Zwei am Meer - Fanny André - E-Book
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Zwei am Meer E-Book

Fanny André

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Beschreibung

Mit über 80 ist noch lange nicht Schluss, entscheidet Camille. Die alleinstehende alte Dame hat ihre eigenen Bedürfnisse stets zurückgestellt und möchte nun noch einmal etwas erleben. Irgendwann ist auch mal Schluss, entscheidet Isabelle und kündigt ihren Job. Die 48-jährige Juristin ist ausgebrannt, einsam und hat die eigenen Wünsche und Ziele aus den Augen verloren. Das Schicksal führt die ungleichen Frauen auf der Beerdigung von Arnaud, Camilles Sohn und Isabelles Ex-Mann, wieder zusammen. Die beiden haben sich immer gut verstanden, doch über die Jahre ist ihr Kontakt eingeschlafen. Nun merken sie, dass sie viel mehr verbindet als die Trauer um Arnaud. Und sie beschließen, sich einen alten Traum zu erfüllen: eine gemeinsame Reise. Jede soll der anderen die Schönheiten ihrer Heimat zeigen. Die beiden Frauen brechen zu einer Fahrt in die Normandie und die Bretagne auf. Sie stürzen sich in ein Abenteuer, das ihre kühnsten Erwartungen übertrifft − denn mit dieser Reise ändert sich alles. Fanny André erzählt eine hinreißende Geschichte über Liebe und Freundschaft, darüber, wie wir den Mut finden, Neues zu wagen und Träume zu verwirklichen.

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Seitenzahl: 320

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Mit über achtzig ist noch lange nicht Schluss, entscheidet Camille. Die alleinstehende Dame hat als Mutter und Ehefrau lange ihre Bedürfnisse zurückgestellt und möchte an ihrem Lebensabend noch einmal etwas erleben.

Irgendwann ist auch mal Schluss, entscheidet Isabelle und kündigt ihren Job. Eingebunden in ein stressiges Arbeitsleben, hat sie ihre eigenen Wünsche und Ziele aus den Augen verloren. Als sich die beiden Frauen auf der Beerdigung von Arnaud, Camilles Sohn und Isabelles Ex-Mann, nach Jahren wiederbegegnen, stellen sie fest, dass sie mehr verbindet als die gemeinsame Trauer. Ein lange vergessener Traum kommt ihnen wieder in den Sinn: Eine Reise durch die Normandie und die Bretagne. Aber ist es dafür nicht zu spät? Nein, bestimmt Camille. Was als spielerischer Wettstreit darum beginnt, welche der beiden Regionen mehr zu bieten hat, entwickelt sich bald zu einem Roadtrip, der alles verändert.

Fanny André, 1984 geboren, lebt in der Bretagne an der Côtes d’Armor. Nach dem Studium der Literatur und der bildenden Kunst beschloss sie, sich ganz dem Schreiben zu widmen, und hat seit 2015 mehrere Romane veröffentlicht.

Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin und Moderatorin.

FANNY ANDRÉ

ZWEI AM MEER

ROMAN

Aus dem Französischenvon Ingrid Ickler

Die französische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel ›Pour le sourire d’Isabelle‹ bei Presses de la Cité, Paris.

© Presses de la Cité, un département de Place des Editeurs, 2020

eBook 2022

© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ingrid Ickler

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagillustration: www.hortense-affiches.com

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7131-5

www.dumont-buchverlag.de

DANK

Für dieses Buch möchte ich mich bei zwei Menschen bedanken, die mich mit viel Liebe (und Ausdauer!) begleitet und unterstützt haben: Annie und Florence. Danke, dass es euch gibt, für eure Meinung, eure Nachsicht und dafür, dass ich dort, wo mein Hirn gescheitert ist, auf euren scharfen Verstand zurückgreifen konnte.

Dieser Roman erzählt die abenteuerliche Geschichte von Camille und Isabelle, zwei Frauen, die mir sehr ans Herz gewachsen sind, auch wenn sie nur auf dem Papier existieren. Ich hoffe, ich bin ihnen gerecht geworden. Sie sollten Ihnen und mir nah sein mit ihren Zweifeln und ihrem Bedauern, aber auch mit ihren Glücksmomenten. Ihre Geschichte aufzuschreiben, hat mich wachsen lassen, und dafür bin ich ihnen dankbar. Dieses Buch ist ein Wendepunkt für mich und eine wichtige Etappe in meinem Leben als Autorin.

Besonderer Dank gilt den Frauen meiner Familie: Allen voran Raymonde und Nadine, die mir den Weg bereitet haben, Sandra, weil sie den Weg mit mir gegangen ist und mir immer einen Schritt voraus war. Aber auch den wunderbaren Frauen der neuen Generation, meiner Pampelmuse, Morgane, und meinen Herzenstöchtern. Danke, dass es euch gibt, dass ihr mich wachsen lasst und auf mich achtet. Ihr seid meine Amazonen, euch gehört all meine Liebe und Zärtlichkeit.

