Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dr. Kenneth Schneeberger aus Mesa Verde, USA, hat erneut einen Band gruseliger Horror-Shorties veröffentlicht. Diesmal sind es nicht seine eigenen Geschichten, sondern ihm von Fans zugesandte Psycho-Prosa. Gleichwohl ist der Gruseleffekt auch hier zum Teil wieder recht hoch, wobei Geschmäcker bekanntlich unterschiedlich sind. In der Hoffnung, dass jeder sich zumindest für einige der Stories begeistern kann, hat der Doc eine Auswahl recht unterschiedlicher Art getroffen. Nachfolgend ein kurzer Ausschnitt aus einem seiner 20 Psycho-Drops: "Sie schluckte ihre Besorgnis hinunter, zwang ihre Gesichtszüge in eine emotionslose Maske, und fokussierte ihre Aufmerksamkeit auf den am Boden liegenden Mann, der, bei näherem hinsehen, gar nicht mal mehr so bewegungslos erschien. Seine Brust bewegte sich in unregelmäßigen Abständen, während seine gesunde linke Hand reflexartig auf und zu ging, Strähnen des Lammfellläufers zu fassen bekam, nur um sie direkt wieder los zulassen. Sie kannte diese Symptome nur zu gut. Es war der Versuch an der Realität festzuhalten, sich in dem Horror der über einem gekommen war an irgendetwas realem festzuklammern. Es funktionierte natürlich nicht. Sie kniete sich neben ihn auf dem Boden, gerade außer Reichweite der Blutlache wo das Biest ihn gebissen und halb zerrissen hat. Es kostete sie sichtlich Mühe ihre Hand auszustrecken, seinen Arm zu nehmen, und den Puls zu fühlen. Dieser schlug noch erstaunlich stark. »Du kannst die Augen ruhig aufmachen«, sagte sie kalt. »Du wirst nicht sterben. Wahrscheinlich. Ich habe mir extra große Mühe gegeben damit das nicht passiert. Und du weißt ja wie schwer es für meine Art ist jemanden nicht umzubringen, sondern zu erschaffen.« Zitternde Augenlider waren das erste Anzeichen dafür, dass er ihren Worten Folge leistete. Dann, scheinbar mit extremer Mühe, öffnete er die Augen. Sein Blick war glasig als er seinen Kopf ihr zudrehte."
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 561
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
1. Krankes Herz
2. Der kaputte Fahrstuhl
3. Game Over
4. Stationskrankenschwester
5. Loch im Schädel
6. Pentagramm
7. Hammerbreit
8. Spaziergang im Wald
9. Begegnung mit einem Vampir
10. Zerrüttete Ehe
11. Rascheln im Unterholz
12. Klavierkonzert
13. Aufprall
14. Stimme im Wind
15. Heiermann
16. Grandmere und Voodoo
17. Endogene Schizophrenie
18. Der Blonde
19. Neuanfang
20. Der Wurm
Impressum
Die beiden Jungen liefen lachend den grünen Hang hinab. „Warte nur, dich krieg ich schon!“ rief der größere. „Fang mich doch wenn du kannst!“ Kichernd schlug der kleine einen Haken. Chris, der ältere von ihnen, beeilte sich nicht. Er ließ Kenny die Freude. Auch wenn beide wussten, dass Chris der schnellere war, spielten sie das Spielchen mit. Kenny hastete den Rasen herunter so schnell er konnte. Plötzlich stolperte er auf dem feuchten Gras und schlug mit dem Knie auf einem kleinen spitzen Stein auf. Sofort drang ein wenig Blut aus der frischen Wunde und lief am Bein hinab. Augenblicklich begann er zu schluchzen und als er das Blut bemerkte zu jaulen. Chris rannte schnell zu ihm und kniete sich neben Kenny ins Gras. „Ach Kenny, was machst du nur wieder für Sachen? Ist doch halb so schlimm. Das bisschen Blut. Bist du ein Mann oder eine Maus? Ein Junge in deinem Alter...“ Aber gleichzeitig legte er tröstend den Arm um den Bruder. „Aber... schau, da ist doch Blut“ Langsam erholte er sich von dem Schrecken. Das leise Zittern in seiner Stimme flachte ab. „Ach nu hör aber auf! Wenn du groß bist, ist das längst verheilt und wir beide lachen dann darüber.“ Plötzlich schwoll das Schluchzen wieder zu einem Weinkrampf an. Verwirrt sah Chris auf das Knie. Das Blut begann schon zu gerinnen. „Aber... was ist denn nun wieder?“ Irritiert schaute er seinem Bruder ins Gesicht und sah, dass viele kleinen Tränen an seinen Wangen herunter liefen, wie kleine Sturzbäche nach einem Dammbruch. „Du... du ich will nicht, dass du sterben musst, Chris.“ platzte es aus ihm heraus „Weißt du, ich habe neulich Mama belauscht, wie sie Tante Magda erzählt hat, dass du krank bist. Dass du ein neues Herz brauchst. Dass du sterben musst, wenn wir keinen Spender finden.“ Erschrocken über diese Worte wusste Chris nicht was er darauf antworten sollte. Ja es stimmte, er hatte ein krankes Herz und bräuchte dringend ein neues um überleben zu können. Es stand sehr schlecht um ihn, wenn sich nicht bald ein Organspender finden würde. Er hatte versucht, es vor Kenny geheim zu halten, denn er wollte seine, vielleicht kurze Zeit mit ihm genießen und unbeschwert in die letzten Tage oder Monate hinein leben. Chris machte sich nichts vor, er sah wie bekümmert seine Mutter war und von Tag zu Tag blasser im Gesicht wurde. Er blieb jetzt aber trotzdem ehrlich zu Kenny, denn er liebte seinen Bruder und wollte ihn nicht anlügen. „Ja das stimmt. Ich könnte tatsächlich sterben, aber mach dir mal keine Sorgen, wir finden bestimmt ein geeignetes Organ.“ presste er so leichtlebig wie möglich heraus. So sicher war er sich da allerdings nicht, denn die Ärzte hatten ihm nicht allzu gute Chancen eingeräumt, schnellstmöglich ein geeignetes Herz zu finden und die Zeit war gegen ihn. „Ich würde dir mein Herz geben, ganz echt.“ brüstete sich der Kleine „Wenn’s nötig wäre, würd ich dir sogar meine Augen schenken, nur ich will nicht dass du stirbst“ Chris bekam einen Kloß im Hals. „Ach Kenny, du bist wirklich mutig. Wenn man dich das sagen hört, dann bist du doch schon viel größer als mancher Erwachsener. Aber du kannst mir dein Herz nicht geben. Du Dummerchen, man kann doch ohne Herz gar nicht leben, schon vergessen?“ „Nein, ich mein das ganz ehrlich, ich würde dir mein Herz wirklich schenken!“ Liebevoll schaute Chris seinen Bruder an. Kenny bemerkte den Blick nicht und schaute abwesend zum Himmel. „Wenn du da oben wärst, und ich hier unten, dann hätte ich gar keine Lust mehr zum spielen. Dann wäre alles ganz leer hier unten.“ „Ja, aber angenommen ich würde dein Herz haben, dann wäre das doch genau umgekehrt. Was soll ich denn hier allein wenn du weg wärst? Dann würdest du dich doch da oben langweilen.“ sagte Chris zum Himmel zeigend. Er half Kenny auf die Beine. Das aufgeschlagene Knie war vergessen „Ich glaub wir sollten nach Hause. Los Kleiner, sonst gibt’s nur wieder Stress mit Papa! Den Staudamm können wir auch morgen noch fertig machen“ Kenny nickte. Diesmal gab es kein Wettrennen. Chris merkte, dass sein Bruder mit seinen Gedanken ganz woanders war. Mit betretenem Gesicht trottete Kenny hinter ihm her. Chris wusste schon jetzt, dass die nächsten Tage nicht mehr so heiter werden würden. Er musste akzeptieren, dass er jetzt nicht mehr so tun konnte, als wäre nichts gewesen. Heinrich Guntermacher saß im Park auf einer Bank. Immer wieder schaute er sich um und dann auf die Uhr. Plötzlich tauchte ein kleiner Mann mit einem grauen Anzug auf, eine Zeitung in der linken und eine graue Plastiktüte in der rechten Hand. Heinrich erblickte ihn und demonstrativ schlug auch er seine Zeitung auf. Der Mann nickte ihm zu und setzte sich neben ihn. „Kommen wir besser gleich zur Sache, denn je länger wir hier sitzen umso gefährlicher wird es. Sie wissen es vielleicht nicht, aber von diesem Augenblick an ist ihre Existenz gefährdet. Wir könnten beobachtet werden.“ sagte der Fremde. Heinrich räusperte sich „In Ordnung, ich weiß dass ich hier alles aufs Spiel setze, verstehen sie. Aber mir bleibt keine Wahl mehr. Mein Sohn wird bald sterben wenn nichts geschieht.“ „Ja ich weiß… ich weiß. Meistens sind es die Kinder um die es in meinem Beruf geht. Fast immer sind es verzweifelte Eltern, die keinen Ausweg mehr wissen. Ich wollte sie auch nur darauf aufmerksam machen, was mit ihnen geschieht wenn man uns erwischt“. Der graue Mann hob abfällig die Brauen. „Sie brauchen nichts zu sagen, ich weiß wie gefährlich unser Treffen ist. Ich bin mir auch bewusst, dass man mich ins Gefängnis stecken wird und ich meinen Job los sein werde, wenn auch nur der Verdacht aufkäme“ Heinrichs Hände begannen zu zittern, so dass die Zeitung raschelte. „Na ja, wie dem auch sei.“ Der kleine Mann räusperte sich „Also kommen wir erst mal zum Geld. Ich weiß dass sie ein hohes Tier in ihrer Firma sind. Und daher denk ich mir, dass sie sich einen Organagenten von meiner Qualität leisten können.“ „Bitte! Volle Diskretion! Es ist egal was es kostet. Ich bezahle jeden Preis. Also, wieviel?“ „Na ja, wie wäre es mit 50.000? die Hälfte gleich, die andere nach Abschluss.“ Heinrich schluckte „In Ordnung, ich werde ihnen das Geld überweisen.“ „Für wie dumm halten sie mich? Nein, es wird bar bezahlt.“ Der graue Mann verzog keine Miene. „Also am Freitag treffen wir uns hier wieder und sie bringen das Geld mit. Ich hoffe, dass wir dann schon weiter sind.“ Heinrich nickte und gab dem Mann die Unterlagen mit allen Daten über seinen Sohn. Dann fragte er gepresst: „Sagen sie, entschuldigen sie wenn ich das frage, aber was ist wenn sie niemanden finden? Sie sagten ihre Garantie liegt bei über 95%!“ Der fremde Mann schwieg. Dann sagte er: „Machen sie sich keine Gedanken. Um die Formalitäten und das ganze Drumherum werde ich mich schon kümmern. Sie bezahlen und bekommen ein neues Herz für ihren Sohn. Das wollen sie doch, oder?