freudloses sein, ich werde meine Frau verhöhnen und meine Kinder behandeln wie ein ostdeutscher Baumarktmitarbeiter seine störenden Kunden, und wenn ich mit Mitte fünfzig an Verbitterung und Leberzirrhose sterbe, werden alle froh sein, dass die Welt ein riesengroßes Arschloch losgeworden ist. Und das alles nur, weil dieser Vollidiot Markus Lohmeier über Rot gefahren ist.

So tat ich das einzig Richtige in dieser Situation. Ich nahm den Krümel Haschisch aus meinem Portemonnaie und warf ihn in einen Gully. Dass ich ein paar Monate später trotzdem von Hauptschülern verprügelt werden sollte, wusste ich da noch nicht.

Die Polizisten hielten es nicht einmal für nötig auszusteigen. Sie ermahnten Lohmeier kurz durchs offene Fenster, Lohmeier sagte »Jawohl, Herr Wachtmeister, entschuldigen Sie bitte«, und der Streifenwagen fuhr weiter. Mein Dope allerdings war weg, und es war nicht einfach, Lohmeier den Gedankengang zu erläutern, der dafür gesorgt hatte, dass wir an diesem Abend nichts mehr zu rauchen hatten. Ich war wochenlang das Gespött meiner halbwüchsigen Kifferfreunde. Menschen, die ich nicht kannte, sprachen mich noch Monate später auf Partys an: »Hier, du bist doch der Idiot, der sein Dope in den Gully geworfen hat. Schisser!«

Jedes Mal, wenn ein Streifenwagen an uns vorbeifuhr, rief mir jemand zu: »Achtung, ’ne Streife. Schmeiß dein Dope weg, Alter!«

Aber jetzt stehe ich nicht in einem ruhigen Außenbezirk einer kleinen Großstadt, sondern an einer großen Kreuzung im Wedding. Hier gibt es Schießereien, Rockerkriege, Konflikte zwischen arabischen Großfamilien und Ehrenmorde. Dreizehnjährige bocken geparkte Autos auf Ziegelsteine auf, klauen die Räder und verhökern sie auf dem Russenmarkt. Neunzehnjährige Mütter verkaufen Speed und Koks aus dem Kinderwagen heraus. Wer halbwegs nach Arbeit oder wenigstens geregeltem Hartz IV aussieht, wird in einen Hinterhalt gelockt, wo ihm die drei Insignien der Zivilisation geraubt werden: Geldbeutel, Handy, MP3-Player. Das macht einen Polizisten nicht gerade zum Master of Nachsicht. Jeder kann ein Verbrecher sein, und wer mit dem Fahrrad über eine rote Ampel fährt, ist schon mal ein Verkehrsrowdy, wahrscheinlich aber ein Fahrraddieb mit Schusswaffe. Im Wedding wird nicht aus dem offenen Fenster ermahnt, im Wedding wird im Zweifel geschossen.

Dem Fahrradfahrer ist das alles egal. Er überfährt die rote Ampel und trifft in der Mitte der Kreuzung fast mit dem Streifenwagen zusammen.

Jetzt wird’s geil.

Der Streifenwagen macht eine Vollbremsung, der Fahrradfahrer macht einen Schlenker, fährt aber ohne anzuhalten weiter geradeaus. Der hat Nerven! Jetzt wird der Streifenwagen das Blaulicht einschalten und ihn verfolgen, ihn spätestens an der nächsten Ecke stellen, und dann geht’s ab nach Guantanamo.

Denkste.

Der Polizist geht zu einer Guerillataktik über. Er lässt das Fenster herunter, brüllt dem Fahrradfahrer »ARSCHLOCH!!!« hinterher und fährt ab nach rechts.

Es ist Nacht.

Vorhang.

1Randbemerkung: An manchen Dingen habe ich mir ein kindliches Vergnügen bewahrt.

Städtebeleidigungen I: Ruhrgebiet

Gäbe es das Ruhrgebiet nicht, man müsste eine ganze Reihe angeblich typisch deutscher Eigenheiten erfinden. Eine Kultur der Verwahrlosung, Horden besoffener Fußballfans im ICE und eine ganze Kaste dummer »Ich setz mir ’n Hut auf und bin jetzt ’n Rentner«-Kabarettisten wären Deutschland erspart geblieben.

