Zurückwandern - Tallulah Älvskog - E-Book

Zurückwandern E-Book

Tallulah Älvskog

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Beschreibung

Folge Karla auf ihrer Rückreise von Mittelschweden nach Süddeutschland! Vieles ist altbekannt, umso mehr ist jedoch gänzlich neu: die U-Bahnen sind überfüllt und Wein wird als Viertele bestellt. Und seit wann schwäbelt ihre Freundin Hannah so? Karla freut sich anfangs auf den Neustart in der ihr unbekannten Stadt Stuttgart, jedoch bekommt sie schon bald Sehnsucht nach Schweden. Sie denkt viel an ihre ehemalige Wahlheimat, an ihre Freund*innen und Kolleg*innen, an Erlebnisse und Traditionen. Du hast Lust auf ein bisschen Schweden, ohne erneut bei IKEA einkaufen zu müssen? Dann ist dieses Buch sicher etwas für dich! Träume dich mit Karla in den Norden und lerne die Menschen mit einem Augenzwinkern auf eine andere Art und Weise kennen. Wenn du selber in Schweden lebst, gelebt hast oder deine Urlaube gern dort verbringst, wirst du dich in vielen von Karlas Erlebnissen wiederfinden, manchmal berührt, häufiger jedoch mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Es geht um Ankommen und Loslassen, um Heimat und auf dem Weg sein. Du bist in eine neue Stadt gezogen und fühlst dich fremd? Auch dann werden dir viele von Karlas Gedanken vertraut vorkommen. Fremd fühlen kann man sich auch in seiner Heimatstadt, im Endeffekt sind wir doch alle auf einer Reise.

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EPUB
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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Autorin, Jahrgang 1986, wuchs im Schwalm-Eder-Kreis auf. Nach dem Studium der Humanmedizin in Marburg an der Lahn führte sie die Facharztausbildung nach Karlstad, Schweden, wo sie über sieben Jahre lebte und arbeitete. Während dieser Zeit lernte sie allerhand schwedische Traditionen und liebevolle Eigenarten kennen und erfuhr, was es bedeutet, plötzlich Ausländerin zu sein. Noch mehr hingegen lernte sie über Deutschland, nun, als Halbaußenstehende. Derzeit ist sie als Frauenärztin in beiden Ländern tätig und verfügt über eine doppelte Staatsbürgerschaft. Die flexiblen Arbeitseinsätze bieten die Möglichkeit einer weitestgehend unabhängigen Freizeitgestaltung, welche sie sowohl für interessante Reisen als auch zum Schreiben nutzt. Zurückwandern ist ihr erster Roman.

Tallulah Älvskog

Zurückwandern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Buch ist ein fiktiver Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© 2023 Tallulah Älvskog

Lektorat: Romy Schneider

ISBN Softcover: 978-3-347-95707-7

ISBN Hardcover: 978-3-347-95708-4

ISBN E-Book: 978-3-347-95709-1

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Für alle Reisenden

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Frühling

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Sommer

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Herbst

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Winter

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Kapitel 47.

Kapitel 48.

Kapitel 49.

Kapitel 50.

Epilog

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Kapitel 1.

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Frühling

1.

Ich stehe an der U-Bahn-Haltestelle am Bahnhof in Stuttgart-Feuerbach. Mein Gepäck stapelt sich neben mir: mein großer Koffer, mein kleiner Koffer für das Handgepäck, quer darüberliegend meine Jacke mit einem Halstuch, das ich notdürftig in einen der Jackenärmel gestopft habe, und schließlich darauf balancierend meine zu große Handtasche, die ich nur für Reisen nehme und von deren Riemen mir die linke Schulter wehtut. Kalter Schweiß läuft mir den Nacken runter und mir ist warm und kalt zugleich, so, wie es sich eben nur dann anfühlt, wenn man nach langer und hektischer Reise in beengten Räumen endlich Gelegenheit hat, die Jacke auszuziehen.

Ich knete mir die Schulter, starre sehnsüchtig zu dem kleinen Bäckereigeschäft am Bahnhof gegenüber und stelle mir vor, einen Kaffee in einem Pappbecher zu kaufen und dazu vielleicht eine Kirschtasche oder auch ein französisches Schokoladenbrötchen. Ich habe keinen großen Hunger und von den bereits konsumierten Mengen an schlechtem Kaffee tut mir der Magen weh.

Aber ich würde mich sehr darüber freuen, mal wieder eine richtige Bäckerei zu betreten. Bäckereien gibt es in Schweden kaum. Ich habe jedoch keine Lust, meine Koffer erneut Richtung Bahnhof zu zerren, um sie danach in den kleinen Räumlichkeiten der Bäckerei zwischen Tablettrückgabe und Sitzecke zu quetschen und jedes Mal, wenn eine Person den Laden betritt und sich gezwungen sieht, um meinen Gepäckstapel herumzutänzeln, entschuldigend, jedoch schulterzuckend zu lächeln. Außerdem würde sich der Rückweg zur U-Bahn mit Kaffee in der Hand deutlich schwieriger gestalten als der Hinweg und mein Gebäckstück würde vermutlich in der übervollen Handtasche bis zur Unkenntlichkeit zerdrückt werden. Danach würde ich mir entweder die Zunge am heißen Kaffee verbrennen oder mir aber beim Versuch, den Plastikdeckel zu entfernen, Kaffee über den Schoß schütten. Ich lächele bei dem Gedanken. Nein, es ist wohl wirklich besser, ich bleibe einfach hier stehen, nehme direkt die nächste U-Bahn und trinke danach einen Kaffee in der Wohnung meiner Freundin Hannah. Oder vielleicht zur Abwechslung mal einen Tee.

Ich bleibe also stehen, schließe die Augen und atme tief durch. Es riecht nach Heimat, obwohl ich in Stuttgart nie zu Hause war. Die Luft scheint in Deutschland wenigstens in den warmen Monaten deutlich süßer zu sein als in Schweden. Und wenn man mich fragen würde, was mir in Schweden am meisten gefehlt hat, dann ist es wohl dieser mir so eindeutig typische Geruch. In meiner Vorstellung mischt sich dieser Duft einer Wildblumenwiese mit dem Aroma reifer Trauben, auch hier, inmitten der Stadt, wo ein jeder Geruch von Autoabgasen und Feinstaub überlagert zu werden scheint.

Deutschland hat aus offensichtlichen klimabedingten Gründen eine andere Flora als Schweden: die sommergrünen Laub- und Mischwälder Mitteleuropas werden von Südschweden an nach Norden hin von gemäßigten Berg- und borealen Nadelwäldern abgelöst. Dieses immergrüne Kleid des Nordens besteht vor allem aus kälteresistenten Fichten, Lärchen, Kiefern und Tannen – jenen Bäumen, die keine langen Sommer für ein etwaiges Blätterwachstum brauchen. In meiner ehemaligen Wahlheimat Mittelschweden waren Laubbäume daher eher selten, mit Ausnahme von Birken, einzelnen Pappeln und natürlich diversen Obstbäumen in den Privatgärten. Mir ist gut erinnerlich, wie ich mich auf Fahrten nach Südschweden über ein Wiedersehen mit Eichen, Buchen und Eschen freute.

