Zum Sterben zu viel (eBook) - Lotte Kinskofer - E-Book

Zum Sterben zu viel (eBook) E-Book

Lotte Kinskofer

0,0

Beschreibung

München-Pasing, 1922: Ein Heimatdichter wird ermordet, und ein junger Schreiner muss dafür ins Gefängnis, obwohl die Verdachtsmomente alles andere als schlüssig sind. Seine Frau Agnes tut alles, um die Unschuld ihres Mannes zu beweisen. Vorübergehend muss sie sogar ihre beiden Kinder in die Obhut Fremder geben. Ein zweiter Mord geschieht; der Ermordete hat die gleiche seltsame Wunde am Kopf wie das erste Opfer. Oberkommissar Benedikt Wurzer steht vor einem Rätsel, bis ihn ein Hinweis in die Oberpfalz führt und er ahnt, dass ein weiterer Mord unmittelbar bevorsteht … Ein spannender und berührender Kriminalroman aus der Zeit zwischen den Kriegen, als die politischen Kämpfe zwischen Rechts und Links schärfer wurden und das Geld nichts mehr wert war, als die Menschen vom Land in der Stadt ihre Zukunft suchten und doch von ihrem Schicksal eingeholt wurden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 343

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

 

Lotte Kinskofer

 

Zum Sterben zu viel

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage April 2021)

 

© 2021 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Tanja Böhm

Umschlaggestaltung: Philipp Starke Gestaltung, Hamburg

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0234-0

 

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

Nachwort der Autorin

 

1

Carus von Waldfels schwang gut gelaunt seinen Spazierstock. Es war ein Tag genau nach seinem Geschmack gewesen. Er war spät aufgestanden, hatte ausgiebig gefrühstückt, dann zwei Stunden an seinem neuesten Werk geschrieben. Er hätte den Tag bei einem Cognac ausklingen lassen und aus dem Fenster seines hell erleuchteten Hauses in der Apfelallee hinüber zum Nachbarn schauen können, aber er zügelte seine vorhandene Neugier, ob sich der Herr Anwalt immer noch in seinem Arbeitszimmer aufhielt oder bereits in den Salon zur Frau Gemahlin gegangen war. Er hatte nämlich noch etwas vor, genau genommen zwei Termine, der eine eher Pflicht und der andere hoffentlich die Kür.

 

Gekleidet hatte er sich passend zum ersten Termin, dem Treffen mit bayerisch-national gesinnten Abgeordneten. Nicht zu elegant, da er keinen Neid schüren wollte: den eher konservativ-gediegenen Anzug, dazu einen Mantel aus einem kräftigen Stoff und einen volkstümlich anmutenden Hut. Vielleicht war es etwas unpassend für seinen anschließenden Termin, aber wer zugleich braver Bürger und Bohemien sein wollte, der konnte nur einem der beiden Ansprüche wirklich genügen. Außerdem mochte er sich mit dem Publikum dieses sogenannten Atelierfestes in Schwabing nicht zu sehr gemeinmachen. Sollten die anderen Gäste ruhig merken, dass er das Amüsement schätzte, aber normalerweise in besseren Kreisen verkehrte.

Von Waldfels fröstelte etwas, denn es war eher kühl für Mitte April. Aber er hatte beschlossen, zu Fuß zum Bahnhof zu gehen, um noch etwas frische Luft zu schnappen. So bog er, zufrieden pfeifend, von der Apfelallee in die Langwieder Straße ein und dachte über sein Tagwerk nach.

 

Heimatverse sollten es werden. Gedichte, wie die Leute sie mochten, gerade in dieser herzlosen, unübersichtlichen Zeit, wo der Krieg vielen noch in den Knochen steckte, manchen sogar im wahrsten Sinn des Wortes, auch wenn er schon vier Jahre vorbei war. Gedichte, die Wärme gaben, das Gefühl von Geborgenheit in einer Welt, in der Geld immer weiter an Wert verlor und fremde Nationen über Deutschland und Bayern bestimmten. Der Verleger hatte ihn um Heimatverse gebeten. »Nix Politisches«, hatte er gesagt. »Vor allem nix Linkes. Die Wörter ›Arbeiter‹, ›Lohn‹, ›Hunger‹ und ›Krieg‹ will ich nicht lesen.«

Er hatte sich eine Liste gemacht mit Begriffen, die passend waren: Heimat, Erde, Himmel, Mädl, Bursch, Vaterhaus, Muttersprache, Edelweiß, Tanne. So was eben. Und dann hatte er angefangen zu dichten.

Besonders stolz war er auf den Vers: »An der Wand hängt dem Vater sei Gwand …«

Ja, das würde zur melancholischen Stimmung der armen, einfachen Leute passen. Und davon gab es schließlich genug. Nicht nur draußen auf dem Land, auch in München und hier, in Pasing, vor den Toren der großen Stadt.

Bewusst hatte er sich auf der Suche nach einem Haus für die kleine, aufstrebende Stadt entschieden. Das Haus in Neu-Pasing in der von August Exter geplanten zweiten Villenkolonie hatte er kurz nach der Fertigstellung vor gut zwanzig Jahren erworben. Und obwohl er ein Zugezogener war, wurde er als Heimatschriftsteller in Pasing geschätzt, respektiert und höflich gegrüßt. Die Menschen kannten einander, es gab viele alteingesessene Familien, Traditionsbetriebe und Bauern. Man hatte seinen eigenen Marienplatz, da brauchte man die Münchner nicht dafür. Er war einer von denen, die nicht mitten in München leben wollten, aber gerne ab und an hineinfuhren wegen des großstädtischen Flairs. Selbst dort kamen »Heimat« und »Erde« gut an, sogar in den höheren Kreisen, auch wenn es nicht jeder zugeben mochte, dass er die Verse eines Carus von Waldfels kaufte, verschenkte oder sogar selber las. Er war nicht gerade ein Liebling des Feuilletons, aber er hatte mehr Leser als all diese politischen Schreiberlinge und akademischen Schöngeister. Auch wenn sich seine letzten Bücher nicht mehr so zahlreich verkauft hatten, von den neuen Heimatversen erhoffte er sich eine Auffrischung seines bereits angestaubten Ruhms und vor allem mehr Tantiemen, die er für seinen Lebensstil brauchte. Dieses Jahr, 1922, würde den früheren Erfolg zurückbringen, da war er ganz zuversichtlich.