Mein Dank geht auch an meinen Agenten Michael, der dieses Projekt mit mir bis zum wunderbaren Team der Presses de la Cité geführt hat. Ich danke Sophie, Clarisse, Claire, Carole und Isabelle, Frauen, die diesen Roman mit dem Wohlwollen und der Professionalität betreut haben, von der ich geträumt habe.

Nun wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen schönen Roadtrip mit Isabelle und Camille.

CAMILLE

Eine Beerdigung muss traurig sein. Ich glaube, das hat irgendwer mal geschrieben, und niemand hatte den Mut, ihn eines Besseren zu belehren. Es ist einfacher zu nicken, als dem zu widersprechen.

Ich hätte nie gedacht, eines Tages meinen Sohn beerdigen zu müssen. Ich hatte die Trauerfeier für meinen Arnaud mit der Sachlichkeit organisiert, die man von mir erwartete. Und den düstersten Gesichtsausdruck aufgelegt, zu dem ich fähig war. Dabei war meine Trauer nicht gespielt, beileibe nicht. Aber ich hätte ihm meinen Schmerz gerne auf meine Art gezeigt oder ihn ganz für mich behalten, anstatt mich den vorgegebenen Ritualen zu unterwerfen, diesen Traditionen, die mir so gar nicht entsprachen, auf die ich aber keinen Einfluss hatte. Der Tod sollte etwas Persönliches und Intimes sein, wir sollten uns nicht vorschreiben lassen, wie wir versuchen, unseren Schmerz zu überstehen.

Die Erwartungen reichten bis zur Musik. Man hatte mir das Übliche nahegelegt, von Leonard Cohens Hallelujah bis zum Trauermarsch von Chopin. Arnaud hatte sich nie etwas aus Musik gemacht, er hätte Bashung nicht von Gainsbourg unterscheiden können, selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Aber Pauline, meine Nachbarin und Freundin seit mehr als dreißig Jahren, hatte darauf bestanden, dass auf einer Beerdigung Musik gespielt wurde. Nach langer Suche stieß ich auf The Sound of Silence, so konnte ich der Tradition ein Schnippchen schlagen, ohne den Leuten auf die Füße zu treten.

Ganz in Schwarz, wie es sich gehört, sitze ich da, in der ersten Reihe. Neben mir sitzt Pauline, sonst niemand. Ebenfalls Witwe, ersetzt sie heute die Familie, die ich nicht mehr habe. Der Priester macht seine Sache gut, er predigt mit monotoner Stimme, die Sätze plätschern dahin, und ich nehme an, dass die Messe genau so ist, wie sie sein muss. Totenmessen haben diese beruhigende Wirkung.

Während wir uns in kleinen Gruppen auf dem Friedhof sammeln, sehe ich sie endlich, eine schmale Silhouette in der Menge. Sie hebt den Kopf, und die Art, wie sie ihre braunen Augen zusammenkneift, gibt mir mein Lächeln zurück. Mehr wagt sie nicht, nicht in diesem Moment, Wiedersehensfreude an einem Sarg würde befremdlich wirken. Sie fällt auf zwischen den anderen Gästen, schon durch ihr dunkelblaues Kostüm, das eine wohltuende Wirkung auf mich hat bei all dem Schwarz. Keine offizielle Traueruniform für sie. Es ist nur ein winziges Detail, aber selbst dieser kleine Bruch mit den Konventionen tut mir gut.

Ich spüre, wie Paulines Hand krampfhaft meinen Arm drückt.

»Sie ist gekommen. Hast du sie eingeladen?«

Pauline ist eine wunderbare Frau, und ihr Anstand grenzt an Wahn. Wenn sie sich eine Tarteform leiht, wird sie blitzblank und ohne einen Kratzer zurückgegeben. Es käme ihr nicht in den Sinn, auch nur eine Kirsche von meinem Baum zu pflücken, dessen Äste von meinem Garten bis auf ihr Grundstück ragen. Sie ist ein guter Mensch, und man kann sich auf sie verlassen, was heutzutage selten ist. Allerdings hat sie Isabelle nie verziehen, dass sie sich von Arnaud getrennt hat. Ich dagegen schon, deshalb versuche ich, so freundlich wie möglich zu antworten: »Er war ihr Ex-Mann, sie hat ein Recht, hier zu sein.«

Mein Blick bleibt an der Grube und dem schlichten Holzsarg hängen. Ich hätte eine Feuerbestattung vorgezogen, mich beruhigt die Vorstellung der reinigenden Flammen, aber Arnaud und ich waren bei den wichtigen Fragen nur selten einer Meinung, und eben auch nicht, was den Tod betrifft. Der beste Beweis dafür ist, dass ich noch lebe. Anders als er.