Ich bilde mir ein, dass sich dieses wohlige Gefühl von Heimat, das mich unweigerlich beim Betreten von deutschem Boden überkommt, auf eben diesen süßlichen Geruch zurückführen lässt, und versuche, ihn objektiv anhand der Flora zu erklären. Jedoch muss ich mir ehrlicherweise eingestehen, dass mein Blick sicherlich romantisch verklärt und mein Empfinden mit einer beträchtlichen Prise Nostalgie gewürzt ist. Die sommerliche Luft mag nach Eschen und Buchen riechen, vielleicht sogar nach Widlblumenwiesen und reifen Trauben. Vor allem jedoch weckt sie unbewusst Erinnerungen: Daran, wie ich bei meinen Großeltern in der Abenddämmerung auf dem Balkon saß, Fledermäuse beobachtete und zu viel Eis aß, mit Freunden nachts zum Baden ins Freibad schlich, von einer Burgruine aus in den Nachthimmel schaute und meinen ersten vorsichtigen Kuss bekam.

Ich blicke hinunter auf die Schienen in der Hoffnung, vielleicht eine Maus zu sehen, die sich im Gleisbett auf Nahrungssuche begeben hat, aber nichts rührt sich. Nur wenige Sekunden später höre ich, wie sich die U-Bahn nähert, und noch bevor sie quietschend zum Halten kommt, packe ich meine Koffer und werfe mir erneut die Tasche auf die schmerzende Schulter. Nur noch ein kurzes Stück mit der Bahn und etwa zweihundert Meter zu Fuß, dann bin ich für heute angekommen. Ich trete ein Stück zur Seite und lasse Fahrgäste aussteigen. Um mich herum bildet sich eine beträchtliche Menschentraube, und noch während die Fahrgäste die Bahn verlassen, drängen die ersten an mir vorbei in das Abteil. In mir macht sich Unmut breit, das Verhalten dieser Menschen scheint mir rücksichtslos und egozentrisch; in Schweden hingegen empfand ich das artige Schlangestehen und die ausgeprägte gegenseitige Rücksichtsnahme in manchen Situationen als fast schon zu weichlich. Mein Ärger ob eines solchen Details überrascht mich; ich bin in den gut sieben Jahren in Schweden wohl schwedischer geworden, als ich dachte.

„Ja?“, erklingt Hannahs verzerrte Stimme durch die Gegensprechanlage.

„Ich bin es, Karla“, antworte ich kurz.

Nach einer langen Sekunde ertönt das Summen der Tür, ich ziehe sie auf und versuche, sie mit dem Fuß aufzuhalten, während ich angestrengt beide Koffer an mir vorbei in das Treppenhaus schiebe.

„Schön, dass du da bist!“, höre ich Hannah rufen, noch bevor sie am oberen Ende der Treppe erscheint.

Ich lasse meine Tasche fallen, springe ihr zwei Stufen gleichzeitig nehmend entgegen und schließe sie fest in die Arme.

„Schön, dass ich hier sein darf“, murmele ich glücklich. Ausgiebig genieße ich den Augenblick, Hannahs weiches Haar an meiner Wange, den Geruch ihres dezenten Parfüms, ihre Hände auf meinem Rücken. „Es ist so schön, dich endlich wiederzusehen.“

„Das finde ich auch!“, antwortet sie und strahlt mich an.

Für einen Augenblick betrachten wir uns freudig und zugleich neugierig, suchen unbewusst nach Dingen, die sich verändert haben mögen und nehmen doch nur wahr, was gleich geblieben ist: die Windpockennarbe über der Augenbraue, das Muttermal knapp unterhalb des Schlüsselbeins, diese eine widerspenstige Haarsträhne, die einem ständig in die Stirn fällt.

„Komm!“, sagt Hannah schließlich und geht die Stufen hinunter zu meinem Gepäck.

Sie nimmt einen meiner Koffer und gemeinsam schleppen wir mein Gepäck in ihre Wohnung, die für die nächste Zeit auch mein Zuhause sein soll.

2.

Wir sitzen am Küchentisch, ein jeder mit einer dampfenden Tasse Tee in der Hand. Ich habe die Ellbogen auf dem Tisch aufgestützt, halte die Tasse in beiden Händen und atme tief den Dampf ein; deutlich lieber als den Geschmack von Tee mag ich seinen Geruch. Hannah sitzt mir gegenüber, weit zurückgelehnt und das rechte Knie an die Tischkante gelegt. Sie hält ihre Tasse in der linken Hand, während sie mit der rechten wild gestikuliert. Es erscheint mir surreal, wirklich hier zu sein und mit Hannah an einem Tisch zu sitzen. Wir haben während meiner Zeit in Schweden ab und zu telefoniert, manchmal auch mit Video. Viele Dinge hinter ihr – die Blumen auf der Fensterbank, den Kalender an der Wand – erkenne ich daher wieder, aber nun bin ich wirklich hier, in dieser bekannten und dennoch fremden Küche, könnte an den Blumen riechen und den Kalender berühren. Vor allem jedoch erfahre ich, wie der Rest des Raumes aussieht, kann mir Hannahs Leben hier vorstellen und werde dadurch unbemerkt wieder ein Teil davon. Hannahs Küche ist bunt und mehr oder weniger gewollt in einem Shabby Chic gehalten: Weder unsere beiden Stühle noch unsere beiden Tassen passen zueinander und auf dem türkisfarbenen Holztisch kann ich einzelne Brandflecken erkennen, die wohl vor langer Zeit einmal ein unachtsamer Zigarettenraucher hinterlassen haben muss. Die Möbel stammen sicherlich noch aus Hannahs WG-Zeiten in Tübingen und erzählen mit ihren Kratzern, Kerben und Flecken unzählige Geschichten aus Hannahs Leben, an denen ich nicht persönlich teilhaben konnte. Ich will ihnen gerne zuhören.

Ich beobachte sie, während sie spricht: Hannah unterstreicht viele ihrer Worte mit entsprechender Gestik, was sie selbstbewusst und überzeugend auftreten lässt. Aber manchmal fährt sie unbewusst mit dem Zeigefinger Kratzer im Lack des Tisches nach, beißt sich vorsichtig auf die Unterlippe, wenn sie nachdenkt, und streicht sich zwischendurch immer wieder eine unsichtbare Strähne ihres langen Haares hinter das Ohr. In solchen Momenten wirkt selbst Hannah zerbrechlich. Es sind viele Jahre vergangen, seit wir uns das erste Mal begegnet sind; heute lassen sich nur noch verblasste Spuren des vorlauten Mädchens mit dem rotblonden, struppigen Haar und den spindeldürren, von Schrammen und Pflastern überzogenen Beinen erkennen. Aber ihre vielen Sommersprossen über Wangen und Nase, die waren geblieben, und ebenso ihr funkelnder Blick aus ihren graublauen Augen, wenn sie sich für irgendetwas begeistert oder vehement einsetzt.