Nachdem er einige Briefe seiner Bewunderer aus dem ganzen Freistaat beantwortet hatte, die ihm ihren herzlichen Dank aussprechen wollten, hatte er noch eine Weile geruht. Für das erste Treffen brauchte er seine volle Konzentration. Zwei Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei hatten ihn um ein Gespräch gebeten. Der Heimatdichter sollte sie indirekt in ihrem Bemühen unterstützen, bei den Menschen noch volkstümlicher zu wirken, indem er bei ihren Versammlungen auftauchte und sich als einer von ihnen zeigte. Von Waldfels hatte lange überlegt, ob er sich auf einen derartigen Kuhhandel einlassen wollte. War das für ihn von Vorteil? Würde er prominenter, beliebter, erfolgreicher werden dadurch, dass er sich politisch festlegte? War die Bayerische Volkspartei das Pferd, auf das er setzen sollte? Schließlich hatte er sich entschieden, einen Versuch zu wagen. Immer noch vereinte die BVP die meisten Wähler in Bayern. Gerade auf dem Land waren die Menschen katholisch-konservativ – und das waren schließlich auch seine Leser. Einer der Abgeordneten, ein Ökonom aus der Nähe von Wolfratshausen, hatte ihm versprochen, ihn in Naturalien zu entlohnen – sehr erfreulich, denn manche Lebensmittel waren in der Stadt knapp geworden. Ein anderer, ein Brauereibesitzer, versicherte ihm, er würde zum nächsten Weihnachtsfest nur Bücher von ihm verschenken, auch an alle seine Kunden, und sich zusätzlich um Veranstaltungen mit ihm kümmern. Eine Reise durch die bayerische Provinz wäre doch nicht das Schlechteste, dachte von Waldfels. Solange die Rückkehr in die Stadt mit all ihren Annehmlichkeiten gewährleistet war, konnte man es schon ein paar Tage aushalten. Seine Leser auf dem Land sollten ihm sein Leben in der Stadt finanzieren, das zunehmend teurer wurde.

 

Mit Freude und gespannter Erwartung dachte er an seinen zweiten Termin. Bei einem Autorenkollegen in Schwabing sollte es wieder einmal hoch hergehen, wie er mehr zufällig von einem befreundeten Maler erfahren hatte. Er war zwar nicht eingeladen, aber das sollte bei so einem Fest kein Problem sein. Da konnte jeder kommen, da fiel keiner so schnell auf, denn meistens trafen schon am frühen Abend die ersten unangemeldeten Besucher ein, nach und nach wurden es immer mehr, und wenn der Simpl in Schwabing irgendwann die letzten Gäste hinauswarf, kamen die auch noch in der Mansarde auf ein Bier vorbei. Atelierfeste, so nannte man das. Die meisten verließen erst frühmorgens den Ort des Geschehens, es sei denn, man fand ein Mädl, das mehr aufs Vergnügen als aufs Heiraten aus war, und auch wusste, wo man in der näheren Umgebung ein paar Stunden ungestört sein konnte.

Literarisch und menschlich war der Kollege, der sich Oskar Maria Graf nannte, wobei das »Maria« angeblich später dazugekommen war, nicht so ganz sein Geschmack. Ein grobschlächtiger Kerl vom Starnberger See, laut und deftig. Auch Graf war angeblich den einfachen Leuten recht zugewandt, aber in einer anderen Weise als er. Graf beschrieb ihr schlichtes Leben, ihre Sturheit und Grobschlächtigkeit, er drängte auf Veränderung der sozialen Lage und gab sich links – wie viele Autoren in dieser Zeit. Dennoch, an manchen Abenden gesellte von Waldfels sich gerne zu diesen Schwabinger Künstlern, auch wenn sie ihn nicht so ganz ernst nahmen. Er durfte dabei sein und über Grafs derbe Scherze lachen, wenn er seine Gäste mit großen, ausufernden Gesten schreiend zu »mehr Erotik« aufforderte. Aber in die inneren Zirkel, da kam er nicht hinein. Hier nicht und erst recht nicht bei den noblen Gestalten unter den Münchner Schriftstellern, die in Bogenhausen lebten, ach was lebten, Hof hielten, als gäbe es die Monarchie noch. Er mochte sie nicht, diese gepflegten Moralapostel. Er hatte das Gefühl, sie schauten auf ihn herab.

Aber bei den Damen kam er immer noch gut an. Sie liebten ihn, den Schriftsteller, der ihnen Verse zitierte und außerdem Junggeselle war, sodass noch Hoffnung bestand. Ans Heiraten hatte er noch nicht gedacht. Mit fünfundvierzig Jahren fühlte er sich zu jung, um sich auf eine festzulegen. Fürs Haus gab’s die Minna, und fürs Vergnügen gab’s viele, und wenn’s einmal mit dem Vergnügen weniger werden sollte, würde sich schon noch eine finden für seine alten Tage, da war er sicher.

 

Allmählich wurde es dunkel, die Straße zum Bahnhof war menschenleer. Die meisten Leute, die hier nach Neu-Pasing gezogen waren, genossen ihr kleines, feines, bürgerliches Leben, dachte von Waldfels. Sie gingen abends nicht mehr aus, machten es sich lieber in den eigenen vier Wänden mit Frau und Kind bequem. Plötzlich kam er sich unkonventionell vor mit seinem Hang zum Bohemien. Er war kein Bürger wie diese Leute hier, aber er war auch kein Herumtreiber wie viele Künstler. Eigentlich hatte er sich sein Leben zwischen Neu-Pasing und Schwabing, zwischen Kunst und Kommerz sehr schön eingerichtet.

 

Fast hatte er das Bahnhofsgebäude erreicht, als er einen Schlag an der Schläfe spürte. Der Schmerz war nicht so groß wie sein Erstaunen. Er fasste sich mit der Hand an die getroffene Stelle und sah sich fragend um. Ihm wurde schwindelig und er stützte sich fester auf seinen Gehstock. Doch es half nichts. Er sank in die Knie und fiel auf das weiche Gras neben dem Weg. Jemand zog ihn an den Füßen ins Gebüsch. Als er einen heftigen Schmerz in der Herzgegend fühlte, war ihm schon bewusst, dass die Reime von der Wand und vom Vater seinem Gwand die letzten seines Lebens gewesen waren.

 

2

Wolf Strate stand am Fenster und sah hinüber in den Garten seines Nachbarn. Natürlich war vom Herrn Schriftsteller noch nichts zu sehen, zu den Frühaufstehern gehörte von Waldfels nicht. Er würde also noch etwas warten, bevor er klingelte, um mit ihm über die Gartengestaltung zu sprechen. Dass von Waldfels seinen Garten so verwildern ließ, fand er nicht angemessen. Dies war eine gutbürgerliche Gegend und die wenig gepflegte Fläche passte einfach nicht hierher. Wenn der Herr Autor meinte, er müsse sich unkonventionell präsentieren, sollte er sich dafür eine andere Möglichkeit suchen.