Zwei Stunden später drängen sich in meinem Haus die Trauergäste: Nachbarn, Verwandte und Bekannte, die an diesem grauen Tag dem Sarg gefolgt sind. Wie machen das die Leute im Süden eigentlich? Kann man auch bei Sonnenschein trauern?

Alle haben mir kondoliert, und die meisten waren aufrichtig: Man sollte seine Kinder nicht überleben, besonders dann nicht, wenn ihr Herz versagt, während das eigene zwar alt und verbraucht ist, aber unermüdlich weiterschlägt. Ich sitze auf der Veranda und ruhe mich aus, so wie alle es mir geraten haben. »Ruhen Sie sich aus, Camille.« »Wir kümmern uns um alles.« »Machen Sie sich keine Sorgen, Camille.« Ich komme mir vor, als hätte ich Geburtstag. So wenig hat man selten von mir verlangt. Wahrscheinlich haben sie Angst. Ich weine nicht, ich breche nicht zusammen, und das ist seltsam. Ich habe das Gefühl, als würde etwas meinen Schmerz blockieren. Aber vielleicht warten die Tränen nur auf Ruhe, damit sie ihren Weg finden können.

Endlich wagt Isabelle sich zu mir. Ich habe sie nicht kommen gehört, mit ihren schwarzen Ballerinas scheint sie über die Holzdielen der Veranda zu schweben. Sie setzt sich neben mich, und eine Wolke ihres Parfüms hüllt mich ein. Sie duftet nach Iris und Pfingstrose. Als Arnaud sie mir damals vorgestellt hat, etwa zwei Jahre bevor sie heirateten, ist es mir sofort aufgefallen. Dieses dezente Parfüm. Und ihr Lächeln. Ein Lächeln, das etwas preisgibt, und zwar den schönsten Teil von ihr, in dem ihr Interesse für ihre Umgebung, ihr Wohlwollen sichtbar wird. Isabelles Lächeln ist kein Reflex und folgt keiner Konvention, es ist ein Versprechen, ein Erkennen und Wahrnehmen, eine Zuwendung. Und es hat etwas Melancholisches. Isabelle wirkt ein bisschen wie eine Jane Eyre des 20.Jahrhunderts, irgendwie deplatziert. Doch zur Zeit Jane Eyres wäre es das 20.Jahrhundert, das fehl am Platz wäre.

Eine sanfte Brise ist aufgekommen, und ich habe die großen Glasfenster weit geöffnet. Es ist ungewöhnlich warm in diesen Tagen Ende April, ideal zum Sitzen auf meiner »exzentrischen Idee«, wie mein Mann Hervé die Veranda immer genannt hat. Isabelle nimmt auf dem zweiten Schaukelstuhl Platz und reicht mir eine Tasse Tee.

»Hier, Camille, Pauline hat mich gebeten, Ihnen die zu bringen. Ihrem Gesichtsausdruck zufolge, hätte sie mir den Tee lieber ins Gesicht geschüttet, aber dann hat sie es sich doch anders überlegt. Vielleicht aus Angst um den Fußboden …?«

Mechanisch greife ich nach der Tasse, bevor mir klar wird, mit wem ich es zu tun habe. Vor Isabelle brauche ich mich nicht zu verstellen, vor allem wenn ich nach all den Jahren das Eis zwischen uns brechen möchte.

»Danke, aber das ist schon die dritte Tasse, die man mir anbietet. In meinem Alter sollte man das Schicksal nicht herausfordern. Wenn ich zu viel Tee trinke, muss ich ständig auf die Toilette, was das Risiko eines Oberschenkelhalsbruchs erhöht. Und meinen Oberschenkelhals hüte ich wie meinen Augapfel!«

Isabelle unterdrückt ein Lachen und schüttelt den Kopf. Ihr ovales Gesicht wirkt schmaler als früher, die Wangenknochen stehen etwas hervor, und in den Augenwinkeln hat sie ein paar feine Fältchen. Sie sieht gut aus für ihre Vierzig, trotzdem merkt man, dass sie älter geworden ist. Aber was habe ich schon zu reden, bei den vielen Jahren, die zwischen uns liegen?

»In diesem Fall erlaube ich mir, ihn selbst zu trinken. Sagen Sie, schwimmen Sie immer noch jede Woche?«

Ich kichere.

»Ja, aber verraten Sie es niemand. Die Ausrede mit dem Oberschenkelhals ist sehr nützlich …«

Sie zwinkert mir komplizenhaft zu, presst die Lippen aufeinander und macht eine Geste, als ob sie sie verschließen und dann den Schlüssel wegwerfen würde. Wir mustern uns einen Augenblick lang. Ich habe das Gefühl, das wiederzufinden, was sie die ganzen Jahre für mich war: eine alte Freundin, die ich aus den Augen verloren hatte. In ihrem Blick liegt Wehmut, ihr Gesicht wirkt ernst. Sie sieht aus wie eine Frau, die lieber Baudelaire liest, als herzhaft zu lachen. Aber heute würde ich darauf wetten, dass sie den gleichen Eindruck von mir hat. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, legt sie ihre Hand sanft auf meine. Meine Haut ist dünn wie Pergament und mit Altersflecken übersät. Was für ein Kontrast zu ihrer glatten zarten Hand. Vor fünfzehn Jahren habe ich noch versucht, die Flecke mit Zitronensaft loszuwerden, danach mit einer sündhaft teuren Creme. Die Leute, die für so etwas Werbung machen, sollten sich wirklich schämen.