“ mit eiskaltem höhnischen Grinsen schaute er auf Heinreich herab. Heinrich fühlte sich plötzlich ganz klein auf den Holzbohlen der morschen Bank. „Na sehen sie, dann stellen sie auch keine Fragen!“ Mit diesen Worten stand er auf und verabschiedete sich. Heinrich Guntermacher blieb noch eine Weile auf der Parkbank sitzen und betrachtete nachdenklich die Spuren an den Rändern der Zeitung, die seine schwitzenden Hände hinterlassen hatten. Heinrich sagte: „Wir werden jetzt bald einen gesunden Sohn haben“. Verdutzt schaute seine Frau ihn an „Wie meinst du das? Haben die vom Krankenhaus angerufen?“ Heinrich schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe, aber bitte reg dich nicht auf, einen Organagenten engagiert. Er wird uns jetzt helfen“ seine Frau stand auf, der Stuhl kippte polternd nach hinten. „Darüber hatten wir doch schon gesprochen! Das ist illegal! Mit Organen handeln, bist du nun völlig durchgedreht? Einen Organagenten? Erinnere dich bloß an den Skandal damals mit den Retortenbabys! Einen Organagenten, ich fass es einfach nicht. Du weißt doch, dass die mit geklauten Organen handeln, und sich angeblich Leichen machen, wenn sie gerade keine parat haben! Mit so einem schmierigen Typen lässt du dich ein?“ „Bitte beruhige dich. Es ist alles halb so schlimm. Außerdem ist mir mein Sohn wichtiger, als irgendein anderer Mensch, den ich nicht kenne! Und du willst doch auch dass Chris gesund wird! Langsam hab ich nämlich den Eindruck, dir sei das völlig egal“ Sie schrie: „Was bildest du dir eigentlich ein? Meinst du ich freu mich darüber, dass mein eigen Fleisch und Blut todkrank ist?“ Ihre Stimme begann zu stocken „Ich will doch nur, dass Chris gesund wird“ Sie brach zusammen. Heinrich sah die Angst in ihrem Gesicht und fühlte sich auf einmal wie ein gefühlloser Klotz „Ach Schatz, nun weine doch nicht, es wird alles gut werden. Der Agent ist doch kein Ungeheuer. Er wird schon dafür sorgen, dass das Herz gesund ist und dass nichts schief geht. Und schau, selbst wenn das Herz nicht gleich von Chris Körper angenommen werden würde, so gibt es doch jetzt Methoden um die Körperteile miteinander verträglich zu machen. Es wird schon alles gut werden.“ Chris erwachte. Ein wenig benommen schaute er sich im Krankenzimmer um. Die Sonne fiel durch das Fenster hinein. Es roch steril nach Medikamenten und die weißen Wände ragten bedrohlich über ihm auf. Auf der gegenüberliegenden Wand hing ein Bild mit einem bunten Fisch. Chris kam langsam zu sich. Er fühlte sich wohl, wie lange nicht mehr in seinem Leben. Er fasste sich an die linke Seite und spürte seinen Herzschlag. Leise flüsterte er: „Danke, wem auch immer dieses Herz gehört haben mag.“ Es fühlte sich gut an in seiner Brust, als wäre es schon jetzt ein Teil von ihm und schon immer dort gewesen. Es fühlte sich vertraut an und sanft strich er mit den Fingern über die noch nicht verheilte Narbe. Die Schwester kam herein und lächelte als sie bemerkte, dass der Junge erwacht war. Sie brachte ihm ein Glas Wasser. Dann war sie wieder verschwunden. Chris dachte an Kenny. Jetzt wird alles gut werden dachte er. Niemand muss mehr oben oder unten sein und sie könnten noch viele Staudämme zusammen bauen und um die Wette laufen. Die ewige Schonerei war für immer vorbei. Von nun an schlug ein gesundes Herz in seiner Brust. Glücklich ließ er sich in die Kissen fallen und wartete auf seine Familie. Er konnte es kaum abwarten, seinen Bruder zu sehen, der sich sicher gleich zu ihm hinsetzen würde und nicht mehr aus dem Krankenzimmer zu bewegen sein würde. Die Schwestern würden dann sicher ein zweites Bett neben seinem aufstellen müssen. Bei dem Gedanken kicherte er in den hellen Raum hinein. Der Arzt steckte den Kopf durch die Tür und trat herein. „Na Chris, wie sieht’s aus? Wie fühlst du dich?“ „Danke, ich fühl mich wirklich sehr wohl“ Der Arzt untersuchte ihn und sie unterhielten sich noch ein wenig über die erfolgreiche Herztransplantation und darüber, wie Chris sich jetzt in der nächsten Zeit verhalten sollte. Dann war auch der Arzt wieder verschwunden. Chris fing an sich zu langweilen. Nach einer Weile ging die Tür wieder auf und seine Eltern betraten das Zimmer. Seine Mutter küsste ihn auf die Stirn. Sie hatte ein verweintes Gesicht. Chris schaute die Eltern freudestrahlend an. „Da seid ihr ja endlich, ich hab mich halb zu Tode gelangweilt. Schaut, ich hab ein neues Herz“ er zog den weißen Schlafkittel hoch und zeigte stolz auf die Narbe, unter der sein neues Leben aufgeregt pochte. „Ja was ist denn los? Ihr schaut wie sieben Tage Regenwetter! Und wo ist überhaupt Kenny?“ Er bekam keine Antwort „Wo ist Kenny?“ Chris wurde unruhig „Ich hab gefragt wo Kenny ist?“ Stockend begann sein Vater zu sprechen: „Kenny ist fort. Er... wir wissen nicht wo Kenny ist. Er ist verschwunden... “
2. Der kaputte Fahrstuhl
Schnaufend stapfte der vollleibige 40-jährige über den Weg. Bepackt mit einem guten Wein, den er im Duty Free Shop des Flughafens gekauft hatte, kam er am Studentenwohnheim seines Sohnes Tom an, um vor den unzähligen, silbernen Klingelknöpfen zum stehen zu kommen. Sein Blick huschte über die Namen um den richtigen Signalgeber ausfindig zu machen. Nachdem er 2 Wochen im Skiurlaub vergebens versucht hatte, das eine oder andere Gramm Fett loszuwerden, besuchte er nun auf dem Rückweg seinen ältesten Nachkömmling. Er freute sich auf einen gemütlichen Abend zusammen mit Tom. Noch immer wuselte sein Zeigefinger über die vielen Studentennamen. Der konzentrierte Blick prüfte jeden einzelnen und hoffte, dass der nächste der richtige sein würde. Boltermann, Josen, van Elden, Grab, Wolters. Ah, da war er. Ein dreimaliges, kurzes drücken des runden Silberlings sollte die gewünschte Wirkung erzielen. „Ja?“, ertönte die verzerrte Stimme seines Sohnes. „Hallo, ich bin’s. Der kleine Dicke.“, antwortete Gunter scherzhaft mit einem freudigem Lächeln. „Ach ...zzttrr... bist du ja. Ich ...zzttrr... schon auf dich gewartet. Ich wohne im 13. zztttrr..“ Das Türschloss fing an zu brummen und mit einem Druck der väterlichen Hand öffnete sich die Tür des großen Wohnblocks. „...zzttrr... am besten das Treppenh ...zztttrrr... Fahrstuhl bleibt immer stecken. ...zzttrrr... sowieso alles kaputt.“ Trotz der kränklichen Sprechanlage erkannte Gunter sein kommendes Schicksal. Und beim Gedanke der 13 Stockwerke zeigten sich bereits die ersten Schweißperlen auf seiner Sonnenbrand verzierten Stirn. Gunter trat vor den kaputten Fahrstuhl und sein Blick lag wehleidig auf dem Knopf den er im Normalfall benutzt hätte um Lastenträger zu sich zu holen. Da er aber keine Lust hatte, die halbe Nacht irgendwo zwischen dem 7. und 8.Stock zu verbringen, entschloss er sich doch für die Alternative des Treppenhauses. Der pummelige, kleine Mann öffnete die grüngestrichene Metalltür, um kurz darauf im Dunkeln zu stehen. Seine ausgiebigen Tastaktionen nach dem Lichtschalter waren erfolglos und so öffnete er wieder die Tür um den Schalter für das Licht außerhalb zu finden. „Architekten sind doch alle Theoretiker“, dachte er kopfschüttelnd und nahm die ersten Stufen seines Schicksals recht gelassen hin. Das Treppenhaus war eines der betongemauerten, langweiligen Exemplare, wie man sie in den unzähligen Hochhäusern Deutschlands wiedererkennt. Nichts sonderbares. Ein ganz normales, stufengefülltes Bauwerk. Die gelassene Einstellung zu seinem Marathon änderte sich bereits im ersten Stock, als er seine Schrittgeschwindigkeit schon sehr dezimiert hatte. Der durch Altbier gezüchtete Bauch machte es im nicht einfach. Das alles wurde noch viel schlimmer, als ihn zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk das erstemal das Licht verließ. In totaler Dunkelheit tastete er sich an der Wand weiter nach oben in Richtung des kleinen flackernden Punktes, der das Treppenhaus wieder erleuchten sollte. Im zweiten Stock angekommen stieß er als erstes mit lautem Rumpeln und Scheppern gegen einen kantigen Gegenstand um mit fluchenden Worten das orange leuchtende Plastikviereck zu betätigen. Mit einem zögernden Flackern erhellten die Neonröhren das Stockwerk und nun erkannte Gunter das, was ihn so schmerzhaft aufgehalten hatte. In der Ecke stand ein kleiner rechteckiger Holztisch. Durch seine blinde Unachtsamkeit hatte eine runde Metallschüssel ihren Inhalt auf dem Boden verteilt. Bonbons verschiedenster Sorten tummelten sich nun auf dem gestrichenen Beton. Gunter ging mit einem Schnaufen in die Knie, um die Unordnung wieder in sein Behältnis zu befördern. Alle Bonbons wanderten, eins nach dem anderen, wieder zurück in ihre gemütliche Schüssel. Nimm Zwei, Werthers Echte, Maoam und sogar Eukalyptus. Gunters Lieblingslutschobjekte. Als Belohnung für seine gute Tat wanderten auch gleich drei dieser Leckerlis in seine Hosentasche. Und wieder stand er im Dunkeln. „Zum Teufel mit dem Licht!“, fluchte er und betätigte zum wiederholten Mal den Lichtschalter der zweiten Etage. „Auf in den Dritten.