Zuversicht und Verzweiflung - Black Heart Chroniken 3 - Kim Leopold - E-Book

Zuversicht und Verzweiflung - Black Heart Chroniken 3 E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Mitreißend, berührend, hoffnungsvoll – die hochemotionale Fortsetzung von Black Heart! Nach dem Angriff der Hexenjäger ist am Palast der Träume nichts mehr so, wie es einmal war. Während in dem magischen Internat von den Opfern Abschied genommen werden muss, wird die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schon bald von neuen Geheimnissen überschattet. Denn nicht nur der König der Rebellen setzt alles daran, sein Ziel zu erreichen, auch Ivan schreckt vor nichts zurück, um seinen Fehler wiedergutzumachen … Ein mitreißender dritter Sammelband der beliebten Urban-Fantasy-Reihe: hochemotionale Momente, spannende Twists und zwei Brüder im Kampf gegen das Schicksal.

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Zuversicht und Verzweiflung

Black Heart Chroniken 03

 

 

Kim Leopold

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Black Heart 09

Die Stille der Zeit

 

Für dich, weil du nach dem Angriff auf den Palast der Träume aufstehst und weiterkämpfst.

 

 

Nur in der Dunkelheit kannst du die Sterne sehen.

 

 

 

 

 

 

 

[was bisher geschah]

 

Der Angriff der Hexenjäger auf den Palast der Träume hat große Folgen für alle. Es sind nicht nur Schüler wie Zoe und Louisa gestorben, sondern auch Lehrer wie Silas und die Schuldirektorin Freya.

 

Die Kontrolle der Schule auf den entflohenen Gestaltwandler aus Lille hat außerdem einen anderen Schüler auffliegen lassen, der aus der Not heraus die Lehrerin Emma entführt hat.

Nun versuchen sowohl Lehrer als auch Schüler mit den Folgen des Angriffs zurechtzukommen.

 

[talamh fuar]

 

Louisa

Irgendwo, irgendwann

 

Ich schmecke Salz auf meinen Lippen und habe den Duft von frisch gemähtem Gras in der Nase. Mein Blick gleitet in die Ferne, über den Klippenrand hinaus, auf das blau glitzernde Meer, das ruhig vor mir liegt. Die Sonne wärmt meine Haut, und als hätte er meinen Namen gesagt, spüre ich Alex in meinem Rücken. Lächelnd drehe ich mich um und sehe ihn unter einer alten Eiche stehen.

Er schmunzelt und fährt sich durch die zerzausten Haare.

»Du hast auf mich gewartet.«

»Ich würde immer auf dich warten«, entgegnet er und streckt eine Hand aus. Mit schneller schlagendem Herzen gehe ich auf ihn zu, nehme seine ganze Gestalt in mir auf, das Funkeln in den Augen, die Grübchen, die sich mit jedem meiner Schritte vertiefen, seine starken Hände, die mich jetzt schon ein paar Mal gerettet haben. Manchmal kann ich mein Glück kaum fassen, dass er mich wirklich so toll findet. Kurz bevor ich ihn erreiche, schließe ich für einen Moment meine Augen und wünsche mir, dass dieses Glück niemals endet.

Ich öffne sie wieder, hebe die Hand und greife nach seiner, doch –

Ich greife ins Leere.

Mit einem heiseren Aufschrei verliere ich das Gleichgewicht und stolpere nach vorn. Verwirrt öffne ich die Augen. Sind das ... Ich kneife die Augen nochmal zusammen und öffne sie wieder, aber die Fliesen vor mir bleiben die gleichen.

Ich kauere auf dem Boden des Speisesaals, und um mich herum herrscht Chaos. Da sind so viele leblose Körper, so viel Blut, so viel Atem anhalten und bangen, dass mir augenblicklich übel wird.

»Ivan. Ivan!« Eine Stimme reißt mich von dem Anblick vor mir los. Ein Mann löst sich aus der Menge – Dr. Kaminski, erinnere ich mich vage. Von seinem weißen Hemd ist nicht mehr viel zu sehen. Es ist blutgetränkt und hängt ihm in Fetzen vom Leib. Er lässt das Kurzschwert in seiner Hand auf den Boden fallen und läuft an mir vorbei.

Ich blicke ihm hinterher und atme erschrocken ein.

Bin ...

Bin ich das?

Nein.

Kopfschüttelnd weiche ich zurück. Das Bild vor mir ist so surreal. Das kann nicht sein. Ich hebe meine Hand vor Augen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht schwarz ist. Dass ich nicht aussehe wie das leblose Mädchen in Ivans Armen, das nicht nur meine Frisur, sondern auch meine Kleidung trägt.

»Ivan, sie ist tot.« Dr. Kaminski legt eine Hand auf Ivans Schulter, doch er reagiert gar nicht. Sein Blick ist immer noch auf das Gesicht des leblosen Mädchens gerichtet. Er ist blass wie ein Gespenst. »Wir brauchen dich jetzt. Du musst dich zusammenreißen. Ich übernehme das.«

Ich übernehme das?

Was will er übernehmen? Die Trauer? Den Schock?

Ivan schluckt und hebt seine freie Hand, um dem Mädchen in seinen Armen die Augen zu schließen. Dann reibt er sich mit dem Handrücken über die Stirn und verschmiert dabei noch mehr Blut in seinem Gesicht. Aber es wirkt, als wäre es ihm egal. Als wäre ihm alles egal.

»Ivan«, wispere ich ängstlich. Wieso steht er nicht auf? Wieso lacht er nicht und erklärt mir, dass das hier nur ein Traum ist? »Sag doch was.«

Dr. Kaminski erhebt sich und dreht sich um. In seinen grauen Augen schimmert die Sorge, es wirkt, als wäre er der Situation nicht gewachsen, und trotzdem erhebt er die Stimme.

»Alle Verletzten neben das Podest, die ... Toten auf die Seite.« Er deutet erst auf die eine Seite des Raumes, dann auf die andere. »Die Hexenjäger dorthin. Keiner verlässt den Speisesaal, bevor nicht klar ist, ob wir in Sicherheit sind.«

Seine Anweisung bringt Leben in die Leute, die wie versteinert darauf gewartet haben, dass etwas geschieht. Dr. Kaminski setzt sich in Bewegung und kommt genau auf mich zu. Bevor ich reagieren kann, ist er bei mir und ... läuft einfach durch mich durch.

Mir wird schlecht. Die Haare auf meinen Armen stellen sich auf, und ich drehe mich blitzschnell um, um ihm hinterherzusehen. Dann schaue ich an mir herunter.

Wie kann das sein?

»Ein merkwürdiges Gefühl, nicht wahr?« Die Stimme jagt mir einen Schauder über den Rücken. Mir ist sofort klar, dass sie nicht aus der Welt kommt, in der sich Ivan befindet.

Sie spricht mit mir. In dieser Welt.

Ich sehe mich um, doch zwischen all den Schülern und Wächtern kann ich zunächst nichts Ungewöhnliches entdecken, aber dann löst sich eine Frau aus der Menge, die bisher unauffällig an der Wand gelehnt hat.

Sie hat braunes Haar und ein blasses Gesicht. Hätte sie mich nicht angesprochen, wäre sie mir überhaupt nicht aufgefallen. Aber jetzt geht sie durch die Menge, weicht niemandem aus, zuckt nicht einmal zusammen, während sich ein paar der Körper für einen Moment mit ihrem verschmelzen.

»Wer bist du?«, frage ich sie argwöhnisch und weiche zurück. Wenn ich eins gelernt habe, dann dass ich niemandem einfach so vertrauen sollte. Sie sieht vielleicht gewöhnlich aus, aber allein die Tatsache, dass sie mich als Einzige sehen kann, sollte mir schon zu denken geben.

»Jemand, der sich sehr über deine Anwesenheit freut.« Sie hebt eine Braue, bleibt ein paar Meter vor mir stehen und verschränkt die Arme vor der Brust. An ihrem Gürtel blitzt ein Dolch auf. »Ich war hier viel zu lang alleine.«

Das teuflische Grinsen in ihrem Gesicht bringt mein Herz zum Stolpern. Ich zögere nicht lange, sondern renne los, direkt auf den Seitenausgang zu, der normalerweise abgeschlossen ist. Heute bete ich dafür, dass die Tür offen ist und strecke eine Hand aus, um an der Türklinke zu rütteln, doch als ich sie berühren will, falle ich einfach nach vorne. Ich kann mich gerade so auffangen und laufe blind für meine Umgebung weiter, weg von der Frau mit dem Dolch und dem irren Blick. Doch ihre Stimme bleibt mir trotzdem im Ohr.

»Och, komm schon, der Spaß hat doch gerade erst angefangen!«

[prolog]

Ichtaca

Mechtatitlan, 1448

 

Ich unterdrücke ein Schaudern, während der leblose Körper eine um die andere Stufe hinunterfällt. Er sieht seltsam verzerrt aus mit den gebrochenen Knochen, aber ich kann nicht wegschauen.

Ich darf nicht wegschauen.

