Zum Sterben schön - Tessa Korber - E-Book

Zum Sterben schön E-Book

Tessa Korber

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Beschreibung

Tante Hedwig reicht es. Jahrelang hat sie sich um ihre Familie und das gemeinsame Bestattungsinstitut gekümmert. Nun will sie endlich Zeit für sich und flüchtet in eine Kur. Dabei bräuchte ihr Neffe Viktor dringend Unterstützung, denn Onkel Wolfgang jagt einem Urnendieb hinterher. Und auch Viktor selbst ist gerade mit einem brisanten Fall beschäftigt: In Nürnberg treibt ein Serienkiller sein Unwesen, der hübsche Floristinnen ermordet und ihre Leichen pietätvoll mit Blumen dekoriert. Zusammen mit seiner Freundin Miriam lässt Viktor es sich selbstverständlich nicht nehmen, auf eigene Faust zu ermitteln. Ahnungslos, dass der Mörder es bereits auf Miriam abgesehen hat …

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Tante Hedwig reicht es. Jahrelang hat sie sich um ihre Familie und das gemeinsame Bestattungsinstitut gekümmert. Nun will sie endlich Zeit für sich und flüchtet in eine Kur. Dabei bräuchte ihr Neffe Viktor dringend Unterstützung, denn Onkel Wolfgang jagt einem Urnendieb hinterher. Und auch Viktor selbst ist gerade mit einem brisanten Fall beschäftigt: In Nürnberg treibt ein Serienkiller sein Unwesen, der hübsche Floristinnen ermordet und ihre Leichen pietätvoll mit Blumen dekoriert. Zusammen mit seiner Freundin Miriam lässt Viktor es sich selbstverständlich nicht nehmen, auf eigene Faust zu ermitteln. Ahnungslos, dass der Mörder es bereits auf Miriam abgesehen hat …

© Michael Matejka

TESSA KORBER, 1966 in Grünstadt in der Pfalz geboren, studierte in Erlangen Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und promovierte im Fachbereich Germanistik. Nach dem ersten Bestatter-Krimi »Gemordet wird immer«, der bereits im btb Verlag erschienen ist, legt die Autorin mit »Zum Sterben schön« die turbulente Fortsetzung rund um die einzigartige, liebevoll verschrobene Bestatter-Familie Anders vor. Tessa Korber lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Nürnberg.

1. AuflageOriginalausgabe Mai 2014 Copyright © 2014 by btb Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: © semper smileUmschlagmotiv: © Corbis/Tobbe; Shutterstock/ STILLFX; Shutterstock/AzaliyaSatz: Uhl + Massopust, AalenLW · Herstellung: scISBN 978-3-641-13098-5www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

Viktor Anders, Nachwuchsbestatter und Weltenbummler außer Dienst, rührte in seinem Kaffee und sah aus dem Fenster, als plötzlich eine Katze vorbeiflog. »Schon sechzehn Uhr?«, fragte er.

Seine Tante Hedwig hob kaum den Kopf. »Ich bin spät dran«, antwortete sie nur und arrangierte hastig Kuchenteller, Tasse und Milchkanne auf dem Tablett, das sie nach oben bringen wollte, zu ihrem Sohn Tobias, den man jetzt energisch das Fenster schließen hörte.

»Thekla ist auch nicht mehr die Jüngste«, stellte Viktor fest und verfolgte, wie die Katze in einen Rosenbusch hinkte, wo sie begann, wieder Ordnung in ihr Fell und ihr Selbstwertgefühl zu bringen. »Das Fliegen bekommt ihr nicht mehr.«

Tante Hedwig seufzte. Es stimmte, sie würde etwas ändern müssen. Allein der Gedanke lastete wie Blei auf ihr. Tobias war Autist. Und es war schwer, im Leben eines Autisten etwas zu ändern. »Autisten und Veränderung, das ist …«

»… eine contradictio in adjecto«, meinte Viktor altklug und leckte den Milchschaum von seinem Löffel.

