Zur lesenden Elfe - Heidi Engel - E-Book

Zur lesenden Elfe E-Book

Heidi Engel

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Beschreibung

Der Tod der geliebten Katze Coco trifft Rose hart. Dank Mark überwindet sie das Tief. Doch der nächste Schicksalsschlag steht bevor. Roses Chefin kündigt ihr. Sie kann nicht verstehen, dass einer Katze nachgetrauert wird. Nach diesen beiden einschneidenden Ereignissen fasst Rose den Mut und verfolgt gemeinsam mit Mark ihren Traum eines eigenen Buchladens. Der Weg bis zur Eröffnung des Ladens ist steiniger als gedacht. Hat Rose genug Kraft, um durchzuhalten und ihren Traum Realität werden zu lassen?

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Für meine Eltern

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Danksagung

Kapitel 1

Mark sieht die bezaubernde Unbekannte, noch bevor der Zug anhält. Vor zwei Wochen fiel sie ihm das erste Mal auf. Eine Erscheinung wie eine Elfe. Zart, zierlich und graziös. Ein mystisches Wesen, das ihm den Kopf verdreht. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie einen Rückzugsort in einem alten, knorrigen, mit Moos überwuchernden Baum hätte. Abends, wenn sie liest, flackert das Kerzenlicht durch die kleinen Fenster und lädt einen ein, sich zu ihr zu gesellen. Sie sitzt auf ihrem Lesesessel, die Beine angezogen und mit einer Decke bedeckt. Daneben auf dem Tisch mit den Kerzen dampft eine Tasse Tee vor sich hin.

Mark grinst. Nie im Leben hätte er sich erträumt, dass ihn eine Frau derart fasziniert und aus der Bahn wirft. Sicher, er hatte tief gehende Beziehungen, aber nichts fühlte sich so an wie jetzt. Er kann seine Gefühle nicht in Worte fassen. Zu unbekannt ist seine Situation.

Er wartet mit anderen Reisenden auf dem Bahnsteig in Lyssach. Eine kleine Haltestelle mit nur zwei Gleisen. Je eines pro Fahrtrichtung. Der grün-graue Zug hält quietschend an und die Türen öffnen sich mit einem begleitenden Piepston. Nachdem vereinzelt Personen ausgestiegen sind, steigt er mit den wenigen Wartenden ein und versucht, einen Platz in ihrer Nähe zu erkämpfen. Vergeblich. Er stellt sich in den Stehbereich neben der Tür. Von hier aus hat er sie direkt im Blickwinkel.

Sie sitzt wie immer am Fenster des Zweiersitzes vor dem Abteilwechsel. Ihrem Stammplatz. Ein Buch in den Händen – abwesend in dieser Welt.

Ihre Sitznachbarn wechseln, ohne dass sie es zur Kenntnis nimmt. Iron Maiden könnte neben ihr spielen – und sie würde es nicht wahrnehmen.

Mark wird von ihr magisch angezogen wie die Bienen vom Nektar. Er beobachtet sie während seiner Zugreise zur Arbeit. Während dieser Zeit ist auch er abwesend in dieser Welt. Es scheint, als sei sie mit ihren Büchern verwachsen. Er beobachtet sie, wie sie am Leben der Protagonisten teilnimmt und wie sie mit ihnen fühlt. Verstohlen wischt sie sich eine Träne weg oder lächelt vor sich hin. Auch die Stirn krauszuziehen, gehört dazu. Doch das ist nicht das Einzige, das ihm an ihr gefällt.

Die unbekannte Schönheit – er nennt sie ›seine Elfe‹ – zeigt eine Haut, die dem Bone-China-Porzellan seiner Großmama ähnelt. Die vollen roten Lippen gleichen süßen Erdbeeren, die vernascht werden möchten. Ihre Stupsnase entzückend und erregend zugleich. Wie gern würde er die mit Küssen bedecken. Ihre goldbraunen Haare, die sich zu Locken kräuseln und sich an ihren Oberkörper schmiegen, würde er gern durch seine Finger gleiten lassen. Bisher trug sie die Pracht immer offen. Es wäre ein Vergehen, diese Locken in eine Hochsteckfrisur zu zwingen.

Nur der Anblick ihrer Augen blieb ihm bisher verwehrt. Welche Farbe mochten sie haben? Braun, Blau oder Grün? Und die Wimpern? Vermutlich lang und reizvoll geschwungen.

Der Zug stoppt. Welche Haltestelle mochte es sein? Eilig schweift sein Blick zur Anzeige und im letzten Moment verlässt Mark den Waggon. Er war erneut in seinen Tagträumen gefangen und hätte beinahe vergessen, auszusteigen. Seit die Frau seines Herzens im Zug sitzt, hat er sich dreimal innerhalb zwei Wochen verspätet. Sein Vorgesetzter war davon nicht begeistert. Doch er kann sein Herz nicht beeinflussen und mittlerweile ist ihm der Ärger seines Chefs einerlei.

Seine Elfe könnte er stundenlang beäugen. Sie löst in ihm einen inneren Frieden aus, den er noch nie zuvor erlebt hat. In einer aufreibenden Situation genügt es, wenn er an sie denkt. Sein Herzschlag normalisiert sich dann und das Stressgefühl lässt nach. Sie ist für ihn momentan der einzige Lichtblick in seinem eintönigen Leben.

Seit er die Stelle als Schadensexperte angetreten hat, schwand seine Leidenschaft für den Job nach nicht mal einem Jahr stetig. Zu Beginn fand Mark es interessant, als Drehscheibe zwischen den Versicherungsnehmern, den Brokern und Fachleuten zu fungieren: zusammen nach den Umständen entsprechenden Sofortmaßnahmen zu suchen und die notwendigen Reparaturarbeiten einzuleiten. Mittlerweile kann er das Leid der Betroffenen nicht mehr ertragen. Mit ansehen zu müssen, wie ihr geliebtes Daheim einen Schaden erleidet oder ganz weg ist. Auch behagt es ihm nicht, wenn er ihnen mitteilen muss, dass sie keine genügende Deckung für den Schaden abgeschlossen haben. Nur weil sie bei der Summe sparen wollten und nun auf dem Schuldenberg sitzen bleiben. Was dann mit ihnen geschieht, will Mark lieber nicht wissen.