»Es tut mir leid, Camille. Dass Arnaud nicht mehr da ist … Ich kann es ehrlich gesagt kaum glauben. Er war immer ein Fixpunkt, eine verlässliche Größe, selbst nach unserer Scheidung … Ich weiß nicht, aber für mich war er immer eine Art Konstante.«

Ich schüttele den Kopf. Meine Schwiegertochter verfügt über einen gesunden Menschenverstand. Mit Hervé ging es mir genauso. Er hat immer auf sich achtgegeben und ist nach seinem Leistenbruch sogar vorzeitig in Ruhestand gegangen, zwölf Jahre vor seinem Tod. Ich hatte immer geglaubt, er würde mich überleben. Aber vor fünfzehn Jahren hat das Schicksal anders entschieden. Im Leben gibt es keine Konstanten.

Ich höre auf zu denken und betrachte meine Azaleen. Sanft wiege ich mich in meinem Schaukelstuhl. Isabelle beginnt ebenfalls zu schaukeln. Zusammen mit meiner Ex-Schwiegertochter verbringe ich einen Moment der Ruhe außerhalb von Raum und Zeit, nur begleitet vom Knarzen der Schaukelstühle.

ISABELLE

Allmählich verlassen die Trauergäste das Haus. Selbst Pauline wirkt jetzt etwas erschöpft. Ich hüte mich, ein falsches Wort zu sagen, aber schließlich schickt Camille sie selbst nach Hause. Pauline hat mich seit jeher an eine Eule erinnert: Hinter ihrer altmodischen Brille liegen wachsame Augen, und ihre Ohren sind ausgesprochen gut. Eigentlich ist sie auf eine liebenswerte Art kauzig, wenn sie nicht so neugierig wäre. Sie will auf keinen Fall etwas verpassen. Aber da ist sie nicht die Einzige. Ich lausche und höre, wie sie Camille zum Abschied fragt: »Soll ich dafür sorgen, dass deine Schwiegertochter geht?«

»Das ist sie nicht mehr, Pauline. Sie sind geschieden, und Arnaud ist tot.«

Die Nachbarin gibt einen undefinierbaren Laut von sich, eine wütende Mischung aus Seufzen und Schnauben. Sie könnte ruhig etwas feinfühliger sein. Aber Feinfühligkeit ist nicht Paulines starke Seite. Ich erinnere mich, dass mein Ex-Schwiegervater immer sagte, sie sei so »fein wie grobes Salz«. Nur wenige würden ihm da widersprechen.

Als das Haus endlich leer ist, erkenne ich die altbekannten Geräusche wieder: Das Ticken der Standuhr aus der Franche-Comté, die sie von einer ihrer seltenen Reisen außerhalb der Normandie mitgebracht hatten. Arnaud hatte sich nicht von ihr trennen wollen. Camille hatte sie Marie-Charlotte getauft, was ich schon immer sehr originell fand. Das Klopfen des in die Jahre gekommenen Heizkessels. Das Knarzen des Massivholzparketts, auf das Hervé so stolz gewesen war. »Normannisches Splintholz!«, hatte er immer gesagt.

Hier war alles normannisch. Im Obstgarten standen die Apfelbäume dicht an dicht, und im Buffetschrank stand bestimmt noch Calvados. Das Haus mit seiner Fachwerkfassade wirkte immer schon wie losgelöst von Raum und Zeit. Ganz im Gegensatz zu seinen Bewohnern. Vor fünfzehn Jahren Hervé und jetzt Arnaud … Was wird aus Camille mit ihren einundachtzig Jahren werden, wenn sich niemand mehr um sie kümmert?

Ein Gefühl von schlechtem Gewissen kommt in mir auf, aber ich versuche, es zu ignorieren. Bei der Scheidung hat Camille mir keine Vorwürfe gemacht. Sie wusste, warum unsere Ehe gescheitert war. Hervé, mein Schwiegervater, wäre sicher weniger verständnisvoll gewesen, aber er war damals schon tot. Nach so langer Zeit wieder hier zu sein reißt alte Wunden auf …

Camille kommt zu mir und lächelt mich feierlich an.

»Isabelle, möchtest du einen Tee mit mir trinken? Und vielleicht etwas Gebäck? Du erinnerst dich bestimmt daran, dass mir diese Tradition heilig ist. Weißt du, was das Gute ist, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat? Ich nasche wieder fröhlich wie ein Kind.«

Ich schüttele den Kopf. »Und der Tee gefährdet deinen Oberschenkelhals wirklich nicht?«

Sie zwinkert mir zu. »Weißt du, nicht alle können sich junen lassen, aber …«

Ich räume gerade ein wenig auf und halte überrascht inne.