»Was?« Hedwig tat vor Verwirrung zwei weitere Löffel Zucker in den Kaffee. Wenn man Tobias die Dose mitgab, schüttete er alles hinein. Also wegstellen. Hatte sie die Serviette? Nur eine, und zwar die mit dem Punktmuster. Wenn es die bei Rewe mal nicht mehr gab, dann gnade ihnen Gott. Tobias würde es nicht tun.

Viktor winkte ab. »Was willst du unternehmen?«

Hedwig überblickte noch einmal das Tablett, ehe sie es anhob. »Ich werde eine jüngere Katze kaufen.«

»Aber …« Viktor hielt inne. »Die Katze ist doch …« Er hielt inne, als es laut klirrte.

»Jetzt hör schon endlich mit der Scheißkatze auf!« Hedwig hatte das Tablett fallen lassen und stützte sich schwer atmend mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte auf. Alles in Ordnung?, wollte Viktor fragen. Das Wort Scheiße hätte die Tante Hedwig, die er kannte, niemals in den Mund genommen. Doch bevor er etwas sagen konnte, sah er auch, dass ihre Schultern zitterten. »Ist ja gut«, stotterte er.

Hedwig drehte sich zu ihm um. Ihr Mund war verzerrt, ihr Gesicht tränenüberströmt. »Nichts ist in Ordnung«, stieß sie hervor, »gar nichts.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte laut auf. Inzwischen schüttelte es ihre ganze Gestalt, die vertraute, rundliche Figur, die Viktor nur eifrig beschäftigt kannte. Die weißen Spitzen an ihrer Küchenschürze bebten. »Ich, ich, ich …« Sie schnappte nach Luft. »Ich mach und tu den ganzen Tag, und ihr, ihr denkt nur an die dämliche Katze und …« Wieder ging in Tränen unter, was sie sagen wollte.

Viktor stand auf und nahm sie in den Arm. Sie roch fremd, nach Hefe und Vanille. Und da begriff er, dass er sie noch nie richtig berührt hatte. Nicht, seit er vor einigen Monaten zurückgekehrt war, um den elterlichen Betrieb zusammen mit seinem Onkel zu übernehmen: das Bestattungsinstitut Anders & Anders.

»Tobias hat die letzten Nächte getobt …«

»Ich weiß«, murmelte er.

»Ich hab kaum noch geschlafen …«

»Ich weiß.« Sein Murmeln beruhigte ihn selbst. Er hielt sie fester.

»Ich muss noch die Monatsabrechnung machen. Die Dreschers haben schon wieder den Auftrag geändert – dauernd ist ihnen was zu teuer. Und jetzt kommen auch noch die Logopädiestunden für Tobi dazu. Ich weiß kaum noch …«

»Ich weiß, Tante.« Viktor strich ihr über das Haar. Ihm war ganz seltsam zumute. Halb gerührt, halb peinlich war das Gefühl. Sein Pullover wurde an der Schulter ganz nass. Er ließ seine Tante los.

»Pass auf«, sagte er. »Das hier bring ich nach oben. Und dann besorgen wir jemanden, der Tobias heute in die Praxis fährt.«

»Wer soll das denn machen?«, fragte seine Tante und schniefte. Bei ältlichen Frauen mit Übergewicht sah das nicht sonderlich attraktiv aus, dachte Viktor und reichte ihr ein Taschentuch, in das sie sich mit bebenden Dauerwellenlöckchen schnäuzte.

»Miriam«, erklärte er. »Sie kommt doch prima mit Tobias zurecht.«

Der Blick seiner Tante erinnerte Viktor daran, dass Miriam Weichsler, der das kleine Café mit Buchladen neben dem Westfriedhof gehörte, zwar gut mit seinem Cousin zurechtkam, weniger gut jedoch mit ihm selbst, seit er mit ihr geschlafen und sich danach besonnen hatte, dass ihm eine rein platonische Freundschaft doch lieber wäre. Natürlich war das alles viel komplexer. Aber dafür hatte Miriam irgendwie kein Verständnis mehr gehabt.

»Ich ruf sie jetzt sofort an«, versprach er im Brustton der Überzeugung.