Hinzu kommt, dass sein derzeitiger Vorgesetzter Alain nicht der einfachste ist. Ein junger Schnösel, der seine Haare immer gelt und ein schmutziges Lächeln im Gesicht mit sich trägt. Er ist der Sohnemann seines vorherigen Chefs. Der leider viel zu früh gehen musste. Der war ein anderes Naturell. Für ihn waren die Mitarbeiter nicht bloß eine Nummer. Er war für sie da und setzte sich für sie ein. Als Dank gab es ab und zu einen feinen Kuchen, und wenn er sehr zufrieden war, dann gab es einen kleinen Bonus bar auf die Hand. Alain hingegen: ein Egoist der ersten Klasse und nur auf den Profit aus. Ob der Profit für sein eigenes Bankkonto ist oder das der Firma, weiß niemand genau. Doch seine Protzerautos, Armbanduhren und Designeranzüge sprechen Bände. Zu allem Überfluss hat er von der Materie keine Ahnung.

Mark weiß, dass sich etwas verändern muss, bevor er zugrunde geht und sich seine Gesundheit verabschiedet. Doch bis heute hatte er keinen Ansporn – die notwendige Energie fehlte ihm einfach. Nun gibt ihm seine Elfe Kraft und neue Zuversicht. Sie ist das Licht am Ende seines schwarzen Tunnels und er wird von ihr magisch angezogen. Das morgendliche Aufstehen und Sich-auf-den-Weg-zur-Arbeit-Machen fällt ihm leichter. Die Zugfahrten sind das Glanzlicht des Tages. Zwei mal zwanzig Minuten purer Verträumtheit. Zu Hause und bei der Arbeit zählt er die Stunden, bis er sie wiedersieht. Dabei weiß er nicht einmal, ob sie verheiratet oder liiert ist.

Letztens hat er sich ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt. Sie saßen in ihrem Garten unter der Pergola. Reben schlängelten sich elegant ums Holz und trugen saftiges grünes Blattwerk mit prallen schwarzblauen Trauben. Die verströmten einen süßlichen Duft. Marks Blick glitt zum Naturteich, der einem Schwarm Goldfische und weißen Seerosen ein Zuhause bot. Libellen und Mücken zogen über dem Wasser ihre Runden. Die danebenstehende Weide spendete Schatten und eine angenehme Kühle. Zu gegebener Zeit ließe sich an einem Ast eine Kinderschaukel anbringen. Als Junge verbrachte er Stunden mit Schaukeln. Die Grenze des Grundstücks säumte ein weißer Holzzaun, der von gelben, roten, orangen und lila Rosenstöcken begleitet wurde. Ein eigens von ihnen angelegter Gemüsegarten würde über die gesamte Saison Frische und Farbe auf den Tisch bringen. Ihr Heim entsprach einem typischen Haus auf Sylt – warum er an Sylt dachte, konnte er sich nicht erklären. Er war nie dort und kannte es nur aus Erzählungen. Einerlei! Ein ausladendes Reetdach, eine weiße Fassade und große Fenster, die viel Sonnenlicht hereinlassen. Die Helligkeit durchflutete die Räume und das warme Licht wäre ein gern gesehener Gast, bei dem es sich auf der breiten Fensterbank gut lesen ließe.

Die hauseigene Bibliothek würde er nach den Wünschen seiner Elfe bauen. Er würde ihr einen Raum mit wandhohen Regalen einrichten. Ein bequemes Lesesofa mit Kissen und vielen Kerzen. Die Bücherauswahl würde er ihr überlassen. Auch wenn es um Kinderbücher ginge.

Mark wünscht sich nichts sehnlicher als eine Familie. Da er selbst in frühen Jahren seinen Vater verlor und dadurch das der Norm entsprechende Familienbild. Doch an Liebe fehlte es ihm nie! Er erfreut sich immer wieder an den wissbegierigen Kindern, die er im Zug sieht. Wie sie aus dem Fenster blicken und auf alles zeigen, was sie zu erkennen meinen. Die Unmengen an Fragen, die aus den kleinen Mündern sprudeln und sich schier überschlagen. Und dann die strahlenden Augen, wenn sie etwas Neues entdecken oder ein Geschenk erhalten … das ist unbezahlbar. Die Abenteuerlust der Kinder öffnet den Erwachsenen die Augen für das Kleine und lehrt sie, wieder Momente zu genießen. Die Erwachsenen sollten vermehrt mit Kinderaugen durch die Welt gehen. Vielleicht wäre dann der Umgang untereinander freundlicher und es würde weniger Neid herrschen.

Abends träumt er von einem anderen Leben als dem jetzigem. Von einem, bei dem Kinderlachen an der Tagesordnung ist und Familienzeit an oberster Stelle steht. Ihm ist es zweitrangig, ob sie ein eigenes Haus mit einem großen Garten besitzen werden oder eine Mietwohnung. Hauptsache, er ist mit seiner Elfe zusammen.

Doch wie könnte er den ersten Schritt machen?

Kapitel 2

Der Wecker hat wieder einmal viel zu früh geklingelt. Mark reibt sich den Schlaf aus den Augen und streckt sich. Seine Muskeln protestieren, hat er doch gestern Abend beim Joggen maßlos übertrieben. Er ist trotzdem froh, die fünf zusätzlichen Runden gelaufen zu sein. So konnte er sich vom miserablen Tag abreagieren und seinen Kumpels Ben und Jon beweisen, dass auch er als Schreibtischtäter sportlich aktiv ist. Die beiden, Ben als Gärtner und Jon als Förster, waren anderen körperlichen Belastungen ausgesetzt als er. Regelmäßig zogen sie ihn damit auf. Wobei alle drei groß gewachsen sind und eine sportliche Statur zeigen. Da steht Mark ihnen in nichts nach. Durch ihren Beruf haben Ben und Jon ein paar Muskeln mehr. Aber das stört Mark nicht.

Seit er denken kann, spornen sie einander zu Bestleistungen an. Was nicht immer förderlich war. Ben trug schon gebrochene Rippen davon, Jon eine ausgekugelte Schulter und Mark einen Schienbeinbruch. Ihr neuestes Hobby, das Alpinwandern, gehört nicht zur Kategorie der verletzungsfreien Freizeitbeschäftigungen. Doch das ist der Reiz daran. Alle drei suchen nach dem Nervenkitzel. So kam es, dass sie noch gestern nach dem Joggen eine neue Route besprochen haben. Ihr Ziel ist es, mindestens jedes zweite Wochenende eine Tour durchzuziehen. Über dem Kartenbrüten haben sie die Zeit völlig aus den Augen verloren. Wenn die drei Herren sich hinter die Planung setzen, ist alles andere um sie herum vergessen.