Auf seine Kleidung legte er doch auch Wert, der Herr von Waldfels, der sicherlich nicht Carus, sondern vermutlich Karl hieß, und sich einfach einen adeligen Künstlertitel zugelegt hatte. Auf dem Türschild stand nur »v. W.«, das sollte wohl vornehm klingen. All sein Bemühen, nobel zu wirken, war Strate zutiefst zuwider.

 

Das Hausmädchen betrat leise sein Arbeitszimmer, ein Tablett mit Kaffee, Milch und Zucker balancierend. Jeden Morgen trank er eine Tasse, während er darauf wartete, dass seine Gattin aufstand. Meistens hatte er die ersten Prozessakten schon gelesen, bevor Helene kam. Manchmal fiel es ihr schwer, überhaupt aufzustehen, fast so, als ob ihr kränkelndes Gemüt sie in das Bett zurückdrückte. Strate, selbst von robusterer Natur, hoffte inständig, dass die Traurigkeit sie nicht länger in den Kissen hielt, weil sein Magen schon zu sehr knurrte. Doch er wollte ein rücksichtsvoller Ehemann sein und wartete deshalb täglich mit dem Frühstück auf sie. Auch weil er sehen wollte, ob sie wirklich etwas zu sich nahm, oder ob die unendliche Müdigkeit ihr weiterhin den Appetit und die Lebensfreude raubte.

»Ihr Kaffee, gnädiger Herr«, sagte Martha und machte einen Knicks. Es hatte etwas gedauert, bis das junge, hübsche, sehr ernste Mädchen aus der Oberpfalz den Knicks so formvollendet zelebrieren konnte. Es war die Aufgabe seiner Frau gewesen, Martha zu erziehen und ihr ein etwas weniger ländliches Bayerisch beizubringen: »Bitte«, »Danke«, »Jawohl, gnädige Frau«, »Sofort, gnädiger Herr«, »Sehr wohl« …

Für Martha hatte es sich wahrscheinlich manchmal so angefühlt, als ob sie eine fremde Sprache hätte lernen müssen. Viele dieser Vokabeln hatten bislang nicht zu ihrem Wortschatz gehört, da war Strate sicher.

»Danke, Martha, stellen Sie das Tablett auf dem Schreibtisch ab«, sagte er und kannte bereits ihre Antwort: »Jawohl, gnädiger Herr.«

»Und erinnern Sie meine Frau bitte daran, dass ich um zehn Uhr aus dem Haus muss«, fügte er noch hinzu. Das war sein neuester Trick, um Helene aus dem Bett zu bekommen. Er täuschte einen Termin bei Gericht oder mit einem Mandanten vor. Wenn sie gemeinsam mit ihm frühstücken wollte, musste sie also wohl oder übel aufstehen, sich anziehen, den Tag beginnen. So war sie zumindest für den Morgen dem Zugriff ihrer Lethargie entzogen.

»Die gnädige Frau ist bereits aufgestanden«, antwortete Martha, und er spürte eine leise Freude in sich. Sollte es wahr sein, dass es Helene mit dem Beginn des Frühlings besser ging, dass ihre Schwermut sich zugleich mit der Dunkelheit und Kälte der letzten Monate verabschiedete, dass sie auch wieder gute Tage haben würde? Der Arzt hatte es ihm prophezeit, aber er war skeptisch gewesen.

Er lächelte leicht. Martha lächelte nicht zurück. Sie senkte den Kopf, knickste erneut und entfernte sich. Am Anfang war es ihm nicht aufgefallen, aber eigentlich lächelte sie nie. Sie war erstaunlich gelehrig, höflich, aber nicht unbedingt fröhlich oder gar heiter. Sie ging sehr selten aus, und wenn sie doch einmal einen Spaziergang an der Würm machte, kam sie nach einer knappen Stunde wieder. Eines Abends war er spät nach Hause gekommen und wollte sich noch einen Bissen aus der Küche holen. Da hatte er Martha angetroffen, über dem Lesen eines Jahreskalenders mit kurzen Geschichten eingeschlafen. Als er fragte, ob sie denn gerne lese, nickte sie und nannte einige unbedeutende Heimatdichter. Sein Angebot, sie könne sich Bücher aus seiner Bibliothek leihen, lehnte sie kopfschüttelnd ab und beharrte darauf, dass sich das nicht gehörte.

 

Der Anwalt wusste, was es bedeutete, wenn man Bildung nicht in die Wiege gelegt bekam, sondern sie sich mühsam erarbeiten musste. Er hatte kein Elternhaus gehabt, in dem gutes Benehmen und Kultur ganz selbstverständlich zum Alltagsleben dazugehörten wie bei seiner Frau Helene. Bei aller Schwermut wusste sie doch stets, was sich gehörte. Kein falsches Wort, kein Fauxpas, die passende Reaktion im entsprechenden Moment. Ihm unterliefen noch Fehler. Selbst jetzt, mit vierzig Jahren, konnte es ihm passieren, dass ein Kollege bei Gericht in ihm den erkannte, der die soziale Leiter mühsam erklommen hatte – und sich doch von Zeit zu Zeit durch eine kleine Geste oder durch ein unbedachtes Wort verriet. Manchmal half ihm sein gepflegtes Hochdeutsch. Da er in der Nähe von Hannover als Sohn eines Kolonialwarenhändlers aufgewachsen war, galt er hierzulande als »Preiß«, was verächtlich gemeint war. Andererseits aber hatten die Bayern einen ihm rätselhaften Respekt vor Menschen, die nicht Dialekt sprachen, eine seltsame Mischung aus Herabsetzung und Achtung, an die er sich gewöhnt hatte.