Wo fange ich jetzt an? Wo fängt man an bei einem 5-Millionen-Moloch, der in Fragen der Trostlosigkeit den Außenbezirken von Tiflis, Grosny oder Cottbus ohne Probleme das Brackwasser reichen kann?

Es regnet. Immer. Das kommt vom Ruß und Kohlestaub, der sich als Glocke über das Ruhrgebiet legt und allen Dampf kondensieren und als grauen Regen zu Boden fallen lässt. Durch diesen Regen schleppt sich der Ruhrgebietsmensch zum Bergwerk, wo er Frondienst für Thyssen und Krupp leisten muss. Morgens um sechs hin, abends um sechs zurück. Zu achtzehnt drängen sich zerlumpte Gestalten auf einem Pferdefuhrwerk und juckeln mit Schrittgeschwindigkeit und grauer Miene in Richtung Schacht. Autos können sich nur die ganz wenigen Superreichen leisten, die mit Abitur.

Jeden Tag bleiben Pferdefuhrwerke im Schlamm der ungepflasterten Straßen stecken, und oft sinken die Pferde so tief ein, dass sie erschossen werden müssen. Um die Straße dann wieder passierbar zu machen, wird das Pferd einfach auf Fahrbahnhöhe abgesägt und der Rest steckengelassen, Schlamm drüber, fertig. Im Ruhrgebiet fährt man nicht auf Pflaster, man fährt auf halbierten Pferdeskeletten.

»Ja, aber die Menschen, die Menschen sind so toll«, ruft der Pöttler nun und meint damit baumstammförmige Männer mit Vokuhila, Cowboygang und im Knast selbstgestochener schimmelgrüner Tätowierung auf dem Unterarm. »Mir kann keiner« brüllt einem der ganze Typ nonverbal entgegen. Ein Volk von Hausmeistern und Gerätewarten, die schon Mitte der Neunziger ein Handy hatten und es in einer Gürteltasche trugen, damit es auch jeder sehen konnte. Leute, die mit »Mahlzeit!« grüßen und sich mit »Tschüssikowski« verabschieden, nach einem Streit gern auch mal mit »Und tschüss«. Männer, für die der Fernsehsender DMAX erfunden wurde: »Wir sägen diese Harley in der Mitte durch und schrauben hinten ein Pferd dran. Das hat vor uns noch nie jemand getan.«

Ja, da ist es wieder, das Pferd! Es ist das Ruhrgebietstier schlechthin. Ausdruck der Männlichkeit, stark, schwarz wie Steinkohle und leicht nach Buttersäure stinkend. Alles lässt sich mit dem Pferd erledigen, und was sich nicht mit dem Pferd erledigen lässt, ist es nicht wert, überhaupt erledigt zu werden.

»Schatz, mir ist gerade die Fruchtblase geplatzt.«

»Kein Problem! Steig aufs Pferd, und wir sind in einer guten Stunde im Krankenhaus.«

»Guten Morgen, Kinder. Wer wischt denn heute mal die Tafel?«

»Das Klassenpferd.«

Vom Essen wollen wir gar nicht reden. Oder kann mir jemand eine kulinarische Spezialität des Ruhrgebietes nennen? Was sollte das sein? Zwiebelmettbrötchen? Hat man schon mal Folgendes von einem emigrierten Essener gehört: »Ach, Mensch: Was mir hier in Berlin am meisten fehlt, das ist so ein richtiges Ruhrpott’sches Zwiebelmettbrötchen. Das kriegt hier einfach niemand anständig hin. So richtig mit labberigem Brötchen und schon leicht vergorenem Mett, hmmm.«

Nein, hat man nicht, was aber sicherlich auch daran liegt, dass aus dem Ruhrgebiet niemand emigriert. 1983 soll es mal ein Bochumer geschafft haben, das Ruhrgebiet zu verlassen. Er kam bis ins Münsterland, wo er noch am gleichen Tag an einem Frischluftschock starb.