»Können was?«

Camille wirkt verblüfft.

»Na, das, was die jungen Leute mit ihren Autos machen, damit sie schneller fahren?«

Ich lache und frotzele: »Tuning, Camille, mit einem T. Und sagen Sie besser nicht ›die jungen Leute‹, das klingt, als würden Sie gleich den Löffel abgeben.«

Sie kichert wie ein junges Mädchen. Ich entspanne mich etwas und lasse die Gedanken an die Vergangenheit ziehen, um ihr beim Aufräumen der Küche und beim Anrichten zu helfen. Gegessen habe ich bisher nichts, mein Magen war wie zugeschnürt.

Camille bittet mich, alles auf ein Tablett zu stellen, und wir setzen uns wieder auf die Veranda an der Rückseite des Hauses – ein Geschenk zu ihrem vierzigsten Geburtstag. Für meinen Ex-Schwiegervater war die Veranda immer ein Schandfleck auf dem Erbe seiner Eltern, ich dagegen finde sie gelungen, ein wohltuender Kontrast zu dem alten Gemäuer und der altmodischen Einrichtung im Haus. Obwohl, vielleicht bin ich ungerecht, denn trotz ihrer einundachtzig Jahre hat Camille noch immer einen guten Geschmack. Keine Kreuzstichbilder, keine unsäglichen Vasen mit Hirschköpfen oder sonstige Erbstücke von Großmutter Odette.

Wir sitzen auf den Schaukelstühlen und betrachten den Rasen vor uns. Die Zeit fließt gemächlich dahin. Als ich noch ein Mitglied der Familie Chardin war, verbrachte ich gerne die Ferien hier. Mit einem Buch lag ich im Obstgarten auf einer Decke, döste und las, dabei hielt ich das Buch über meinen Kopf, bis meine Arme lahm wurden, ein jedem Leser wohlbekanntes Problem. Das Leben verging langsam und gemütlich. Mein heutiger Alltag hat mit damals rein gar nichts mehr zu tun.

»Bedien dich bitte«, fordert Camille mich auf. »Es ist so viel übrig geblieben, wer soll das alles essen? Die Leute meinen es gut und wollten mir Aufwand ersparen … aber nichts von dem, was sie mitgebracht haben, ist nur für eine Person gedacht. Ich könnte alle Obdachlosen der Gegend zu einem Bankett einladen. Allerdings wohne ich dafür im falschen Viertel.«

Ich unterdrücke ein Lachen. Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie durchaus zu einer solchen Einladung imstande wäre. Anders als die meisten Menschen ist sie mit Nächstenliebe und Vertrauen gesegnet. Ich weiß nicht, ob es an ihrem behüteten Leben oder an einem tiefen Glauben an die Menschlichkeit liegt, auf jeden Fall beneide ich sie darum.

Ich nehme mir ein Stück Pflaumentarte. Bestimmt von Pauline, ihre Pflaumenbäume sind eine Pracht. Alle im Viertel schwärmen von ihnen, und vor nicht allzu langer Zeit herrschte hier noch reger Tauschhandel. Wie viel Rhabarber, wie viele Feigen waren »Paulines Pflaumen« wert?

Nach dem ersten Bissen sage ich: »Pauline hat sich wieder einmal selbst übertroffen …«

»Ohne Zweifel. Du solltest mal ihre Pflaumenmarmelade mit Rosmarin probieren.«

Marie-Charlotte schlägt fünf, und wir lassen uns die Köstlichkeiten auf dem Tablett schmecken. Wie lange dieses kleine Picknick geht, spielt keine Rolle. Das erste Mal seit Monaten esse ich mit Genuss. Ich bin in guter Gesellschaft, an einem Ort, den ich einmal geliebt habe. Heute Abend werde ich in meine Wohnung in Caen zurückkehren und auf die Silhouette der Abbaye aux Dames blicken, aber für den Moment koste ich Camilles hausgemachten Kartoffel-Sellerie-Salat. An diesen Salade cauchoise werde ich mich nie gewöhnen …

CAMILLE

Seit einer halben Stunde haben wir keinen Bissen mehr angerührt. Unser Bankett zu Ehren Arnauds scheint offiziell ein Ende gefunden zu haben. Ich habe das Gefühl, gleich zu platzen, was mir ein schlechtes Gewissen macht. Ich habe gerade meinen einzigen Sohn zu Grabe getragen, und jetzt sitze ich hier und schlage mir den Bauch voll. Eigentlich sollte ich in Tränen aufgelöst sein und schluchzen. Aber so ist es nicht.