Mein Herzschlag gleicht sich dem aufreibenden Rhythmus der Trommeln an, in meinem Blickfeld verschwimmt das Leuchten der Fackeln. Ein paar Männer lösen sich aus der Menge, Krieger, einer stärker als der andere. Sie alle tragen die gleichen Masken, um ihr wahres Gesicht vor dem Gott zu verbergen, dem der Priester heute diese Frau als Opfer dargebracht hat.

Ich weiß dennoch, dass Nanauatzin unter ihnen ist.

Ich spüre seine Anwesenheit in jeder Bewegung, in jedem Tanz, jedem grellen Schrei der Sängerinnen - und ich weiß, ich sollte mich für ihn freuen, weil er an diesem Ritual teilnehmen darf. Weil er ausgewählt wurde, mit den anderen Kriegern die leblose Frau vom Boden zu heben und sie durch die Menge zu tragen, als wäre sie der Sarkophag unseres Königs und nicht eine Kriegsgefangene, die man für wertvoll genug erachtet hat, um sie zu opfern.

»Ichtaca.« Mein Vater stupst mich sanft an und deutet auf die Krieger, die immer näherkommen. Die Menge weicht zurück, genau wie wir. Ich will gar nicht so genau hinsehen, doch es fällt mir schwer, den Blick von den Kriegern zu lösen, die nur mit einem Lendentuch bekleidet an uns vorbeischreiten. Ihre Körper sind mit Malereien verziert, Bilder, die sie vor der nächsten großen Schlacht schützen sollen. Ich halte Ausschau nach Nanauatzin, vergleiche die Männer vor mir mit seiner starken, großen Gestalt, die mir so vertraut ist, und erkenne ihn in einem der Krieger ganz am Ende der Gruppe. Er hat den Blick starr geradeaus gerichtet, doch das goldene Licht, das von ihm ausgeht, würde ich in ganz Mechtatitlan erkennen.

Ich frage mich, ob er sich genauso schrecklich fühlt wie ich. Er wirkt nicht so stolz wie der Anführer der Gruppe. Im Gegenteil, ich denke, er wäre froh, wenn einem anderen Mann die Ehre gebührt hätte, vor den Gott zu treten und an der Opferung teilzunehmen. Nach all den Gesprächen, die wir über die Zeremonien geführt haben, weiß ich, dass er - ebenso wie ich - nicht daran glaubt, dass das alles hier die Götter milder stimmt.

Wenn es so wäre, müssten wir keine Kriege führen.

Dann müssten wir nicht in regelmäßigen Abständen zu unseren Göttern beten, damit sie unsere Krieger in der Schlacht schützen. Wir würden in Frieden leben. In Häusern, über denen der Verlust von Familienmitgliedern nicht wie ein großer, schwarzer Schatten schwebt.

Die Menge gerät ein weiteres Mal in Bewegung, die Musik schwillt an und streichelt rau über meine Haut, bis sich die feinen Härchen an meinen Armen aufstellen. Mein Vater greift nach meiner Hand, um mich im Gewühl der Menschen nicht zu verlieren, und gemeinsam folgen wir den Kriegern zum großen Platz im Zentrum der Tempelanlage. Die Fackelträger stellen sich in einem großen Kreis um den dort errichteten Altar auf, dazwischen die Trommler, deren Schläge immer schneller, immer hektischer werden, bis sie plötzlich vollkommen verstummen.

Einer der Krieger lässt einen wilden Schrei los, woraufhin die anderen die Dolche aus ihren Gürteln ziehen und stolz in die Luft recken. In den Klingen spiegeln sich für einen Moment die Flammen der Fackeln, bevor die Männer an den Altar treten und sich an die Arbeit machen.

Mein Blick wird starr, ich schaue hin, aber irgendwie auch nicht, während sie den leblosen Körper häuten und in kleine Stücke schneiden, bevor sie schließlich einen großen Teil des Fleisches verspeisen. Zu sehr erinnert mich die Szene an das Opfer, das meine Mutter vor sieben Jahren erbringen musste.

Meine Kehle schnürt sich zu, während mein Kopf mir wieder und wieder die Bilder vorspielt, die sich in meine Erinnerung eingebrannt haben. Mir wird schlecht, und es fällt mir schwer, gegen die Übelkeit anzuatmen. Ich würde am liebsten davonlaufen und niemals wieder umkehren. Und als würde er meinen inneren Kampf spüren, legt Vater mir seinen Arm um die Schulter und drückt mich an sich.

Seine Hand ist das Einzige, was mich an Ort und Stelle hält.

 

 

Fröstelnd schlinge ich das Tuch enger um meine Schultern, bevor ich den Korb aufhebe und mich auf den Weg zum Fluss mache. Es ist noch ruhig, die Sonne geht gerade erst auf und taucht den Himmel in ein zartes Rosa. Ich mache einen Bogen um den großen Platz, weil ich ahne, dass dort noch niemand die Überreste der Zeremonie weggeräumt hat, und ich bin mir nicht sicher, ob mein Magen diesen Anblick so früh überstehen würde. Immer noch habe ich die Schläge der Trommeln im Kopf, den Schrei des Kriegers, das Jubeln und die Musik, nachdem das Opfer verspeist war und die Menge unseren Gott gefeiert hat.

Die Frau konnte kaum älter als ich gewesen sein, und sie hatte Angst. Ihr Licht war so getrübt, so panisch, dass ich am liebsten zu ihr gestürmt wäre, um sie von den Fesseln zu befreien, mit denen man sie auf den Altar des Tempels gebunden hat, bevor der Priester ihr das Herz aus der Brust schnitt. Ich kannte sie nicht, und doch fühle ich mich, als wären wir miteinander verbunden gewesen.

Seufzend streife ich durchs hohe Gras, um zu einer Stelle zu gelangen, an der ich ungestört die Wäsche machen kann. Später, wenn die Sonne die Luft erhitzt, wird es hier von Frauen wimmeln. Ich mag die Unterhaltungen, die Lieder, die Erzählungen der alten Geschichten, all das, womit wir uns die Zeit vertreiben, während wir die Stoffe im Wasser walzen und anschließend trocknen. Doch heute brauche ich die Ruhe, denn in meinem Kopf ist es noch viel zu laut.

Mühsam klettere ich über ein paar Felsen und atme überrascht aus, als sich in mir ein warmes Gefühl ausbreitet.

»Nanauatzin«, murmle ich und erklimme das letzte Gestein, bevor ich einen Blick auf die geschützte Bucht werfen kann. Mein bester Freund steht bis zu den Knien im Wasser und sieht hinaus auf das andere Flussufer.

Freude erfüllt mein Herz, während ich mir den Weg nach unten suche. Ich versuche möglichst leise zu klettern, um ihn zu überraschen, und denke für einen Moment tatsächlich, dass es mir gelingt, doch da dreht er sich um.

»Ichtaca«, begrüßt er mich mit einem sanften Lächeln. Erleichtert stelle ich fest, dass sich durch das Ritual nichts verändert hat. Er hat nichts mehr gemein mit dem mysteriösen Mann mit der Maske und den Malereien, der mit seinem Dolch die Haut einer Frau durchschnitten hat. Nein, heute ist er der Mann, mit dem ich aufgewachsen bin. Der, der mein Knie pustet, wenn ich hinfalle, und mir Blumen bringt, um mich aufzuheitern. Der, der immer da ist, wenn ich ihn brauche.

»Nanauatzin.« Ich stelle den Korb ab, sehe mich um, dann trete ich zu ihm ins Wasser und schließe meine Arme um seinen Körper. Mit meinem Ausatmen fällt die ganze Anspannung von mir ab.

Er vergräbt seine Nase in meinem Haar und drückt mich kurz an sich. Seine Haut duftet nach diesem ungewöhnlichen Geruch, der ihn ausmacht. Seine Arme fühlen sich bei jeder Umarmung stärker an, doch leider werden unsere Umarmungen mit jedem Mal kürzer.

»Du hast mich schon wieder kommen gehört«, stelle ich fest, während er mich loslässt und auf Abstand geht.

»Das ist keine Herausforderung, wenn deine Gedanken so laut sind.« Er streicht sich das dunkle Haar aus der Stirn. Seine grünen Augen leuchten besorgt auf. »Du solltest das wirklich üben.«

»Ich weiß.« Ich verlasse das Wasser, um meinen Korb zu holen und mich damit auf den Felsen niederzulassen, von dem aus ich gut die Kleidung ins Wasser tauchen kann. »Es fällt mir nur so schwer.«

»Früher oder später wird es auffallen, Ichtaca.«

Ich beiße mir schuldbewusst auf die Unterlippe. Nanauatzin sucht sich einen Platz in meiner Nähe. Sein Blick glüht auf meiner Haut.