Doch das Thema war Essen (no pun intended): Alles, was dem Pöttler vor die Füße krabbelt, wird frittiert. Nirgends ist die Frittenbudendichte höher als zwischen Duisburg und Dortmund. Jeder Versuch der gehobenen Gastronomie (Vapiano, Starbucks, Asia Snack), im Pott Fuß zu fassen, scheiterte an mangelnder Nachfrage. Das Frittieren ist hier eben nicht nur die traditionelle Zubereitungsmethode, sie ist auch die einzig bekannte. Wer im Ruhrgebiet zu einem privaten Abendessen eingeladen wird, darf sich nicht wundern, wenn er statt eines zubereiteten Gerichtes nur Schüsseln mit rohen Kartoffeln, Fleisch und höchstens noch Karotten oder Zwiebeln vorfindet. In der Mitte des Tisches aber steht eine Fritteuse. »So, dann mal Mahlzeit«, wird der Gastgeber sagen und eine ganze Zwiebel ins siedende Fett werfen. Abgeschmeckt wird die frittierte Köstlichkeit mit einem feinen Saucentrio aus Ketchup, Mayonnaise und Senf.

Überhaupt ist die Fritteuse das Universalgerät für jeden Haushalt. Das Handy ist kaputt, kein Problem: fünf Minuten in die Fritteuse damit, und die Kontakte sind wieder gut geölt. Das Hemd müffelt, weil man wieder den ganzen Abend in der Raucherkneipe gesessen hat: Schnell mal in die Fritteuse gehalten und der Rauchgestank ist weg.

Der Verzehr von frischem Gemüse und Obst ist im Ruhrgebiet bei Strafe verboten. Alfred Krupp hat sich bereits 1867 erfolgreich für dieses Verbot eingesetzt, denn er hatte ein ausgeprägtes Interesse daran, dass seine Arbeiter niemals das Pensionsalter erreichen.

Neben der Fritteuse ist das Wichtigste im Ruhrgebiet: Fußball. Gesellschaftliche Wertschätzung macht sich an der Menge der BVB-Devotionalien im Wohnzimmer fest. Wer etwas auf sich hält, hat einen BVB-Altar mit Räucherwerk aus rituell betanztem Fußballleder und hängt das Portrait von Jürgen Klopp im Wohnzimmer an die Stelle, an der bis 1945 das Hitlerbild hing.

Fußballer ist das Höchste, das ein Ruhrgebietsmensch werden kann. Jedes Kind hört irgendwann diesen Satz von seiner Mutter:

»Jung, hömma! Wennde dauernd nur Hausaufgaben machst und nie Fußball spielst, dann musste am Ende studieren. Willste dat?«

Das Kind senkt den Kopf und sagt schuldbewusst: »Nee.«

»Na siehste. Guck dir den Onkel Walter an, der ist Diplom-Verwaltungswirt. Glaubste, dem macht dat Spàss?«

»Nee.«

»Na also. Jetz gehste ma schön nachm Bolzplatz hin, hömma. Kannst auch Vatters Pferd nehmen, das muss sowieso mal raus.«

Mit anderen Worten: Wer wissen will, wie es in der DDR ausgesehen hat, der kann ins Ruhrgebiet fahren und muss sich nur noch die NVA dazudenken. Vielleicht sollte man ein größeres Umsiedlungsprojekt starten, um die vielen Berliner zufriedenzustellen, die sich so gern über renovierte Häuser, freundliche Menschen und saubere Cafés mit gutem Essen aufregen, weil es das früher ja auch nicht gegeben hat. Im Ruhrgebiet, da könnt ihr noch glücklich werden, da ist alles noch so richtig schön scheiße wie früher.

Regeln für deutsche Restaurantgäste

Komm im Pulk. Brich über ein Restaurant herein wie Hitler über Polen. In Überzahl und fest von der historischen Richtigkeit deines Tuns überzeugt. Platz da, jetzt komm icke! Auch wenn es von draußen schon zu voll aussehen sollte: Das wollen wir doch mal sehen!