Hannah war meine Ferienfreundin gewesen. Sie wohnte mit ihren Eltern im selben Mehrfamilienhaus wie meine Tante Sonja, bei der ich einen Großteil meiner Schulferien verbrachte. An einem späten Nachmittag – es war bei meinem ersten Besuch – saß ich in der untergehenden Sonne auf dem Bürgersteig vor dem Haus und malte mit Straßenmalkreide Hüpfkästchen auf den Asphalt. Ich summte vor mich hin und beobachtete, wie kleine Stückchen der groben Kreide beim Malen abbröselten und sich als Puder auf dem Asphalt sammelten. Plötzlich fiel ein langer Schatten über meine Zeichnungen, und noch bevor ich realisierte, dass jemand in meiner unmittelbaren Nähe sein musste, hörte ich die Stimme eines Kindes: „Du machst das falsch!“

Hannah stand fast neben mir, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, und schaute mich tadelnd an.

Ich sah zuerst ihre ausgetretenen Sandalen, dann wanderte mein Blick weiter zu dem bunten Pflaster an ihrem rechten Knie über ihr mehrfach geflicktes, gemustertes Kleid zum linken Unterarm, der von Aufklebetattoos übersäht war, und traf schließlich direkt den ihren, der mich kurz zusammenzucken ließ. Im ersten Moment hatte ich Angst vor diesem Mädchen. Doch es machte einen weiteren Schritt auf mich zu, nahm eine meiner Kreiden und sah mich mit einem Grinsen voller Zahnlücken an.

„Es macht mehr Spaß“, erklärte es mir dann, „wenn man Zahlen überspringt und dann vor- und zurückhüpfen muss.“ Sie änderte zwei meiner Zahlen ab. „Schau, so.“

Gemeinsam spielten wir, bis wir zum Abendessen gerufen wurden. So traf ich Hannah.

Seit dem haben wir fast jeden Tag meiner Ferien gemeinsam verbracht. Wir lernten zusammen Rollschuhlaufen, sammelten Kastanien im Feuerbacher Tal und bauten uns einen geheimen Unterschlupf am Klettergerüst auf dem Spielplatz. Wenige Male hat sie mich auch bei meinen Eltern im Saarland besucht, aber dort wirkte sie seltsam deplatziert und die Situation kam uns beiden befremdlich vor. Hannah war mehr Hannah, wenn sie in Stuttgart war, und ich mochte Hannah vor allem dann, wenn sie ganz sie selbst sein konnte. Konnten wir uns aufgrund der räumlichen Entfernung auch nur sporadisch in den Ferien oder mal an einem langen Wochenende sehen, so wurde sie eine meiner besten Freundinnen. Und mittlerweile ist sie darüber hinaus auch meine älteste Freundin.

Obwohl wir zunächst viele Gemeinsamkeiten teilten, sind wir später sehr unterschiedliche Wege gegangen: Hannah wohnte zwischendurch ein paar Jahre in Tübingen und studierte dort Politikwissenschaften und Philosophie, ich machte meine Ausbildung zur Floristin in Saarbrücken und wanderte anschließend nach Schweden aus. Die Vorstellung von einem Leben in Schweden hatte mich seit jenem Tag nicht losgelassen, an dem ich während eines spontanen Ausflugs mit meiner Tante in einem unscheinbaren Heidelberger Blumenladen auf den königlichen Hoffloristen traf. Er kümmerte sich nicht nur um die naheliegende Familiengrabstätte der schwedischen Königin mit deutschen Wurzeln, sondern entwarf auch die Gestecke für die bevorstehenden Hochzeitsfeierlichkeiten ihrer Tochter. Obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass auch ich eines Tages am Stockholmer Königshof Kränze binden würde, so faszinierte mich der Gedanke, als Floristin in Schweden zu arbeiten. Zudem zog es mich seit jeher hinaus in die große, weite Welt und an meiner Ausbildungsstelle in Saarbrücken wollte ich nach dem Abschluss nicht bleiben.

Trotz unserer unterschiedlichen Lebensentwürfe fanden Hannah und ich jedoch immer wieder genug gemeinsame Überschneidungen, um im Leben der anderen ein gewisser Ankerpunkt zu sein. Nun war Hannah Teil einer Stuttgarter Unternehmensgruppe und in dieser für Projektmanagement und die Redaktion von Texten verantwortlich. Ich zog statt Projekten lieber meine Pflanzen groß; wir genossen wohl beide auf unsere Art und Weise, etwas wachsen zu sehen.

Jetzt sitze ich ihr endlich einmal wieder gegenüber, kann den Duft ihrer Haare riechen und die Lachgrübchen um ihre Mundwinkel herum deutlich sehen. Und während ich ihren Worten lausche und mich in ihren Gedanken und Gefühlen wiederfinde, frage ich mich, wie wir uns in den letzten Jahren nur so wenig haben hören und noch weniger haben sehen können. Ich bin wieder zu Hause – bei ihr, in einer neuen Wohnung, in einer neuen Stadt – und dennoch so daheim. Die besten Freunde erkennt man daran, dass man bei einem Wiedersehen genau dort weitermacht, wo man aufgehört hat, als hätte es eine jahrelange Trennung nie gegeben. Ich bin in diesem Moment unendlich glücklich.

„Vielleicht möchtest du dich nun aber erst mal kurz ausruhen?“, fragt Hannah und trinkt den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse.

„Nej, det går….“, beginne ich auf Schwedisch, bemerke es jedoch direkt, pausiere kurz, atme tief durch, fange noch einmal an. „Ausruhen muss ich mich nicht“, antworte ich ihr schließlich, „aber vielleicht mache ich mich kurz etwas frisch. Ich rieche sicherlich nach abgestandener Flugzeugkabinenluft und durchgesessenen Zugabteilsitzen.“

Hannah grinst. „Selbstverständlich.“ Sie schiebt lautstark ihren Stuhl zurück, steht auf und geht an mir vorbei auf den Flur, wo noch immer mein Gepäckstapel hinter der Wohnungstür steht. „Hier ist dein Zimmer“, sagt sie und öffnet dabei eine Tür am Ende des Flures.

Das Gästesofa ist ausgezogen und mit frischer Bettwäsche bezogen, auf der Fensterbank am Kopfende steht ein Strauß bunter Tulpen. Die Seitenwand des Zimmers wird von einem Regal voller Bücher und ihrem Schreibtisch eingenommen, der wider Erwarten sehr ordentlich ist. Ich bin gerührt, als mein Blick auf ein gerahmtes Foto von uns beiden fällt, das zwischen den Büchern steht. Es zeigt uns beide in einem edlen Kleid und mit jeweils einem Glas Sekt in der Hand, wir stehen eng beieinander und prosten lachend in die Kamera. Es wurde auf der Hochzeit einer gemeinsamen Freundin aufgenommen, eines der wenigen Male, bei dem wir uns bei einem meiner Besuche in Deutschland gesehen haben.

„Manchmal nutze ich das Zimmer als Arbeitszimmer oder Homeoffice“, sagt sie entschuldigend. „Aber das kommt nicht sehr häufig vor.“

„Ich bin ja tagsüber vermutlich eh die meiste Zeit im Blumenladen, da werden wir uns bestimmt nicht in die Quere kommen. Ich bin dir einfach wahnsinnig dankbar dafür, dass du für mich ein Eckchen zum Schlafen hast.