»Du weißt, dass ich das nicht böse meine, oder?«

Ich lächle und tauche den ersten Stoff ins Wasser. »Wie könntest du jemals etwas böse meinen?«

»Ich will nur nicht, dass sie dich finden.« Seine Stimme ist ungewohnt ernst und lässt mich aufhorchen. »Ich will nicht, dass es dir wie deiner Mutter ergeht.«

»Wird es nicht.« Ich konzentriere mich auf die Wäsche, weil ich ansonsten wieder an die Nacht ihres Todes denken muss. »Sie haben schon eine Weile keine Priesterinnen mehr geopfert, und abgesehen davon bin ich keine Priesterin.«

»Noch nicht.«

»Was soll das heißen? Noch nicht?« Ich halte inne und sehe zu Nanauatzin, der die Beine im Wasser baumeln lässt und ganz entspannt aussehen würde, wäre sein Licht nicht so gedämpft.

Er seufzt. »Du weißt genau, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis du so laut bist, dass sie dich nicht mehr überhören werden.«

Der Gedanke lässt mich erschaudern. Eine Priesterin zu werden ist die eine Sache. Geopfert zu werden, um einen Gott glücklich zu stimmen, eine ganz andere.

Ich will noch nicht sterben.

Eigentlich will ich mehr von diesem Leben.

»Du könntest immer noch mit mir davongehen«, murmle ich leise, doch er schüttelt den Kopf. Ich stecke das Baumwollhemd wieder ins Wasser und beginne es zu schrubben, um die Flecken daraus zu entfernen.

»Du weißt genau, dass ich Verpflichtungen habe. Ohne meinen Verdienst als Krieger würde meine Familie nicht mehr überleben können.«

Weil es keinen Sinn hat, gegen seine Worte anzureden, bleibe ich stumm und arbeite weiter. So oft haben wir uns ausgemalt, wie wir ein Pferd stehlen würden, um damit dem Horizont entgegenzureiten. So oft haben wir davon geträumt, wie der Sternenhimmel an einem anderen Ort aussieht. Und so oft ist uns unser Leben in die Quere gekommen.

Er ist nicht der Einzige, der Verpflichtungen hat. Mir würde es genauso schwerfallen, meinen Vater zurückzulassen. Er hat ja nur noch mich.

»Taca.« Nanauatzin klingt zärtlich, fast wie eine unserer flüchtigen Berührungen. Er sieht mich an, als wäre ich das Schönste und zugleich Gefährlichste in seinem Leben. Ich liebe diesen Blick. Ich habe ihn schon geliebt, seit er ihn mir das erste Mal geschenkt hat.

Sein goldenes Licht breitet sich um ihn herum aus. Ich spüre, wie es zu mir kommt, mich berührt, in mir kribbelt, wie es sich mit meinem eigenen Licht verwebt, und die Intensität der Berührung jagt ein wohliges Schaudern durch meinen Körper.

»Nanauatzin«, flüstere ich, und sein Blick geht tiefer und tiefer. Ich schlucke die Enge in meinem Hals hinunter.

Ich wünschte, er würde mich nie wieder loslassen. Mich für alle Monde berühren, halten, mit mir verwoben sein.

Doch wie immer zieht er sich viel zu schnell zurück und reißt damit das Loch der Sehnsucht in meinem Herzen immer weiter auf, bis ich eines Tages nicht mehr weiß, wie ich es noch zusammenhalten soll.

 

 

Sechs Stunden nach dem Angriff der Hexenjäger

 

[1]

 

Ivan

Österreich, 2018

 

Fünfzehn zerbrochene Fenster.

Sechs eingetretene Türen.

Malerarbeiten in zehn Räumen, um das vergossene Blut zu übertünchen.

Viel zu viele Urnengräber.

Der Geruch von wütender Magie, der sich im Gemäuer eingenistet hat.

Unzählige Menschen, die in einer Trauerfeier den Verlust eines Familienmitglieds beweinen werden.

Ein freier Gestaltwandler, der seit Tagen im Schloss umherirrt.

Drei tote Freunde.

Eine entführte Hexe.

Die Einzige, die den Fluch unter meiner Haut aufhalten kann.

Eine junge Frau, die in meinen Armen gestorben ist.

Ein Bruder, dem ich genauso gut das Herz aus der Brust hätte reißen können.

Ich.

Ich und die Regentropfen auf dem Fenster, die zu viele sind, um sie zu zählen.

Warum habe ich überlebt?

 

[2]

 

Ivan

Österreich, 2018

 

Jemand klopft an die Tür. Mein Herz beginnt zu rasen.

»Ivan? Ich bin’s, Lotta.« Ich halte inne und lege den Lappen zurück in den Eimer, bevor ich langsam aufstehe. Mein Herzschlag normalisiert sich wieder.

Sie klopft noch einmal. »Komm schon. Ich weiß, dass du da drin bist. Du kannst dich nicht ewig verstecken.«

Kurzentschlossen öffne ich die Tür und ziehe sie in mein Quartier. Sie quietscht erschrocken auf, doch da habe ich die Tür schon wieder geschlossen. Ihre blauen Augen öffnen sich weit, als sie das Chaos in meinem Zimmer sieht. »Was zum ...? Was machst du hier? Mistest du etwa aus?«

»Meine Wohnung brauchte dringend einen Frühjahrsputz«, krächze ich, und es fühlt sich an, als hätte ich wochenlang nicht gesprochen. Dabei sind gerade mal ein paar Stunden verstrichen, seit ...

Ich würge den Gedanken ab und lasse Lotta im Eingangsbereich stehen, um zurück zu meinem Eimer mit dem lauwarmen Wasser zu gehen. Dort wringe ich den Lappen aus und wische damit über die Kommode unterm Fernseher, die meine Spielekonsole und eine beachtliche Sammlung an Spielen und Filmen enthalten hat.

Über die Hälfte davon stapelt sich nun auf dem kleinen runden Esstisch. Gleich neben ein paar Kleidungsstücken, die ich nicht mehr brauche, und den Psychologie-Wälzern, die ich während meines Fernstudiums in- und auswendig gelernt habe.

»Der Palast liegt in Schutt und Asche, und du ... putzt?« Ich spüre Lottas entgeisterten Blick auf meinem Rücken, schenke ihr aber keine Beachtung. Was soll ich auch groß sagen? Dass ich gerade mein Bestes gebe, nicht die Nerven zu verlieren? Dass ich mich mit möglichst menschlichen Dingen beschäftige, um nicht zu vergessen, dass ich ein Mensch bin?

Ich wasche den Lappen aus, wringe ihn ein weiteres Mal aus und putze über die blitzblanke Oberfläche. Es ist das letzte Möbelstück in diesem Quartier, das ich saubermachen musste.

Ich bin fertig.

Aber wenn ich fertig bin, bedeutet das, dass ich mich anderen Dingen widmen muss.

»Verdammt nochmal!« Ehe ich mich versehe, steht Lotta neben mir und reißt mir den Lappen aus der Hand, um ihn wütend in den Eimer zurück zu pfeffern. Sie zerrt mich zu sich herum. »Wie siehst du überhaupt aus? Oh mein Gott, Ivan. Ist das etwa noch Blut?«

Sie beugt sich vor, zerrt an dem Ausschnitt des T-Shirts, das ich angezogen habe, kurz nachdem ich zurück auf mein Zimmer gegangen bin, und verzieht das Gesicht. »Ausziehen und duschen, na los. Ich kann nicht glauben, dass du dir das Blut nicht abgewaschen hast.«

Ich grummle, doch sie macht nicht den Anschein, zu verschwinden, bevor sie erreicht hat, wofür sie hier ist. Wenn ich meine Ruhe will, mache ich lieber, was sie sagt.

An Ort und Stelle streife ich mein Oberteil ab und bestrafe sie mit einem provozierenden Blick. Sie hält ihm stand, schluckt jedoch, als ich mich auch meiner Hose und der Unterwäsche entledige. Nackt schlurfe ich schließlich ins Badezimmer und stelle die Dusche an. Die Armaturen blitzen mir poliert entgegen und scheinen mich zu verhöhnen.

In den Spiegel sehe ich gar nicht erst. Mein eigenes Gesicht erinnert mich zu sehr an das meines Bruders.

Alex.

In meiner Brust lodern Schmerzen auf, also steige ich unter die Dusche, obwohl das Wasser noch eiskalt ist. Ein Schmerz betäubt den anderen.

Die Kälte rinnt über meinen Körper, aber ich spüre sie kaum. Dafür bin ich zu weit weg. Geistesabwesend wasche ich mich, beobachte, wie das Wasser sich erst rot färbt und dann wieder durchsichtig wird, und drehe irgendwann das mittlerweile viel zu heiße Wasser wieder ab. Ich öffne die Duschkabine und greife nach meinem Handtuch, um es mir um die Hüften zu schlingen. Dabei fällt mein Blick auf den schwarzen Fleck, der sich langsam, aber sicher unter meiner Haut ausbreitet.

Ich kann den Fluch nur einsperren, und dann versuchen wir ihn später zu heilen.

Emmas besorgtes Gesicht flackert vor meinem inneren Auge auf. Ich zwinge mich dazu, den Blick von meinem Körper abzuwenden und mit meinen Bewegungen fortzufahren. Wenn der Fluch nicht an Tempo zulegt, habe ich vielleicht noch ein oder zwei Wochen, bevor er sich in meine Organe gefressen hat. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Schmerzen nicht mehr ertrage und diesem Witz namens Leben ein Ende bereiten werde.