Am liebsten würde Mark liegen bleiben. Das warme Bett und das weiche Deckbett laden dazu ein. Seine malträtierten Muskeln würde es freuen. Er gähnt ausgiebig und streckt sich erneut. Da erscheint wie aus dem Nichts das Bild seiner schönen Elfe vor seinem geistigen Auge. Umgehend sind seine Lebensgeister geweckt und der Muskelkater vergessen. Mit einem breiten Lächeln und einer riesigen Vorfreude hüpft er aus dem Bett. Seinen Frischekick holt er unter dem kalten Wasser. Danach rubbelt er seine schwarzen Haare trocken und fährt sich übers Kinn. Die ersten Stoppeln sind spürbar und dank der schwarzen Färbung auch sichtbar. Doch für eine Rasur reicht es nicht mehr. Er sprüht sich mit seinem Lieblingsduft Boss von Hugo Boss ein und verlässt die Wohnung. Leichtfüßig und vor sich hin pfeifend schlendert er zum Bäcker um die Ecke, seinem Lieblingsbäcker Neuhaus. Ein Croissant und ein Coffee to go sind sein Frühstück für unterwegs.

Am Bahnsteig ist nur noch der Pappbecher übrig, der vom Abfalleimer verschluckt wird. Mark gesellt sich zu den wenigen anderen Wartenden. Jeder steckt seine Nase in die Gratiszeitung oder hat die Augen stur auf das Handydisplay gerichtet. Nur wenige tauschen sich untereinander aus. Was bedauerlich ist! Wo sind die Konversationen und das Lachen hin?

Keine fünf Minuten später fährt der Zug ein. Mark macht drei Schritte nach vorn, um eine freie Sicht zu haben. Er reckt den Kopf und blickt erwartungsvoll in den Waggon. Und ja, auch heute sitzt sie da, den Kopf vornübergebeugt. Ihr Buch aufgeschlagen und fest in den Händen haltend.

Da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Dass er nicht eher daran gedacht hat! Für heute ist es zu spät. Aber schon bald würde der lang ersehnte Tag eintreffen. Er sieht sich neben ihr sitzen und sie lächeln einander zu. Ihre Hände haben von selbst zueinandergefunden. Glücklich über seinen Einfall und den daraus folgenden Auswirkungen steigt er ein.

Einige Tage später hält Mark ein Buch in der Hand. Er trägt es gut sichtbar am Bahnsteig umher, als wolle er allen zeigen, dass er nicht nur die Gratiszeitung liest. Er, der noch vor ein paar Wochen Bücher aus sicherer Distanz betrachtete. Jede Minute, in der er für die Schule ein Buch lesen musste, war für ihn verlorene Zeit. Stunden, die er mit Fußball oder seinen Kumpels hätte verbringen können. Ihm kam es vor, als würden die Buchseiten sich vermehren und nicht weniger werden, wenn er las. Nicht nur einmal ließ er das Buch aus Frust durch sein Zimmer fliegen. Dementsprechend wurden die Ecken gebogen, als es an die Wand klatschte und dann zu Boden fiel. Dem Lehrer sagte er, dass sein kleiner Bruder schuld sei, und entkam so einer Strafe. Dabei hatte Mark keinen kleinen Bruder. Er war nie um eine Ausrede verlegen, die ihm zugutekam.

Seine größten Hürden waren die Buchpräsentationen. Missmutig reihte er ein paar Sätze aneinander, rezitierte die vor der Klasse so schnell wie möglich und hoffte, der Lehrer möge Bedauern oder Nachsicht mit ihm haben und eine genügende Note verteilen. Denkt er heute daran, läuft es ihm wie damals eiskalt den Rücken runter.

Und nun steht er mit einem Buch da, weil eines Tages eine unbekannte Schönheit in sein Leben trat. Ihretwegen steckt er freiwillig seine Nase in Bücher und findet sogar Gefallen daran. Er schüttelt amüsiert den Kopf. Was ein engelhaftes Wesen alles mit einem anstellen kann! Irgendwie belustigend.

Sein verträumter Blick klärt sich, als er auf das Cover sieht. Eine Schwarz-Weiß-Abbildung einer Altstadt und der Titel ist in Rot gehalten: ein Thriller von Dan Brown. Zu seinem Erstaunen hat ihn ›Diabolus‹ derart in den Bann gezogen, dass die Seiten nur so flogen. Noch am selben Abend hatte er die Hälfte davon gelesen. Seitdem kribbelt es ihm in den Fingern weiterzulesen. Er fragt sich immerzu, wie die Geschichte ihren Lauf nehmen wird. Wird die Bedrohung durch einen virtuellen Feind gestoppt werden können? Reicht die Zeit aus? Was geschieht, wenn es nicht gelingt? Marks Verstand hat sich verschiedene Szenarien ausgemalt. Aber welches mag der Erzählung am nächsten kommen? Am liebsten hätte er heute die Arbeit geschwänzt und das Buch zu Ende gelesen, was jedoch bedeutet hätte, seine Elfe nicht zu Gesicht zu bekommen. Und das brachte er nicht übers Herz. Dan Brown hin oder her.

Er fühlt mit der Unbekannten und allen anderen Lesern. Wie nervenaufreibend es ist, nicht zu wissen, wie die Geschichte weitergeht. Eigene Theorien aufzustellen über den Fortgang der Geschichte, um dann abends festzustellen, dass man auf der falschen Fährte war. Wie die meisten hier im Zug muss sich Mark mit seinem immer mehr zur Last fallenden Job als Schadensexperte auseinandersetzen, bevor er sich wieder dem Buch widmen kann. Schade, dass es keine Anstellung als Vorleser gibt. Er hätte sich umgehend beworben.

Er drängelt sich an den Wartenden vorbei – was im Normalfall nicht seinen Umgangsformen entspricht. Doch heute muss er unbedingt den Platz neben ihr ergattern. Er kann keinen weiteren Tag mit Nichtstun verplempern.

Mark hat sich an der richtigen Stelle positioniert und jubelt innerlich. Die Tür geht direkt vor ihm auf. Nachdem die beiden Personen ausgestiegen sind, tritt er ein. Hier ein ›Entschuldigung‹, dort ein ›Verzeihung‹ und schon sitzt er neben ihr. Er fühlt sich, als stünde er ganz oben auf dem Podest und hätte die Goldmedaille um den Hals baumelnd. Mark kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Dankbar, neben seiner Elfe sitzen zu können, nimmt er ihr Parfüm nicht sogleich wahr. Dafür trifft es ihn mit voller Wucht. Ein zarter Lavendelduft umhüllt sie wie eine Wolke. Am liebsten würde er seine Nase in ihr Haar stecken, seine Lungen mit ihrem Duft füllen. Ihre Halsbeuge liebkosen und ihr verliebte Worte ins Ohr flüstern.