Trotzdem ist eine Leere in mir: Ich habe alle meine Liebsten verloren. Die beiden Männer meiner ohnehin kleinen Familie sind gegangen. Gott wird auf sie achtgeben. Aber ich werde mich weder die Treppe hinunterstürzen noch mich zu Tode hungern. Letzteres beweist das Spannen des Gummizugs in meinem Hosenbund.

Mir wird klar, dass mich mein Instinkt dazu gebracht hat, Isabelle einzuladen – unter dem Vorwand, dass sie als Ex-Frau meines Sohnes ein Recht dazu hat, heute hier zu sein. Ich brauche gerade Menschen um mich, die ich gernhabe. Einer davon ist Isabelle, ein anderer wäre meine Mutter. Als hätte sie den Staffelstab an mich weitergereicht. Auch sie hat ihren Mann und zwei ihrer Kinder begraben müssen. Mit wem sonst soll ich über mein Leben reden? Wem die Anekdoten erzählen, von all den kleinen Siegen, die wir im ewigen Kampf des Lebens gefeiert haben, berichten?

Der Moment am Ende der Schulzeit, als Arnaud mit dem Stottern aufgehört hat. Oder als Hervé den Angelwettbewerb gewonnen und sich einen Monat lang gefreut hat. Zum allerersten Mal in seinem Leben war er stolz auf sich. Oder dieses perfekte Jahrzehnt, in dem mein Garten am schönsten von allen in Trouville geblüht hat. Wer wird mir in diesem leeren Haus zuhören? Marie-Charlotte dreht endlos ihre Runden, die Rohre und Leitungen sind in die Jahre gekommen, und irgendwann werde ich nicht mal mehr in die verfluchte alte Badewanne steigen können.

»Isabelle, wie geht es dir wirklich?«

Kaum ausgesprochen, wird mir klar, wie seltsam meine Frage klingt. Aber ich will wissen, wie es in ihrem Inneren aussieht. Nicht, wie ihre Karriere läuft (sicher gut), nichts von den sonstigen Belanglosigkeiten, über die man eben so redet. »Ich kann nicht klagen, die Geschäfte laufen gut.« »Ich habe die Küche renovieren lassen – Chrom ist heutzutage ja völlig außer Mode!« Was haben solche Gespräche für einen Sinn?

Eine vage Handbewegung verrät mir, dass meine Frage ins Schwarze getroffen hat.

»Ich …« Ihr Gesicht verfinstert sich. »Ich hatte einen Burn-out, Camille.«

Einen Moment lang bin ich wie erstarrt. Was genau ist das? Ich merke mal wieder, wie alt ich bin. Kleinlaut gestehe ich: »Ich weiß nicht genau, was …«

Sie sieht mich an und lächelt ohne jede Überheblichkeit. So ist Isabelle. Es ist genau diese Freundlichkeit, die so selten und kostbar ist, ihre Art, die Unkenntnis eines anderen als Unzulänglichkeit ihrerseits zu begreifen. Am liebsten hätte ich ihr über die Schulter gestreichelt.

»Das ist ein Begriff für eine Krankheit, bei der Menschen in ihrem Job so sehr unter Druck stehen, dass sie fast explodieren. Eine geistige Erschöpfung, wenn Sie so wollen.«

Das Thema ist wichtig, und ich beschließe, aufrichtig zu sein. »Danke, so verstehe ich es schon besser. Aber ehrlich gesagt bin ich noch immer nicht sicher, was das mit dir zu tun hat.«

Ich sehe wie ihr Körper steif wird, aber ihre Augen bleiben weich.

»Es ist eine andere Bezeichnung für eine schwere Depression.«

Ich kneife die Augen zusammen, das »sagt« mir leider mehr.

»Und wie lange dauert diese geistige Erschöpfung schon?«

Ihre Gesichtszüge verhärten sich.

»Nun ja, schon so lange, dass ich gar nicht mehr sagen kann, wann das alles begonnen hat. Auf jeden Fall länger als sechs Monate. Seit ein paar Wochen geht es mir besser.«

Ich zucke zusammen. Kann man sich heute wegen einer Depression ein halbes Jahr freinehmen? Ich taste mich weiter vor: »Wie klappt das denn mit deiner Kanzlei, wenn du nicht da bist?«

»Nicht sehr gut. Ehrlich gesagt hatte ich Glück, sie mussten sich sowieso von Teilhabern trennen. Statt mir am Ende meiner Arbeitsunfähigkeit nahezulegen, von mir aus zu gehen, hat mir mein Chef, Sie wissen schon, Monsieur Mati, angeboten, mich zu entlassen, damit ich eine Entschädigung bekomme. Auch für die Arbeitslosigkeit war es so einfacher. Aber ich habe sowieso nicht vor, mich wieder in ein Büro zu setzen und im alten Trott weiterzumachen. Die Geister, die sich gerade verabschiedet haben, würden mich zu gerne wieder empfangen.«

Wir schweigen. Ich muss mich an den Gedanken gewöhnen, dass Isabelle die Arbeit aufgegeben hat, die früher ihr Lebensinhalt war. Wie sehr muss sie gelitten haben! Und wahrscheinlich durchlebt sie gerade noch einmal die Monate, die ihr wie Jahre vorgekommen sein müssen.