“, dachte er und begann wieder mit dem Treppensteigen. Im nächsten Stockwerk angekommen, empfing ihn wieder ein netter Holztisch. Der Bruder des letzten Tisches bot ein nettes Gesteck aus Strohblumen dar, das ganz ruhig auf einer rot, weiß karierten Decke platziert war. Ganz im Gegensatz zu dem Treppensteiger, der sich mit schlurfenden Schritten und Wein bewaffnet an den Blumen vorbei, in den vierten Stock schnaufte. Der Tisch des fünften Stockwerks hielt ein Schachspiel bereit. Gunter, als alter Schachfanatiker, begrüßte den Inhalt des kleinen Tischchens als willkommenen Anlass wieder eine kleine Pause einzulegen. Er beobachtete die Stellung der Figuren um nach kurzer Zeit zu flüstern: „B4-C2 und Schach! Ein Lob an die Fähigkeiten eines Springers.“ Wie als wollte er einem unsichtbaren Spieler einen Tip geben. Zufrieden mit seiner Leistung auf dem Tisch stieg er weiter nach oben, ohne seinen Bauch zu vergessen. Vorbei an mehreren unterhaltsamen Dekorationen, kämpfte er sich nach oben und freute sich immer schon auf das nächste Stockwerk und eine neue Überraschung auf einem neuen Tischlein. Da gab es die verschiedensten Blumen, eine Fotokollage der letzten Studentenfeier, ein liebevoll zusammengeklebtes Streichholzhaus. Da gab es kleine Teddys, Kerzen und gestrickte oder gehäkelte Deckchen. Das alles interessierte ihn so sehr und er war dermaßen versessen und neugierig auf das jeweils nächste Tischchen, sodass er glatt an seinem Zielstockwerk 13 vorbeischnaufte und erst vor der blaugepinselten Zahl 15 erwachte. „So ein Mist!“, brummelte er und schlappte wieder nach unten. Vorbei an den kleinen Teddys... Moment – irgendetwas stimmte doch hier nicht. Standen hier vorhin nicht Blumen? Gunter kratzte sich am Kopf. Sollte er mit 40 Jahren schon senil werden? Und warum zum Teufel befand er sich im 16. Stockwerk? Er war sich sicher, das er eben im 15. gestanden hatte und er war nun eine Etage tiefer. Anscheinend waren die Architekten nicht die einzigen gewesen die hier Fehler gemacht hatten. Mit spöttischen Gedanken gegenüber den Malern die nicht fähig waren richtig zu zählen, wanderte er weiter nach unten. 16. „Spinne ich jetzt?“ dachte er. „Wo bin ich jetzt eigentlich? 15. oder 16. oder 13. Stock?“ Er war total durcheinander. Die Weinflasche fest in der Hand begann er nach seinem Sohn zu rufen: “Tom. Tooommm. TO-HOM!“ Keine Antwort. Eigentlich müsste er doch bald kommen und nach ihm suchen. „Woher zum Teufel soll ich denn wissen wo ich hier raus muss. Wie kann man nur so bescheuert sein und so eine Scheiße fabrizieren. Eindeutig fehlt beim Eingang ein Schild: ‚Von Deppen gebaut! Bitte Stockwerke mitzählen!’“, regte sich Gunter lauthals auf. Seine Hauptschlagader quoll sichtlich hervor und der rot glühende Kopf bot nun einen schönen Kontrast zu dem weiß gestrichenen Wänden. Sichtlich verwirrt wusste er nun nicht, ob er wieder nach oben oder nach unten laufen sollte. Er hatte sich auf einen gemütlichen Abend gefreut und musste jetzt in einem Treppenhaus umherirren. Und warum kam Tom nicht um ihm zu helfen? Er musste doch wissen, dass es unmöglich war hier den dreizehnten Stock zu finden. Obwohl Gunter Angst hatte weiter nach unten zu laufen, weil er im Zweifelsfall alles wieder zurücklaufen musste, entschied er sich doch noch ein Stockwerk tiefer zu gehen. Schließlich zeigten die Zahlen, dass er viel zu weit oben war. Vom angeblich 16. Stock begab er sich tiefer in den 20! Auf dem Tischchen grinste ihn ein Gummientchen mit orangenem Schnabel an. Gunter war sich jetzt ziemlich sicher, das er dieses Entchen auf seinem Weg nach oben nicht gesehen hatte und beim Anblick den Schnabels viel ihm auch auf, dass er bestimmt seit dem 4. oder 5. Stock keinen Lichtschalter mehr betätigt hatte. „Irgendwas ist hier faul.“, hallten Gunters Worte über die Stufen des Treppenhauses. Unruhe machte sich bei ihm breit und langsam störte ihn die Weinflasche in der Hand. Er war jetzt bestimmt schon zehn Minuten in diesem verdammten Stufengewirr unterwegs und wollte nur noch zu Tom. „TOOMMM!!“, rief der verzweifelte Gunter. „TOOOOOOOOM!“, rief er lauter. Außer seinem Echo antwortete niemand. Mit einem Blick auf seine Digitaluhr erfuhr Gunter die genaue Uhrzeit: 17:53h. „Na gut“, beherrschte er sich und beschloss wieder zum Eingang zurückzukehren um über die Sprechanlage seinen Sohn um Hilfe zu bitten. Wenn es ihm schon nicht möglich war das richtige Stockwerk zu finden, so könnte er sich ja abholen lassen. Beim hinabsteigen fiel sein Blick auf das Fenster und lies ihn schlucken. Erde. Hinter dem Fenster war Erde! Er befand sich unter dem Erdboden? Nun war es mit seiner inneren Ruhe ein für allemal vorbei. „Das ist nicht Möglich! Das ist ein schlechter Traum! Das kann nicht... das ist nicht... Wo.. Zum Teufel!“, stammelte er... Würmer schlängelten sich hinter dem Fenster durch das Erdreich und Gunter geriet in Panik. Er drehte um, stolperte wieder nach oben und blickte durch das nächste Fenster. Erde. Die nächste Treppe nach oben um die Tür zu öffnen. Egal ob es der richtige Stock war oder nicht. Er brauchte Hilfe, eine Erklärung. Er brauchte jemand der im das alles erklären konnte. Mit der rechten Hand auf der Türklinke versuchte er diese herunter zu drücken, um die grüne Stahltür zu öffnen. Sie bewegte sich nicht. Mit dem Gewicht seines weiten Bauches gelang es ihm jedoch endlich die Tür zu öffnen und er wurde nach hinten gestoßen. Erde, haufenweise Geröll und sich windende Würmer fielen ihm entgegen! Nichts hasste er mehr als lebende Würmer. Schreiend befreite er sich von dem Massen und stolperte zurück auf die Stufen. Er war begraben. In einem irrsinnigen Treppenhaus. Seine Seele fing an zu wimmern und seine Hand umkrampfte die Flasche. Das einzige woran er sich nun festhalten konnte. Zum Glück hatte sie den Sturz überstanden. Das alles war zu viel für ihn. Auf den Stufen sitzend, die Würmer beobachtend, knubbelte der Mann am Korken der Weinflasche. Er brauchte jetzt dringend einen Schluck und er bereute, dass er keinen Whiskey gekauft hatte. „Verdammte Scheiße, was ist das hier!“, schrie er durch das Gebäude. Womit hatte er das verdient! Er wollte es schon aufgeben die Flasche zu öffnen als sein Blick auf den Stockwerktisch fiel. Mit einem wahnsinnigen, ironischen Lachen griff er den darauf befindlichen Korkenzieher und öffnete die Flasche. „Das ist die Hölle, ich bin in der Hölle!“, rief er und trank die Hälfte des Weins, rülpste laut und trank den Rest. Das tat gut aber es half ihm nicht weiter. Er war vergraben in einem Treppenhaus. Er musste hier raus. Aber wie? Am besten auf dem selben Weg wie er hineingekommen war. Er musste nach unten. Es würde sich alles aufklären. „Das ist alles nur ein Studentenstreich“, hoffte er für sich aber glaubte es nicht. Er stürzte die Treppen hinunter. Ein Stock, und noch einer, ein dritter und ein vierter. An den Tischen vorbei, deren Inhalt nun das uninteressanteste in dieser Welt war. Unglaublich! Es nahm kein Ende! Je weiter er nach unten kam desto mulmiger wurde ihm. Er geriet in Panik. Wo war der Gottverfluchte Ausgang! Wieder öffnete er eine Tür. Wieder vielen ihm Erde und unzählige Würmer entgegen. Diesmal waren es mehr Würmer als Erde und ein lehmiger Gestank kam aus der Tür. Vor lauter Schreck wechselte Gunter seine Laufrichtung und rannte wieder aufwärts. Sein Bauch und seine Erschöpfung waren vergessen. Er wollte nur noch raus aus dieser Hölle. Seit Ewigkeiten war er in diesem „Ding“ unterwegs. Er machte erst im 42. Stock halt. Der angeblich 42. Auf die Zahlen konnte man sich nicht verlassen. 32 – 63 – 12 – 35. Das war keine Realität mehr, das war Wahnsinn. Er lies sich auf der Treppe nieder und verschnaufte. Wie lange war er schon unterwegs? Mit einem Blick auf die Uhr verstand er gar nichts mehr: 17:53h.“Leck mich am ARSCH!“, schrie er. Seine Blase drückte. „Wo ist der Tisch mit dem gottverfluchten Pisspott!!!“ Es war ihm egal. Das Treppenhaus hatte es verdient. Er suchte sich die nächste Ecke, öffnete den Zugang zu seinen klebrigen Genitalien und wurschtelte sein bestes Stück, ohne es zu sehen, in die Richtige Position. Erleichternd plätscherte der ehemalige Wein gegen die Wand. Es wollte nicht aufhören und plötzlich... „DAD! Was machst du da?“, ertönte die erschütterte Stimme seinen Sohnes hinter ihm. Erschrocken führte Gunter den Strahl noch über sein linkes Hosenbein, bevor er das Werkzeug der Erleichterung unter seinem Bauch und in der Hose verschwinden lies. „Und wie siehst du überhaupt aus? Dad?“, fragte Tom und Gunter drehte sich, um in Tom’s entgeistertes Gesicht zu blicken. „Ähh...“ Gunter war verwirrt und froh zugleich. „Ich... äh... die Tischchen haben mich abgelenkt und ich bin zu weit gelaufen.. und äh.. diese Scheiß Stockwerkzahlen. Du weist was ich meine... Wenn die bescheuerten Tische nicht gewesen wären...“, stammelte Gunter und suchte nach einer Erklärung für seine Pinkelei in die Ecke. „Dad? Bist du ihn Ordnung? Welche Tischchen meinst du denn? Bist du betrunken? Das musst du mir erklären. Komm erst mal rein. Wir wischen deine Sauerei dort weg und dann müssen wir uns unterhalten. Du machst mir wirklich Angst!“ Mit offenem Mund stand Gunter vor seiner Pfütze und zeigte mit dem Finger nach unten. “Tischchen...“,stammelte er noch bevor Tom ihn schnappte und am Ärmel hinter sich herzog. In der Wohnung angekommen verschwand Tom gleich mit einem Putzlumpen und einem Eimer Wasser Richtung Treppenhaus. Das ist jetzt 5 Minuten her. Gunter kontrolliert seine Taschen, findet ein Eukalyptus, fusselt es mit zitternden Händen aus dem Papier und schiebt es sich in dem Mund. „Schmeckt ganz normal“, denkt er, bevor er sich entschließt nach Tom zu sehen...