Dann muss ich mich doch nicht, wie von meiner Mutter befürchtet, im Laden auf alter Steckmasse zusammenrollen.“ Ich lächele sie an.

Hannah lacht. „Natürlich! Deine Mutter kann beruhigt sein, denn ich habe nicht nur ein Plätzchen zum Schlafen, sondern auch zum Duschen und Zähneputzen. Schau, hier ist das Bad“, sagt sie und geht zu einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. „Ich habe dir frische Handtücher hingehängt.“ Sie öffnet die Tür und deutet auf den Handtuchhalter neben der Dusche. „Die orangen sind deine. Zumindest, wenn Orange noch immer deine Lieblingsfarbe ist. Und im Spiegelschrank habe ich auch etwas Platz gemacht. Du kannst die komplette linke Hälfte nutzen.“ Sie zieht den Badezimmerspiegel zur Seite, um mir zu zeigen, dass sie die kleinen Regale dahinter leergeräumt hat.

„Du hast es wirklich schön hier!“, sage ich und blicke mich im Bad um. „Und ich freue mich richtig, dass ich deine Wohnung mal live sehen kann.“

„Stimmt, du warst noch gar nicht hier, oder?“ „In dieser Wohnung noch nicht, nein. Die kenne ich bisher nur flüchtig von unseren Videogesprächen.“

„Dann hast du jetzt ja ausreichend Zeit, alles kennenzulernen, die Wohnung, das Viertel und natürlich die ganze Stadt.“ Hannah geht zurück auf den Flur und greift einen meiner Koffer. „Die Küche kennst du ja schon. Willkommen zu Hause“, sagt sie strahlend, während sie den Koffer in das Gästezimmer zieht.

„Ach, Hannah?“

„Ja?“

„Orange ist noch immer meine Lieblingsfarbe.“

Hannah verabschiedet sich mit einem Lächeln und zieht die Tür hinter sich zu. Kurz überlege ich zu duschen, verwerfe den Gedanken jedoch und krame stattdessen in den Tiefen meines Koffers nach einem Deo.

„Hier, das habe ich dir mitgebracht“, sage ich, als ich nur wenige Minuten später erneut die Küche betrete.

„Nanu, das ging aber schnell!“

„Ich habe gerade nicht die nötige Ruhe für längere Aktionen im Bad. Hier, bitteschön!“, antworte ich und breite meine Mitbringsel vor Hannah auf dem Küchentisch aus.

„Was hast du denn bloß alles dabei?“

„Allerlei schwedische Kleinigkeiten, von denen ich dachte, dass man sie in Stuttgart nicht unbedingt bekommt: Elchschinken, Salzlakritz, Kalles Kaviar, also mit Frischkäse gemischten Kaviar aus der Tube, ein Paket Löfbergs Lila-Kaffee und eine Überraschung“, sage ich und deute lächelnd auf ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen.

„Vielen Dank!“, sagt Hannah und packt es vorsichtig aus. Sie nimmt den Tischläufer aus Leinen heraus, hält ihn mit ausgestreckten Armen vor sich und begutachtet das feingewebte Muster. „O Karla, der ist ja wunderschön!“

„Mir hat er auch sehr gut gefallen. Er ist aus der Leinenweberei, die auch die Tischdecken für die Nobelpreisgala webt“, füge ich erklärend hinzu.

„Wow, ein Läufer mit Geschichte. Vielen Dank!“

„Ich danke dir, Hannah.“

Ich liege im Bett und blicke auf den Lichtkegel an der Decke, der von der Straßenlaterne draußen unweit des Fensters hereingeworfen wird. Nachts, so habe ich das Gefühl, werden Räume lebendig: Lichter flackern und malen Schattenbilder an die Wand, Dielenböden knarzen, schwere Holzmöbel beginnen zu arbeiten. Es ist dieses leise Spiel der Nacht, das einem in neuen Räumlichkeiten zunächst fremd vorkommt. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen. Der Gesang meiner neuen vier Wände ist mir unvertraut, mir fehlt das leise Ticken meines alten Weckers und der heimelige Schein der Leuchtreklamen von der Tankstelle gegenüber, den ich anfangs noch als störend empfunden hatte. Zugleich schwingt in diesem Gesang die Spannung eines Neuanfangs mit. Und so liege ich hier, die Bettdecke bis zu den Ohren hochgezogen, lausche meinem eigenen Atem und versuche, so viel wie möglich dieser neuen Melodie in mir aufzunehmen.

3.

Meine Tante Sonja hatte den Blumenladen in den frühen neunziger Jahren erworben. Er liegt ebenfalls in Stuttgart-Feuerbach, an einer kleinen urigen Straße in Richtung Feuerbacher Tal, welche von schlecht gestopften Schlaglöchern gesäumt ist und dadurch an einen liebevoll gestalteten Flickenteppich längst vergangener Tage erinnert. Die Straße ist so bunt wie die Leute, die sie bewohnen. Hier gehen die Ausläufer der Stadt seicht ins Feuerbacher Tal über und scheinen sich, Fingern gleich, an diese verbliebene Grünfläche zu krallen. Die Hektik der Großstadt wird abgelöst von ländlicher Gemütlichkeit, Ampeln werden schrittweise durch Bäume ersetzt und Tauben sind nicht mehr die dominierende Vogelart.

Bei meiner Tante hatte ich mir meine Faszination für Pflanzen abgeschaut, die sich im Laufe meines Lebens zunächst zu einer Leidenschaft und schließlich zu einer großen Liebe entwickeln sollte. Bereits als Kind verbrachte ich während der Ferien viele Stunden mit ihr in diesem Laden, half, Blumenstängel für Gestecke und Sträuße zu kürzen, und durfte mich später auch selbst an kleineren Gestecken versuchen. Vor allem jedoch genoss ich es, mich um die Topfpflanzen zu kümmern, sie zu gießen und sie bei Notwendigkeit von einer etwas zu dunklen in eine hellere Ecke zu verrücken. Es faszinierte mich, wie Pflanzen über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, angepasst an ihre jeweiligen Lebensbedingungen, je nach Bodenbeschaffenheit längere oder kürzere Wurzeln ausbildeten oder eben auch keine, wenn sie epiphytisch auf anderen Pflanzen lebten. Wir nehmen sie nicht immer wahr, aber sie sind immer um uns herum, suchen bescheiden und unaufdringlich nach einer Möglichkeit zu wachsen und zu gedeihen, auszutreiben und zu blühen und sorgen nebenbei dafür, dass wir bessere, reinere Luft zum Atmen haben, oder tragen sogar nahrhafte Früchte. Pflanzen gibt es – wie uns Menschen auch – in allen möglichen unterschiedlichen Formen, Farben und Eigenschaften. Es gibt zarte Blumen und gewaltige Bäume; Pflanzen, die hohe Ansprüche haben und viel Pflege bedürfen, und solche, die man mehr oder weniger über Tage ignorieren kann, ohne dass sie es einem übel nehmen. Pflanzen können sehr viel aussagen, wenn sie als Blumen einen bunten Brautstrauß stellen oder jemanden zum Geburtstag überraschen. Sie können jedoch auch zum Kranz gewunden anteilnehmend schweigen und Trauer ausdrücken, wo Worte nicht ausreichen oder gar fehlen. Wenn ich neue Menschen kennenlerne, stelle ich mir nicht selten die Frage, welche Pflanze dieser Mensch wohl am ehesten repräsentieren würde, und ich wünschte mir, ich könnte die Menschen so gut verstehen wie meine grünen Lieblinge.