Er räuspert sich, um seiner Gedanken Herr zu werden. Von der Elfe geht keine Reaktion aus. Wie auch? Ist sie doch in ihr Buch vertieft.

Enttäuscht schlägt er seinen Dan Brown auf. Die Buchstaben schwirren vor seinen Augen. Er ist zu abgelenkt, um sich zu konzentrieren. Ihre Wärme und der betörende Lavendelduft, den er bei jedem Atemzug wahrnimmt, werden ihm zu viel. Er muss sie ansprechen, bevor die Fahrt vorbei ist und ebenso seine Chance.

»Was lesen Sie gerade?«

Keine Reaktion. Mark tippt ihr auf die Schulter und wiederholt seine Frage. Ein Stromschlag breitet sich in seinem Körper aus. Eine kaum merkliche Berührung und Mark ist wie elektrisiert. Sein Finger kribbelt fortwährend, auch ohne Kontakt.

»Wie bitte?« Sie sieht ihm direkt in die Augen. Das aufgeschlagene Buch hat sie auf ihre Oberschenkel abgelegt.

Mark bringt einige Sekunden kein Wort heraus. Er verliert sich in ihrem Anblick. Nun ist auch das Geheimnis um ihre Augen gelüftet. »Sie ... sie sind haselnussbraun«, stottert er.

»Wie bitte?« Sein Gegenüber hebt die Augenbrauen.

»Oh! Entschuldigen Sie.«

»Was möchten Sie von mir?«

»Wissen, welches Buch Sie lesen.«

»Haben Sie keine lausigere Anmache?«

Das läuft ja gut. Mark könnte sich ohrfeigen.

»Jein.«

»Sprechen Sie nicht in Rätseln mit mir und kommen Sie zum Punkt!«

Seine Elfe ist über die Leseunterbrechung gar nicht erfreut. Ihre Augen verdunkeln sich. Die Ahnungslosigkeit weicht Ärgernis.

»Ich bewundere Sie. Wie Sie den Trubel ausblenden und sich auf Ihre Lektüre konzentrieren. Ich habe Sie die letzten Tage beobachtet.«

Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen und ihre Lippen presst sie aufeinander.

Er hebt abwehrend die Hände. »Nicht als Stalker, sondern als Verehrer. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich ein wenig in Sie verliebt.«

Mark verstummt. Hatte er diese Worte wirklich ausgesprochen? Augenscheinlich, denn die Elfe sitzt wie erstarrt da.

»Das klingt für Sie alles ziemlich abgefahren. Aber jedes Wort ist wahr. Dank Ihnen habe ich wieder zu den Büchern gefunden. Sie sind der Lichtblick in meinem monotonen Leben.«

Mark schüttelt den Kopf.

»Entschuldigen Sie, dass ich durcheinanderspreche. Ich bin ziemlich nervös. Mein letztes Rendezvous ist viel zu lange her. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

»Hier ist meine Haltestelle. Ich muss aussteigen.« Achtlos schließt sie das Buch und greift nach ihrer Tasche. Fahrig erhebt sie sich.

»Natürlich.« Mark erhebt sich ebenso. Seine Elfe verlässt verwirrt den Zug. »Entschuldigen Sie meinen Überfall.«

Mark sieht ihr aus dem Fenster nach. Sie blickt nicht zurück, sondern geht zielstrebig ihren Weg. Wie ein Sack Kartoffeln lässt sich Mark auf den Sitz fallen. Weg war seine Elfe und so auch seine Chance mit ihr zu sprechen. Ihm blieb nicht die Zeit, sich zu verabschieden oder sich wenigstens zu erklären. Hatte er sie geängstigt? Fühlte sie sich in die Enge getrieben? Würde sie wiederkommen oder ihn meiden?

Seine Haltestelle hatte Mark längst verpasst. Am Endbahnhof nimmt er den Zug zurück. Was sollte er auch sonst tun? In der Firma meldet er sich krank. In gewisser Weise ist er es auch. Krank aus Liebe und Dummheit.

Kapitel 3

Obwohl es ihm schwerfällt, nimmt Mark einige Wochen lang einen anderen Zug als seine Angebetete. Der Zwischenfall – so nennt er seinen Auftritt, ja, seine – hier ein wirklich passendes Wort – Entgleisung im Zug ist ihm peinlich. Wie konnte das Gespräch dermaßen aus dem Ruder laufen? Er ist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.

Einen weiteren Dämpfer erfuhr er von seinen Kumpels. Als er sich bereits zum zweiten Mal nicht mit ihnen zum Freitagbier im Pub traf, standen sie vor seiner Tür. Je ein Sixpack Burgdorfer Bier unter dem Arm. Ein Abwimmeln war unmöglich. Mark musste sich ihren Fragen stellen. Eingequetscht wie Sardinen saßen sie um den kleinen Esstisch in der Küche.

»Was ist mit dir los? Warum lässt du uns außen vor? Gibt es etwas Besseres als unsere Trainings? Im Übrigen siehst du scheiße aus«, meint Ben. »Hast du gestern einen über den Durst getrunken und uns nicht dabeihaben wollen?«

»Er hat sicher Liebeskummer wegen seiner Göttin, die er immer im Zug sieht«, fotzelt Jon und hält Mark ein Bier hin, das er aus dem Sixpack genommen und bereits geöffnet hat. »Trink, das hilft.«

»Du musst ihm einen Hochprozentigen hinstellen. Der löst seine eingefrorene Zunge. So teilnahmslos habe ich dich noch nie gesehen, Mark. Müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen?«, meint Ben.

»Haltet mal die Luft an!«, braust Mark auf. »Ihr wisst ja nicht, was vorgefallen ist.«

»Stimmt. Aber wir reimen uns die Lösungen zusammen.« Jon erhebt sich. »Ich geh für kleine Jungs. Vielleicht findest du deine Erklärung wieder, wenn ich zurückkomme.«

Mark und Ben wechseln kein Wort. Was selten vorkommt.

Nach wenigen Minuten kehrt Jon zurück. Während er sich setzt, meint er: »Seit du diese Tussi ins Auge gefasst hast, bist du nicht mehr du selbst. Ist sie von einem anderen Planeten?« Er legt den Diabolus auf den Tisch. »Sodass du wieder zu lesen begonnen hast?« Ihm fallen schier die Augen heraus.

»Seit wann denn das?«, will Ben wissen. »Du hasst das Lesen. Das war für dich in der Schule der blanke Horror.«

»Sie hat schon jetzt ihre Krallen nach dir ausgestreckt, obwohl sie dich nicht kennt. Das glaube ich nicht.« Jon schüttelt den Kopf und leert sein Bier.