Strate nahm einen Schluck Kaffee. Der Anfang als »Gstudierter«, wie man hier sagte, war schwer gewesen. In Hannover hatte er keine Arbeit in einer Kanzlei gefunden. Was für ein Glück, dass er damals nach dem Tod seiner Eltern mit seinem kleinen Erbe zum ersten Mal in den Urlaub gefahren war – in die Sommerfrische nach Oberbayern. Dort hatte er Helene kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Er wusste, dass er es ohne den Schwiegervater und seine Beziehungen nicht geschafft hätte, sich einen Namen zu machen. Der Juraprofessor mit Verbindungen in höhere Kreise hätte den Mann seiner Tochter gerne in einem Ministerium gesehen. Aber Strate hatte Anwalt werden wollen. Helene hatte ihn unterstützt, und der Herr Professor hatte sich gefügt, das Haus in Neu-Pasing für das junge Paar erworben und ihm seine ersten Klienten verschafft. Natürlich hatte der Schwiegervater ihn auch davor bewahrt, im Krieg an die Front zu müssen. Er sollte zu Hause dem Vaterland dienen, was auch immer die Regierung da­runter verstand. Was er über den Krieg wusste, hatten ihm Mandanten erzählt. Und er schwankte zwischen Scham und Erleichterung, dass ihm dies erspart geblieben war. Danach hatte die Revolution für kurze Zeit gesellschaftlich das Unterste zuoberst gekehrt. Und auch wenn er beileibe nicht für eine Verdrehung aller sozialen und gesellschaftlichen Normen war, ein bisschen mehr Durchlässigkeit, ein bisschen weniger Standesdünkel, das hätte dem Land schon gutgetan, dachte er. Und ihm selbst natürlich auch.

 

Er sah Helene draußen durch den Flur gehen, trank seinen Kaffee aus und folgte ihr. Kurz vor dem Speisezimmer holte er sie ein und lächelte sie liebevoll an. »Guten Morgen, mein Herz«, sagte er leise und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, Wolf«, antwortete sie mit einem leichten Lächeln, das sein Herz etwas schneller schlagen ließ.

 

Martha bediente sie am Tisch korrekt und aufmerksam ohne Fehl und Tadel und ohne jedes Lächeln. Er hatte überlegt, ob sie eine ähnliche Krankheit haben könnte wie seine Frau, den Gedanken aber wieder verworfen; sie war zu energisch und zäh. Zudem konnte er sehen, dass sie sehr wohl zu Gefühlen in der Lage war. Er bemerkte die Wut in ihren Augen, wenn ihr etwas nicht gelang, und die zwischen den zusammengepressten Lippen gemurmelten Flüche, die ihre einfache Herkunft verrieten.

 

Auch Helene war nicht schon immer schwermütig gewesen. Strate hatte damals ein liebenswürdiges, heiteres Mädchen kennengelernt, sie hatten sehr schöne Jahre gehabt, und obwohl ihre Eltern zunächst gegen die Verbindung gewesen waren, weil ihnen der Schwiegersohn nicht standesgemäß schien, hatten sie beide doch ihre Eheschließung durchgesetzt und gedacht, ihr Glück wäre für immer. Sie warteten auf Kinder, doch es kamen keine. Seine Frau wurde stiller, zog sich in sich zurück. Er selbst fragte sich in dieser Zeit, ob er überhaupt Kinder wollte in einer Welt, die so entsetzliche Dinge wie diesen Krieg hervorbringen konnte.

 

»Musst du wieder so früh aus dem Haus, Wolf?«, fragte Helene und ihr Blick verriet, dass es ihr heute tatsächlich besser ging. Die Augen klar, direkt auf ihn gerichtet, voller Interesse und Wärme.

»Ja, warum fragst du?«, antwortete er. An diesem Tag stimmte es wirklich. Er wollte einen Mandanten besuchen, der einen Schusterladen in der Pasinger Bäckerstraße hatte.

»Der Schreiner kommt wegen der Kassettendecke im Kaminzimmer«, sagte Helene. »Er wollte heute verschiedene Hölzer mitbringen. Ich dachte, es könnte dich interessieren.«

Jetzt war ihm klar, weshalb es Helene besser ging. In letzter Zeit fand sie Vergnügen daran, das Haus umzugestalten und die einzelnen Zimmer neu einzurichten. Helene konnte oft stundenlang über Vorhänge, Teppiche, Tapeten und Möbel nachdenken, verschiedene Vorschläge studieren, sich Muster ansehen, sie prüfend an eine Wand oder ein Fenster halten und schließlich wieder verwerfen.

Oft hatte sie versucht, ihn mit einzubeziehen. Er wiederum hatte versucht zu verbergen, wie wenig ihn das interessierte. Er hielt sich fast den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer auf oder war beruflich unterwegs. Es sollte gemütlich sein zu Hause, mehr aber auch nicht.

Ein Kinderzimmer hatte Helene schon sehr früh komplett ausgestattet. Der Arzt machte ihnen immer wieder Mut, aber nach mehr als zehn Jahren Ehe hatte Strate das Kapitel für sich abgeschlossen. Er fragte sich, ob seine Frau wirklich noch Hoffnung hegte. Doch darüber zu sprechen, war ihnen nicht gelungen.

»Ist es wieder der junge Schreiner, den uns von Waldfels empfohlen hat?«, fragte Strate.

Seine Frau nickte: »Ich habe ihm zunächst einmal ein paar kleinere Reparaturarbeiten aufgetragen, die er sorgfältig und zuverlässig erledigt hat.«

Strate lächelte: »Das war wohl die Prüfung, die er ablegen musste?«

»Er arbeitet zügig und gründlich, und das nicht zu den überhöhten Preisen, die andere Handwerker berechnen.«

Es war ein teures Freizeitvergnügen, das seine Frau sich gönnte, dachte Strate. Aber wenn es sie glücklich machte, so war er es auch.

 

3

Oberkommissär Benedikt Wurzer hatte eigentlich mit der Tram nach Pasing fahren wollen. Aber da der Herr Polizeipräsident einen Skandalfall vermutete wegen des prominenten Opfers, hatte er sich mit dem Dienstwagen kutschieren lassen, obwohl er weiß Gott kein Freund des Automobils war. Zu viel Lärm, zu viel Dreck. Er sah auf den Tatort hinter dem Bahnhof, wo seine Kollegen schon am Werk waren. Fotograf und Arzt taten ihre Arbeit. Die Identität des Toten war klar, alles ging seinen Gang. Es galt nun, den Mörder zu suchen. Und das war seine Aufgabe.

 

»Wer hat ihn denn gefunden?«, fragte er einen Gendarmen, der sich vergeblich bemühte, die Passanten zum Weitergehen zu bewegen.

»Da hinten der Arbeiter«, sagte der Polizist und deutete auf einen Mann, der allein und etwas abseits stand und offenbar gar kein Bedürfnis verspürte, sich dem Tatort noch einmal zu nähern.

»Geh her da!«, rief der Gendarm dem Arbeiter zu, der daraufhin zusammenzuckte. Wurzer aber winkte ab. »Ich bemüh mich schon selber, dankschön.« Damit ging er zu dem durch den Ruf des Gendarmen verschreckt wirkenden Mann.