Sei nicht schüchtern. Schicke nicht etwa einen vor, um nach einem Platz zu fragen, sondern geh mit dem gesamten zehnköpfigen Pulk geschlossen durchs Lokal. Jedes einzelne Mitglied deiner Gruppe soll sich von der Raumsituation selbst überzeugen können und darf seine Meinung zum gewünschten Platz äußern.

Sei der Anführer, und lass die Herde dumpf hinterdreintrotten. Geh zuerst mit allen zehn Mann zusammen in den rechten Flügel des Restaurants, stelle am Ende des Raumes fest, dass alles belegt ist, und brülle dann: »HIER IS ALLES VOLL! ZURÜCK! ALLE ZURÜCK!«, was der Letzte im Glied aber nicht versteht, deshalb nur desorientiert um sich schaut und den Rückweg blockiert. Brüll den Blockierer durch den ganzen Raum an. »MANFRED! MANFRED, GEH DOCH MAL ZURÜCK. HALLO! MANFRED!«

Kämpfe dich nun an allen deinen Kollegen vorbei wieder an die Spitze des Haufens, zieh dabei mit deinem Rucksack Mäntel von der Garderobe, und halte deinen Schal anderen Leuten ins Essen. Was kannst du dafür, dass hier so wenig Platz ist. Dirigiere deine Kompanie in den linken Flügel des Restaurants, wo ihr wieder stehenbleibt.

Diskutiere jetzt laut darüber, wie man es machen könnte. Ob man den hausmeisterförmigen Mann mit der Schweinshaxe dahinten fragt, ob er sich nicht vielleicht zu dem Studentenpärchen da drüben setzen kann, das sich gerade einen Gartensalat teilt. Ob das Reservierungsschildchen auf dem einen Tisch da wirklich ernst gemeint ist. Oder ob man es doch nochmal in der Trattoria dal Duce versuchen soll.

Fange nun an, Tische und Stühle herumzuschieben und dir eine Tafel zu bauen, die dir genehm ist. Das freut den Wirt, dann muss er es nicht selbst tun. Lass es ordentlich rumpeln, und ruf dabei immer wieder: »SO! JETZT! HIER! DOCH, DAS GEHT! ACHTUNG!«

Du zahlst ja hier. Alle anderen essen umsonst. Da wird es ja nicht zu viel verlangt sein, dass man hier anständig sitzen kann.

Tu es laut, und schrei dabei, dass die Erika sich ja jetzt hier hinsetzen kann oder vielleicht doch besser da, dann kann sie mit dem Manfred nämlich über Eck … oder will der Manfred lieber außen sitzen, damit er schneller raus kann, falls er »auf Klo« muss mit seiner schwachen Blase? Sag der Oma Gundel, jaja, sie bekäme ja gleich ihren Kamillentee, und zisch den Niklas an, dass er sich jetzt endlich hinsetzen soll, sonst gäbe es als Nachtisch kein Eis.

Sobald du die Speisekarte in der Hand hast, lies jedes Gericht, das für dich in Frage kommt, laut vor und wiege den Kopf dabei: »Zürcher Geschnetzeltes. Aha. Lammsattel mit Püree, hm-hm.« Lass dabei keinen dummen Wortwitz aus: »Lasagne al porno. Soso.«

Frage nach fünf Minuten in die Runde, wer denn nun was nimmt. Es kann erst bestellt werden, wenn das jeder vom anderen weiß. Tu auch deine eigene Entscheidung kund, und zwar wie folgt: »Ja! Wildpfanne Hubertus. Ich glaub’, das mach ich.« Oder: »Ja! Linguini ai gamberetti und vorneweg die Leberknödelsuppe. Ich glaub’, das mach ich.«

Scheue allerdings nicht davor zurück, die Kreationen des Kochs zu korrigieren. Alles, was auf der Karte steht, ist nur eine unverbindliche Empfehlung. Sag, du willst das Cordon Bleu, aber ohne Schinken, oder die Linsensuppe, aber ohne Speckwürfel. Der Koch hat das zu leisten, was du von ihm verlangst. Ist doch ein Dienstleistungsbetrieb hier. Und wenn du sagst, du hättest gern eine Pizza Sauerbraten mit Klößen und Rotkohl, dann hat er die gefälligst zuzubereiten.