Meine Schwiegertochter weiß es nicht, niemand außer Hervé wusste davon, und selbst er wollte es lieber nicht wahrhaben. Nach Arnauds Geburt ging es mir ähnlich. Heute nennt man das Wochenbettdepression, aber damals gab es diesen Begriff noch nicht. Das Glück, ein Kind geboren zu haben, musste alles andere überstrahlen, auch den Schmerz einer Mutter. Das war nun mal die Aufgabe einer Frau. Damals wäre es unmöglich gewesen zu zeigen, dass man genau das Gegenteil von Glück empfand, zum Schatten seiner selbst wurde, ohne es zu wollen und ohne zu verstehen, was da mit einem vor sich ging. Wie hatte Isabelle das genannt? »Geister«? So hatte ich es noch nicht gesehen, aber genau so war es.

Ich erinnere mich nur zu gut an die endlosen Tage, die sich aneinanderreihten, die an mir klebten und auf mir lasteten. Jede Bewegung fällt schwer, die Gedanken sind träge, und jeder Seufzer fährt durch die Seele wie eine Klinge. Ich kenne das, aber wie soll ich ihr das erklären?

Ich erwische mich dabei, für kurze Zeit den Anlass unseres Wiedersehens verdrängt zu haben. Ich stehe auf, um uns einen Digestif zu holen. Falls Isabelle überrascht ist, zeigt sie es nicht.

»Ein Gläschchen Pommeau? Dieser Apfellikör ist eine der wenigen Sachen aus eurer Normandie, die mich wirklich überzeugen.«

Sie nickt amüsiert. Ich gieße die bernsteinfarbene Flüssigkeit in zwei formvollendete Gläschen, die ich bei einem Glaser in Etretat entdeckt habe.

»Nach fünfzig Jahren auf normannischem Boden sind Sie doch genauso Normannin wie ich, Camille.«

»O nein, einmal Bretonin, immer Bretonin!«

Ihr Lächeln wird fröhlicher. Die Schwermut der letzten Minuten weicht allmählich, und ich ärgere mich, dass mir unsere kleine Rivalität nicht früher eingefallen ist. Sie schlägt die Beine übereinander und spielt das Spielchen mit: »Jedenfalls scheinen Sie einen Pommeau Ihrem bretonischen Honigwein vorzuziehen. Ich habe Sie noch nie Chouchen trinken sehen.«

Ich muss lachen.

»Das liegt daran, dass Hervé noch nationalistischer war als ich! Er war mehr Normanne als Malherbe höchstselbst! Wenn ich Lust auf Crêpes aus Buchweizenmehl hatte, rief er mich entrüstet zur Ordnung! Ein guter Mann, aber dickköpfig wie ein Esel, das kannst du mir glauben.«

Als wir anstoßen, hat sich ein schelmischer Ausdruck auf Isabelles Lippen geschlichen.

»Erinnern Sie sich an Weihnachten 1999 und die Silvesternacht ins Jahr 2000? Wir hatten uns alle im Wohnzimmer am Kamin zu einem festlichen Apéritiv dînatoire versammelt.«

Ich nicke. Wenn ich an Hervé denke, sind es diese Momente, die mir in den Sinn kommen. Nichts Intimes, kein Kuss und keine Umarmung. Auch nicht unser Hochzeitstag, an dem ich ein Kleid à la Grace Kelly trug, aus Seidentaft mit langen Ärmeln aus Spitze und einer Reihe Perlmuttknöpfe vorne auf dem engen Bustier. Nein, vor meinem inneren Auge tauchen Frotzeleien auf, keine echten Auseinandersetzungen, großen Krisen und Tränen. Natürlich gab es die auch, aber diese Bilder verblassen nach dem Tod des anderen.

Die kleinen Scharmützel aber bleiben, die Eigenarten, die Momente, wo man dem normannischen Dickschädel am liebsten mit der Taschenlampe eins übergezogen hätte, weil er so bockig war. Weihnachten 1999 war dafür ein gutes Beispiel!

Die Kinder waren bei uns, wir waren »dran«, nachdem sie im Vorjahr in Bayeux bei Isabelles Familie gefeiert hatten. Ich war glücklich, es würde kein Heiligabend »alleine zu zweit« geben. Bei diesen Weihnachten zog ich mich lieber mit einem Grog zurück und ging früh ins Bett, damit das Ganze möglichst schnell vorbei war. Aber dieses Mal waren sie bei uns bis zum Silvestertag, der uns ins dritte Jahrtausend katapultieren würde! Wenn man wie ich vor dem Zweiten Weltkrieg geboren ist, war die Jahrtausendwende schon etwas Verrücktes. Jetzt, wo das dritte Jahrtausend schon in seinen Teenagerjahren ist, kommt es mir gar nicht mehr so anders vor als sein Vorgänger. Die Autos fliegen nicht, und ich habe keinen Roboter zu Hause, der meine Tartes backt. Als Arnaud mir ein »elektronisches Buch« geschenkt hat, konnte ich auch darin keinen echten Fortschritt erkennen.