»Du hattest seit der dritten Klasse eine Bücherphobie. Manchmal war es so schlimm, dass du zu zittern begonnen hast und dadurch befreit wurdest. Was haben wir dich beneidet!

Erinnerst du dich oder hat sie diesen Teil deiner Jugend weggebeamt?«

»Lasst mich doch!«, braust Mark auf.

»Mark, verstell dich nicht für eine, die du nicht kennst. Lesen, pha. Oder willst du nicht mehr mit uns in den Bergen wandern und klettern gehen?«

Mark schlägt mit der Faust auf den Tisch. Seine Kumpels schauen sich überrascht an. »Nun mal halblang! Eine Phobie kann man überwinden. Und so wie es scheint, habe ich das nach Jahren geschafft. Da könntet ihr ein wenig stolz auf mich sein! Zudem lassen sich Lesen und Alpinwandern sehr gut vereinbaren. Da sehe ich keine Probleme. Und was meine Elfe angeht ...« Mark schweigt schlagartig und seine Augen weiten sich.

»Elfe?« Kommt es wie aus einer Kanone geschossen.

»Du nennst sie ›Elfe‹?«, bohrt Ben nach.

Mark lässt den Kopf hängen. Mist aber auch, nun hat er sich verraten.

»Ja, ich nenne sie Elfe, weil sie wie eine aussieht.« Er sieht seine Kumpels einen nach dem anderen an.

»Sieh mal seinen verträumten Blick.« Ben stupst Jon in die Seite.

»Jesses, Maria und Josef ... dich hat es voll erwischt. Wer hätte das gedacht?«

Ben und Jon beginnen zu grölen. Mark kann nicht anders als miteinzustimmen. Ist er doch erleichtert, dass seine Freunde nun eingeweiht sind.

»Ja, ich habe mich in sie verliebt. In dieser Intensität ist mir das schon lange nicht mehr passiert. Das Buch dient dazu, dass sie mich überhaupt wahrnimmt und ich einen Grund habe, sie anzusprechen.« Ein tiefer Seufzer entfährt ihm. »Doch mein Gespräch vor ein paar Wochen mit ihr verlief alles andere als optimal.«

»Okay. Und seither bläst du Trübsal? Was ist mit dir los? Nimmst du Medikamente, dass du so feinfühlig bist? Brich mir ja nicht in Tränen aus. Meine Schwester hat sich gestern schon bei mir ausgeheult.«

»Danke für dein Mitgefühl, Ben. Möchtest du auch noch Jon?«

»Ach, komm, seit du deine Elfe anhimmelst, bist du wie ausgewechselt. Mit dir kann man kein Wort mehr sprechen. Du bist da und doch weit weg.« Jon boxt Mark in den Arm. »Wenn es die Richtige ist, wird es sich wieder einrenken. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Das sagt meine Mama ständig. Und sie hatte zu fünfundneunzig Prozent recht. Nur wenn du hier herumsitzt, wird das nichts. Du musst sie ansprechen und alles klarstellen. Ansonsten nimmt ein anderer deinen Platz ein, sollte sie wirklich einer Elfe gleichen.«

»Komm, Jon, lassen wir Mark weitergrübeln.« Ben legt seine Hand auf Marks Schulter.

»Wenn sie dir wichtig ist, bleib dran. Bis die Tage und vergiss unsere Tour nicht.«

»Bis dann, Mark, und halt die Ohren steif.«

Letzten Endes nimmt Mark all seinen Mut zusammen. Seine Kumpels haben recht. Nur hier zu sitzen, nützt nichts. Er muss um seine Elfe kämpfen, möchte er seine Zukunft mit ihr verbringen. Zumindest das fehlgeschlagene Gespräch will er ihr noch mal erklären, und zwar der Reihe nach und nicht wie in einem Labyrinth.

Mit dem Dan-Brown-Thriller ›Sakrileg‹ in der Hand – vier hat er in der Zwischenzeit verschlungen – steht er am Montagmorgen auf dem Bahnsteig. Viel zu früh, doch er hielt es in seiner Wohnung nicht mehr aus. Wie ein Käfig erschienen ihm seine vier Wände. Die Frische des Morgens lüftet seine Gedanken und verweht für eine Weile den Fragenkatalog. Nicht einmal beim Bäcker kehrt Mark ein. Sein Magen rebelliert allein, wenn er an Kaffee denkt. Er kann sich an keine Situation erinnern, in der er gleichermaßen aufgeregt war, um eine Frau zu treffen.

An Lesen ist in diesem Zustand nicht zu denken. Um die Zeit anderweitig totzuschlagen, geht er an der Haltestelle auf und ab. Es würde ihn nicht wundern, wenn heute Abend seine Spur zu sehen wäre. Allmählich füllt sich der Bahnsteig und sein Trotten hat ein Ende.

Doch er kann nicht nur dastehen wie seine Mitstreiter. Er wippt von den Zehenspitzen auf die Fußsohlen und danach wieder zurück. Diese Bewegung wiederholt er so lange, bis endlich der Zug in den Bahnhof einfährt. Pünktlich wie immer. Das Schweizer Uhrwerk lässt grüßen. Für Mark eine Ewigkeit. Noch länger dauert es, bis der Zug zum Stillstand kommt. Sein Herz rast und er ist der Ohnmacht nahe. Gefühle, die bei einem Mann nichts verloren haben, hört er seinen Großvater foppen. Er verscheucht die Stimme und fragt sich in Dauerschleife, ob sie im Zug sitzt oder nicht. Sitzt sie im Zug oder nicht?

Der Zug stoppt nach gefühlten Stunden. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals, als er zu ihrem Platz sieht. Er umklammert sein Buch so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten.

Eine Welle der Freude überkommt ihn, weil er seine Elfe sieht. Als wäre nichts geschehen, sitzt sie da und liest.

Mark steigt ein. Der freie Platz neben ihr fällt ihm umgehend auf. Doch er traut sich nicht, sich neben sie zu setzen. Er öffnet sein Buch und liest ein, zwei Sätze. Dann wirft er einen Blick in ihre Richtung. Sie sitzt immer noch da. Seine Augen richten sich wieder auf den Text. Als er aussteigt, weiß er nicht, was er gelesen hat. Seine Gedanken waren die ganze Zeit über bei ihr.

Das Spiel wiederholt sich Tag für Tag. Sein Mut, die Elfe erneut anzusprechen, sinkt mit jedem vergeudeten Tag. Zu groß ist die Angst, dass er das Gespräch abermals in den Sand setzt und somit seine letzte Hoffnung verflogen ist. Er gibt sich schon zufrieden, wenn er sie nur beobachten kann. Was aber nicht seinen Wunschvorstellungen entspricht.