Lotta hat sich auf mein Sofa gesetzt und wartet auf mich. Sie hebt den Blick und reißt die Augen auf. »Ist das ... Oh Gott, Ivan. Ist das etwa ein Fluch?«

Jetzt ärgere ich mich darüber, mich wie ein trotziger Teenager verhalten zu haben, statt frische Kleidung anzuziehen und Lotta das zu ersparen. »Es ist halb so wild«, grummle ich und hetze aus dem Wohnzimmer, wobei ich mein Handtuch festhalten muss, damit es mir nicht von den Hüften rutscht. Ich schließe die angrenzende Tür und werfe das Handtuch auf mein Bett, bevor ich mir etwas zum Anziehen raussuche.

Frisch angekleidet fühle ich mich beinahe wie ein anderer Mensch.

Aber nur beinahe.

Die Last auf meinen Schultern ist zu erdrückend, als dass ich sie mit einer Dusche einfach abspülen könnte.

Zurück im Wohnzimmer stelle ich fest, dass Lotta nicht länger auf dem Sofa sitzt, sondern an der schmalen Küchenzeile steht und Kaffee kocht. »Der Rat hat eine Sitzung einberufen. Es geht in einer halben Stunde los, und du musst dort sein.«

»Warum?« Ich schnaube auf. »Was soll ich da? Haben wir nichts Wichtigeres zu tun, als uns dort die Köpfe einzuschlagen?«

Sie dreht sich um und mustert mich mit zusammengepressten Lippen. »Ich weiß, dass das hart für dich ist. Ich weiß, dass Silas dein bester Freund und Tyros wie ein Vater für dich war. Ich weiß, dass es Alex, aus welchem Grund auch immer, nicht gut geht. Aber Ivan, Silas würde wollen, dass du das weiterführst, was ihr angefangen habt. Das hier ist deine Chance.« Sie hält inne, und ihr Blick wird weich. »Das ist unsere Chance, etwas zum Besseren zu verändern. Wenn du sie nicht für dich nutzt, dann nutz sie für all die Hexen, die gestorben sind, weil sie sich nicht verteidigen konnten. Oder tue es für Lena, die gerade um die Liebe ihres Lebens trauert, statt sich Gedanken um ihre Hochzeit zu machen. Du lebst. Und du schuldest es ihnen, dein Bestes zu geben.«

Wie auch immer Lotta das macht, ihre Worte finden den Weg durch den Schutzwall, den ich in den letzten Stunden errichtet habe, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was geschehen ist. Ihre Worte wecken in mir Gefühle.

Hoffnung.

Hoffnung auf Veränderung.

[3]

 

Azalea

Österreich, 2018

 

»Du kannst hier nicht raus.« Sorgenvoll sehe ich hinüber zu Melvin, der wie erschlagen auf dem Bett liegt, das vor wenigen Stunden noch Louisa gehört hat. Die blonden Haare fallen ihm über die Stirn, die blauen Augen sind geschlossen. Dennoch erkenne ich an seinem angespannten Kiefer, dass er wach ist und mir zuhört. »Es ist zu gefährlich. Die Wächter suchen nach dir.«

»Ich verstehe das ja«, erwidert er und schlägt die Augen auf. »Aber ich werd hier wahnsinnig. Ich will mich doch bloß etwas bewegen können.«

»Ich weiß.« Ich verziehe das Gesicht und sehe zu Yanis, der mit verschränkten Armen an der Tür steht. Ihn nicht als Hund zu sehen, fühlt sich sonderbar an. Er hat die vollen Lippen zusammengepresst, und in seinen braunen Augen stehen Sorge und Abweisung gleichermaßen geschrieben. Die dunklen Haare fallen ihm lockig in die Stirn. »Sag doch auch mal was«, bitte ich ihn.

»Wenn Melvin meint, dass er rausgehen muss, soll er machen. Er wird schon sehen, was er davon hat.«

»Nicht. Hilfreich.« Ich rolle mit den Augen und lasse mich seufzend zurück in die Kissen fallen. Ein kleines bisschen Schlaf. Viel mehr wünsche ich mir gerade gar nicht. Aber daran ist nicht zu denken, denn entweder sehe ich dann Zoe vor mir, die mich aus toten Augen anstarrt, oder Louisa, deren Körper plötzlich ganz schwarz wird. Wenn es das nicht ist, dann ist es die Sorge um Melvin, die mich wachhält, weil er sich unkontrolliert und unter starken Schmerzen in irgendwelche Tiere verwandelt. »Yanis hat gesagt, dass das unkontrollierte Wandeln bald ein Ende hat«, erkläre ich Melvin zum wiederholten Male.

Er setzt sich auf und sieht mich wütend an. »Du meinst, wenn ich auch noch den letzten Rest meines Lebens vergessen habe?! Ganz toll. Ich kann’s kaum erwarten.«

»Sieh es positiv«, mischt sich Yanis ein. Ich weiß immer noch nicht, ob seine Anwesenheit die Situation besser oder schlechter macht. »Du hast die Möglichkeit, ganz neu anzufangen.«

»Positiv?« Melvin springt auf und stürmt auf ihn zu. »Ich vergesse mein verdammtes Leben, Mann! Das soll ich positiv sehen?«

Yanis schnaubt, und ich seufze genervt auf, weil Melvin das zum wiederholten Male zum Anlass nimmt, Yanis am Kragen zu packen.

»Lass mich los«, knurrt Yanis wütend. Wenigstens verwandelt er sich dieses Mal nicht gleich in einen Wolf, um Melvin in seine Schranken zu verweisen. Man muss ihm zugutehalten, dass wir ihm kurz zuvor vom Angriff der Hexenjäger und Zoes Tod erzählt haben. Da darf man schon mal einen emotionalen Kurzschluss haben.

»Jungs! Was soll der Scheiß?«, ermahne ich sie und stehe auf, um mich zwischen die beiden Hitzköpfe zu schieben. »Wir haben gerade zwei Freundinnen verloren und wir haben dich – Melvin – da rausgeholt, um dir zu helfen. Jetzt schaffen wir den Rest des Weges auch noch.« Ich greife nach Melvins Hand und drücke sie sanft, aber bestimmt hinunter. »Ich kann verstehen, dass das schwer für dich ist. Wenn Hayet erst die Schlüssel zur Bibliothek hat, finden wir eine Lösung, deine Wandlung rückgängig zu machen.«

Er starrt mich einen Moment stumm an, nickt aber schließlich und weicht zurück.

»Kann man nicht.«

»Gott, Yanis! Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?« Ich fahre herum und funkle ihn wütend an. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, weil er mit jedem seiner Worte dafür sorgt, dass ich weniger Hoffnung habe, an die ich mich klammern kann. »Ich weiß wirklich nicht, warum du so ein Arsch sein musst.«

Er öffnet den Mund, atmet aus, schließt ihn wieder. Sein Schlucken wirkt, als würde er die Widerworte hinunterzwängen. Bevor er es sich anders überlegen kann, klopft es dreimal an der Tür. Unser verabredetes Zeichen, damit Melvin sich nicht verstecken und Yanis sich nicht zurück in Lumière verwandeln muss.

Erleichtert trete ich zur Seite, damit Yanis öffnen kann. Hayet schiebt sich an ihm vorbei ins Zimmer. »Ich hab endlich die Schlüssel zur Bibliothek bekommen«, erklärt sie etwas außer Atem und lässt die Bücher von ihrem Arm auf mein Bett fallen. Ihr Gesicht ist aschfahl, und sie reibt sich die Stirn – wahrscheinlich setzt ihr die Gehirnerschütterung doch mehr zu, als sie zugibt. »Vielleicht steht hier etwas Brauchbares drin.« Sie kramt in ihrer Jackentasche und wirft mir einen Schlüssel zu. »Du siehst grauenvoll aus, Azalea. Nutz die Zeit und hau dich eine Runde aufs Ohr, ja?«

»Yanis und ich könnten auch in die Bibliothek gehen und weitersuchen«, schlage ich zögernd vor. »Vielleicht gibt es noch andere Bücher, irgendeinen Zauber, der den Wandel rückgängig macht.«

»Glaubst du nicht, davon wüssten wir längst?« Yanis klingt dieses Mal nicht genervt. Überrascht sehe ich ihn an. Ist das etwa Mitgefühl in seinem Blick? Ich hebe eine Braue. Er zuckt mit den Schultern. »Komm schon. Hayet hat recht. Wir müssen schlafen. Wenn es eine Lösung gibt, wird sie morgen auch noch funktionieren.«

Seufzend gebe ich mich geschlagen. »Ich hoffe, damit hast du recht.«

 

 

»Du weißt, dass es keine Lösung gibt, oder?« Yanis’ raue Stimme füllt den Raum.