3. GAME OVER
Phillips Heimweg von der Schule führte über den Marktplatz. Diesmal gab es dort etwas neues zu sehen. Ein Händler baute seinen rollenden Verkaufsstand auf. Der Junge betrachtete die ausgelegte Ware. Der Verkäufer klappte soeben eine Wand des Wagens hoch. - Klasse -, dachte er. Was es da zu sehen gab, alles konnte Phillip gebrauchen. „Variety Warriors“, die goldene Aufschrift eines PC – Spiels leuchtete ihm entgegen. Der Händler hatte die Arme hoch erhoben, arretierte die Sonnenblende und sah augenzwinkernd über seinen Schultern hinweg den Jungen an. > Spitze was, das Spiel meine ich. < Der Mann besaß Geschmack bei der Auswahl seiner Ware, fand Phillip und trat näher heran. > Wie wärs mit einem kleinen Handel, Phillip? < Der Junge schreckte aus seinen Betrachtungen hoch, > woher wissen sie meinen Namen? < > Steht doch auf deinem T-Shirt. < Phillip sah an sich hinunter – stimmt. Das Spiel würde er sich nie leisten können, also fragte er, > und an was für einen Handel dachten sie? < > Nun, nur ein kleiner Deal. Ich weiß, wie sehr du den Hamster deiner Schwester haßt. < - Nun ist es aber gut. Phillip war der Meinung, soviel Intimitäten auf einem Marktplatz ausgeplaudert waren zuviel des Guten. > Woher wissen sie davon? < > Ich weiß so manches. Also, was ist, du willst doch das Spiel. < Die Goldschrift flammte erneut auf in der Sonne. Ja, er wollte dieses Spiel. Der Mann kam näher, drückte ihm ein Pulver in die Hand, > vergifte den Hamster und bring mir sein Herz. Dann ist das Spiel dein Eigentum. < Es stimmte. Er konnte das lausige, ständig mit seinem Laufrad lärmende Mistvieh nicht ausstehen. > Ich kann ihn nicht sezieren. < > Dann bring ihn mir ganz, aber bring ihn mir. < > Was ist, wenn das Geschäft nicht klappt <, wollte der Junge wissen. > Schaffst du es nicht, nehm ich mir etwas, was dir am Herzen liegt! < Der Händler hielt ihm seine grobe Hand hin. Und Phillip schlug ein. Kleine Jungen machen viele Fehler. Beates Hormone spielten heute zum xten Mal verrückt. Sie wollte etwas unsinniges tun, wie sie es ausdrückte. Und da kam ihr der kleine Marktstand gerade recht. Sie strich noch einmal den Pulli über ihren gewölbten Bauch glatt, dann trat sie heran. – Mein Gott, was für ein Glitzerkram! > Kleiner Handel gefällig, Madame? < Überrascht sah Beate den Gaukler an, > was heißt hier Handel? Ich will diese Kette kaufen. < Sie zeigte auf das Objekt ihrer Wahl. > Oh nein, so einfach ist das nicht. Nur für Geld gebe ich das schönste meiner Schmuckstücke nicht her. < Der Gaukler kam näher und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. > Stehlen sie mir ein Herz aus Zuckerguß und ich lege ihnen diese Kette persönlich um den Hals. < Beate schlug ein. Top, die Sache gilt. Dr. Deal beschäftigte sich damit, seine Ware zu richten, als Claudia mit ihren topmodischen Outfit bekleidet um die Ecke bog. Der Händler bot für ihren Geschmack genau das, was „In“ ist. Sie kramte ihr frisches Taschengeld hervor, > diese Bluse muß ich haben. Wie hoch ist ihr Preis? < > Aber, aber, Mädchen. Zahlen ist doch so was von out. Du mußt nur einen Handel wagen, und das herrliche Stück gehört dir. < Der blanke Preis des Kleidungsstückes überstieg eh ihre Finanzen. Also hörte sie zu, was der Gaukler ihr vorschlug. > Brech das Herz eines Menschen! < Den Blick auf das Textil gerichtet, ergriff Claudia die knorrige Pranke des Dr. Deal. > Gute Idee, daß! < Kleine Mädchen kommen auch überall hin, und wenn der Weg direkt in die Hölle führt. Zumindest unter den Buchhaltern ab heute die Nummer Eins. Selbst das muß gefeiert werden. Bernd seufzte. Etwas Besonderes wollte er sich und seinen Lieben schenken. Er sah den Stand und alles lief wie geschmiert. Nach guten Tag und ach, wie schön: > Müder Krieger. Zeige Mut und riskier mal was. Fang das Herz einer jungen Frau und bring sie zu mir. < > Aha. Und dann? < Dr. Deal zeigte auf all seine Ware. > Dann such dir aus, was immer du dir aussuchen möchtest. < Dr. Deals vorerst letzter Kunde war gegangen. Er rieb seine Hände. Er hatte die Weichen richtig gestellt. Wetten das! Bernd erreichte tatsächlich, die junge Praktikantin in sein einigermaßen temperamentvolles Auto einzuladen. Er machte ihr den großen Zampano, fuhr erst rasant an den staunenden Arbeitskollegen vorbei und dann mit Tempo durch die Stadt. Er gab den Gaukler recht, bei diesen Flirt lebte er auf, das ganze sollte bei einem Spaß bleiben. Nicht die in der Auslage ausgestellten Törtchen meinte der Händler, sondern das Herz des Verkäufers in der Konditorei, Beates heimlicher Schwarm – nach diesem Herz soll ich also greifen. Hamster erledigt, Gewissensbisse bekommen. Das Tier verfiel in erste Zuckungen, nachdem Phillip das „Brausepulver“, wie er es nannte, an dem armen Kerl verfütterte. Er wußte, wo seine Mutter hin wollte. Sie half immer! Vorsichtig nahm er das Tier auf und rannte los. Einige Minuten später erschien Claudia am Tatort. Neben dem Hamsterkäfig fand sie ein Fläschchen mit Fingerabdrücken aus Schokolade. Eine Aufschrift – Arsen. Schluchzend brach ihr eigenes Herz. > Oh nein, das geht schief! < Der junge Verkäufer schaute schreckensbleich an Beate vorbei. Ein Junge überquerte in vollem Lauf die Strasse, auf der rasend schnell ein ihr bekanntes Auto fuhr. Sie hörte sich schreien, stürmte hinaus, um ihren Sohn zu retten. Eigentlich paßte Bernd die ganze Zeit schon nicht auf, zu schnell gefahren, zu spät gebremst. Er schaffte es tatsächlich, seine junge Familie über den Haufen zu fahren. In seinem Wagen lachte der Gaukler ein Lachen, von der Art, welches man nur für sich lacht. Dann hob er den Deckel einer Tonne. Aller Gestank dieser Welt, hervorgerufen von der Sud des Lebens, trat heraus. Er griff hinein in die Flüssigkeit, gärender Abschaum quoll über den Rand. Einige Stücke rohen Fleisches holte Dr. Deal vom Grund des Behälters, band sie an dünnen Fäden und hängte sie wie Trophäen über den ganzen erbärmlichen Tand. Unglück ist sein Geschäft, tief und dröhnend lachte er erneut. Mit den Menschen trieb er seinen Handel und er stellte fest – wie schmutzig ihr doch alle seid! ... wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Doch nimm dich in acht, Dämon, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Klick, machte es in Bernds Kopf. Als er Blumen neben seiner Frau auf das weiße Laken legte. > Dummkopf! Auf der Fensterbank steht eine Vase < , sagte Beate. Phillip, sein Sohn würde auch wieder gesund und zuhause wich seine Tochter Claudia nicht mehr von der Seite ihres Hamsters. – Klick, machte es noch mal. Er hatte noch etwas gut bei jemanden. > Und, Alter. Habe ich nicht das Herz des jungen Mädchens erobert! < Es gab Dinge, die gelten selbst für einen Teufel wie Dr. Deal. Das Einlösen getätigter Geschäfte gehörte dazu. > Also, such dir aus, was du haben willst. < Bernd zeigte auf die Brust des Gauklers. > Dein Herz will ich als einziges.< Und Dr. Deal mußte seinen Handel erfüllen. - Schiebt den ganzen Krempel in die Garage -, hörte er seinen Vater rufen. Phillip saß vor einem Monitor, probierte sein neues Spiel aus. Über ihm hing ein Vogelkäfig an der Decke. Grelle Farben, welche aus dem Bildschirm traten, flammten zwischen den Stäben hindurch; trafen auf etwas, das aussah wie ein schwarzer, verschrumpelter Stein. Phillip würde noch üben müssen, um das Spiel zu beherrschen. Zwei Worte flammten auf: GAME OVER! ... kleiner Handel gefällig.