Seine Tante überblickte die Bescherung auf dem Tablett, wo der verschüttete Kaffee die Serviette durchweichte. »Ich bring das nur eben rasch in Ordnung.«

Das Telefon klingelte. »Anders & Anders Bestattungen. Sie sprechen mit Viktor Anders«, meldete sich Viktor sonor und zwinkerte seiner Tante zu. »Miriam! Wir haben gerade von dir gesprochen.« In seiner Stimme lag mehr Begeisterung, als seiner Ansicht nach gut für ihre Beziehung war. Schnell räusperte er sich, doch er kam nicht mehr zu Wort.

»Ja, ja, ja. Nein. Ja. Was???« Er glaubte sich verhört zu haben.

Ungeduldig wiederholte Miriam ihren letzten Satz: »Meine Frauenärztin will dich sprechen.«

»Ist etwas passiert?«, fragte Tante Hedwig, die sah, dass Viktor ganz blass geworden war.

Er schüttelte den Kopf, wieder und wieder. Nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht … Wie lange war es eigentlich genau her? Umgehend begann Viktor zu rechnen, doch die Daten entzogen sich ihm und tanzten durch seinen Kopf. Greifbar blieb nur der eine hämmernde Gedanke: All das konnte nur eines bedeuten, nämlich, dass er Vater wurde und dies sein Ende war.

»Sie hat da eine Patientin«, fuhr Miriam fort, »die seltsame Verletzungen aufweist. Anscheinend genau solche wie die in der Zeitung, du weißt schon, diese Floristin, die neulich ermordet wurde. Na ja, und die liegt ja bei euch. Also eigentlich verstößt sie damit gegen die ärztliche Schweigepflicht. Aber ich hab ihr von dir erzählt und wie du den letzten Fall entdeckt und gelöst hast und …« Endlich wurde ihr die Stille in der Leitung bewusst. »Viktor?«

Mit Mühe brachte er ein »Ja« heraus.

»Können wir vorbeikommen und uns die Leiche ansehen?«

»Ja«, wiederholte Viktor. Er begriff sein Glück kaum, die Erleichterung ließ ihn sich unwirklich fühlen. »Klar«, kiekste er hinterher. Wenn es nichts weiter war als eine tote Floristin. Hauptsache, niemand war schwanger. Über die Konsequenzen seiner Einladung machte er sich erst mal keine Gedanken.

»Viktor?« Miriams Stimme wurde ernster. Eine Weile, während der er nicht zu atmen wagte, war es still im Hörer. Dann begriff Miriam und begann zu lachen. Sie lachte und lachte.

Mit einem Schlag wurde Viktor blutrot. »Bis dann«, sagte er knapp und knallte den Hörer auf. »Miriam kommt«, meinte er nur zu seiner Tante, riss ihr das Tablett aus der Hand und flüchtete aus der Küche.

Die Tür klappte schon hinter ihm ins Schloss, als Hedwig mit Mühe herausbrachte: »Wie schön.«

Wolfgang Anders stand allein neben dem Grab und fluchte. Der Trauerredner war eine Katastrophe. Eine geschlagene halbe Stunde psalmodierte er nun schon in der Friedhofskapelle. Offenbar fand er, die Leute hatten das verdient für ihr Geld. Mit unnatürlich hoher Stimme reihte er dabei Plattitüde an Plattitüde, was Anders ihm ja noch verziehen hätte. Er selbst bastelte sich seine Ansprachen auch aus zwei Handbüchern zusammen, die ihn nun schon seit den Siebzigern begleiteten. Der dort drinnen allerdings … Wolfgang Anders rückte noch einmal die Halterung für die Schaufel zurecht und warf dann einen Blick zurück auf die Kapelle, aus der er geflüchtet war. Jedes einzelne Mal war er zusammengezuckt, wenn der Redner von dem lieben Verblichenen sprach, »unserem Herrn Böhmer«, dem »lieben Bruder Böhmer«, von »Böhmer, der so lebensfroh gewesen war«. Wolfgang Anders wusste ja nicht, wie sich das mit Herrn Böhmer verhielt. Aber der Tote in der Kapelle hieß Bohner. Und er fragte sich, warum nicht einer der Hinterbliebenen aufsprang, um dem Kerl das Maul zu stopfen. Noch dazu war der Redner in grünem Lodenmantel angetreten, nicht ganz sicher auf den Beinen, mit einer roten Nase, die verriet, dass er nicht erst seit gestern trank, dazu eine Fahne, die klarmachte, dass er jedenfalls mindestens bis gestern getrunken hatte. Wolfgang hatte keine Ahnung, warum die Familie des Toten diesen Mann ausgewählt hatte. Für ihn selbst stand fest, er würde nie wieder einen pensionierten Lehrer beschäftigen.