Ich überlege einen Moment, ihm nicht zu antworten. »Ich dachte, du schläfst schon.«

»Ich schlafe erst, wenn du es tust.« Ich kann das Schmunzeln in seiner Stimme hören. »Wer weiß, auf welche Gedanken du ansonsten kommst.«

»Wenn du denkst, ich würde dich im Schlaf vernaschen, hast du sie nicht mehr alle.«

Er lacht leise auf. »Du weißt genau, was ich meine, Azalea.«

Ich rolle mich auf die andere Seite und sehe ihn an. Er hat eine Hand unter seine Wange gelegt und beobachtet mich. Seine Augen zeigen mir, dass er es ernster meint, als er seine Worte klingen lässt.

»Du gehst kaputt, wenn du nicht schläfst.«

Ich atme leise aus. Natürlich hat er recht. »Ich weiß nicht, wie ich schlafen soll, wenn ich ständig diese Bilder im Kopf habe«, spreche ich die Worte aus, die ich eigentlich nur denken wollte. Ich blinzle und sehe für einen Moment Zoes blasses Gesicht vor mir.

Ich konnte ihr nicht helfen. Sie war tot, noch bevor sie zu Boden gefallen ist.

Verfluchte Hexenjäger. Verfluchtes Medaillon. Verfluchte magische Welt. Wie bin ich nur hier hineingeraten? Wieso hätte ich nicht einfach weiter mit Mila Party machen können, statt nun den Tod so vieler Menschen zu betrauern?

Yanis steht auf und kommt zur mir. »Na los, rutsch ein Stück.«

»Was machst du denn?«, frage ich verwirrt, rutsche aber gehorsam näher an die Wand und beobachte, wie er die Decke anhebt und darunter schlüpft. Seine Körperwärme hüllt mich beinahe sofort ein. Er schiebt einen Arm unter meinen Nacken und wartet darauf, dass ich mich an ihn kuschle. Einen Augenblick zögere ich, aber die Aussicht auf ein paar Stunden Schlaf, die ich nicht allein verbringen muss, ist zu verlockend.

»Wenn ich Zoe schon nicht beschützen konnte, will ich wenigstens auf dich achtgeben«, flüstert er erstickt. Das Herz rutscht mir in die Hose, weil mir klar wird, dass er sich Vorwürfe macht. Wenn er nicht auf Melvin hätte achtgeben müssen, wäre er vielleicht mit uns unterwegs gewesen. Vielleicht hätte er Zoe retten können.

Vielleicht wäre aber auch er in diesen wenigen Minuten auf dem Flur gestorben.

Es ist ja nicht so, als hätten wir besonders gute Chancen gehabt.

»Es ist nicht deine Schuld«, erwidere ich leise, aber ich weiß, dass es zwecklos ist. Ich fühle mich selbst schuldig. Es ist die Schuld der Überlebenden. Ein Gefühl, das man vermutlich niemals ablegen wird.

Ich versuche den Bildern in meinem Kopf zu entgehen, in dem ich an seiner Halsbeuge schnuppere, um den Geruch verbrannter Magie in meiner Nase mit seinem unverkennbaren Duft zu überlagern. Yanis riecht nach Duschgel und der entfernten Erinnerung an ein Leben als Raucher. Seit wir hier sind, habe ich ihn nicht mehr mit Zigarette gesehen, was vielleicht auch daran liegt, dass er die meiste Zeit als Lumière unterwegs ist. Auf dem Weg zum Palast hat er geraucht, wann immer wir eine Pause gemacht haben. Ich würde ihn gerne fragen, ob es ihm fehlt, aber das kommt mir dann doch zu intim vor.

»Schlaf gut, Azalea«, wispert er und schlingt seinen Arm um meine Schultern, als würde er mich die ganze Zeit über festhalten wollen, damit ich keine Albträume mehr habe.

Ich wünschte, es wäre so einfach.

[4]

 

Willem

Österreich, 2018

 

Ich brenne.

Das Feuer jagt durch meine Adern und verbrennt mich bei lebendigem Leibe. Ich versuche zu schreien, doch da ist bloß Watte in meinem Mund, dicke, flauschige Watte, durch die kein Laut nach außen dringt und keine Luft hinein. Meine Lungen versagen mir den Dienst, mein Herz galoppiert in rasendem Tempo davon, und mir wird klar, dass dies mein Ende ist …

»Scheiße, Willem!« Es knallt, und einen Augenblick später schießen heiße Schmerzen über meine Wange. »Ich hab dich nicht gefunden, um dich gleich darauf an einen verdammten Fluch zu verlieren. Mach die Augen auf.«

Die Stimme kommt mir vage bekannt vor, aber die Wut und Panik, die darin mitschwingen, machen es mir schwer, sie zuzuordnen. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, in der ich keine Menschen mehr gehört habe. Dabei kann das letzte Mal gar nicht so lange her sein. Oder?

Ich versuche die Augen zu öffnen, doch ich scheitere kläglich. Es ist, als hätte man meine Lider mit Sekundenkleber zusammengeklebt.

»Komm schon«, wispert die Stimme. Ich spüre ihre Anwesenheit in Form eines goldenen Lichts, das mich in eine Wärme hüllt und gegen den dumpfen Schmerz in meinem Inneren kämpft. Es verdrängt ihn Stück für Stück und sorgt dafür, dass ich mich entspannen kann. Ich kuschle mich in das Licht, weiß, dass es mich beschützen und nicht allein lassen wird, bis ich es nicht mehr brauche.

»Ich brauche dich, Willem. Wach. Auf!« Ihr Satz verschwindet in einem spitzen Schrei, der mir in Mark und Bein übergeht. Zusammen mit dem dumpfen Schlag auf meine Brust reißt er mich an die Oberfläche meines Bewusstseins.

»Verdammt«, stöhne ich grummelnd auf und hebe eine Hand, um mir die schmerzende Brust zu massieren. Das Licht verschwindet so schnell aus meinem Körper, dass nichts als Kälte zurückbleibt. Aber so bin ich wenigstens nicht mehr so tiefenentspannt und kann endlich die Augen öffnen.

Sie brauchen einen Moment, um sich an die Umgebung zu gewöhnen - und an die Frau, die mit vor Schreck geweiteten Augen vor mir sitzt. Ein Traum aus blauen Augen und rosa Haar.

»Emma«, stelle ich erfreut fest. Entweder ist das mein persönlicher Himmel oder die letzten Erinnerungen, die ich habe, sind echt. Ein überfüllter Speisesaal. Meine Enttarnung vor sämtlichen Schülern. Unsere Flucht durch den Innenhof und über das schneebedeckte Land.

Zu meiner anderen Seite prasselt ein Kaminfeuer, und je mehr ich mich umsehe, desto schneller komme ich zu dem Schluss, dass wir in einer Jagdhütte gelandet sind. »Du bist hier. Wo sind wir?«

»Tja, ich konnte dich leider nicht allein lassen«, antwortet sie bissig und deutet auf ihr Bein. Ich setze mich auf und erkenne schockiert, dass ihr Schienbein … gebrochen ist.

Mir wird schwarz vor Augen. »Ist das …?«

»Eine Tibiafraktur? Ja, ist es.« Sie schnipst vor meinem Gesicht. »Hey, kipp mir jetzt bloß nicht um. Wenn ich es schaffe, dich mit einem Schienbeinbruch hier rein zu schleppen, Feuer zu machen und deinen Fluch so zu heilen, dass du zumindest aufwachen kannst, kannst du dir auch meinen offenen Bruch ansehen, ohne umzufallen.«

»Du hast leicht reden.« Ich atme tief durch den Mund ein und wieder aus und versuche das blutige Bild ihres Beines zu verdrängen. Dann habe ich mir den Knochen nicht eingebildet, sondern er hat tatsächlich aus ihrer Haut rausgeguckt. Oh Gott. Ich bin echt nicht gemacht für so was.

Aber da sie irgendwie recht hat, reiße ich mich zusammen und öffne die Augen wieder, darauf bedacht, nicht noch mal auf ihr Bein zu sehen. »Was ist passiert?«

»Wir sind abgestürzt, und wenn diese Jagdhütte nicht gewesen wäre, hätte uns der Schnee draußen den Rest gegeben.« Emma schaut zum Fenster. Ich folge ihrem Blick, doch viel mehr als weiß kann ich nicht erkennen. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir vor den Hexenjägern geflohen sind? Einer davon hat dich mit einem Fluch erwischt. Er hat angefangen zu wirken, als wir gerade außer Reichweite waren. Du hast an Höhe verloren, und bevor wir irgendwas tun konnten, hast du mich schon losgelassen, und ich bin gestürzt.« Sie deutet auf die Schrammen an Armen und Gesicht. »Ein Baum hat meinen Sturz abgefangen, aber dabei habe ich mir das Bein gebrochen. Du hattest Glück und bist in den Neuschnee gefallen. Ich hab dich kurz vor der Hütte gefunden und reingezogen, gerade rechtzeitig, um den Fluch noch aufzuhalten und rückgängig zu machen. Ein paar Minuten später, und du wärst tot gewesen.«

Ich unterdrücke ein Schaudern und frage mich, welche Anstrengung es sie gekostet haben muss, mich nicht nur in die Hütte zu schaffen, sondern auch noch zu heilen. Wieder einmal.