 

Wurzer konnte es nicht leiden, wenn Polizisten meinten, sie könnten jeden Menschen herumkommandieren, alle Leute duzen und ihnen mit Uniform und Kommandoton Angst einjagen. Aber es war ihm in all den Jahren nicht gelungen, seinen Untergebenen beizubringen, dass sie für die Leute da waren und nicht umgekehrt. Allmählich verfestigte sich sein Eindruck, dass er ohnehin der Einzige war, der so dachte, und dass es keinen Sinn hatte, den Kollegen etwas von Anstand oder Benehmen zu erzählen. Nur wenn er bei der Ausbildung durchblicken ließ, dass man von den Zeugen mehr erfahren konnte, wenn man freundlich war und sie mit Respekt behandelte, hörten sie zu. Freundlichkeit als Strategie, damit sich ein Zeuge verplapperte, diesen Trick wandten einige seiner Kollegen gerne an.

 

»Guten Morgen«, grüßte Wurzer freundlich. Der Mann nickte nur kurz. Der Schrecken über das, was er gesehen hatte, stand ihm noch ins Gesicht geschrieben.

»Sie sind der Herr …«

»Prager«, antwortete der Arbeiter. »Sepp.«

»Wann haben Sie den Toten gefunden?«

»Vor einer Stunde«, sagte der Mann. Wurzer merkte, dass er sich, durch ihn eingeschüchtert, um eine saubere Aussprache bemühte.

Offenbar schaute ihm der Kommissär ein bisschen zu streng, denn er schob gleich nach: »Ich bin’s nicht gewesen.«

»Das hat auch keiner behauptet«, antwortete Wurzer. »Der Tote ist wahrscheinlich schon die ganze Nacht dort gelegen.«

Der Arbeiter nickte nur, sagte weiter nichts.

»Erkannt haben Sie ihn nicht?«, fragte der Kommissär weiter.

»Naa, den kenn ich ned … nicht«, korrigierte sich der Arbeiter.

»Ein Dichter, ich hab ihn auch ned kennt«, antwortete Wurzer in breitem Bayerisch und grinste. »Komm ned so zum Lesen und wenn, dann die Zeitung.«

Herr Prager grinste nun ebenfalls, wenn auch etwas zaghaft.

»Kommen Sie. Gehen wir ein paar Schritte«, sagte der Kommissär, der wieder zurück in sein gehoben-professionelles Bayerisch wechselte, und wandte sich vom Tatort ab. Er hatte die Hoffnung, dass der Mann etwas gesprächiger würde, wenn sie die Menschenansammlung hinter sich ließen. Sepp Prager folgte ihm stumm.

»Wo wollten Sie denn hin?«

»Zu einer Baustelle in der neuen Siedlung.«

»Haben Sie dort eine feste Arbeit?«

»Da gibt’s die letzten Jahr allerweil was zum Tun.«

»Wo die reichen Leut hinbauen, gell«, sagte Wurzer und der Arbeiter nickte.

»Ja, bauen darf ich denen ihre Hütten. Und wenn ich fertig bin, dann kann ich mich wieder verzupfen, dann wollens unsereins nimmer sehen.«

Wurzer schwieg. Aus der Sicht des Arbeiters gehörte er sicherlich ebenso zu den feinen Herrschaften, auch wenn er gar nicht so viel verdiente. Er trug halt einen Anzug, arbeitete für den Staat und hatte bestimmt mehr Sicherheit als so ein Bauarbeiter.

»Ist er denn genau so dagelegen, der Tote? Oder haben Sie ihn angefasst?«

Prager schüttelte den Kopf.

»Erzählen Sie einfach mal. Sie sind mit der Tram kommen …«

»Naa, mit dem Radl. Von Hadern her.«

«Und dann?« Ein Schwätzer war er nicht, der Prager Sepp, das war dem Kommissär spätestens jetzt klar.

»Mei, es war noch ned so richtig hell. Aber ich hab da was gsehn und bin abgstiegn und hab nachgschaut.«

»Und weiter?«

»Ich bin gleich wieder aufs Radl und zur Gendarmerie gfahren. Dort haben sie gsagt, ich soll warten, bis einer von den Kriminalern kommt.«

»Das bin ich«, sagte Wurzer und lupfte den Hut. »Dankschön für die Aussage, Herr Prager.«

Der Arbeiter war so viel Höflichkeit nicht gewohnt, er wirkte verblüfft. Wurzer war es schon häufiger aufgefallen, dass es die einfachen Leute eher misstrauisch machte, wenn man sie siezte und ihnen höflich begegnete. Wahrscheinlich witterten sie Ärger. Die Kollegen in der Ettstraße, soweit sie das mitkriegten, schimpften ihn manchmal einen Sozialisten, die einen offen, die anderen hinter seinem Rücken. Dabei hatte sein Verhalten gar nichts mit Politik zu tun. Er war nur der Meinung, dass das eben auch Menschen waren, die Respekt verdient hatten. Aber damit war er ziemlich allein, das wusste er.

»Geben Sie mir bittschön Ihre Adresse, falls wir später noch Fragen haben.« Wurzer zog Papier und Stift aus der Tasche.

»Sie kommen ja jetzt zu spät zur Arbeit«, fiel ihm dann noch ein, als Sepp Prager sein abgelegtes Radl aufhob und weiterfahren wollte.

»Ja, scho«, antwortete der.

»Kriegen Sie da einen Ärger?«

»Wahrscheins.«

»Moment.« Wurzer winkte dem Gendarmen, der sofort zu ihm kam in Erwartung einer bedeutenden Aufgabe.

»Sind Sie mit dem Radl da?«

»Jawohl, Herr Oberkommissär.«

»Dann begleiten Sie bitte den Herrn Prager zu seinem Arbeitsplatz und sagen Sie seinem Vorarbeiter, dass er uns geholfen hat, einen Mörder zu finden. Und dass er bloß deswegen zu spät kommt.«

Der Gendarm zog ein langes Gesicht. Er sollte den Arbeiter entschuldigen? Wurzer bemerkte seine Verärgerung. »Ich kann mich doch auf Sie verlassen?«, fragte er eindringlich und der Mann schlug die Hacken zusammen.

»Jawohl, Herr Oberkommissär.«

 

Wurzer drängte sich noch einmal durch die Menge der Schaulustigen und besah sich den Tatort. Die Leiche wurde gerade weggebracht.

»Irgendwas Besonderes?«, fragte er den Arzt leise, damit die gaffenden Leute nichts hören konnten.