4. Stationskrankenschwester
„Na Dern, hast´n da?“ Maria schreckte auf und zog die Knie an. Dieter grinste. „N´Wurstpaket. Leberwurst, wah?“ Er hatte sich frech auf ihre Pritsche geworfen, das rechte Knie lässig angewinkelt und schaute sie herausfordernd an. Man sah ihm nicht an, dass er noch bis vor ein paar Monaten an den Panzersperren gekauert hatte, im Dreck, in der Kälte. Von irgendwem hatte er sich eine Handvoll Pommade eingetauscht und sein schwarzes, ungeschnittenes Haar glänzte im matten Licht des Lazaretts. Er hatte es, wie es üblich war nach Hinten gekämmt und mit Spangen befestigt. In der Hand hielt er einen zerbrochenen Kamm und strich damit über sein Knie. „Darf ich?“, fragte er ganz forsch und deutete auf die kleine, feste Kugel unter Marias Nachthemd, die er vielleicht mit beiden Händen umspannen konnte. Maria hielt ihren Bauch und schüttelte mit dem Kopf. „Russen, wah?“ Er rückte etwas näher an sie heran. „Amis warn hier ja nich. Die Amis bring´ Schokolade. Die könnten wir gegen Zigaretten eintauschen. Und die Zigaretten dann gegen Wurscht.“ Er deutete wieder auf ihren Bauch. „Das kannste nich eintauschen.“ Maria sah sich hilfesuchend um. Die Stationskrankenschwester, eine furchteinflößend große und schwergewichtige Frau stand am Ende des riesigen Saales, mit dem Rücken zu ihnen und wendete den bettlägerigen Körper eines alten Mannes, von dem Maria wusste, dass ihm eine Granate die Beine fortgerissen hatte. Plötzlich fühlte sie Dieters Hand an ihrem Bauch, der jetzt nicht mehr grinste. Vor Schreck blieb sie ganz still. Dieters Hand blieb einfach auf ihrem Bauch, mit dem Kamm zwischen seinen Fingern. Sie konnte den Kamm fühlen und auch seine Neugier. „Wann bewegt´s sich?“, fragte er. Er ließ den Kamm aus seinen Fingern gleiten und seine Hand umwanderte die Rundung ihres Bauches. Sie war ganz warm. Maria konnte nicht anders als zu weinen. Dieters Hand glitt von ihrem Bauch zu ihrem Gesicht. „Nee, Dern.“, sagte er. „Nich flennen.“ Er streichelte ihre eingefallenen Wangen. „Meine Mama hat immer jesacht: Wat kommt, dat kommt. Und wat mutt, dat mutt.“ Maria hörte auf, zu weinen. Das hatte ihre Mutter auch gesagt, als sie im Keller gekauert hatten, ohne den Vater. Sie hatten da viele Monate gekauert und die Mutter war am Tage oft fort gewesen, um etwas zu essen zu besorgen und Wasser. Dann war Maria allein gewesen. Und sie hatte gewartet, bis die Mutter zurückkam, oft mit wenig, meistens mit nichts. Irgendwann hatte sie, bevor sie gegangen war, gesagt, „was kommt, das kommt. Und was muß, das muß.“ Und sie hatte ihr die Wangen gestreichelt. Maria war ab da an allein gewesen und eines Nachts hatte sie gemerkt, dass ihr Bauch runder wurde. Dieter grinste. „Werd dann mal wieder los.“, sagte er. Und er griff plötzlich zwischen ihre Beine. Marias Hände zuckten nach vorn und pressten ihr Nachthemd in ihren Schritt. Dieter hob den Kamm hoch und grinste breit. „Ohne den geh ich nirgendwo hin.“, sagte Dieter. Marias Augenbrauen zogen sich misstrauisch zusammen. „Nicht anfassen.“, sagte sie und plötzlich packte eine kräftige Hand Dieter am Ohr und zog ihn in die Höhe. „Latt mien Dern in Ruh!“ Die Stationskrankenschwester gab Dieter eine schallende Ohrfeige. Dieter verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Nicht.“, sagte Maria. Die Stationskrankenschwester sah sie an und schüttelte den Kopf. Sie ließ Dieter los und drehte sich zu Maria um. Maria musste sich wieder hinlegen und die Krankenschwester deckte sie mit der rauen Armeedecke zu. „Bist mien Engel.“, sagte sie. Maria hatte vor Angst die Augen weit aufgerissen. Sie sah, wie Dieter auf den Ausgang zuschlurfte. Irgendwie zog er das linke Bein nach. Er drehte sich um, grinste und winkte ihr zu. Dann drehte er sich wieder um und schlurfte weiter. „Pass dich vor den Lausbengel auf.“, sagte die Stationskrankenschwester ernst. „Pass lever auf det auf.“, sie streichelte verliebt Marias Bauch. „Is een Jeschenk vom leven Jott.“ Wenn die Stationskrankenschwester es zuließ, spazierte Maria am liebsten im Park umher. Eigentlich war es gar kein Park, sondern nur der Hinterhof des dreistöckigen Industriegebäudes, das sie zum Lazarett umfunktioniert hatten. Von dort konnte man, wenn man es sich traute, noch tiefer in das Industriegelände hineinwandern, mindestens noch über drei Hinterhöfe. Weiter aber hatte sich Maria noch nicht getraut. Es roch da immer ein bisschen nach Fluss und natürlich auch nach den schlimmen Sachen, denn die Toiletten funktionierten ja noch nicht. Sie wäre eigentlich ganz gerne mal zum Fluss gegangen, um zu schauen, ob es da Blumen gab. Aber die Stationskrankenschwester hatte es ihr verboten So blieb sie meistens immer im zweiten Hinterhof. Da gab es auch Blumen. In einer Ecke wuchs ein größerer Busch Löwenzahn. Die Krankenschwester hütete die Blumen wie ihren Augapfel. Damit konnte man auch Kranke heilen. Außerdem konnte man Löwenzahn essen. „Wenn du hibsch auf den Lewenzahn uffpasst“, hatte die Stationskrankenschwester gesagt. „mach ich dich mal een hibschen Salat von.“ Maria war ganz aufgeregt gewesen. „Und wann?“, hatte sie gefragt. „Erst wenn det Engelchen da is.“ Vor dem Haus, in dem das Lazarett war, gab es noch einen Hinterhof. Dann kam noch ein Tor und dann kam die Straße. Dorthin war Maria, seit sie hierher gebracht worden war noch nie gegangen. Sie hatte große Angst vor Militärfahrzeugen und dem Geschrei, das die Männer darin machten. Und ja, sie hatte auch Angst vor den Gewehren und ihren seltsamen Uniformen und – ihren seltsamen Gesichtern. Manche hatten ganz schmale Augen, so schmal wie Schlitze und ihre Haut war braun und sah von weitem aus, wie ungegerbtes Leder. Wenn sie ihre Mützen abnahmen sah man ihr schwarzes, strohiges Haar in alle Richtungen abstehen. Dann sahen sie manchmal aus wie Teufel. „Na Dern.“, Dieter stand plötzlich hinter ihr. „Jefallen se dir?“ Maria drehte sich zu Dieter um. Er hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt. „Lewenzahn, wat?“, fragte Dieter und sah grinsend an Maria vorbei. Maria nickte. „Soll ich’s dik abschneiden?“ Maria schüttelte ängstlich mit dem Kopf. „Is doch blos Lewenzahn.“ „Ich soll drauf aufpassen.“, sagte Maria. „Die Schwester macht mir einen Salat von, wenn das Engelchen da ist.“ Dieter verzog ungläubig das Gesicht. „Watn fürn Engel? Er deutete auf ihren Bauch. „Dat?“ „Solltest det lewer wech mach lassen. Is nurn Fresser mehr.“ Maria ging einen Schritt zurück und wäre beinahe in die Blumen getreten. Dieter machte einen Schritt vorwärts und plötzlich war er ganz nah bei ihr und drückte sie fast gegen die feuchte Häuserwand. „Warste schon mal am Fluss?“, fragte er sie und faste mit seinen Händen rechts und links von ihren Schultern gegen die Häuserwand. „Nicht anfassen.“, stieß Maria ängstlich hervor. „Am Fluss jibts ooch Blumen. Verjissmeennich. Kann ich dich zeijen, wenn de´s willst.“ Maria schüttelte mit dem Kopf. „Hier.“ Dieter hielt ihr einen Kanten Brot hin, den er in der Rechten hielt. „Kriste Brot, wenn de mitkommst.“ Maria schüttelte wieder mit dem Kopf. „Najut.“, sagte Dieter und ging einen Schritt zurück. Er drehte sich um und griff in die Innenseite seiner abgerissen Jacke. „Hier.“, sagte er etwas missmutig und hielt ihr einen Fitzel Wurst hin. „Kriste ooch Wurscht.“ Maria huschte an ihm vorbei und ließ Dieter bei den Blumen stehen. „Nicht anfassen.“, hörte er sie noch flüstern. Enttäuscht betrachtete Dieter den Wurstzipfel und den Brotkanten. Dann grinste er und biss energisch in die Wurst hinein. Maria erwachte. „Dieter?“ Sie hielt sich den Mund zu. Sie setzte sich auf und nahm vorsichtig die Hände von ihrem Mund. „Nicht anfassen.“, flüsterte sie ängstlich und ihr wurde plötzlich klar, dass sie geträumt hatte. Sie schüttelte mit dem Kopf. Sie wollte das nie wieder träumen. Nachts war immer das Licht abgestellt. Ein paar helle Schimmer von Mondlicht benetzten die Umrisse der Lazarettbetten und die verworrenen Knäuel keuchender Kranker. Maria beobachtete aufmerksam das langsame Auf und Ab ihrer Brustkörbe. Hier und da ein beängstigendes Rasseln von ausgeworfenem Atem, ein beunruhigendes Husten, Schmatzgeräusche, das Quietschen von zerbrochenen Federn in schweißdurchnässten, schmutzigen Matratzen. Der grässliche Traum, den sie geträumt hatte war ihr so gegenwärtig wie der Geruch von Chloroform, der sich in der Nacht immer mit dem Geruch von männlichem und weiblichem Harn vermischte. Maria griff sich vorsichtig an die Stelle unter ihrem Bauch und biss sich auf die Unterlippe. Warum musste sie nur gerade jetzt auf die Toilette? Sie stützte ihre Hand in ihren Rücken und versuchte aufzustehen. Ihre Zehenspitzen streiften über den mit zersprungenen Fliesen bedeckten Fußboden und zuckten zurück. Nachts war der Fußboden immer eiskalt. Maria seufzte, dann setzte sie ihre kleinen Füße auf den Boden und stand auf. Sie bückte sich und zog vorsichtig den Nachttopf unter dem Bett hervor. Zitternd vor Kälte hockte sie sich darüber und band ihr Nachthemd zu einem Knoten über ihren Oberschenkeln. Einen Augenblick später hörte sie das leise Plätschern und das metallische Säuseln des Nachttopfes. Maria schloss die Augen. Dann, plötzlich – Maria riss die Augen auf. „Hallo?