»Du hältst den Rekord«, witzle ich, um meine Rührung zu überspielen. »Mich hat noch niemand so oft geheilt wie du.«

Sie schnaubt auf und rutscht etwas zurück, um sich mit dem Rücken gegen das lederbezogene Sofa zu lehnen. Ihr Gesicht ist blass, sie sieht furchtbar erschöpft aus. »Na ja, bei über zwanzig Mal ist das auch keine Meisterleistung.«

Verwirrt kneife ich die Brauen zusammen. »Über zwanzig Mal?«

Ich erinnere mich bloß an die paar Mal, die ich Silas zu verdanken hatte, und daran, wie Mikael mir eine draufgeben musste, damit wir den Gestaltwandler befreien konnten.

»Ich hab mitgezählt. Der Fluch kommt gleich nach dem Tag, an dem du auf eine Mine getreten bist und ich dein Bein wieder an deinen Körper nähen musste.« Sie lacht hysterisch auf, und ich habe keinen blassen Schimmer, wovon sie spricht. »Ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben wie in diesem Augenblick. Und du Idiot hast auch noch rumgewitzelt.«

Ich schlucke, als ich die Tränen in ihren Augen funkeln sehe. Mir wird ganz schlecht. Fast so, als hätte ich etwas furchtbar Wichtiges vergessen.

»Emma … wovon sprichst du da?«, frage ich vorsichtig nach.

Sie blickt verwirrt auf und wischt sich mit dem Ärmel ihres Pullovers über die Wangen. »Erinnerst du dich nicht mehr an diesen Tag?« Die Verwirrung weicht dem Verständnis. »Du erinnerst dich überhaupt nicht mehr an mich, oder?«

[5]

 

Ivan

Österreich, 2018

 

Im Ratssaal herrscht Chaos. Es scheint, als würde sich keiner dafür verantwortlich fühlen, die Regie zu übernehmen, obwohl längst klar ist, dass Tyros und Freya tot sind. Irgendwer aus dem kleinen Rat sollte jetzt da vorne stehen und sich darum kümmern, dass man in diesem Raum wieder miteinander reden kann.

Da ich selbst keinen Überblick über die Toten habe, lasse ich meinen Blick durch den Raum fliegen und suche nach den Ratsmitgliedern, die in der Position wären. Ich entdecke Johann, der mit zornigem Gesichtsausdruck auf Michelle einredet, und bin augenblicklich genervt von ihm. So tolle Reden schwingen, aber dann den Arsch nicht hochkriegen, wenn es nötig ist.

Lotta stupst mich an und deutet mit einem Rucken ihres Kinns auf das Podium. »Das ist deine Chance. Beweis ihnen, dass du eine Führungskraft sein könntest«, wispert sie, und mein Herz macht einen Satz. Als sie vorhin meinte, ich könnte etwas verändern, hätte ich nicht gedacht, dass sie mich tatsächlich als Ratsvorsitz in Erwägung ziehen würde. Der Gedanke wäre mir selbst nie in den Sinn gekommen.

Auch wenn sie natürlich recht hat.

Im kleinen Rat hätte ich die Möglichkeit, aktiv in das magische Leben einzugreifen. Aber habe ich dazu überhaupt genug Lebenserfahrung? Die bisherigen Mitglieder des kleinen Rats waren alle eher älter. Erfahrener.

Und jetzt? So wie es aussieht, leben davon nur noch zwei - vielleicht drei, wenn der Gestaltwandler Emma nicht umgebracht hat.

»Wo ist Max?«, frage ich, bevor ich eine Entscheidung treffe. »Er hat doch die Leitung übernommen.«

Lotta sieht mich traurig an. »Er kann nicht mehr, Ivan. Er hat die letzten sechs Stunden alles getan, was angefallen ist. Gönn ihm die Pause.«

Ich nicke, atme tief durch und steige auf das Podest. Das Kommando im Ernstfall zu übernehmen, ist etwas anderes als das hier. Jetzt sind es nicht meine Taten, die zählen, sondern meine Worte, die überzeugen müssen.

Das Mikrofon schwebt bedrohlich auf Augenhöhe, das Podest sieht aus, als wäre ich ihm nicht gewachsen. Als würde ich dahinter verschwinden. Ich weiß, dass das täuscht. Immerhin ist auch Freya dahinter nicht untergegangen, und die war viel kleiner als ich. Aber trotzdem. Hier zu stehen ist angsteinflößend.

Und doch trete ich vor, klopfe zweimal auf das eingeschaltete Mikrofon, bevor ich mich räuspere und darauf warte, dass im Saal Ruhe einkehrt.

Es dauert eine Weile, da verläuft sich die Menge, und alle nehmen ihren Platz ein. Mein Blick bleibt an Silas’ leerem Stuhl hängen. Der Gedanke daran, dass dort irgendwann ein anderer Mensch sitzen wird, macht mich krank. Dass ich sein Grinsen nun nie wieder sehen soll, habe ich noch nicht wirklich begriffen. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist. Ob er allein war, ob er auf die Hexenjäger getroffen ist. Oder doch auf den Gestaltwandler, den wir immer noch nicht wiedergefunden haben. Alles, was ich weiß, ist, dass man ihn mit gebrochenem Genick in einem verlassenen Flur gefunden hat.

Silas. Mit gebrochenem Genick.

Noch eine Sache, die mir nicht in den Kopf will.

Lotta tritt in mein Blickfeld und setzt sich auf meinen Platz. Sie streicht sich das blonde Haar hinter die Ohren und lässt ihre Hände über das Tablet auf ihrem Schoss fliegen, bevor sie aufsieht und mir aufmunternd zulächelt.

»Also los«, murmle ich mehr zu mir selbst, bevor ich meine Stimme erhebe. »Meine lieben Freunde, ich weiß, der Schock sitzt noch tief. Ich selbst würde am liebsten nicht über die Zukunft nachdenken, sondern stattdessen lieber die Gegenwart betrauern. Aber als großer Rat tragen wir die Verantwortung gegenüber der magischen Welt. Jeder wartet darauf, dass wir aus dieser Krise herausfinden. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzumachen.« Erleichtert stelle ich fest, dass mir die übrigen Ratsmitglieder zuhören. »Ich weiß, ich befinde mich nicht in der Position, mich vor euch zu stellen und den Anführer zu spielen, aber es braucht jemanden, der zumindest die Gespräche so lange lenkt, bis wir einen neuen kleinen Rat gebildet haben und damit auch die Position des Ratsvorsitzes geklärt ist. Wer damit einverstanden ist, dass ich diese Position für die Dauer der Neuwahlen einnehme, möge nun bitte die Hand heben.«

Mit angehaltenem Atem warte ich ab und sehe, wie Lotta, die eigentlich überhaupt keine Stimme hat, ihre Hand nach oben streckt. Michelle folgt ihr, wenig später auch einige andere, bis schließlich die positiven Stimmen die negativen überwiegen. Der Vollständigkeit halber zähle ich die Stimmen trotzdem.

Zweiundzwanzig Stimmen für mich.

Sieben gegen mich.

Macht neunundzwanzig.

Schwer atme ich aus. Der große Rat bestand vor zwei Tagen noch aus dreiundvierzig Mitgliedern.

Vierzehn Tote.

Vierzehn.

Ich schreibe die Zahlen an das Whiteboard hinter mir, bevor ich wieder hinter das Podium trete. »Lotta, würdest du bitte zum Mitschreiben nach vorne kommen?«

Sie nickt und steht eilig auf, auf der Treppe streicht sie sich über den Rock und schiebt ihre Brille mit der Fingerspitze hoch. Ich reiche ihr den Stift, und sie wird rot, weil sich unsere Finger berühren.

»Unsere oberste Priorität sollte darin bestehen, den Rat neu zu bilden«, fahre ich fort und schlucke. »Uns fehlen nun vierzehn Ratsmitglieder. Wir müssen die Plätze auffüllen, damit wir einen neuen, kleinen Rat bilden können. So wie ich das sehe, haben wir dafür zwei Möglichkeiten. Entweder, wir gehen den langen Weg über erneute Wahlen auf allen Kontinenten oder wir laden Personen ein, die wir für geeignet halten. So wären wir definitiv schneller, würden aber eine demokratische Lösung übergehen.«

Ich lasse erneut abstimmen und bin erleichtert, dass wir uns für die demokratische Lösung entscheiden. Auch wenn das ein paar Tage länger dauern wird, bleiben wir so unseren Werten treu und signalisieren der magischen Welt, dass wir alles im Griff haben. Ich bestimme zwei Wächter, die sich darum kümmern sollen, die Neuwahlen auf den Kontinenten ins Rollen zu bringen.

»Dann müssen wir eine Trauerfeier für die Verstorbenen organisieren, und zwar möglichst schnell. Die Angehörigen der Verstorbenen müssen benachrichtigt und eingeladen werden, die Gräber ausgehoben …« Ich verlaufe mich in den Worten, weil mich die Erkenntnis zum wiederholten Male wie ein Schlag in die Magengrube trifft.

Gott sei Dank springt Lotta ein.