»Tödlich war die Stichwunde im Herzen«, antwortete der Arzt. »Aber komisch ist, dass er diese Verletzung am Kopf hat.«

»Welche denn?« Wurzer wurde hellhörig.

»Da an der Schläfe, als hätte jemand dagegengeschlagen.«

»Sie meinen, der Täter hat ihn erst niedergeschlagen und dann erstochen?«, fragte Wurzer nach.

»Ja. Vielleicht wollte der Täter ihn erst bewusstlos …«, fing der Arzt an zu spekulieren.

»Schon, aber das heißt, dass er ganz nah an ihn ranmuss, um ihn gegen den Kopf zu schlagen. Da hätte sich das Opfer doch gewehrt!«, unterbrach ihn Wurzer. »Es könnte bedeuten, dass er den Täter gekannt hat. Sonst hätte er ihn nie so nah herangelassen.«

»Mei«, überlegte der Arzt, »vielleicht hat ihn einer nach Feuer für seinen Stumpen gefragt oder nach dem Weg, da lassen einen die Leut schon näher ran.«

Wurzer nickte und wandte sich an seinen Assistenten Löffler.

»War’s Raubmord?« Der schüttelte den Kopf. »Börse, Geld, alles da, Herr Oberkommissär. Auch die Taschenuhr.«

»Weiß man denn schon, wo er hinwollte gestern auf d’Nacht?«

Wieder schüttelte der Kriminalassistent den Kopf. »Er wohnt ganz in der Nähe. Entweder wollt er heim oder weg.«

Wurzer sah seinen Mitarbeiter prüfend an, aber der meinte das ganz ernst.

»Dann gehen wir da hin. Kommen Sie mit, Löffler.«

 

Die Haushaltsvorsteherin Minna Mayerhofer war von der Todesnachricht so erschüttert, dass wenig aus ihr herauszubringen war. Sie sank auf einen Stuhl, weinte, schnäuzte sich von Zeit zu Zeit kräftig und jammerte: »Wo soll ich denn jetzt hin?«

Er ließ sich das Arbeitszimmer des Verstorbenen zeigen, ein stattlicher Raum mit einem großen Schreibtisch, auf dem sich teure Schreibgeräte und edles Papier befanden. Bei den herumliegenden Unterlagen handelte es sich vor allem um Zuschriften von Lesern, die dem Künstler ihre Bewunderung aussprachen und ihn baten, sie bald wieder mit neuen Werken zu erfreuen.

Während die Haushälterin noch schluchzte, blätterte Wurzer in einem der Bücher des Ermordeten. Nette Verse, die keinem wehtaten. Sie handelten von der Heimaterde und Lieb und Treu. Irgendwie hatte er das Gefühl, diese Verse schon einmal in der Heimatzeitung gelesen zu haben. Aber vielleicht täuschte er sich auch, für ihn klangen alle Gedichte irgendwie gleich.

Noch einmal versuchte er, etwas aus der Haushälterin herauszukriegen, denn sie schien sich etwas beruhigt zu haben.

»Wann ist der Herr von Waldfels denn gestern aus dem Haus gegangen?«

Sofort fing sie wieder an zu weinen und zu jammern und war nicht imstande, ihm eine klare Auskunft zu geben. Das hat jetzt überhaupt keinen Sinn, dachte Wurzer, und erhob sich. Durch das Fenster sah er ins Nachbarhaus. Er bemerkte ein Dienstmädchen mit Haube und Schürze, das zu ihnen herüberschaute, aber sofort verschwand, als sie seinen Blick bemerkte.

»Wer wohnt denn da drüben?«, fragte Wurzer die Haushälterin.

»Der Herr Anwalt Strate. Ein Preiß«, brachte sie zwischen zwei Schluchzern hervor.

 

Wurzer kannte Strate dem Namen nach. Der Anwalt galt als einer, der sich noch um so etwas wie Gerechtigkeit scherte. Ein Gemäßigter, der sich keiner politischen Richtung andiente, hieß es. Wurzer beschloss, dem Anwalt einen Besuch abzustatten. Nachbarn wussten oft sehr viel voneinander, schließlich hatte man sich ja im Blick.

 

4

Benno fuhr die Schlossmauer entlang und genoss die frische Luft, die ersten Sonnenstrahlen und die Ruhe vor dem Tagwerk. Hinten auf dem Radl hatte er heute nicht den großen Werkzeugkasten. Er trug nicht einmal sein normales Arbeitsgewand, sondern hatte sich ein bisschen fescher gemacht. Das hatte er erst lernen müssen hier in der Stadt. Ein Schreiner musste nicht nur arbeiten können, sondern auch reden. Dass das manchmal wichtiger als das Handwerk selber war, hatte ihm der Onkel beigebracht, und der musste es wissen. Er war schon seit zwanzig Jahren in München.

Heute war so ein Termin, wo man nichts reparieren und nichts verleimen, sondern einen guten Eindruck machen und den Leuten etwas über Hölzer erzählen musste. Daheim in Gitting, da hätte das jeder für einen Schmarrn gehalten. Da hießen die Aufträge: Fenster ausbessern, verzogene Türen abschleifen, die Schubladen der alten Kommode wieder gängig machen. Ganz selten, dass eine neue Haustür in Auftrag gegeben wurde oder gar ein Schrank. Und eine Kassettendecke, wie die Frau Strate sie sich wünschte, das gab es auf dem Land fast überhaupt nicht. Aber bei den Leuten in der Stadt, da hatten manche anscheinend so viel Geld, dass sie es sich vom Schreiner an die Decke nageln ließen. Ihm sollte es recht sein. Er arbeitete sehr gern für die reichen Leut, auch wenn er dafür die Sonntagshosen anziehen und möglichst hochdeutsch reden musste.

So viel Wohlstand wie hier hatte er in Gitting nie gesehen. Selbst die reichen Bauern wohnten nicht so protzig wie die Leut in Neu-Pasing. Die Bauern hielten ihr Sach zusammen. Allerdings hatte er daheim auch nicht so viel Elend gesehen wie in München. Freilich gab’s bei ihnen auch arme Leut, aber nicht so viele. Und es war den Menschen auf dem Dorf nicht ganz so wurscht, wie es den andern ging. So ein Dorf war zu klein, um die armen Leut auszusortieren und in ein eigenes Viertel zu stecken.