“ So schnell sie konnte drückte sie sich mit beiden Händen an der Bettkante in eine stehende Position. Ihre Hände umklammerten verzweifelt den Nachthemdknoten unter ihren Bauch. „Wer ist da?“, flüsterte sie. Ängstlich drehten ihren Hände den Knoten und spannten das Nachthemd um ihren Unterleib. Hatte sie nicht etwas gehört? Ein Rascheln, oder ein Schleifen. Ihre Hände hörten auf, den Knoten zu drehen. Nein! Ein Schlurfen. Ein Tap, wie wenn ein Fuß auf den Fliesen aufsetzte und dann dieses Geräusch, als wenn man etwas hinterher zog. Ihr Blick wanderte durch die Bettenreihen und suchte Dieters Krankenbett. Da! Es war leer. „Dieter?“ Unschlüssig drehte sie wieder den Knoten bis er so fest um ihren Unterleib gespannt war, dass es ihr wehtat. Plötzlich wieder dieses Geräusch. Tap und dann das Schlurfen, Tap,- ,Tap,- Tap,- TAPTAPTAPTAP! „Wo bist du?“, flüsterte Maria und ließ den Knoten los. Er drehte sich auf und der Saum ihres Nachthemdes fiel über ihre Oberschenkel auf den Boden. Maria machte einen Schritt vorwärts und lauschte. Warum war Dieter nur aufgestanden und hatte sein Bett verlassen? Niemand durfte aufstehen und sein Bett verlassen. Sie hatten doch ihren Nachttopf und sonst gab es nichts, wohin man nachts gehen konnte oder durfte. Auf die Straße durfte man schon gar nicht. Wollte Dieter etwa gegen die Ausgangssperre verstoßen? Auf der Straße würden sie ihn erschießen. Sie würden Dieter einfach erschießen! Maria trippelte ein paar Schritte nach vorn. „Dieter!“, sagte sie wütend. Es war jetzt ganz still im Lazarettsaal. TAP! Maria lief auf Zehenspitzen durch die Krankenbettenreihen. Ihre Füße fühlten sich taub an. An der großen Flügeltür blieb sie stehen. „SSSST“, machte sie und drückte die Tür einen Spalt weit auf. Der Flur lag in völliger Dunkelheit. Marias Hände zitterten. Es war so dunkel! Es war fast so dunkel wie – Maria schüttelte mit dem Kopf – wie in einem Keller. „Die –“, die Stimme brach ihr. `Wie in einem Keller.´, dachte sie und fing an zu weinen. Maria zitterte immer mehr. Sie wollte jetzt ganz laut nach Dieter rufen, aber ihre Lippen brachten keinen Laut hervor, ihre Zähne schlugen aufeinander. Die kleinen Zehen ihrer Füsse waren wie Fäuste zusammengeballt. Dann plötzlich wieder das Schlurfen, schneller, immer schneller. Taptaptaptaptap!!! Ein Zischen! – eine Kerze, die sich entzündete. Maria riss schrecklich weit den Mund auf und wollte schreien. Eine Hand packte sie am Hals und eine Hand unter ihrem Schritt und riss sie in die Höhe. „Na?“, ein warmer Mund küsste Marias Lippen und zwei starke Arme pressten ihren Körper an sich. „Na min Dern?“, flüsterte ihr die Stationskrankenschwester zu. „Sollst doch das kleene Engelchen net friern lassen.“ Maria ließ sich von ihr zurück zu ihrem Bett tragen. Sie ließ sich zudecken und schloss die Augen. Die Stationskrankenschwester streichelte liebevoll ihren Bauch und lächelte. „Hast woll den Vadder jesucht, wat Liebchen?“ Im Lazarett hatte Dieter die Hand vor Augen nicht sehen können. Es hatte ewig gedauert, sich durch die langen dunklen Flure zu tasten. Dieter erschauderte bei dem Gedanken noch immer. Irgendwas oder irgendwer war hinter ihm her gewesen. Er lehnte sich gegen die Mauer und schaute ängstlich zurück. Dieses Geräusch, dachte er. Dieses Schlurfen und kratzen. Angewurzelt hatte er da gestanden und in die Dunkelheit gelauscht. Er hatte nicht rennen wollen. Aber dann hatte er es doch getan. Taptap hatten seine Füße gemacht. Er war stehen geblieben – tap und hatte gelauscht. Das Schlurfen war widerlich gewesen. Dann hatte es sich plötzlich entfernt und Dieter war wieder gerannt. Er hatte nichts sehen können, bis er gegen die Ausgangstür geprallt war. Sein Bein schmerzte. Dieter rieb sich vorsichtig das Knie und biss die Zähne zusammen. Wenigstens schien der Mond. Langsam humpelte er vorwärts. Er versuchte die Schatten zu meiden. Vor jedem Torbogen, der in den nächsten Hinterhof führte blieb er nachdenklich stehen. Der Geruch von menschlichen Exkrementen wurde immer stärker. Dieter atmete tief durch, dann huschte er durch den Schatten. Es roch jetzt auch nach Fluss. Dann spürte er das erste Gras unter seinen Füssen. Dieter rannte. Er musste sich links halten. Da war eine große Mauer, die fast bis in Wasser reichte. Seine Fingerspitzen glitten über den rauen Putz. Die Mauer war feucht. Hier war jede Mauer feucht. Er erinnerte sich, wie er vor Maria gestanden hatte, wie nah sie ihm gewesen war. Und die Mauern waren genau so feucht gewesen. Dieter blieb stehen. Seine Hände ruhten flach auf der Mauer. Sein Herz raste. Er drehte sich um. Da waren sie. Im Mondlicht hatten sie eine tief dunkelblaue Farbe. Dieter klappte sein Taschenmesser auf. „Verjissmeennich.“, flüsterte er und schnitt die Blumen von den Stängeln. Dann öffnete er seine linke Hand und packte sie zu dem Strauss von Löwenzahn. Maria lächelte. „Dieter.“ „Darf ich?“, fragte Dieter. Maria zog die Knie an und zog die Bettdecke zu sich. Dieter setzte sich auf das Bett, lehnte sich zurück und ließ die Beine über den Rand baumeln. Maria umklammerte mit ihren Armen ihre Knie und rutschte zu ihm heran. „Du warst gestern Nacht nicht im Bett.“, flüsterte sie und zog die Augenbrauen etwas zornig aber auch etwas neugierig zusammen. „War draußen.“ Dieter grinste stolz. Maria nahm die Arme von ihren Knien und stieß ihn in die Seite. „Auf der Straße? Und was wenn dich die Teufel gekriegt hätten?“ Dieter sah sie mit verkniffenen Augen an. „Meinste etwa die Russen?“ Maria nickte heftig. „Die kommen, wenn’s dunkel ist.“, sagte sie. Dieter schüttelte mit dem Kopf. „Die kommen, weil’s hier wat zu futtern jibt. Und denn isses ejal obs dunkel is.“ „Und warum holen sie dann nur Nachts die kleinen Kinder?“ Maria stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich fragend vor. „Wat?“ „Meine Mutter hat gesagt, sie holen die kleinen Kinder. Dann kommen sie nachts, damits keiner sieht. Sie holen sie einfach weg, um sie –“ Sie rutschte ganz nah an Dieter heran. „- um sie aufzufressen!“ Dieter zeigte ihr einen Vogel. „Du spinnst.“, sagte er. „Und warum haben sie dann so schmale Schlitze als Augen?“ Dieter zuckte mit den Achseln. „Na, damit sie Nachts besser sehen können.“ Maria schaute ihn mit großen Augen an. Dieter machte eine abfällige Handbewegung. „Weils Untermenschen sind.“, sagte er sehr laut und drehte sich plötzlich ängstlich um. Er sah Maria an und presste sich den ausgestreckten Zeigefinger auf die Lippen. „Weils keene richtigen Menschen sind.“, flüsterte er Maria zu. „Sag ich doch. Weils keine Menschen sind. Sind Teufel. Von unter der Erde. Deshalb sind sie auch immer schmutzig und manchmal voller Russ, weil sie gerade aus der Hölle kommen.“ „Das hat dich deene Mutter erzählt?“, fragte Dieter stirnrunzelnd. Maria nickte. „Und du meenst die Schlitze inne Ogen ham se, weil se Nachts besser sehen könn?“ Maria nickte. „Damit sie die Kinder besser finden.“ Sie umklammerte plötzlich ihren Bauch. „Manchmal holen sie sie auch aus dem Bauch.“, flüsterte sie. Dieter lachte laut auf. „Du hast nich mehr alle anne Kante.“, sagte er. „Und deene Alte och nich.“ Maria wich erschrocken zurück. Sie drehte sich weg. Erschrocken hörte Dieter, wie sie zu weinen anfing. Wütend schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn. `Mist!´, formten seine Lippen. „Maria.“, stotterte er. „Wollt ich nich saren.“ Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. Sie stieß sie weg und rückte ein Stück von ihm fort. Dieter streckte die Hand aus. Er zog sie wieder zurück. Sein Blick hellte sich plötzlich auf. „Guck ma.“, sagte er hoffnungsvoll und griff in die Innentasche seiner zerrissenen Jacke. „Guck ma, was ich jestern Nacht für dich jeholt habe.