»Gibt es ein oder zwei Leute, die die Organisation übernehmen wollen?«, fragt sie auffordernd in die Runde. Tatsächlich melden sich sogar ein paar Leute, darunter Michelle. Erleichtert nicke ich Lotta zu, die drei Namen hinter dem Punkt auf dem Whiteboard notiert.

In der Zwischenzeit sammle ich mich wieder und denke darüber nach, welche Themen wir außerdem ansprechen müssen. Es gibt so viel zu bereden. Neue Sicherheitsstandards, die Fortsetzung des Unterrichts, der ja nun schon eine Weile nicht mehr stattgefunden hat, der Gestaltwandler, der immer noch frei im Palast herumläuft, die Verwaltung des Nachlasses der Toten.

Im Kopf sortiere ich die Themen nach dem Diskussionsbedarf und spreche zunächst die Dinge an, die nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber selbst dafür sitzen wir zwei Stunden im Ratssaal, bis Lotta mich darauf hinweist, dass es schon nach Mitternacht ist. Mit ihren Worten kommt die Müdigkeit, also schließe ich die Sitzung nach dem nächsten Punkt fürs Erste und warte, bis alle Ratsmitglieder den Raum verlassen haben, bevor ich das Podium verlasse und mich erschöpft auf einen Stuhl fallen lasse.

»Ist alles in Ordnung?« Lotta legt ihr Tablet beiseite und setzt sich neben mich. Ich starre auf ihre pinken Schuhe und frage mich, wie sie mit diesen Absätzen den ganzen Tag herumlaufen kann. Meine Füße schmerzen ja schon in Sneakers.

»Alles bestens«, lüge ich und reibe mir durchs Gesicht. »Das war nur … ungewohnt.«

»Du hast das super gemacht.« Sie legt ihre Hand auf mein Knie und drückt sanft zu. Mein Blick fällt auf einen langen Kratzer an ihrem Unterarm. Besorgt fasse ich ihre Hand und drehe sie um, um den Schnitt beurteilen zu können. Die Wunde ist circa sechs Zentimeter lang und sieht noch relativ frisch aus.

»Was ist passiert?«, frage ich alarmiert. Ich habe gedacht, sie wäre während des Angriffs in Sicherheit gewesen. Nun zu sehen, dass sie verletzt ist, lässt sämtliche Sirenen in meinem Kopf losschrillen.

Lotta zieht an ihrer Hand, aber ich lasse sie nicht los, bevor sie mir nicht erzählt hat, was geschehen ist. »Nichts Schlimmes. Du weißt doch, wie ungeschickt ich bin.«

Ich hebe eine Braue. »Heißt das, du hast dir selbst wehgetan?«

Sie nickt, läuft rot an und zieht wieder an ihrer Hand. Dieses Mal lasse ich sie.

»Wie?«

»Ivan.« Sie seufzt. »Muss das echt sein? Es ist schon peinlich genug, dass ich zu blöd bin, mit einem Dolch umzugehen. Da muss ich dir nicht auch noch detailliert erzählen, wie ich mich verletzt habe, oder?«

Mein Mundwinkel zuckt, und ich atme überrascht aus. Niemals hätte ich damit gerechnet, am heutigen Tag lachen zu können. Wenn man denn von Lachen sprechen kann.

»Wozu brauchtest du einen Dolch?«, frage ich, weil es mir leichter scheint, mich auf sie zu konzentrieren als auf meine Gefühle.

»Ich wollte mich wehren können.« Sie verzieht das Gesicht und verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich war plötzlich ganz allein in der Kommandozentrale und hatte Angst, dass jemand reinkommt, der da nicht hingehört.«

Puh. Ich atme schwerfällig aus. Auch wenn sie sich jetzt stark gibt, kann ich mir gut vorstellen, wie sie vor ein paar Stunden beinahe durchgedreht wäre vor Angst. Über die Überwachungskameras hat sie sicher gesehen, wie die Hexenjäger den Palast gestürmt und keinen Halt vor ihren Gegnern gemacht haben. Sie haben nicht unterschieden zwischen Schülern, Hexen und Wächtern. Also hätten sie auch vor einem Menschen wie Lotta keinen Halt gemacht. »Kannst du überhaupt kämpfen?«

»Du meinst, bis auf die anderthalb Jahre Judo-Training, die ich als Kind mal hinter mich bringen musste?« Lotta schnaubt ironisch auf und sieht mich an. Ihr Blick ist offen und verletzlich. »Ich bin da mehr so der pazifistische Typ.«

»Ach ja?« Ich grinse sie an und sehe mich argwöhnisch um, um sicherzugehen, dass uns niemand belauscht. »Wie war das noch mit den Informationen, die man gegen jemanden verwenden kann?«

»Der Zweck heiligt die Mittel?«, schlägt sie unschuldig vor.

»Und so sollte es auch mit deinem Kampftraining sein«, beschließe ich. »Du musst dich wehren können, wenn du weiterhin in dieser Welt leben willst.« Dass es mir lieber wäre, sie würde sich auch in ihrer Welt verteidigen können, verschweige ich ihr. »Ich trainiere dich.«

Sie lacht hysterisch auf. »Glaub mir, das ist eine grauenvolle Idee.«

»Und dennoch eine gute.«

[6]

 

Azalea

Österreich, 2018

 

Ein Stoß in die Rippen weckt mich. Hellwach schieße ich hoch und zerre mir dabei beinahe den Nacken. »Ah, verdammt!«

Neben mir springt Yanis aus dem Bett, verheddert sich in der Bettdecke und wäre beinahe über seine eigenen Beine gestolpert, doch dann steht er kampfbereit im Zimmer.

Nur, dass dort niemand ist. Es war sein Ellbogen, der mich geweckt hat.

Wir atmen simultan aus.

»Ich dachte …«, setzt er an, verstummt jedoch und dreht sich zu mir. Sein graues T-Shirt ist zerknittert und … oh Gott, ist das etwa ein Sabberfleck von mir?

»Ich hab mich erschrocken. Du hast mir deinen Ellbogen in die Rippen gerammt«, erkläre ich eilig, damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, sein T-Shirt näher zu betrachten.

»Tut mir leid.« Er fährt sich mit einer Hand durch die wilden Locken, bevor er die Decke vom Boden aufhebt und sie sorgfältig über meinen Beinen ausbreitet. Er gähnt und streckt sich, ein Streifen gebräunter Haut blitzt über dem Bund seiner Hose auf.

Ich schaue weg und widme mich stattdessen dem Radiowecker auf dem Nachttisch. Wir haben gerade mal eine Stunde geschlafen. Viel zu wenig, um jetzt wieder aufzustehen, und das scheint auch Yanis klar zu sein, denn er macht Anstalten, sich wieder in mein Bett zu legen.

Weil mir keine Ausrede einfällt, rutsche ich an die Wand und mache ihm Platz. Ein Fehler - denn jetzt, da ich erst einmal wach bin, nehme ich seine Anwesenheit viel deutlicher war.

Das muss an der Übermüdung liegen, denke ich und drehe mich zur Wand.

»Lass uns noch ein bisschen schlafen«, sagt Yanis leise, bevor auch er sich eine bequeme Position sucht. Was nicht so leicht ist, wenn man zu zweit in einem so kleinen Bett schlafen will und einer von beiden ein riesiges Muskelpaket ist und die andere einen breiten Hintern hat.

Kurze Zeit später dreht er sich in meine Richtung und schiebt einen Arm unter meinen Kopf. Widerwillig muss ich mir eingestehen, dass ich seine Wärme genieße. Sie gibt mir das Gefühl, dass alles halb so wild ist. Dass nicht gerade ein paar unserer Freunde und Lehrer gestorben sind. Dass wir nicht einen Kampf überlebt haben, der genauso gut unser Ende hätte bedeuten können.

Gerade fühlt es sich einfach an, als wären wir ein Junge und ein Mädchen, die zum ersten Mal zusammen in einem Bett schlafen.

Ich atme wohlig aus. Wenn ich mich an diesen Gedanken klammere, mir für einen Moment vorstelle, wir wären ein Paar, dann kann ich einfach meine Fantasie spielen lassen, um den Film in meinem Kopf auf stumm zu stellen. Die Realität einfach mit einer selbstgestrickten Geschichte übertönen.

Yanis’ Atem an meinem Nacken macht es mir leicht, mir vorzustellen, wir hätten was miteinander. Ich schließe die Augen, und obwohl ich mich etwas für die Vorstellung schäme, lasse ich sie zu, weil sie mir hilft, zu vergessen. Er darf bloß niemals etwas davon erfahren, dass ich ihn benutzt habe. Damit würde er mich bestimmt ewig aufziehen.

Ich konzentriere mich auf seinen Atem. Auf das Gefühl, wie er an meinem Hals entlangströmt und sich in meinem Haar verfängt. Auf die weiche Innenseite seines Oberarms unter meiner Wange. Den Duft. Seine Brust in meinem Rücken. Muskeln, die mich beschützen würden, wie er es eben zur Schau gestellt hat.

Ungewollt erzittere ich und presse die Lippen und Augenlider aufeinander, in der Hoffnung, dass er es nicht gespürt hat, sondern längst eingeschlafen ist.