Allerdings schien ihm auch die gesamte Trauergemeinde ein wenig beschwipst – möglicherweise hatten sie sich Mut antrinken müssen –, sodass es außer ihm wohl keinem auffiel. Das wäre eine Aufgabe für seinen leichtfertigen Neffen gewesen. Viktor hätte vermutlich mitgebechert, zusätzlich noch einen Joint herumgehen lassen, und alle hätten sich großartig bei seiner Rede amüsiert. Er verstand nicht, was die Leute an Viktor fanden. Er, Wolfgang Anders, war doch derjenige mit Moral und Verantwortungsbewusstsein. Er war derjenige, der etwas zu geben hatte. Seine Tragik war nur, dass niemand das begriff. Im Grunde hatte ihn nur ein Mensch in seinem Leben jemals verstanden.

Wolfgang Anders zupfte ein paar Kranzbänder zurecht. Er nahm sich vor, eine Einladung für den Leichenschmaus, sollte sie ausgesprochen werden, abzulehnen.

»Schöne Blumen.« Die Bemerkung war so knapp hingeworfen, dass sie ebenso gut das Gegenteil bedeuten konnte. Wolfgang Anders hob den Kopf.

Neben den Kränzen von Freunden und Bekannten, die darauf warteten, auf das Urnengrab gehäuft zu werden, stand ein junger Mann, die Hände in den Taschen seines Blousons vergraben. Obwohl, so jung war er vielleicht gar nicht. Seine Haare waren bereits so dünn, dass er sie rasiermesserkurz geschnitten hatte. Sie waren so farblos wie sein Gesicht, und er hatte einen resignierten Zug um den Mund. Er konnte ebenso gut siebenundzwanzig wie siebenunddreißig sein.

»Sie kennen mich nicht mehr, was Herr Anders?«

Etwas im Klang seines eigenen Namens ließ Wolfgang Anders aufhorchen. Er sah ein zweites Mal hin. Aber es wollte ihm nicht gelingen, die Züge des anderen einzuordnen.

Der stieß ein bitteres Lachen aus. »Na ja, so ohne das ganze Metall in der Fresse. Und das mit den langen Haaren hab ich schon vor Jahren sein lassen.« Er fuhr sich über den nicht vorhandenen Scheitel. »Damals trug ich sie schwarz.«

Wolfgang Anders schüttelte noch den Kopf, als der andere ihm die Hand entgegenstreckte. »Max Mertens.« Als keine Reaktion kam, fügte er hinzu: »Ich war in der Zwölften Hannahs Freund. Der Freund Ihrer Nichte.«

Wolfgang Anders brauchte einen Moment, bis er herausbrachte: »Sie waren im Knast.«

Max Mertens ballte seine ausgestreckte Hand und steckte sie zurück in die Tasche. Er hob die Schultern, dann atmete er durch. »Alte Geschichten«, erwiderte er und fing Wolfgang Anders’ Blick ein. »Deshalb bin ich übrigens hier. Wegen alter Geschichten.«

Die Tür der Kapelle öffnete sich, und die letzten Klänge der Orgel wehten über den Friedhof. Die Trauergäste mussten in wenigen Minuten hier sein.

»Hannah ist tot«, sagte Wolfgang Anders in abweisendem Ton. »Das alles ist lange her. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun.« Angestrengt machte er sich an der Plastikabdeckung für den Erdhaufen zu schaffen, der bald wieder zurück in das Grab geschaufelt würde. Aufgefüllt, Stein drüber, Blumen drauf und gut. Er sah nur aus den Augenwinkeln auf, doch was er sah, ließ ihn schwitzen: Max Mertens lächelte.