In Schweden arbeitete ich über sieben Jahre in dem Gartenmarkt Plantagen. Obwohl dieser für meine geheimen Vorstellungen eigentlich viel zu groß war, genoss ich die Arbeit. Sie war vielseitig und ich hatte die Möglichkeit, mich um diverse Bäume und Grünpflanzen zu kümmern, konnte jedoch auch beim Binden von Sträußen kreativ werden. Dennoch träumte ich von meinem eigenen Blumenladen, einem kleineren, überschaubaren Geschäft, in dem ich für meine Kunden liebevoll passende Gestecke machen und ihnen dadurch den Tag verschönern oder Trost spenden konnte.

Nun ist es so weit, ich stehe vor meinem eigenen Blumenladen. Meine Tante, zu der ich aufgrund unserer vielen gemeinsamen Stunden in diesem Geschäft eine besonders innige Verbundenheit empfand, hatte ihn mir testamentarisch vermacht. Das letzte Mal, das ich diesen Laden betreten hatte, war der Tag vor ihrer Beerdigung gewesen. Aus den wenigen zurückgelassenen Lilien, Rosen und Nelken steckte ich für sie einen letzten Gruß aus ihrem, aus unserem Laden. Ich goss und besprühte die einzelnen verbliebenen Topfpflanzen, die allesamt die Köpfe hängen ließen. Es drängte sich mir die Annahme auf, dass es meine Tante aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung in den letzten Tagen vor ihrem Tod nicht mehr geschafft hatte, am Laden vorbeizukommen und sich um die Pflanzen zu kümmern. Ich glaubte jedoch zu wissen, dass sie es vor allem der Trauer wegen taten. Vor Trauer und vor Einsamkeit, die auch mich beim Betreten des Geschäfts überrannte, mir schwer auf den Schultern lastete und die Brust zuschnürte.

Nun, gut drei Monate später, bin ich kurz davor, den Laden erneut zu betreten. Ich blicke auf die Eingangstür und schlucke. Ich habe Angst vor einer erneuten Welle an Trauer und Einsamkeit, Angst, den Laden zu meinem zu machen und dadurch das Wir zu verdrängen. Jedoch, so weiß ich, würde ein wesentlicher Teil des Andenkens an meine Tante gleichfalls sterben, sollte ich den Laden aufgeben.

Ich schließe das alte, blaue Fahrrad, das ich mir von Hannah habe leihen können, notdürftig an einer Laterne an. Dann krame ich in meinem Leinenbeutel nach dem Schlüsselbund, den mir der Notar überreicht hatte, und stecke den Schlüssel in das alte Schloss. Schnappend schiebt sich der Riegel zurück und ich drücke die Tür auf.

Im Laden riecht es muffig, es ist seit Wochen nicht gelüftet worden. Leer sind die Regale, wo die Topfpflanzen hätten stehen, leer die Vitrinen, wo sich farbenfrohe Schnittblumen hätten tümmeln, leer der alte Hocker hinter der Kasse, wo meine Tante hätte sitzen sollen. Alles ist leer. Mir tritt eine einzelne Träne ins Auge, die ich jedoch sofort wegblinzele. Mit schnellem Schritt gehe ich zu dem Fenster an der linken Wand und mache es auf. Frühlingsluft strömt herein und verdrängt mit ihrer Frische den muffigen Geruch, und mit ihm – ein klein wenig nur – die bedrängende Leere. Ich beobachte, wie einzelne Staubkörner im hereinfallenden Sonnenlicht tanzen und irgendwo ungesehen zu Boden fallen. Die Leere war nun kein Ende mehr, sondern die Möglichkeit eines neuen Anfangs.

„Hallo!“, höre ich Hannah rufen, noch bevor die kleine Türglocke aus Messing zu klingeln beginnt. Das Glöckchen hängt über der Tür, so lange ich denken kann; ich nehme an, dass bereits der Vorbesitzer sie montiert hatte. Ich merke, wie bei ihrem Klang mein Puls unkontrollierbar in die Höhe schießt und ich von freudiger Erwartung überrollt werde, hat mir doch jahrelange Konditionierung eingeprägt, dass bei ihrem Läuten Kundschaft den Laden betritt und ich ein paar Blumen aussuchen oder auch einen Strauß zusammenstellen darf.

Ich war gerade dabei, die alten, hölzernen Wandregale zu entstauben und auszuwischen und hatte mich von oben nach unten vorgearbeitet. Mein Eimer mit Putzwasser war dabei von Regalbrett zu Regalbrett mitgewandert und steht nun in etwa auf Schulterhöhe. Den Putzlappen halte ich in der einen Hand, mit der anderen wische ich mir schnell über die Stirn und drehe mich zu Hannah um. Sie steht in der Tür und lächelt mich an, vor ihrer Brust hält sie mit beiden Händen einen tönernen Blumentopf mit einer orangefarbenen Gerbera.

„Nämen…! Was machst du denn hier?“, frage ich überrascht, während ich den Putzlappen in den Eimer werfe. Ich klettere die letzte Leiterstufe hinab, gehe ein paar Schritte auf sie zu und wische mir dabei die Hände an der Hose ab.

„Ich wollte nur mal schauen, was du hier so treibst und wie sich dein Start in ein neues Leben bisher gestaltet“, antwortet sie schmunzelnd.

„Musst du um diese Uhrzeit nicht im Büro sein?“

„Ich hatte heute Morgen keine festen Termine und alles andere kann einen Augenblick warten.“

„Dann heiße ich dich hiermit herzlich willkommen in meinen derzeit noch sehr bescheidenen vier Wänden“, sage ich lächelnd und mache eine ausladende Geste in den kargen Raum hinein.

Hannah schaut sich im Laden um, ihre großen Augen scheinen dabei zum Spiegel unserer gemeinsamen Erinnerungen zu werden.

„Wahnsinn, wie lange ich schon nicht mehr hier war“, sagt sie schließlich leise und schüttelt dabei fast unmerklich den Kopf. „Schau mal, ich habe dir etwas mitgebracht.“ Sie geht zum Tresen und stellt den Blumentopf neben die Kasse.

„Du bringst eine Topfpflanze mit in einen Blumenladen?“, frage ich amüsiert, betrachte jedoch fasziniert das leuchtende Orange der Blüten.