 

Was war es doch für ein schöner Tag. Als Benno an einem Stück abgesenkter Schlossmauer vorbeifuhr, warf er einen kurzen Blick in den Park. Hier wollte er an einem der nächsten Sonntage mit seiner Frau spazieren gehen. Das hatten sie in dem knappen Jahr, seit sie in München waren, noch nicht geschafft. Die Tage waren voll mit Arbeit, auch für die Agnes, die sich schwerer tat als er, in der Stadt zurechtzukommen. Sie war fast den ganzen Tag in der Wohnung, hielt sie in Schuss und kehrte nach Feierabend die Werkstatt. So kam sie nur unter Leut, wenn sie versuchte, Kartoffeln oder Brot zu ergattern – und das war sicher kein Spaß. Gerade deswegen sollte er sie mehr rausholen aus ihrer Kuchl.

Heute früh hatte er noch den Gesellen eingewiesen, was der machen sollte, solange er unterwegs war. Der Korbinian war zwar eigentlich ein Fleißiger, aber wenn er allein in der Werkstatt hantierte, konnte es schon sein, dass er ein bisserl langsamer machte – vor allem, wenn er am Abend vorher was getrunken hatte. Der Onkel Fritz hatte versprochen, dass er nach dem Rechten schauen und dem Gesellen zur Hand gehen wollte. Er half ihnen noch immer, wo er konnte, obwohl er sich wegen seinem Herzen eigentlich schonen sollte.

 

Benno hatte nicht nur Zeichnungen für die neue Kassettendecke im Gepäck. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Strates noch mehr Aufträge zu vergeben hatten. Die gnädige Frau hatte durchblicken lassen, dass sie so einiges verändern wollte. Deshalb hatte er die Skizze einer Kommode angefertigt und einen Schrank mit schönen Verzierungen entworfen. Der Onkel hatte ihm dazu geraten und gesagt, er solle die Skizzen beiläufig mit auspacken, die reichen Leut würden es mögen, wenn man ihnen Vorschläge machte.

Das hatte auch bei Carus von Waldfels funktioniert. Der Onkel hatte den Auftrag des Heimatdichters noch angenommen, aber nicht mehr allein ausführen können. Von Waldfels war erst skeptisch gewesen, als der Onkel mit seinem Neffen vorbeikam. Er hätte ein paar Mal mehr »Jawohl, gnädiger Herr« sagen oder vortäuschen sollen, dass seine Mutter die Verse des Dichters las. Aber dann war der von Waldfels mit seiner Arbeit doch recht zufrieden gewesen, vor allem mit dem Preis, weil er billiger war als die Handwerker in Pasing. Der Dichter hatte ihn tatsächlich weiterempfohlen – an die Strates. Je länger er aber für den Dichter gearbeitet hatte, desto weniger hatte er ihn leiden können. Der war ein Weiberer, kein Rock war vor ihm sicher. Das hatte Benno gemerkt, als ihm die Agnes einmal an einem langen Arbeitstag eine Brotzeit nach Pasing gebracht hatte. Sie hatte dem Verserlmacher gefallen, und dass es die Frau von einem andern war, störte so einen nicht. Der Dichter hatte seine Agnes mit den Augen verschlungen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Und wie er darauf bestanden hatte, nur der »schönen Schreinersfrau«, wie er sie nannte, die Bezahlung zu überreichen, damit sie gleich damit einkaufen gehen konnte. Benno spürte eine Wut in sich aufsteigen, wenn er sich an diesen Vorwand und das Gegockel erinnerte, und verdrängte diese Gedanken schnell. Er musste nicht mehr hin zu diesem Deppen, der ihm so zuwider geworden war.

 

Benno geriet ins Träumen, was alles möglich wäre, wenn die Strates ihn auch weiterempfehlen würden und er für die nächsten Jahre der Schreiner der reichen Leut in Neu-Pasing werden könnte.

Eine Kirchturmuhr schlug. Er kannte sich noch nicht so gut aus in Pasing, aber wahrscheinlich war’s die von der protestantischen Himmelfahrtskirche. Viertel vor, er hatte also noch Zeit. Deshalb beschloss er, einen kleinen Umweg über den Bahnhof zu fahren und sich einen Stumpen zu kaufen. Den würde er rauchen, wenn er den Auftrag von den Strates bekäme. Zur Feier des Tages. Und dazu dann den Apfel essen, den die Agnes ihm eingepackt hatte.

Nur kurz sah er auf die Menschenansammlung in der Nähe des Bahnhofs. Ein Gendarm wollte die Leute weiterschicken, aber jeder versuchte, noch einen Blick auf den Strauch dort zu erhaschen. Unwillkürlich fuhr Benno langsamer und schnappte auf, dass ein Toter gefunden worden war. Wahrscheinlich ein armer Bursch, der sich da zum Sterben hingelegt hatte. Die Leut hatten doch immer eine heimliche Freude, wenn es wieder einen andern erwischt hatte. Er fuhr weiter. Die Lust auf den Stumpen war ihm vergangen.

 

Das Hausmädchen machte ihm auf. Nur ein kurzes Nicken, dann trat sie zur Seite.

»Warten Sie hier, die gnädige Frau ist noch nicht so weit.« Sie war nicht gesprächiger als gestern, als er bis abends kleinere Reparaturen ausgeführt hatte. Auf der Heimfahrt hatte er einen Platten gehabt und die letzten zwei Kilometer schieben müssen. Dann noch das Radl reparieren … Er war todmüde ins Bett gefallen und froh, dass er heute nicht so hart arbeiten musste.

Ob er wirklich mit der gnädigen Frau allein verhandeln würde? Eigentlich war so ein großer Auftrag doch Männersache. Hatte der Anwalt so wenig Zeit, dass es ihn nicht interessierte, wofür seine Frau das Geld ausgab? Also, die Agnes würde keine Entscheidung ohne ihn treffen, das käm ja überhaupt nicht infrage. Aber wer wusste schon, wie die reichen Leut das machten.

 

Er unterbrach seine Gedanken, als Herr Strate in die Diele trat. Mit einem unbeholfenen Lächeln machte Benno einen Diener, wie er das vom Onkel gelernt hatte. »Habe die Ehre, Herr Anwalt«, murmelte er und war sich nicht sicher, ob das nun die richtige Begrüßung war.

»Guten Tag«, antwortete Strate. »Sie kommen wegen der Decke im Kaminzimmer?«

Benno nickte und richtete sich wieder auf. Strate ließ sich gerade vom Hausmädchen in den Mantel helfen und den Hut reichen. »Ich wäre ja gerne dabei, wenn Sie meiner Gemahlin die Entwürfe zeigen, aber leider … Termine.«

Benno nickte wieder und sah hilflos zum Dienstmädchen, weil er nicht wusste, was er jetzt machen sollte. Das Klingeln an der Haustür rettete ihn aus seiner Verlegenheit. »Wer kann das denn sein?«, fragte Strate.