Er ist fasziniert von ihren vollen Lippen, die sich zu einem Lächeln oder zu einem Schmollmund verziehen. Ihre Locken, die sich sanft über ihre Schultern legen. Ach, wenn er doch nur der Wind wäre, um durch ihre Haare gleiten zu können. Gern würde er eine Träne von ihr sein, die sich den Weg über ihre zarte Wange sucht.

Hätte er nur sein erstes – und wohl letztes – Gespräch mit ihr auf eine andere Weise geführt. Vielleicht würde er seither jeden Morgen neben ihr Platz nehmen. Dieses Hin und Her in seinem Kopf macht ihn verrückt. Doch er fühlt sich nicht imstande, sie anzusprechen, da er nicht weiß, wie sie auf sein Erscheinen reagiert.

In den vergangenen Tagen ist er immer wieder die Unterhaltung durchgegangen. Wo hätte er andere Wörter benutzen sollen und wo schweigen? Wie hätte er das Gespräch am besten begonnen? Ihr Parfum hatte ihn verzaubert und ihre haselnussbraunen Augen hatten ihn komplett umgehauen. Seine Gedanken waren seither nicht mehr klar, sondern drehten sich nur um ihren Duft, ihr Aussehen und was sie darunter anhatte. Seine ewige Grübelei macht das Geschehene nicht rückgängig. Im Gegenteil, es raubt ihm den letzten Nerv.

Es ist, wie es ist. Mark muss es akzeptieren und nach vorn schauen.

Die Tagestour in den Berner Alpen hielt Mark von seiner Grübelei ab. Ben und Jon taten ihr Bestes, um ihn abzulenken. Die Natur gab ihnen Rückendeckung. Sie zog alle Register: Die Sonne schien, blühende Wiesen säumten den Weg und die Fernsicht war top. Da konnte keiner der drei an etwas anderes denken als ans Genießen und im Hier zu sein.

Der Duft der feinen Berggräser erinnert an die Bonbons von Ricola. Erfrischend, wohltuend und die beste Medizin bei Halsschmerzen. Grasende Kühe und deren Muhen sowie das Glockengebimmel vertiefen das Berggefühl. Mark fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Eine Zeit, ohne Hektik und dem Bestreben, es allen recht zu machen.

Mark saugt gierig die Luft ein, so als wolle er damit den Kummer aus seinem Körper hauchen.

Nach den Strapazen des Aufstiegs folgt das Gefühl der Freiheit. Die Aussicht ist einzigartig und beflügelnd. Die Weite ist befreiend und lässt einen ganz klein erscheinen. Man fühlt sich wie ein Vogel, der sorgenfrei durch die Lüfte schwebt.

Die drei Männer beglückwünschen sich zum Aufstieg und machen sich nach einer kurzen Rast auf den Rückweg.

Kapitel 4

Ein weiterer Tag. Und doch komplett anders. Als er in den Zug steigt, sitzt sie nicht an ihrem Platz. Sein Herz hört für einen Moment auf, zu schlagen. Hat sie Ferien oder ist sie krank? Hat ihre Abwesenheit etwas mit ihm zu tun? Waren seine Blicke zu intensiv? Eine innere Leere breitet sich in ihm aus. Seine Mundwinkel wandern nach unten. Er lehnt sich gegen die Waggonwand – schlaff wie ein Sack Mehl. Was nun? Da tippt ihm jemand auf die Schulter.

»Ich habe dich beobachtet.«

Seine Elfe. Sie ist nicht krank und hat keine Ferien, sondern steht direkt vor ihm. Er kann sein Glück nicht fassen. Er möchte etwas sagen. Nein, er müsste etwas sagen.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Sie lächelt.

»Ich würde gern mit dir einen Kaffee trinken.« Sie hält inne. »Ich habe mir unser verkorktes Gespräch durch den Kopf gehen lassen.« Ein Schmunzeln umgibt ihren Mund. »Und musste feststellen, dass ich dich in eine falsche Schublade gesteckt hatte. Durch dein Durcheinanderbringen der Informationen war ich total überrumpelt. Leider habe ich in der Vergangenheit schlechte Bekanntschaften gemacht und bin deswegen vorsichtiger geworden. Als du eine Weile nicht im selben Zug warst, dachte ich, ich hätte mit meiner Vermutung recht. Doch dann warst du plötzlich wieder da und sahst so traurig aus. Nein, das trifft es nicht. Eher zerknirscht. Die letzten Tage habe ich dich beobachtet und weiß nun, dass ich dich falsch eingeschätzt habe.«

Mark nickt unbeholfen.

»Sonntagnachmittag um drei Uhr im ›Rosengarten‹ in Bern.«

Sie lächelt ihn noch einmal an, steigt dann ohne ein weiteres Wort aus.

Hatte er geträumt? Er kneift sich in die Hand. Nein, alles echt. Leider auch die Gewissheit, dass er erneut an seiner Haltestelle vorbeigefahren ist.

»Sonntag ist gut«, flüstert er.

Der Sonntag kommt schneller als gedacht. Er möchte nichts dem Zufall überlassen und ist daher schon früh auf den Beinen. Diesmal ist es ernst.

Nach der Rasur gönnt er sich eine lange und warme Dusche, sodass der Badezimmerspiegel beschlägt. Gut gelaunt malt er ein Smiley auf den Spiegel, das nach wenigen Minuten wieder weg ist. Mit dem Badetuch um die Hüfte geschwungen schlendert er ins Schlafzimmer und bleibt vor dem Kleiderschrank stehen. Er öffnet ihn und greift nach einer Bluejeans und einem roten Poloshirt.

Zurück im Bad stylt er seine kurzen schwarzen Haare mit Gel auf und besprüht sich mit Boss.

Zufrieden verlässt er das Bad, als auch schon die nächsten Fragen auf ihn einhämmern. Was soll er seiner Elfe mitbringen? Blumen? Etwas Süßes? Ein Buch? Er fährt sich durch die Haare. Wie kann ein erstes Rendezvous so viele Fragen aufwerfen? Den Buchgeschmack seiner Elfe kennt er nicht und mit einem falschen Buch könnte er sich ins Abseits befördern. Im ›Rosengarten‹ Blumen zu schenken, sieht seltsam aus. Daher entscheidet Mark sich für Pralinen. Mit Schokolade liegt Mann mehrheitlich richtig.