„Na ja, noch ist es ja kein Blumenladen, denn der würde ja Blumen voraussetzen“, antwortet Hannah lachend und ich muss ihr recht geben. „Ich dachte, dass du bei all den leeren Regalen dringend eine erste Pflanze brauchen kannst.“

„Danke, sie wird mir den Anfang sicher leichter machen.“

Ich bin mir unsicher, ob Hannah es wusste oder ob es sich um einen schönen Zufall handelte, aber Gerbera waren seit vielen Jahren meine Lieblingsblumen. Sie waren farbenfroh, robust und von der Pflege her sehr dankbar. Mittlerweile gab es sogar eine Sorte, die sich an Kälte angepasst hatte und im Freien überwintern konnte. Ich sah in den Attributen der Gerbera und vor allem in ihrer Anpassungsfähigkeit, gerade auch an winterliche Kälte, viel von mir: Wäre ich eine Blume, ich wäre wohl eine Gerbera.

„Genauso wie du“, füge ich schließlich hinzu.

Vom Tresen aus fällt Hannahs Blick auf den Durchgang zum Pausenraum, der sich direkt dahinter befindet. Er ist lediglich durch einen alten, versifften Vorhang abgetrennt, welcher zur Seite gezogen ist und so den Blick in den derzeit trostlos wirkenden Raum freigibt. Sie geht um den Tresen herum und bleibt im Durchgang stehen. Dann fährt sie mit der Hand über den Türrahmen. „Schau mal“, sagt sie schließlich, „es ist noch da.“

„Ja“, antworte ich, ohne schauen zu müssen, was sie meint. „Das habe ich vorhin auch gesehen.“

Tante Sonja hatte auf dem Türrahmen unser beider Wachstum festgehalten, daher zeigte er sich überzogen von dünnen Bleistiftstrichen auf unterschiedlichen Höhen: „Hannah 8 Jahre“ stand neben ihnen oder „Karla 9 ½ Jahre“.

„Ich glaube, das hätte Tante Sonja im Leben nicht überstreichen wollen“, sage ich und trete zu ihr an den Tresen.

Hannah nickt bedächtig.

„Komm!“, sage ich und bedeute ihr mit einem Winken, zu mir zu kommen. Ich drücke sie an den Türrahmen, greife nach dem Bleistiftstummel, der neben der Kasse liegt, und zeichne einen weiteren Strich direkt über ihrem Kopf in den Lack. „Hannah 30 ¾ Jahre“ schreibe ich daneben. Danach macht sie das Gleiche mit mir und schreibt „Karla 30 ½ Jahre“; unsere Striche befinden sich fast auf einer Höhe.

„Und? Wie ist es, wieder hier zu sein?“, fragt Hannah nach einer Weile. Sie steht am Tresen und malt mit ihrem Zeigefinger Muster und Formen in die Staubschicht. Ich beobachte, wie sie dabei Furchen nachfährt, welche sich in Jahrzehnten des emsigen Gebrauchs in das alte Holz gegraben haben. Mich erinnern sie an Narben auf menschlicher Haut, und ich finde sie schön, weil sie Geschichten eines Lebens erzählen, so wie auch Narben es tun. Eine Kerbe – ich weiß noch genau, welche – hatte zum Beispiel ich ins Holz geschlagen, als mir vor vielen Jahren beim Bestücken der Regale eine Leiter umfiel.

„Es ist noch ein bisschen ungewohnt und befremdlich“, antworte ich ehrlich. „Es fühlt sich seltsam an, ohne Tante Sonja hier zu sein. Aber zugleich freue ich mich und bin auch sehr aufgeregt, denn schließlich wird mein Traum von einem eigenen Blumenladen wahr, auch wenn mich die Umstände, wie es zu seiner Erfüllung gekommen ist, noch ziemlich traurig machen.“

„Das verstehe ich gut.“

„Ich weiß“, sage ich und lächele Hannah an. Dann nehme ich meinen Eimer, schütte im Pausenraum das dreckige Wasser in den Abguss und fülle frisches nach. Nur noch ein Regal, dann bin ich mit diesen erst mal fertig.

4.

Ich sitze auf dem alten, blauen Fahrrad und radele nach Hause. Es ist bereits später Nachmittag, die Sonne steht tief und die Verkehrsschilder, Ampeln und vorbeigehenden Menschen werfen lange Schatten auf den Asphalt. Aber, so stelle ich fest, es ist für Anfang April noch angenehm warm, sodass mir mein T-Shirt reicht.

Der Frühling beginnt seinen Weg über Europa bereits Ende Februar im Südwesten Portugals und wandert mit einer Geschwindigkeit von ungefähr vierzig Kilometern täglich nach Nordosten und schließlich weiter in Richtung Norden. Etwa Mitte April erreicht er auf seiner Reise Deutschland, Schweden erst Mitte Mai. Ihm nachfolgend kehren die Zugvögel zurück: Star und Bachstelze bereits im Vorfrühling, Mauersegler und Nachtigallen in den letzten Apriltagen. Die frühe Ankunft des Frühlings gehörte ebenfalls zu den Dingen, die ich in Schweden sehr vermisst habe. Ich wohnte bis vor wenigen Tagen noch gut 1500 Kilometer weiter nördlich, als ich es nun tue. Der Frühling war folglich etwa 37 Tage später bei mir, als er es jetzt ist, und mit ihm die ersten Blumen, die ersten Zugvögel, der erste Spaziergang ohne Jacke mit anschließendem Eisessen in der Frühlingssonne. Dementsprechend ist es in diesen frühen Apriltagen auch etwa fünf bis zehn Grad wärmer als in Schweden, und in diesem Moment, im T-Shirt auf meinem Fahrrad sitzend, fällt mir dies besonders auf. Ich frage mich, wie ich in den letzten Jahren auch nur einen einzigen Tag länger als notwendig auf den ersten Frühlingstag habe warten können.

Der deutlich spätere Frühlingsanfang gehört wohl zu den vielen Dingen, die sich begeisterte Schwedenreisende nicht bewusst machen. Die meisten Tourist*innen kommen in den warmen Monaten und verknüpfen Schweden mit langen, sonnigen Tagen und unendlichen Weiten, mit leuchtend kupferroten Häuschen, die sich kontrastreich in tiefblauen Seen spiegeln, und üppigen grünen Wäldern, in denen man nur vereinzelt auf andere Menschen trifft. Sie mieten ein Wohnmobil oder packen einen großen Rucksack mit Campingkocher und Funktionshemden und genießen eine Freiheit, wie es sie nur in Skandinavien zu geben scheint. Schweden hat mit einer Größe von über 450 000 km2 fast ein Drittel mehr Fläche als Deutschland, zugleich entspricht die Bevölkerung von gut zehn Millionen Menschen einem Bruchteil derer, die sich auf deutschem Boden in vielen Städten regelrecht zu tummeln, ja, zu drängen scheinen. Dies spiegelt sich dementsprechend in der Bevölkerungsdichte wider: Während in Deutschland im Durchschnitt etwa 232,5 Menschen pro Quadratkilometer leben, so sind es in Schweden gerade einmal 23,0. Die Verteilung innerhalb Schwedens entspricht dabei der seiner Nachbarländer Norwegen und Finnland. Am dichtesten besiedelt ist der Süden, dem sich auch die Hauptstadt Stockholm sowie die Großstädte Göteborg und Malmö zuordnen lassen. Nach Norden hin nimmt die Menschendichte zunehmend ab und beträgt in Norrbotten, nördlich des Polarkreises, nur noch ungefähr 2,4 Menschen pro Quadratkilometer. Schweden hat im Vergleich zu Deutschland also Platz, viel Platz. Zudem gibt es in Schweden das allemansrätt, das Jedermannsrecht, welches einem jeden Menschen das Recht zuspricht, sich in der Natur aufzuhalten und dabei ihre Früchte zu genießen, solange man sich an den ideellen Grundsatz inte störa – inte förstöra (nicht stören – nicht zerstören) hält und der Umwelt und seinen Mitmenschen Respekt entgegenbringt. Einem jeden ist es gestattet, auch in privaten Wäldern Pilze und Beeren zu sammeln und unter gewissen Voraussetzungen wild zu campieren und Feuer zu machen. Schwedentourist*innen leben den Traum von einem scheinbar gänzlich unabhängigen Reisen: Sie folgen dem Nordwind durchs Land, vorbei an weiten Seen und schroffen Gebirgsketten, übernachten im Zelt an jenen unbekannten Orten, wo es sie zufällig hinverschlagen hat, und grillen mit etwas Glück am Abend einen selbst gefangenen Fisch über dem Feuer. Schweden klingt nach Abenteuer, Einsamkeit und viel Ruhe. Und wenn sie sich irgendwann wieder auf den Heimweg machen, so tragen sie den rauchigen Geruch von Lagerfeuer und Wildnis mit sich, er hat sich festgesetzt an der Kleidung, vor allem jedoch im Gedächtnis und löst unweigerlich den Wunsch danach aus, bald zurückzukehren oder – noch besser – dass ein solches Leben ewig währen möge.