“ Maria drehte sich schluchzend um. Stolz hielt ihr Dieter den Blumenstrauß ins Gesicht. Zitternd nahm Maria die Blumen aus seinen Händen. „Aber die Krankenschwester –“, sagte sie ungläubig. „Was hast du -?“ Dann schlug sie ihm die Blumen ins Gesicht. Vor dem Mann ohne Beine hatte Maria von Anfang an Angst gehabt. Das hatte sich erst geändert, als man ihr gesagt hatte, dass er bald sterben würde. Er hustete ihr mitten ins Gesicht. „Is Blut.“, sagte er und wischte sich verächtlich die Lippen ab. „Ja.“, sagte er. „Lungenentzündung is ganz was edles. Da sterben auch Könige dran. Ich glaub, sogar Götter.“ Er versuchte aus zu spucken. Ein dünner Speichelfaden floss seine Mundwinkel hinab. Maria wischte den Speichel mit ihrer Hand fort. „Meinst du, ob der alte Hund da oben auch schon dran verreckt ist?“ Er schaute zur Decke und kniff ein Auge zu. „Is bestimmt schon verreckt. Im Krieg. War ja überall Blut. Überall.“ Er nickte, dann hustete er und wischte sich wieder über die blutigen Lippen. „War alles sein Blut!“ Maria senkte ihren Blick und schaute auf den Boden. „He!“ Maria spürte einen Luftzug in ihrem Gesicht und schaute auf. „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.“ Seine Hand war zur Faust geballt. Seine Lippen zitterten und er zischte etwas, was Maria nicht verstand. Sie beugte sich vor. „Hure!“, schrie er sie an. Maria zuckte zurück. „Hast mich ganz genau verstanden.“ Maria sah sich hilfesuchend um. Sie hatte der Schwester versprochen, bei ihm zu bleiben. „Verdammte Hure.“, röchelte er. Er winkte mit der Hand ab und ließ seinen Kopf wieder ins Kissen sinken. Seine Wangen waren fürchterlich einfallen und seine Haut hatte die Farbe von schmutzigem Kupfer. Sein Brustkorb zuckte bei jedem Atemzug. „Geht schon in Ordnung.“, flüsterte er. „Wenn du ne Hure bist, bin ich auch eine.“ Er lachte zaghaft, um nicht von einem neuerlichen Hustenanfall mitgerissen zu werden. „Nur dass ich schon eher gefickt wurde.“ Seine Hand tastete nach seinen Oberschenkeln. Er nickte. „Ich hab mehr als meine Beine verloren.“ Der Blick des Mannes ohne Beine wurde plötzlich sanft. „Warum bist du nur so´n hübsches Ding?“, sagte er. Er legte den Kopf etwas zur Seite und lächelte. „Wenn ich noch meine Beine hätte, oh man, was könnten wir beide für´n Spass haben.“ Er packte sie bei der Hand. Maria wollte sich losreißen. „Mir ist alles egal.“, sein Atem war heiß. Er riss sie kraftvoll zu sich ans Bett. „Siehste, kann ich alles noch.“, grinste er. „Brauchst mich nur anfassen.“ Er presst ihre Hand in Richtung seiner Oberschenkel. Maria schrie auf. Der Mann ohne Beine spuckte ihr plötzlich ins Gesicht. „Scheiß Hure.“, flüsterte er. „Denkst du etwa, dass er dich nur für sich will?“ Seine Pupillen zuckten wild umher, als er ihr in die Augen sah. „Ich kanns dir wegficken, wenn de willst.“ Marias Oberlippe zitterte. „Musst es nur woll´n. Musst nur sagen, machs weg.“ Er legte seine freie Hand auf ihren Bauch. Seine Hand glitt tiefer. „Machs weg.“, sein Flüstern wurde lauter. Sein Gesicht war ihr so widerlich nahe. Maria konnte seinen Atem riechen. „Oh Gott.“ Er lachte lauthals auf. „Machs weg!“, zischte er. Plötzlich ein Krachen! Ein Aufschrei! Maria wollte sich umdrehen, aber der Mann ohne Beine packte sie hinter dem Kopf und presste ihn gegen seinen Oberkörper. Sie konnte das grausige Rasseln in seinen Lungen hören. „Sags.“, flüsterte er. „Ich ficks dir weg.“ Seine Hand war jetzt fasst zwischen ihren Beinen. Hinter ihr polterten schwere Schritt auf sie zu. Sie waren gewaltig, wie die eines Riesen. Seine Hand war jetzt fast – Maria spürte eine zweite Hand, sie war kraftvoll, fast so heiß wie kochendes Wasser und sie legte sich um die Hand des Mannes ohne Beine und hielt sie fest. Der Mann ohne Beine kicherte. „Sags.“, flüsterte er. Es fühlte sich an, als wäre es unmöglich, seine Hand von dort zu entfernen, wo sie lag. „Sags jetzt.“ Maria schwieg. Ihre Oberlippe zitterte und sie schwieg, weil sie Angst hatte. Der Griff des Mannes wurde schwächer. „Sags.“, bat er sie fast. Die kochend heiße Hand zog seine fort und presste sie an seine Brust. Maria schaute auf. Mit unglaublicher Kraftanstrengung presste die andere Hand der Krankenschwester das Gesicht des Mannes ohne Beine zur Seite. Ein Hustenanfall packte ihn und ließ ihn erzittern. „Nicht.“, wollte Maria sagen. Der Blick der Krankenschwester wirkte auf unheimliche Weise grausam und kalt. „Latt miin Dern in Ruh.“, zischte sie. Dieter stolperte durch die Nacht. Er wollte nicht wieder zurück. Ängstlich drehte er sich um. Motorengeräusche. Ein paar schmutzige Scheinwerfer tauchten die Straße in ein wässriges Gelb. Dieter presste sich in den dunklen Schatten einer Eingangstür und blieb bewegungslos stehen. Das Fahrzeug kam näher. Leises Donnern. Dieter biss die Zähne zusammen und konnte ein Wimmern nicht unterdrücken. Mit der Hand nestelte er an der Eingangstür. Sie war verschlossen. Das Donnern wurde immer lauter. Kreischend kam das Kettenfahrzeug zum stehen. Die schmutzigen Scheinwerfer beleuchteten Dieters Zehenspitzen. Vorsichtig rutschte er ein Stück zurück. Seine Hand hielt den Türgriff nach unten gedrückt. Dieter presste sich dagegen. Sein Knie schmerzte. Er drückte. Ein leises Knacken. Schritte näherten sich. Dieter hielt den Atem an und presste sich mit aller Gewalt gegen die Eingangstür. Das Blut pochte laut durch seine Schläfen. Dieter schloss die Augen. „Jeh uff“ wimmerte er leise. Er presste den Hinterkopf schmerzvoll gegen das aufgesplitterte, trockene Holz. „Bitte.“, flüsterte er. „Jeh uff!“ Die Tür krachte so laut wie eine Bombe auf. Dieter stürzte. Er riss die Augen auf. Mehrere schwere Armeestiefel trampelten in seine Richtung. Dieter zögerte. Sein Blick huschte durch die Dunkelheit. „Meen Jott.“, keuchte er noch. Dann war er plötzlich auf den Beinen. Sie fühlten sich wie Gummi an. In Dieters Kopf dröhnte es. Er wirbelte im Kreis herum. Ging zurück. Ein Schritt, zwei. Seine Fuß tastete ins Leere. Dieter stieß einen quiekenden Schrei aus und stürzte nach hinten. Seine Hände wedelten durch die Luft. Seine Hand streifte über das Geländer und umklammerte es verzweifelt. Sein rechtes Knie knickte weg. Mit ganzer Wucht schlug er mit dem Rücken gegen die Kellertreppenwand. Dieter hustete. Er ließ das Geländer los, wollte einen Schritt machen und sprang fast. Vor ihm nichts als Dunkelheit. Seine Füße knallten auf die unterste Stufe, sein rechtes Bein schnellte vor, setzte auf - Dieter schrie auf vor Schmerz. Halb ohnmächtig taumelte er vorwärts, prallte gegen eine Tür und riss sie auf. Durch die Wucht des Aufpralls schlug sie laut gegen die Kellerwand und wurde zurück in den Rahmen geworfen. Dieter lag auf seinen Knien und hielt sich mit beiden Händen abgestützt. Sein Atem raste. „Steh uff.“, flüsterte er. Sein Knie fühlte sich an, als hätte man mit dem Hammer darauf geschlagen. Ein lautes Splittern! Dieters Kopf wirbelte herum. Ein einziger Gewehrkolbenschlag hatte die Eingangstür aus den Angeln gerissen. Schreie! Dann ein Schuss. Die Armeestiefel trommelten wie Maschinengewehrsalven in das Haus. Eine Frau kreischte. Türen flogen auf. Zwei einzelne Armeestiefel trampelten die Kellertreppe hinab. „Steh uff!“, befahl sich Dieter. Er setzte eine Hand auf das linke Knie, schloss die Augen, dann stand er auf. „СТОЙТ!“ Der Stiefel des Soldaten krachte gegen die Tür und schleuderte sie auf. Sie schlug gegen die Wand – wurde zurück geworfen! „Cтойт.“ , sagte der Soldat fast ruhig und streckte den Arm aus. Die Tür prallte dagegen, taumelte aus den Scharnieren und fiel wie ein Fallbeil nach vorn. Der Soldat betrachtete die Tür etwas ungläubig und zögerte. „Werr da?“, sagte er laut in gebrochenem Deutsch. Ein leises Klicken, dann entzündete sich ein Feuerzeug. „Хände хoch.“ Er hob die Hand und beleuchtete mit dem Feuerzeug den Raum. Vorsichtig ging er ein paar Schritt vorwärts, bis zu einem Schrank, der fast auseinander fiel. Er riss die Tür auf! Die Tür krachte aus den rostigen Scharnieren und knallte auf den Boden. Der Soldat zog die Augenbrauen zusammen und drehte sich um. Er ging auf die Wand zu. Dort befand sich eine Eisenklappe, die etwa so groß war wie ein Kellerfenster. Der Soldat lächelte und öffnete die Klappe. „ЙДЙОТ!“ Er schob den Lauf des Gewehres in den Schacht und sein Gesicht vor. Der Schacht führte senkrecht nach oben. Er blickte den Schacht hinauf. Er glaubte etwas zu sehen. Dann plötzlich, ein lautes Rauschen! Der Soldat zuckte zurück. Doch zu spät, die Ladung Kohlestaub erwischte ihn mitten im Gesicht. Er drehte sich um. Ein Soldat stand in der Kellertür und hielt ein brennendes Feuerzeug in die Höhe. Der Soldat, der voller Kohlenstaub war, sah an sich herab und zog die verrußten Augenbrauen zusammen. Der andere Soldat schüttelte den Kopf. „ЙДЙОТ!