Im Bahnhof Bern wird er beim bekannten Chocolatier Suisse Läderach fündig. Es bleibt nicht nur beim Geschenk für seine Elfe. Wie selbstverständlich wandern zwei seiner geliebten Caramel-Truffle in den Mund. Seine Nervennahrung. Da er viel zu früh in Bern ist, nimmt er den Weg zu Fuß in Angriff. Das bietet ihm die Gelegenheit, seine Gesprächsthemen erneut durchzugehen und sich vom Charme der Altstadt inspizieren zu lassen.

Er will die zweite Chance packen, die ihm auf dem Silbertablett serviert wird.

Die Strecke vom Bahnhof in den ›Rosengarten‹ hat er im Eilschritt hinter sich gebracht, dass er immer noch eine Stunde vor der vereinbarten Zeit den Park betritt. Das Farbenpotpourri der über zweihundert Rosenarten lassen seine Nervosität für einen Moment verschwinden. Die Artenvielfalt lässt ihn immer wieder einen Augenblick innehalten und staunen. Welche Schönheiten die Natur ohne die Hilfe des Menschen zutage bringt. Die Luft ist von den Düften der traumhaften Rosen geschwängert. Ein Parfüm, das von unbeschwerten Zeiten spricht und zum Verweilen einlädt.

Für Mark ist der Park eine Oase der Ruhe und der Erholung. In jungen Jahren war er viel hier, dann flauten die Besuche ab, da er andere Interessen verfolgte. In Zukunft möchte er wieder vermehrt hierherkommen, um zu lesen oder sich mit anderen Lesenden auszutauschen. Am liebsten natürlich mit seiner Elfe.

Mark schlendert den Kiesweg zum Restaurant entlang. Die Gelassenheit, die ihn beim Betreten der Anlage ergriffen hat, breitet sich im Innern in eine wohlige Wärme aus.

In diesem Moment ist er bereit, um seine Herzensdame zu kämpfen. Seine Worte gehen ihm immer wieder durch den Kopf. Sie stimmen zu hundert, ja, zu tausend Prozent. Mark hat sich in seine Elfe verliebt. Sein Herz hat sich eigenständig gemacht, ohne den Verstand um Erlaubnis zu fragen. Allein an sie zu denken, lässt sein Herz höher schlagen und seine Sinne vernebeln. Ein so intensives Gefühl von Liebe hatte er noch nie.

Das Restaurant erblickt Mark von Weitem. Auf der Terrasse, unter ausladenden Lindenbäumen, stehen Holztische und Stühle auf Kies. Ein laues Lüftchen fährt durch das Geäst und lässt die Blätter rascheln. Die warmen Temperaturen werden dadurch erträglicher.

Seine Augen suchen die gut besuchte Terrasse ab. Als Erstes registriert er den Kellner, der sich mit einem vollen Tablett um die Tische schlängelt. Mit seinem weißen Hemd sticht er aus der Masse heraus. Marks Augen suchen weiter und finden seine Elfe an einem Zweiertisch. Ihr Anblick lässt erahnen, dass sie sich wohlfühlt. So wie sie dasitzt, zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen. Wie immer in ein Buch vertieft. Vor sich auf dem Tisch stehen eine Latte macchiato und ein Stück Apfelkuchen mit Sahne. Von diesem schiebt sie sich gerade eine Gabel voll in den Mund, ohne dabei vom Buch aufzusehen. Eine umwerfende Persönlichkeit, seine Elfe.

Marks Herz macht einen Sprung. So hat er sich seine Elfe in ihrer Freizeit vorgestellt. Eine seiner zahllosen herbeifantasierten Begebenheiten, die er für ihre gemeinsame Zukunft sieht. Damit sie in der kalten Jahreszeit nicht friert, würde er ihr eine flauschige Decke vor dem Kamin ausbreiten, in dem ein knisterndes Feuer lodert. Verständlicherweise dürften ein Buch und eine heiße Tasse Schokolade nicht fehlen.

Dank seiner älteren Schwester Chantal kennt er sich in der Romantik bestens aus. In ihrer Kindheit hat sie jeden Freitagabend ohne Ausnahme das Fernsehprogramm bestimmt. Was zu seinem Missfallen einzig und allein aus Liebesfilmen bestand.

Er lächelt über seine chaotischen Gedanken und geht die wenigen Schritte bis zu ihrem Tisch.

Kapitel 5

Mark bleibt vor dem Tisch ihr gegenüber stehen. Wie vermutet bekommt seine Elfe von der Annäherung nichts mit, da sie mit einem ihren Protagonisten zu leiden scheint.

»Hallo.«

Erschrocken sieht sie auf. »Oh. Hallo.« Sie steckt das Lesezeichen ins Buch und legt es geschlossen auf den Tisch. »Schon drei Uhr?«

»Noch nicht. Ich bin zu früh.«

»Da bin ich froh.« Rose steht auf. »Ich habe befürchtet, dass ich mein Handy überhört hätte.« Sie greift danach. »Denn wenn ich lese, vergesse ich immer die Zeit. Daher stelle ich mir den Wecker. Verrückt, nicht?«

Ihr perlendes Lachen lässt sein Herz schneller schlagen und nimmt ihm seine Beklommenheit.

»Nein, überhaupt nicht.« Er räuspert sich. »Ich weiß, dass unser erstes Treffen nicht ideal war. Vielleicht können wir einfach noch einmal von vorn anfangen?« Er streckt seine Hand aus. »Ich bin Mark.«

Sie greift danach. »Rose.«

»Ein bezaubernder Name für meine Elfe.«

Ihre Augenbrauen stellen eine Frage.

»Entschuldige. Ich sollte zuerst überlegen, bevor ich spreche. Nicht dass ich erneut denselben Fehler begehe. Ich möchte ungern einen ähnlichen Ausgang wie im Zug haben. Das hat mich lange beschäftigt.« Er grinst sie verlegen an. »In meinen Augen siehst du wie eine Elfe aus. Daher der Spitzname.«

»Das ist ein wunderschönes Kompliment. Danke.« Ihre Wangen glühen und sie senkt verlegen den Blick.

»Ich habe dir eine kleine Nascherei mitgebracht.« Mark hält ihr sein Geschenk hin. »Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, welche Geschmacksrichtung dir am ehesten zusagt. Daher habe ich eine größere Auswahl getroffen.«

»Wie aufmerksam von dir. Danke vielmals.« Rose nimmt die Tüte entgegen. Gemeinsam setzen sie sich an den Tisch. Sie studiert den Inhalt und gelangt zur Etikette. »Oh wow, von Läderach. Das sind die besten Pralinen, die ich weit und breit kenne.« Ihre Augen strahlen mit der Sonne um die Wette. »Jedes Mal, wenn ich an einem Geschäft vorbeikomme, muss ich mir ein oder zwei Pralinen gönnen. Ich hoffe, du denkst nun nicht, dass ich verfressen bin.« Ein Lächeln zeichnet ihr Gesicht.