»Sie wissen, dass das nicht stimmt«, sagte er, es klang nicht einmal bedrohlich. »Sie wissen, dass ganz und gar nichts stimmt an der alten Geschichte. Genau wie ich.«

»Überhaupt nichts wissen Sie«, zischte Wolfgang Anders.

Das Schweigen hielt an. Wolfgang Anders’ Hände zitterten. Trotzig machte er sich am Grab zu schaffen, raschelte und zog, wischte und kehrte. Doch am Ende konnte er nicht anders. Er richtete sich auf und blickte Max Mertens ins Gesicht. Nein, es war nicht der mürrische Zug um den Mund, der ihn so alt aussehen ließ. Es waren die Augen. Sie ließen Wolfgang Anders nicht los, diese Augen. Er hielt still, sagte nichts, wehrte sich nicht, während der andere ruhig und, da die Leute näher kamen, immer leiser sagte: »Ich weiß etwas, das so geheim war, dass Hannah es nicht einmal in ihr Tagebuch schrieb. Aus lauter Angst vor ihrer« – das letzte Wort flüsterte er – »Familie.«

Die Bohners kamen heran, an ihrer Spitze der Trauerredner, der von zwei Männern jüngeren Alters gestützt werden musste. Eine Flasche Jägermeister ging herum, in kräftigen Schlucken geleert.

Max Mertens warf einen missbilligenden Blick auf das angesäuselte Grüppchen. »Familie ist etwas Schönes«, sagte er nun lauter. »Wir sehen uns, Herr Anders.«

Damit ging er, die Hände noch immer in den Taschen, die Schultern hängend wie bei einem alten Mann. Und doch hatte Wolfgang Anders seit Jahren nicht mehr so eine Furcht empfunden wie bei seinem Anblick.

Später fand er die Flasche Jägermeister, als Grabbeigabe zwischen die Blumen gelegt. Sie war noch zu einem Drittel voll. Er schraubte sie auf, hob sie an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck.

Viktor schaltete das Licht im Leichenkeller an und ging zu den Kühlfächern an der Rückwand, deren Aggregate dezent summten. Er studierte die Belegangaben neben den grünen digitalen Temperaturanzeigen und entriegelte schließlich Fach Nummer vier. Der Schlitten mit dem lakenbedeckten Körper glitt heraus.

»Mit Onkel Wolfgang habe ich noch ein Wörtchen zu reden«, meinte er und zog schnalzend die Latexhandschuhe über. »Er hat diese Tote mit keinem Wort erwähnt.«

»Warum hat er das getan, was meinst du?«, stieß Miriam hervor, schnappte dann nach Luft und tastete hinter sich nach Halt. Sie war zum ersten Mal in diesem Keller. Obwohl sie genau wusste, womit Viktor sein Geld verdiente, und keinerlei Vorurteile hegte – lag ihr kleines Café doch gegenüber dem Westfriedhof –, bestand ihre eigene Welt vor allem aus duftendem Tee, Grünpflanzen und Kirschbeignets.

Mit dem Schwung des gerechten Zorns zog Viktor das Baumwolltuch beiseite. »Na, was glaubst du wohl? Angst hat der, dass ich mich wieder als Detektiv betätigen könnte, wenn ich erfahre, dass wir ein Mordopfer beherbergen.«