Das Dienstmädchen öffnete die Tür und sie hörten eine Stimme: »Kriminalpolizei. Ich hätte gern den Herrn Anwalt gesprochen.«

Strate wirkte überrascht, sagte aber nichts und sah abwartend in Richtung Haustür. Zwei Männer traten ein und Benno drückte sich in eine Ecke. Er merkte, dass er jetzt störte, dass ihn das überhaupt nichts anging.

Die beiden Kriminaler ignorierten ihn und konzentrierten sich ganz auf den Anwalt.

»Herr Strate? Ich bin Oberkommissär Wurzer und das ist mein Assistent, der Herr Löffler. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«

Benno sah, dass der Anwalt nachdachte, bevor er nickte und aus dem Mantel schlüpfte, den das Hausmädchen entgegennahm und wieder auf den Bügel hängte.

»Martha, gehen Sie bitte zu Herrn Lehmgruber und sagen Sie ihm, ich käme eine Stunde später.« Und zum Kommissär gewandt fügte er hinzu: »Mein Mandant hat leider kein Telefon, da hilft nur ein Botengang.«

Der Kommissär nickte und sah jetzt zu Benno, der sich sichtlich unwohl fühlte. Während das Hausmädchen sich eine Jacke anzog, um sich auf den Weg zu machen, überlegte Benno, ob er gleich mit ihr mitgehen sollte. An eine Kassettendecke würde heute wohl keiner mehr denken. Doch da wandte sich der Anwalt dem Dienstmädchen zu. »Bevor Sie gehen, bringen Sie den Herrn … den Herrn Schreiner zu meiner Frau.«

Das Hausmädchen sah Benno auffordernd an und er folgte ihr. Er war froh, dass er dieser seltsamen Situation entkommen war.

 

5

Oberkommissär Benedikt Wurzer musterte den Anwalt möglichst unauffällig. Er hatte einiges von ihm gehört, ihn aber nie persönlich kennengelernt. Mithilfe seines Schwiegervaters hatte er schnell die Position eines Anwalts der Besserverdienenden erworben. Genug Geld für ein schönes Haus in Neu-Pasing war ja offenbar vorhanden. Ja, so viel Platz hatten er und seine Frau in der Wohnung am Sendlinger Tor nicht, da war es früher mit den drei Kindern schon recht eng gewesen.

Auf Wurzer wirkte der Anwalt etwas arrogant mit seinem schmalen Oberlippenbärtchen, der sehr gepflegten Erscheinung und der gehobenen Sprache, die nichts Weiches an sich hatte. Von Kollegen hatte er aber gehört, dass der so kühl wirkende Strate manchmal Menschen vor Gericht vertrat, um deren Schicksal sich sonst niemand scherte. Er erinnerte sich an den Fall eines armen Messerschleifers, der wegen Diebstahls angeklagt worden war, nur weil er die Wohnung seiner Kundschaft kurz betreten hatte, um die Messer und Scheren in Empfang zu nehmen. Strate hatte den Burschen sicherlich nicht wegen des hohen Honorars vertreten und die Sache mit zäher Beharrlichkeit verfolgt, bis die Wahrheit ans Licht gekommen war. Die Frau, die den Messerschleifer beschuldigt hatte, war etwas zu großzügig mit dem Haushaltsgeld umgegangen. Und um dies vor ihrem Mann zu verbergen, hatte sie die Gelegenheit genutzt, den Messerschleifer anzuschwärzen. Dass der dafür ins Gefängnis gewandert wäre, schien sie nicht weiter zu berühren. In dieser Stadt und dieser Zeit nahm man offenbar gern die Dienste von Menschen an, die man genauso gut auf der Straße verrecken lassen konnte. Da waren die Huren nicht die Einzigen.

Wurzer merkte erst jetzt, dass Strate ihm eine Tasse entgegenhielt und freundlich lächelte. Er nahm den Kaffee, bemüht, nichts zu verschütten. Er sah, dass sein Assistent sich bereits selbst bedient hatte. Aber er ignorierte das unhöfliche Verhalten und wollte sich jetzt nicht ärgern, sondern auf seinen Fall konzentrieren. »Herr Strate, ich weiß nicht, ob Sie schon gehört haben, dass Ihr Nachbar tot aufgefunden worden ist.«

Die Überraschung des Anwalts war echt. Seine Augen öffneten sich weit angesichts der irritierenden Nachricht, er hielt kurz den Atem an, und seine Hand zitterte leicht.

»Carus von Waldfels?«, fragte Strate ungläubig nach. »Was ist passiert?«

»Er ist erstochen worden, in der Nähe des Pasinger Bahnhofs«, sagte Wurzer. »Offenbar schon gestern Abend.«

Strate stellte seine Kaffeetasse ab und starrte für einen Moment aus dem Fenster auf das Nachbarhaus, in dem von Waldfels gewohnt hatte.

Wurzer hingegen nutzte den Augenblick und genoss einen Schluck dieses echten, wunderbaren Kaffees. So was Feines gab es bei ihnen daheim nur selten. Da musste er es schon ausnutzen, wenn ihm bei den Ermittlungen so ein Glück widerfuhr. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Löffler sich schon die zweite Tasse eingoss. Er schickte ihm einen warnenden Blick, den Löffler geflissentlich ignorierte. Strate schien das nicht zu bemerken, er wandte sich wieder dem Kommissär zu. »Das ist ja entsetzlich. Haben Sie schon einen Verdacht?«

Wurzer schüttelte den Kopf. »Wir haben gerade erst mit dem Ermitteln angefangen.«

Strate sah ihn nachdenklich an und nickte: »Was kann ich für Sie tun, Herr Oberkommissär?«

»Wann haben Sie denn Ihren Nachbarn zuletzt gesehen?«

Strate überlegte. »Ich bin gestern gegen neunzehn Uhr von einem Termin nach Hause gekommen. Da habe ich bemerkt, wie er das Haus verlassen hat und in Richtung Langwieder Straße gegangen ist.«

»Haben Sie ihn noch gesprochen? Hat er Ihnen gesagt, wo er hinwollte?«

»Nein, ich glaube, er hat mich gar nicht bemerkt. Aber wir sind uns gegen Mittag kurz am Zaun begegnet und da hat er erzählt, er wolle abends mit Politikern speisen und dann zu einem Fest nach Schwabing. Er sprach von einem Künstlerkollegen, dessen Atelierfeste berühmt sein sollen. In den entsprechenden Kreisen versteht sich.«