»Mir ergeht es ähnlich, da es auch meine Lieblingsschokolade ist. Erfreulich, dass wir eine süße Gemeinsamkeit haben.« Mark hält inne, als er seine Wortwahl realisiert. Schlagartig wechselt er das Thema: »Welches Buch hast du heute dabei?«

»›Die Hofgärtnerin‹ von Rena Rosenthal. Es sind drei Bände. Ich bin beim ersten. Die Geschichte spielt im Jahr 1891. Die Protagonistin heißt Marleene. Sie träumt davon, die schönsten Blumen der Welt zu züchten. Leider war dazumal eine Gärtnerlehre ausschließlich Männern vorbehalten. Aber sie gibt nicht auf. Sie verkleidet sich als Junge und schneidet ihre wunderschönen Haare ab. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten. Sie erhält eine Anstellung in der angesehenen Hofgärtnerei. Der Einstieg ist nicht einfach. Aber mit ihrem starken Willen übersteht sie alles. Gerade eben lernt sie die beiden Söhne der Hofgärtnerei kennen und ihre Gefühle spielen verrückt. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.« Rose gönnt sich einen Schluck von ihrem Kaffee. »Entschuldige, aber ich kann nicht nur in einem Satz über Bücher sprechen. Jedenfalls nicht, wenn sie mich faszinieren.«

»Da bin ich deiner Meinung. Aber erst, seit ich wieder zu lesen begonnen habe. Davor fand ich es, ehrlich gesagt, müßig, wenn sich jemand stundenlang über ein Buch auslassen konnte. Weißt du, dass ich deinetwegen wieder zum Lesen gefunden habe?«

»Meinetwegen?«

»Ja. Das Buch, das ich an unserem ersten Gespräch dabeihatte, habe ich extra gekauft, um mit dir über Bücher sprechen zu können. Ich begann zu lesen und konnte es nicht mehr aus der Hand legen. Der Thriller hat mich derart mitgerissen, dass ich mir mittlerweile alle Bücher des Autors gekauft habe.«

»Unglaublich! Fantastisch, wenn ich dich wieder zum Lesen bewegen konnte. Für mich ist es das schönste Hobby auf der Welt. Wer ist der Autor?«

»Dan Brown.«

»Habe ich alle gelesen. Mir erging es wie dir. Ihn würde ich gern einmal treffen. Besser gesagt, alle Autoren, von denen ich ein Buch oder mehrere gelesen habe.«

»Du liest Thriller?«

»Warum nicht?« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich lese alles außer Science-Fiction. Jedoch muss ich gestehen, wenn der Thriller zu realitätsnah ist, fürchte ich mich im Dunkeln. Kindisch, oder?«

»Nein.«

»Was darf ich Ihnen bringen?« Der Kellner blickt zu Mark. Beide haben ihn nicht kommen hören und sehen ihn überrascht an.

»Einen Cappuccino.«

An Rose gewandt: »Haben Sie noch einen Wunsch?«

»Gern noch eine Latte macchiato und ein Glas Wasser.«

»Kommt sofort.«

»Deine Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.« Sie lehnt sich nach vorn und stützt ihre Ellbogen auf dem Tisch ab. »Warum hast du mich tagelang beobachtet, ohne mich anzusprechen?«

»Ich war zu schüchtern. Und als ich es versucht habe, weißt du, in welchem Desaster es geendet hat.« Auch Mark lehnt sich nach vorn. »Ich habe dich beobachtet, weil du mir imponiert hast. Wie du mit deinem Buch dasitzt, als wärst du mit ihm verschmolzen. Die Außenwelt blendest du komplett aus, damit du bei den Figuren sein kannst, als wären sie Teil deines Lebens. Und wie eingangs erwähnt, siehst du wie eine bezaubernde Elfe aus.«

Rose ist von seinen Ausführungen und den grünen Augen zu abgelenkt, um vom Gemurmel der umstehenden Gäste eine Notiz zu nehmen. Obwohl die Terrasse gut besetzt ist und die Geräuschkulisse hoch. Selbst das fröhliche Zwitschern der umherfliegenden Vögel nimmt sie nur schwach wahr. Der Kellner schlängelt sich gekonnt mit einem Lächeln auf dem Gesicht durch die Tische, bis er bei ihnen angelangt ist.

»Ihre Bestellung.«

»Danke.«

Der Kellner stellt die Tassen und das Glas ab und entschwindet zum nächsten Kunden.

»Die ersten Tage habe ich deine Gabe bewundert«, fährt Mark fort und zieht die Tasse näher zu sich. »Je mehr Zeit verstrich, desto tiefer hast du dich in meinem Herzen festgesetzt. Obwohl ich nie ein Wort mit dir gesprochen hatte, wusste ich, mit dieser Frau will ich mein Leben verbringen. Eine Person, die Bücher verschlingt und sich als ein Teil der Geschichte sieht, kann nur ein gutes Herz haben.«

»Ich bin sprachlos. Derart wunderschöne Komplimente habe ich noch nie erhalten.«

»Ich empfinde so. Ob es dir genauso ergeht, weiß ich nicht.« Er lässt das Gesagte auf sie wirken. Bevor er weiterspricht, räuspert er sich. »Wenn du nicht liest, was machst du?« Mark gibt den beiliegenden Zucker in seinen Kaffee und rührt um.

»Das Lesen gehört zu meinem Beruf.« Sie nimmt einen Teelöffel Schaum.

»Ah ja?« Er hält in der Bewegung inne und löst seinen Blick von der drehenden Flüssigkeit, um sie anzusehen.

»Ich erhalte immer als eine der Ersten die neuesten Ausgaben.« Roses Augen leuchten.

»Da beneide ich dich. Aber wie kommt das?« Er legt den Löffel auf die Untertasse und gönnt sich einen Schluck.

»Ich arbeite in einer Buchhandlung.«

»Großartig!«

»Ja und nein. Ich liebe die Gespräche mit den Kunden. Von manchen erfahre ich einiges über ihr bewegtes Leben oder die Person, die sie mit einem Buch beschenken möchten. Andere hingegen sind in Eile und schnauzen mich an, wenn ich den gewünschten Titel nicht umgehend finde oder der nicht vor Ort verfügbar ist und zuerst bestellt werden muss. Doch das ist es nicht, was mir meinen Job streitig macht. Seit Kurzem habe ich eine neue Chefin. Die krempelt alles um.«