Der Sommer ist traumhaft, aber er dauert nur etwa drei Monate. Im Herbst sind alle Häuschen grau.

Hannah war am Nachmittag wiedergekommen und hatte mir dabei geholfen, die zwei großen Schaufenster zur Straße hin zu putzen und den Boden zu wischen. Nun war es im Laden wieder sauber und es roch frisch. Als wir eine kleine Pause einlegen wollten, stellten wir mit Entsetzen fest, dass die Kaffeemaschine meiner Tante, die immer im Pausenraum auf der äußersten Ecke der Spüle gestanden hatte, verschwunden war. Ich nahm an, dass meine Tante sie mitgenommen hatte, als langsam absehbar wurde, dass sie nicht mehr so viel Zeit im Laden würde verbringen können. Eine Kaffeemaschine, so hatten Hannah und ich beschlossen, war jedoch existenziell und so würde ich mir zeitnah eine neue anschaffen müssen.

Ich war mit dem heutigen Tag zufrieden. Der erste Schritt, der größte Schritt, den Laden wieder zu betreten, war geschafft. Nun würde täglich ein kleiner Schritt hinzukommen. Ich musste noch etwas aufräumen und das Lager ausmisten, Angebote unterschiedlicher Blumenlieferanten einholen und mich intensiver mit der Buchführung beschäftigen, meine ersten Bestellungen tätigen und den Laden wiedereröffnen. Auf Dauer würde ich auch renovieren wollen; der gelbstichige Linoleumboden stammt sicherlich noch aus den späten siebziger Jahren und es ist heutzutage nur schwer nachvollziehbar, dass man ihn jemals schön fand. Er ist jedoch noch immer funktionell, wenn auch mittlerweile von schwarzen Striemen überzogen und an vielen Stellen abgetreten. Auch die alten, hölzernen Wandregale aus Eiche sind nicht mehr zeitgemäß und für meinen Geschmack viel zu dunkel, ich würde sie durch hellere, leichtere Möbel ersetzen wollen. Der Pausenraum ist derzeit trostlos und die beiden einfachen Stühle, die um den runden Holztisch herumstehen, haben gewackelt, so lange ich denken kann. Es sind jedoch, wie ich ebenfalls vom Notar erfahren habe, noch einige Rechnungen offen, die meine Tante nicht vollständig hat abbezahlen können, von Blumenlieferungen, die sie bestellt hatte, nicht wissend, dass ihr für den Verkauf der Blumen keine Zeit mehr bleiben würde. So würde ich einen Großteil meiner Einnahmen zunächst für den Begleich ausstehender Schulden brauchen. Außerdem, so musste ich mir ebenfalls eingestehen, gibt es mir für den Augenblick ein Gefühl von Geborgenheit in dieser noch relativ fremden Stadt, dass der Laden genauso ausschaut, wie ich ihn in Erinnerung behalten habe, genau so, wie meine Tante ihn mir hinterlassen hat. Im Wesentlichen sollen es ohnehin die Blumen und Pflanzen sein, die für frische Farbe sorgen und den Laden wieder erblühen lassen.

Ich schließe das Fahrrad am Fahrradständer an, der vor Hannahs Haus steht, und laufe die wenigen Stufen zur Haustür hoch. Morgen, so weiß ich, würde es sich weniger einsam anfühlen, den Laden zu betreten, denn schließlich stehen die orangefarbenen Gerbera neben der Kasse und verleihen ihm einen Hauch von erster Fröhlichkeit.

5.

Ich komme mir vor wie ein Kind in einem Spielzeugwarenladen, als ich durch die Regale gehe und dabei immer wieder ungläubig einzelne Produkte berühre und zum Teil freudestrahlend in die Hand nehme. Hannah läuft vor mir und schiebt den Einkaufswagen durch die engen Gänge. Sie hat einen Ellbogen auf den Griff gestützt und liest ihren Einkaufszettel halblaut murmelnd durch. Wir hatten uns bereits den Weg durch die Obst- und Gemüseabteilung gebahnt und gehen nun am Brot vorbei zu den Kühlregalen.

„Brot hatten wir doch aufgeschrieben!“ Ich deute auf das übervolle Regal neben mir.

„Ja, aber das holen wir natürlich draußen frisch vom Bäcker.“

„Stimmt, es gibt hier ja einen Bäcker. Das hatte ich schon wieder vergessen.“

„Wo kauft man denn in Schweden sein Brot?“, fragt Hannah und schaut mich interessiert an.

„In den meisten Fällen im Supermarkt.“

„Und frische Brötchen?“

„Ebenfalls. Und das schränkt die Auswahl meiner Meinung nach doch etwas ein.“

„Was hast du denn dann immer gefrühstückt?“

„Das Gleiche wie zuvor in Saarbrücken: Kaffee.“ Hannah muss lachen.