“ Dieter rutschte aus dem Kohlenschacht und glitt zu Boden. „Meen Jott.“, flüsterte er und hustete. Er schloss die Augen und rieb gedankenverloren sein Knie. Er versuchte sich zu erinnern, wie lange er in dem Kohleschacht gekauert hatte. Er schüttelte mit dem Kopf. „Is nich wichtig.“, flüsterte er zu sich selbst. Vorsichtig kroch er in Richtung des Kellerausgangs. Über die Treppe fiel fahles Morgenlicht in sein Gesicht. Dieter hob die Hand vor die Augen und blinzelte. Was war das für ein Gesicht gewesen, das er da im Kohleschacht gesehen hatte? Er hielt inne und ließ die Hand sinken. Es war grauenvoll gewesen. Im Schein des Feuerzeuges hatten seine Konturen hart und erbarmungslos ausgesehen. Die Haare waren struppig und schwarz gewesen. Die Augen. `Meen Jott.´, dachte Dieter. Er hatte kurz in diese Augen gesehen und war fast erstarrt. Sie waren wie Schlitze gewesen. Und dieses Grinsen! Als er seinen Kopf in den Schacht gesteckt hatte, da hatte er so widerlich gegrinst und geschnüffelt, so als wollte er ihn riechen. Nein! So als hätte er ihn schon gerochen. Dieter packte die Angst. Was, wenn sie noch da draußen waren? Er rollte sich zur Seite und lehnte sich gegen den Türrahmen. Er lauschte. Als etwas Zeit vergangen war, streckte er vorsichtig den Kopf um die Ecke und blinzelte in Richtung Kellertreppe. Alles war ruhig. Wenn er die Treppe hinauf wollte, musste er aufstehen. Dieter befühlte sein Knie. „Tut weh jetze.“, flüsterte er sich aufmunternd zu. Mit dem Gewicht auf dem linken Bein zog er sich keuchend am Kellertürrahmen empor. Er setzte den rechten Fuß vor. „Tut weh.“, flüsterte er und biss die Zähne zusammen. Der Weg die Kellertreppe empor, schien unendlich lang zu sein. Dieter blieb auf jeder Treppenstufe stehen und schloss die Augen. Er nickte, wartete. Die nächste Stufe. An der zersplitterten Eingangstür blieb er stehen und sah sich um. Jemand hatte eine Schürze auf den Boden fallen lassen. Vorsichtig bückte er sich und hob sie auf. Er roch daran. `Warum hatte er das getan?´ Dieter verzog angewidert den Mund. Hastig warf er sie fort. Verwirrt betrachtete er seine Hand. Sie war feucht. Blut! Dieter übergab sich keuchend, indem er sich an der Wand abstützte. „Jott!“, er wischte sich den stinkenden Speichel vom Mund und sah, dass er schwarz vom Ruß war. Vorsichtig hüpfte er auf dem linken Bein herum, blieb fast einbeinig stehen und blickte die Treppe hinauf. Sie hatten die Türen aufgebrochen. Dieter betrachtete den Treppengang und schluckte. „Hallo?“, fragte er vorsichtig. Nichts rührte sich. „Wenns euch nich jut jeht, müsster rufen!“ Dieter betrachtete die blutige Schürze, die er auf den Boden geworfen hatte und drehte sich wieder in Richtung des Ausgangs. Er schluckte. Er drehte sich wieder zurück und hüpfte auf die Treppe zu. „Könnt och rufen, wenn’s euch jut jeht!“, rief er. Keine Antwort. Dieter packte mit seinen Händen rechts und links die Geländer und hüpfte mit dem linken Fuß auf die erste Stufe. Dieters Atem ging wie eine Dampflok. Tschsch, machte es, Tschsch. Dieter nahm Stufe um Stufe. Die Hände ein Stück höher ans Geländer, ein Schwung mit dem Oberkörper, ein Sprung – Tschsch – die nächste Stufe. Oben angekommen blieb er keuchend stehen und ließ sich gegen den Türrahmen sinken. Die Tür war zum Teil in den Raum hineingeschleudert worden. Ein paar Teile davon lagen außerhalb, auf der Schwelle – Dieter drehte sich etwas verwirrt um – auf der Treppe? Sein Kopf ging um den Türrahmen herum und er schaute ins Innere der Wohnung. Niemand war zu sehen. „Ich komm jetzt rin.“, rief Dieter laut. Er atmete tief ein und pustete aus. Etwas unsicher schob er sich durch die Tür. Mit beiden Händen an den Wänden des Flurs hüpfte er vorwärts. Ab und zu berührte sein rechtes Bein den Boden und er hielt schmerzvoll inne. Dieter leckte sich die Lippen. Wie lange hatte er schon keine richtige Wohnung mehr von innen gesehen? Er schüttelte den Kopf. Ewig nicht. Jedenfalls keine bei der die Außenwände nicht einfach weggerissen waren und in die man hineinschauen konnte wie in einen Rattenkäfig. An den Wänden waren Tapeten. Neugierig befühlte er sie mit den Händen. Er hätte ewig so stehen bleiben können, hätte er nicht etwas gesehen, was ihn ganz gefangen nahm. Mit großen Augen hüpfte er darauf zu. Er stolperte, setzte den rechten Fuß auf, humpelte. „Ein Radio.“, flüsterte er ungläubig. Er hatte die Angst vergessen. Er war fast da. Er streckte die Hand aus, packte es – es gehörte jetzt ihm. Ja, ganz sicher! Er drehte sich mit leuchtenden Augen zur Seite. Dieter schaute auf. Das Radio entglitt seinen Händen. Krachend zerbrach es auf dem Boden. „Wer?“, fragte Dieter. „Wat?“ Er spürte, dass er sich wieder übergeben musste. Die Frau auf dem Boden war nackt. Aber was noch schlimmer war – Dieter humpelte auf sie zu – Sie war – Ihre Oberschenkel waren voller Blut, ihr Bauch, ihre Hände! „Sie haben es mir weggenommen.“, flüsterte sie und sah ihn mit großen, glitzernden Augen an. Dieter wollte sie anfassen, ihr irgendwie helfen. „Wat wechjenommen?“, stieß er atemlos hervor. Er betrachtete immerwieder ihre gespreizten Oberschenkel. Sie streckte ihm die blutigen Hände entgegen. „Mein Baby!“, kreischte sie plötzlich. „Sie haben mir mein Baby weggenommen!“ Dieter stolperte zurück. Er wollte sich die Ohren zuhalten. „Mein Baby!“ , kreischte sie und beugte sich vor. Sie wollte ihn festhalten. „Diese Teufel haben mein Baby!“ Dieter riss den Mund auf. „Sie holen alle Babys!“, schrie die Frau. Dieter drehte sich um und stürzte in den Flur. Er spürte sein rechtes Bein jetzt nicht mehr. „Maria.“, keuchte er. Hinter ihm schrie die Frau wie eine Wahnsinnige. „Teufel!“, schrie sie. „Teufel.“, flüsterte sie und hob ein Bild auf, das neben ihr lag. Vorsichtige streichelte sie erst den Bilderrahmen und dann das Bild, das voller Glassplitter war. „Mein Baby.“, flüsterte sie und betrachtete das Bild, auf dem man sie und ihre sechzehnjährige Tochter sehen konnte. Dieter sah zuerst die Militärfahrzeuge. Dann sah er die Soldaten. Sie waren bereits im Lazarett! Sie wollten Maria das Baby wegnehmen! Dieter dachte an das Gesicht, das er im Kohleschacht gesehen hatte. Es hatte so widerlich gegrinst, dieses Gesicht. Und wie es geschnüffelt hatte. Dieter faste sich an die Ohren und versteckte sich hinter einer Häuserecke. „Sie haben mein Baby!“, hörte er sie noch immer schreien. Das Schreien hörte sich in seinem Kopf fast an, wie das von Maria. Dieter kniff die Augen zusammen. Ein paar Tränen quollen hervor. Dieter wischte sie mit dem russschwarzen Handrücken seiner rechten Hand fort und atmete zitternd aus. „Nee.“, flüsterte er. „Deens kriejen se nich. Deens nich!“ Er stieß sich von der Häuserecke ab und rannte die Straße hinunter. Er musste zum Fluss. Die Adern an Marias Hals waren so dick wie Regenwürmer. Sie bewegten sich, krochen mit jedem angehaltenen Atemzug unter ihrer Haut entlang, wurden blau – wurden schwarz. Die dürre Frau, der die Krankenschwester befohlen hatte, bei ihr zu bleiben, legte zitternd ihre linke Hand auf Marias Hals. Sie schloss die Augen. Ihre rechte Hand rieb wieder und wieder über Marias pulsierenden Bauch, hielt ängstlich inne, wenn das, was sich darin bewegte, ausschlug und gegen die Gebärmutter hämmerte. Ihre Hand zitterte dann. Ihre Lippen flüsterten verzweifelt. Dann rieb sie wieder. „Must se ordentlich schubbern.“, hatte die Stationskrankenschwester ihr befohlen. „Damits Engelchen weeß, wos raus jeht.“ „Hier.“, hatte sie gesagt und ihre Hand unter Marias Bauch geschoben. „Hier musste schubbern.“ Sie hatte ihre Hand wie wild gegen Marias Unterleib gepresst und mit ihrer rauen Handfläche wie mit einem Eisenschwamm hin und her geschrubbt, dass Maria aufschrie, als das, was in ihrem Bauch war, sich zum ersten Mal so ungeduldig und boshaft bewegt hatte. „Damits Engelchen weiß, wo es raus muss.“, flüsterte die dürre Frau wieder und wieder und ihre Hand bewegte sich schnell und schmerzhaft. Maria schrie auf. „Nicht.“ , schrie sie und versuchte verzweifelt ihre Hände aus den Lederriemen zu befreien. Ihre Beine zuckten und rissen an den Fußfesseln. „Nicht anfassen.“, wimmerte sie. Die dürre Frau öffnete ihre rotumrandeten Augen. Für einen Augenblick nahm sie die Hand von ihrem Bauch und strich ihr durch das schweißnasse, klamme Haar.