»Interessant.« Das kam von der Frau neben Miriam. Mit festem Händedruck hatte sie sich als Doktor Isolde Schellenbaum vorgestellt. Sie trug eine Lacklederhandtasche und Lackpumps zur passend gehärteten Frisur und einem nur wenig milderen Gesichtsausdruck. Viktor hätte ihr ohne Sorge die Rettung von Zypern anvertraut, aber nur ungern irgendeinen Körperteil vor ihr enthüllt. Mitleidig betrachtete er nun die junge Frau, die zwischen ihnen lag, Frau Doktor Schellenbaums Blicken schutzlos ausgeliefert. Die einst schönen Konturen waren teigig verflossen und dann verhärtet. Dazu wies der nach der Obduktion sauer gewaschene Körper zahllose Kratzer und Löcher auf, die an den Rändern blau verfärbt und getrocknet waren. Die Stirn war regelrecht perforiert, als hätte die junge Frau eine Dornenkrone getragen. Viktor erinnerte sich, in der Zeitung gelesen zu haben, dass der Mörder sein Opfer mit Rosen geschmückt hatte – auf eine Weise, die bei Lebenden nicht widerspruchslos hingenommen worden wäre. Wenn er genau hinsah, konnte er aus den Einstichen und Ritzen das Muster dieses Blumenschmucks ablesen. Und die Brüste … Sogar er wandte den Blick ab von den schwarz zerwühlten Kratern. Dagegen fiel der y-förmige Schnitt des Pathologen, der nur lieblos geflickt war, kaum noch ins Gewicht.

»Was wir suchen, ist in der Vagina«, verkündete Frau Doktor Schellenbaum.

»Was, was, ich, ich …« Viktor war nicht ganz auf der Höhe des Geschehens. Für einen Moment war er Onkel Wolfgang fast dankbar, dass er ihm den Anblick erspart hatte, auch wenn das mit Sicherheit nicht aus Güte geschehen war. Dieser Körper würde ihm in seinen Träumen wiederbegegnen.

»Sagen Sie doch Isolde zu mir.«

Ich wüsste nicht, warum, war das Einzige, was ihm in dem Durcheinander von Eindrücken einfiel, die er mühsam zu sortieren suchte. Er war hier der Bestatter, er musste die Fassung bewahren.

»Die Beine.« Sie sah ihn an, als wüsste er Bescheid.

»Wie?« Langsam kam Viktor sich wie ein Idiot vor.

Frau Doktor Schellenbaum lächelte so knapp, dass es gerade noch in die Definition von Lächeln passte. »Sie müssen angehoben und gespreizt werden. Wie im gynäkologischen Untersuchungsstuhl.«

»Tut mir leid, so etwas haben wir hier noch nicht … Wir arbeiten normalerweise …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… ganzheitlicher.«

Sie schien es ihm gerade noch einmal nachzusehen. Und Viktor, in dem langsam der Ärger aufstieg, begann sich zu fragen, was er da eigentlich tat. Er verschaffte einer Frau Zutritt zum streng verbotenen Leichenkeller, die behauptete, in der Vagina einer Toten die Spur eines Serienverbrechens finden zu können. Er wandte sich zu Miriam um.

»Und warum genau noch mal könnt ihr damit nicht einfach zur Polizei gehen?«, fragte er. »Miriam?« Er sah, wie sie wankte, zum Tisch stolperte und nach einem Wasserglas griff. Mit einem Schrei hechtete er auf sie zu. »Nicht!«

Blass und verwirrt blinzelte sie ihn an.

»Das ist Wasserstoffperoxid«, blaffte er und wand ihr das Gefäß aus den Händen. »Das würde dir die Magenwände verätzen.«

»Es war in einem Trinkglas.« Sie protestierte kaum für ihre Verhältnisse.

»Ich hab den Rest aus dem Kanister da hinein, damit es sich lohnt, ihn auffüllen zu lassen. Herrgott.«

Viktor sah aus den Augenwinkeln, wie die Gynäkologin, die baumelnde Lacktasche am Arm, versuchte, ein Bein der Toten anzuheben. »Normalerweise haben wir hier unten keinen Publikumsverkehr.« Er stellte das Glas mit der klaren Flüssigkeit zurück auf den Aluminiumtisch.

»Herr Anders, können Sie mal mit anfassen?« Frau Schellenbaum hatte es geschafft, ein Bein der Leiche nach oben zu stemmen, das allerdings durch die Leichenstarre noch so hart war, dass das zweite Bein und die Hüfte mitgingen und es aussah, als stemme sie ein Brett. Miriam wurde noch ein wenig bleicher. Unwillkürlich strich Viktor ihr beruhigend über den Arm. Sie wollte gerade lächeln und durchatmen, als das zweite Bein der Toten, in dem die Starre offenbar nachzulassen begann, langsam nach unten sank und auf diese Weise ihren Schambereich preisgab, der sich mit einem furzenden Laut öffnete.