„Dem abgepackten Brot aus dem Supermarkt ist häufig ein Sirup beigemischt, der es ziemlich süß macht“, erkläre ich. „Das mochte ich an manchen Tagen gerne, an anderen weniger. Aber es gibt auch ein relativ neutrales, typisch schwedisches Fladenbrot, tunnbröd, aus dem man sich leckere Wraps machen kann. Das kann ich dir ja beim nächsten Mal aus Schweden mitbringen, falls du es probieren magst.“

„Das passt bestimmt ganz hervorragend zu dem Elchschinken und dem mit Frischkäse vermischten Kaviar aus der Tube.“

Nun muss ich lachen. „Du wirst sicherlich auf den Geschmack kommen! Aber nun freue ich mich erst mal wahnsinnig auf frisches, dunkles Brot!“

Wir ziehen weiter durch die Reihen. Natürlich, viele der Not- oder auch Nichtnotwendigkeiten auf den Regalbrettern gibt es so auch in Schweden, so wie in Zeiten des Globalismus in fast allen entfernten Teilen der Welt. Aber sie heißen hier nun mal anders. Marken, die mir in Schweden nur sehr vereinzelt begegnet sind, finden sich hier zuhauf und geben mir ein wohliges Gefühl von Heimat. Das Mehl zum Beispiel erinnert mich an glückliches Plätzchenbacken mit der Oma: Ich sehe ihr altes Rezeptbuch vor mir, wo sie bereits seit den fünfziger Jahren Rezepte – ausgeschnitten von der Rückseite von Puddingverpackungen oder aus diversen Zeitschriften – eingeklebt hat. Es riecht nach Vanillezucker und die Seiten sind teilweise mit Teig besprenkelt. Die Butter erinnert mich an Kochabende mit Freund*innen: Ich sehe uns zu dritt um den Küchentisch sitzen, Paprika und Zwiebeln schneiden, während zwei am Herd stehen und etwas anbraten, ein halb zerflossenenes Päckchen Butter neben ihnen liegend. Mehl ist Mehl und Butter ist Butter. Aber es macht mich gerade glücklicher, als es vielleicht sollte, dass Markennamen draufstehen, die ich schon als Kind kannte. Diese Welle an Euphorie kann möglicherweise ein jeder nachvollziehen, der Comics aus Kindertagen auf dem Dachboden findet, die abgetragene Schlaghose, ein altes Tagebuch. Oder aber vor dem Süßigkeitenregal stehend feststellt, dass Leckmuscheln und Kaugummizigaretten ein Comeback erleben.

Als kurz darauf zusätzlich ein eigentlich sehr nerviger Jingle durch den Laden schallt und ich mich initial darüber wundere, dass er auf Deutsch ist, beginne ich noch ein bisschen mehr zu verstehen, dass ich wirklich wieder da bin und was das für mich bedeutet: Ich habe das Gefühl, wieder zu Hause zu sein, hier, zwischen Essiggurken und Ketchup.

Es sind vor allem Kleinigkeiten, die ich im Ausland vermisst habe. Natürlich habe ich mich ab und an danach gesehnt, meine Familie regelmäßiger besuchen oder in einem Buchladen spontan ein Buch in meiner Muttersprache kaufen zu können. Aber generell fehlen den meisten Menschen wohl eher alltägliche Kleinigkeiten: In Schweden gibt es keinen Schmand und auch keine Kartoffelklöße. Es handelt sich in der zur Verfügung stehenden Fülle an Nahrungsmitteln lediglich um lächerliche Details, man stellt dennoch irgendwann mit einer leichten Verwunderung fest, dass man Gerichte nicht mehr genau so kochen kann, wie man es ursprünglich gelernt hatte, man müsste einfach zu viele Dinge ersetzen oder gar auslassen. Diese geringfügigen Abänderungen erstrecken sich mehr oder weniger ausgeprägt in einen jeden Bereich des alltäglichen Lebens. Hat man dies einmal realisiert – es mag Wochen, Monate oder vielleicht auch Jahre dauern – und sich damit auseinandergesetzt, was dies für das eigene Leben auf Dauer bedeuten könnte, steht man an einem Scheideweg: Man kehrt um, hält an gewissen Dingen fest und versucht mühsam, sie zu importieren und zu etablieren, oder man lässt sich komplett auf ein neues Leben mit seinen spannenden Abänderungen ein. Wenn man zum Beispiel bereit ist, sich am Kochen schwedischer Gerichte zu versuchen, sieht man sich plötzlich auf die zur Verfügung stehende große Auswahl an gepuhlten Krabben und eingelegtem Hering geradezu angewiesen. Und ging man anfangs auf der verzweifelten Suche nach Schmand schnellen Schrittes daran vorbei, weil diese Lebensmittel bisher – wenn überhaupt – eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben oder man mit ihnen nichts anzufangen wusste, so stellte man nach einer Weile fest, dass man sie für mehr und mehr Gerichte plötzlich brauchte. Unweigerlich wird man dem permanenten Input einer neuen Küche, eines neuen Alltags, einer neuen Normalität unterworfen. Diese kann man aufsaugen wie einen Küchenschwamm oder abperlen lassen wie Teflon. Mir sind beide Haltungen begegnet.

Dazwischen gibt es ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten. Im ersten Jahr in Schweden fehlte mir ein Karnevalsumzug, allerdings bei Weitem nicht genug, als dass ich krampfhaft versucht hätte, einen solchen mit verwunderten Schwed*innen auf die Beine zu stellen. Als Saarländerin importierte ich jedoch flaschenweise Apfelwein, ein Freund von mir eingelegte Kirschen im Glas. So brauchte wohl jeder, versuchte er auch noch so sehr, ein Küchenschwamm zu sein, irgendwo in der Ferne seine Schmusedecke.

Der Gedanke, wieder nach Deutschland zu ziehen, ist langsam in mir gewachsen. Als ich nach Schweden zog, hatte Zeit keine Bedeutung. Ich war dreiundzwanzig, voller Abenteuerlust, die Welt war groß und wollte entdeckt werden. Die mir zur Verfügung stehende Zeit schien unendlich. Erst später stellt man fest, dass sie unaufhaltsam durch unsere Hände rinnt wie feiner Sand. Menschen werden älter und krank, Kinder werden geboren und wachsen auf. Man beobachtet alles aus der Ferne und fragt sich, ob man nicht auf Dauer glücklicher werden würde, könnte man im Leben geliebter Menschen wieder präsenter sein.

Ich fühlte mich in Schweden sehr wohl, ich hatte einen tollen Freundeskreis, liebte meine Arbeit und konnte die Sprache fließend sprechen, wenn auch natürlich nicht akzent- und fehlerfrei. So schob ich den Gedanken, wieder nach Deutschland zu ziehen, erst mal weit weg. Aber der erste Gedanke, der unscheinbare Samen war gesäht, er wuchs und wurde größer, drückte und drängte und brach sich schließlich seinen Weg, so wie ein Löwenzahn mit stetem Mühen harten Asphalt zu durchstoßen vermag. Und irgendwann musste ich einsehen: Mir fehlte in Schweden etwas, Kleinigkeiten nur, aber ich war mir ziemlich sicher, ich wollte auf Dauer zurück nach Deutschland. Ich mochte auf Schwedisch träumen, lebte jedoch zugleich immer weniger den Traum von Schweden.

Ich wollte Gefühle wieder in meiner Muttersprache äußern und Sekt im Supermarkt kaufen können, Sankt Martins-Umzüge sehen und auf große Weihnachtsmärkte gehen. Ich freute mich darauf, keine Ausländerin mehr zu sein: Darauf, nicht mehr nur schulterzuckend danebenzustehen, wenn sich Schwed*innen über Kindersendungen der neunziger Jahre austauschten, sondern wieder mitreden zu können. Darauf, Partylieder wieder in einer ganzen Gruppe von Menschen mitgrölen zu können, Loriot-Sketche zu zitieren und verstanden zu werden.