Fehlanzeige.

Er schluckt. Ein Geräusch, das seinen Widerhall in meinem Unterleib findet.

Oh, verdammt.

Ich fühle mich angezogen von ihm, jetzt, da ich die Gedanken erst zugelassen habe.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Auf einen Schlag ist mein Atem zittrig, und ich bin mir sicher, dass er es hört und die Spannung spürt, die plötzlich zwischen uns besteht. Er rutscht hin und her. Ungeduldig. Angespannt.

Mir wird schwindelig vor Aufregung.

Was habe ich mir nur dabei gedacht?

In mir baut sich ein unangenehmer Druck auf, und ich schiebe mein Becken unwillkürlich zurück. Yanis atmet überrascht aus, und dieser Laut schießt durch meinen gesamten Körper. Mir entfährt ein heiseres Keuchen.

Als habe er auf diese Bestätigung gewartet, berühren seine Finger meine Hüfte. Er rutscht dichter hinter mich, so dicht, dass ich ihn deutlich an meinem Hintern spüre, und weiß, dass es ihm so geht wie mir.

Er ist scharf auf mich.

Und die Tatsache, dass wir hier gerade im Begriff sind, etwas ganz und gar Unanständiges zu tun, sorgt dafür, dass mein Herz schneller schlägt und ich meinen Hintern an ihm reibe.

Seine Lippen liebkosen meinen Nacken. Mir wird heiß und kalt zugleich, während unsere Körper wie automatisch einen Rhythmus finden. Seine Finger gleiten unter meinen Pullover, streicheln über meinen Bauch, bis ich erstickt aufstöhne. Weil ich meinen BH ausgezogen habe, bevor ich ins Bett gegangen bin, gibt es für ihn kein Hindernis mehr. Erst berührt er die Unterseite meiner Brüste wie beiläufig. Einmal, zweimal, beim dritten Mal umfasst er meine Brust und streichelt mit seinem Daumen über meine Brustwarze.

Ein heiseres Stöhnen in meinem Ohr.

Ich will mich umdrehen und mich auf ihn legen. Ich will ihn küssen. Mich an ihm reiben, bis ich nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist. Es tut so gut, bloß an ihn zu denken. An das, was er mir geben kann. Geben muss, um diesen Hunger zu befriedigen, der in meinem Inneren erwacht ist und mit jeder seiner Berührungen wächst.

Aber ich fürchte, er zieht sich zurück, wenn ich eine falsche Bewegung mache. Also verharre ich und lasse geschehen, klammere mich mit meinen Händen in das Laken und presse mich an ihn, während er seine Hüften wiegt, hebe meine eigenen an, damit er mich leichter von meiner Hose befreien kann, bevor er seine eigene abstreift, und öffne bereitwillig die Beine, als seine Hand den Weg in mein Höschen findet.

Himmel.

Er schiebt seinen anderen Arm weiter unter mir durch und zerrt damit meinen Pullover hoch, um freien Zugang zu meinen Brüsten zu haben. So eingeklemmt von ihm habe ich gar keine andere Wahl, als mich seinem Rhythmus anzupassen. Mich dem Stoßen seiner Hüften und dem Liebkosen seiner Finger zu ergeben, bis der Druck in mir so sehr ansteigt, dass ich kaum noch Luft bekomme.

»Komm für mich, Azalea«, fordert er mich mit rauchiger Stimme auf, und das gibt mir den Rest. Ein letzter Stoß seiner Hüften, ein Zwicken in meine Brustwarze, seine Hand als Gegendruck zwischen meinen Beinen - meine Mitte zuckt heftig zusammen, als mich der Orgasmus überrollt und ich für ein paar kurze Augenblicke fliegen lerne.

 

[7]

 

Willem

Österreich, 2018

 

Ihre Worte drehen mir den Magen um. Du erinnerst dich überhaupt nicht mehr an mich, oder? Soll das heißen, ich kannte sie bereits, bevor ich einen Fuß in den Palast der Träume gesetzt habe? Woher? Wann? Ich kann mich überhaupt nicht an jemanden erinnern, der mich so oft geheilt hat, wie sie behauptet, es getan zu haben.

Niemand in meinem Leben als Gestaltwandler.

Alles, was davor war, ist längst verloren.

Obwohl die Wahrheit so einfach ist, fühlt sie sich doch so schwer an. So wie sie mich ansieht, kann ich sie nur enttäuschen. Da ist so viel Hoffnung und gleichzeitig so viel Angst in ihrem Blick, dass mir ganz schwer ums Herz wird.

»Ich … Mit der Wandlung in einen Gestaltwandler vergisst man alles, was vorher war«, erkläre ich ihr sanft und strecke eine Hand aus, um nach ihrer zu greifen. »Das war vorher, oder? Ich muss vorher ein Wächter gewesen sein.«

Sie nickt und schließt die Augen, atmet tief durch, verdrängt offenbar die Trauer darüber, dass ich mich nicht mehr an das erinnere, was war. Und es muss etwas Schönes gewesen sein, das spüre ich instinktiv. Vielleicht ist das der Grund dafür, wieso ich mich direkt zu ihr hingezogen gefühlt habe. Weil wir eine Verbindung hatten.

Weil wir vielleicht sogar die Verbindung hatten.

All die Jahre, die ich nun schon mit Mikael verbracht habe, bin ich nie auf die Idee gekommen, dass es vor meinem Tod einen Menschen gegeben haben könnte, mit dem ich durch dick und dünn gegangen wäre, hätte ich nur die Möglichkeit dazu bekommen. Dass ausgerechnet Emma diejenige ist, die auch mein altes Ich kennt, fühlt sich an wie das fehlende Puzzle-Teil zu meinem Gesamtbild.

»Haben wir uns geliebt?« Ich muss das wissen, weil ich das Fragezeichen in meinem Kopf nicht länger ertrage.

Sie blickt auf, lässt mich direkt in dem Meer ihrer Augen abtauchen, und ich kenne die Antwort schon, bevor sie das kleine Wort ausspricht, das irgendwie alles zu erklären scheint.

Ja.

Ja, wir haben uns geliebt.

»Wir waren sogar verlobt«, flüstert sie und hebt ihre Hand, um mit einem silbernen Ring zu spielen, dessen Fassung einen rosa Stein beherbergt. Der Ring sieht alt aus. Ein paar Jahrzehnte hat er sicher schon hinter sich. »Wir wollten heiraten, wenn der Krieg vorbei ist.«

Sie streift den Ring ab und reicht ihn mir. Ich nehme das Schmuckstück ehrfürchtig in die Hand, um es ausgiebig zu betrachten. Der Stein sieht aus wie ein dunkler Rosenquarz - ich kenne mich nicht genug mit Edelsteinen aus, um ihn genauer zuordnen zu können. Die silberne Fassung ist mit kleinen Ornamenten dekoriert, die sich über den gesamten Ring ziehen. Auch ohne Fachwissen ahne ich, dass dieser Ring mich ein halbes Vermögen gekostet haben muss.

»Du hast ihn behalten?«

Sie lächelt. »Natürlich.«

Ich betrachte sie noch einen Moment, bevor ich den Ring so ins Licht drehe, dass ich die Gravur lesen kann. 1943 - Emma et Willem steht da geschrieben, und ich atme baff aus. Es so in Metall geschrieben zu sehen, macht es noch realer, als es sich anfühlt. Wir beide haben eine gemeinsame Geschichte, eine intensive, so wie es aussieht, und ich erinnere mich an keine einzige Sekunde davon.

Das Bedauern frisst sich wie Säure in meine Adern. Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, ich wäre nicht zum Gestaltwandler geworden.

Bevor ich dem Gedanken zu viel Raum geben kann, greife ich nach dem ersten Gedanken, der mir in den Sinn kommt. »Wir haben in Frankreich gelebt?«

»Wir gehörten zur Résistance«, erklärt sie. »Du warst Soldat und ich Krankenschwester. Die Deutschen waren längst auf dem Rückzug, aber das Massaker von Tulle ...« Sie schüttelt traurig den Kopf. »Ich dachte, ich hätte dich an jenem Tag verloren. Doch du hast überlebt.«

Uff. Die neuen Informationen sind so ... überwältigend, dass mir schlicht und ergreifend keine Erwiderung darauf einfällt. Also will ich ihr den Ring zurückgeben.

Sie streckt die Hand aus und wartet zögerlich ab. Ich sehe auf, begegne ihrem Blick und fühle mich für einen Moment zurückversetzt in eine Erinnerung, die nicht meine ist. Bevor ich es mir anders überlegen kann, stecke ich ihr den Ring an. Sie lächelt warm.

Ich lächle zurück und versuche wieder in unser Gespräch zurückzukehren, damit ich nicht mehr in diesen Moment hineindeute, als da ist.

»Ich erinnere mich nicht daran.« Ich zucke mit den Schultern. »Meine früheste Erinnerung geht zurück an eine Hütte irgendwo im Wald. Mikael war da und hat mir alles erklärt.«

Sie reißt überrascht die Augen auf. »Mikael hat auch überlebt?«