»Oh«, sagte Miriam. Ihre Arme fuhren vergeblich nach Halt suchend umher. Sie kippte um. Klirrend fiel das Glas zu Boden.

»Herr Anders?«

Viktor blickte hektisch hin und her zwischen etwas, das er im Leben nicht hatte sehen wollen, und Miriam, deren rotbraunes Haar sich in einer Pfütze aus Wasserstoffperoxid langsam entfärbte. Er beschloss, dort zu retten, wo es noch etwas zu retten gab, häufte Zellstoff auf Miriams durchtränkte Haarpracht, tupfte die überschüssige Flüssigkeit ab, damit nichts auf die Haut geriet, und hievte sie anschließend auf einen Stuhl, wo er ihr ein Glas richtiges Wasser anbot.

»Was ist mit mir?«, murmelte sie.

»Du wirst aussehen wie Legolas«, tröstete er sie, die langsam wieder zu sich kam. Traurig betrachtete er ihre Frisur. »Nun ja, teilweise.«

Miriam schluchzte auf.

»Wie ich es mir dachte«, rief Frau Doktor Schellenbaum triumphierend und hielt eine Pinzette mit einem kleinen grünen Fragment hoch in die Luft. Sie drehte sich herum, um ihren Fund zu präsentieren. »Rosenblätter.« Ihr Blick fiel auf das lädierte Paar. »Was machen Sie denn da?«

Ein lautes Summen setzte ein. Aller Augen wandten sich dem Aufzug zu, mit dem die Särge in den Anbau hinab- und wieder heraufbefördert wurden. Unsicher sah Viktor zu dem Knopf: Nein, niemand konnte ihn ausgelöst haben. Irgendjemand war von oben zu ihnen unterwegs. Jemand aus dem Sarglager. Die beiden Frauen starrten auf die Metalltür, die sich in wenigen Sekunden öffnen würde. Isolde Schellenbaum hielt noch immer die Pinzette hoch, aus Miriams Haaren tropfte es.

Es ratterte, es rumpelte, der Aufzug stand. Die Türsegmente glitten ineinander und gaben den Innenraum frei.

»Hi, Onkel Wolfgang«, sagte Viktor, drückte mit der Linken die Beine der Toten zusammen und senkte mit der Rechten Frau Doktor Schellenbaums erstarrten Arm hinab. Er spürte, wie die Pfütze Peroxid an seinen Sneakers fraß, und hoffte, dass kein Qualm aufstieg. »Es ist übrigens nicht, wonach es aussieht.« Oh nein, dachte er, es war schlimmer. Viel schlimmer.

Zu seiner Überraschung sagte sein Onkel kein einziges Wort. Stattdessen hockte er nur da, mit überkreuzten Knien, auf dem Boden des Aufzugs, während sein Kopf langsam nach unten sank. »Also, ich muss schon sagen«, setzte Frau Doktor Schellenbaum an.

Viktor, dem sein Onkel zum ersten Mal im Leben leidtat, winkte ab. »Tun Sie’s einfach nicht.«

Karoline Schneid knallte das Telefon zurück auf seine Station und atmete tief durch. Diese verdammten Idioten, dachte sie. Dieses verfluchte Heim. Jedes Mal derselbe Ärger. Konnten die nicht besser auf ihre Schwester aufpassen? Jedes Mal wieder ließen sie sie entwischen. Um dann bei ihr anzurufen und um Hilfe zu betteln, als wäre sie die Vermisstenstelle und hätte nichts Besseres zu tun, als entlaufene Patienten zu finden. Das hier war die Mordkommission, Herrgottnochmal. Sie war Hauptkommissarin. Und sie zahlte nicht wenig von ihrem kargen Gehalt, damit es Kerstin gut ging, dort, wo sie war, und sie selbst sich nicht Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrechen musste. Sie hätte nach dem Tod ihrer Mutter nicht die Betreuung für ihre Schwester übernehmen sollen. Dafür gab es amtliche Pfleger. Sie hätte … Das erneute Schrillen des Apparates zersplitterte ihre Gedanken.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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