Dieses magische Neujahr 2000 sollte denkwürdig werden, und wir legten uns richtig ins Zeug. Nicht der übliche mit Maronen gefüllte Truthahn, keine Apfeltarte oder Ähnliches. Auf dem Programm stand ein opulentes Apéritifbuffet. Natürlich habe ich es wie immer übertrieben, der niedrige Tisch im Wohnzimmer bog sich fast, und was nicht mehr draufpasste, fand auf zwei Beistelltischen Platz. Ich genoss es, all die kleinen Köstlichkeiten vorzubereiten, und natürlich durften auch einige bretonische Spezialitäten nicht fehlen: Flusskrebse, Sardinen … Selbst nach sechsundvierzig Jahren in der Normandie blieb ich im Herzen doch Bretonin.

Während wir hackten, schnippelten und brutzelten, redeten wir über dies und das, vor allem aber über die Normandie, die Bretagne und das Kleinod dazwischen: den Mont-Saint-Michel! Dabei tranken wir auch das ein oder andere Glas Chablis, das muss ich zugeben. Und dann hatten wir eine Idee …

»Ich dachte, Hervé würde mich rauswerfen«, erinnert sich Isabelle und holt mich in die Gegenwart zurück. Die Gegenwart, in der Arnaud und Hervé nicht mehr dabei sind.

»Das glaube ich dir sofort! Aber er wusste sehr wohl, was er damit riskiert hätte …«

Sie lächelt.

»Arnaud hat nur die Augen verdreht, er dachte wohl, wir hätten den Verstand verloren!«

Ich schüttele den Kopf und starre in meinen Pommeau. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit changiert, wenn man sie im Glas schwenkt, in dem einige unterschiedlich große Luftblasen eingeschlossen sind. Ich sehe Isabelle nicht an, als ich sie frage, denn ich fürchte mich vor ihrer Antwort: »Würdest du wirklich gerne diese Reise machen und herausfinden, ob die Bretagne oder die Normandie die Goldene Palme für die schönste Region Frankreichs verdient?«

Sie schiebt sich eine braune Locke von der Schulter. Mit so langen Haaren kenne ich sie gar nicht, früher hatte sie immer einen Pagenschnitt, sie sieht ganz anders aus.

»Nun ja, ich hatte damals schon ein oder zwei Ziele im Kopf«, antwortet sie, ohne zu zögern.

Ich lächele, nichts kann mich daran hindern, selbst an einem solchen Tag nicht.

»Welche?«

Ich frage, als ob es noch wichtig wäre. Aber wer weiß, vielleicht ist es das ja auch. Schließlich liebäugle ich mit dem Gedanken, die Normandie zu verlassen.

Ihre Augen strahlen, und ich fülle ihr Glas ein zweites Mal.

»Jetzt ist aber Schluss, sonst weiß ich nicht, ob ich noch fahren kann«, versonnen blickt sie in ihr Glas.

»Das Haus ist groß genug, du kannst im Gästezimmer schlafen, das Bett ist bezogen, und ich wische regelmäßig Staub.«

Sie hebt den Blick, ihre Augen wandern zur Tür und dann durch das große Glasfenster ins Wohnzimmer.

»Ihr Haus ist wie immer tadellos sauber. Im Wohnzimmer riecht es nach Möbelpolitur, und ich habe das Gefühl, zehn Jahre in der Zeit zurückgereist zu sein. Diesen Geruch habe ich immer als Erstes wahrgenommen, danach kam der Duft nach Apfeltarte …«

Ich nicke.

»Die habe ich jedes Mal gebacken, wenn Arnaud zu Besuch kam, das war ein richtiges Ritual.«

Die Müdigkeit oder der Alkohol lassen mich sentimental werden, die erste Träne des Tages rollt meine Wange hinab. Ich schäme mich ein bisschen und senke den Blick. Wenn man in meinem Alter weint, erweckt man immer Mitleid. Und schlimmer noch, es könnte Isabelle traurig machen. Als sie weiterspricht, ahne ich, dass sie ebenso gerührt ist wie ich. Und ich bin dankbar, dass sie nicht in Tränen ausbricht.

»Camille, wenn Sie wollen, können wir unseren Plan in die Tat umsetzen. Ich habe nächste Woche nichts vor. Ein wenig frische Luft zu schnappen, durch die Region zu reisen, das würde uns beiden bestimmt guttun.«

Ungläubig hebe ich den Kopf. Sie sagt das einfach so, ohne großartig nachzudenken. Oder hat sie doch mehr getrunken als gedacht? Die Idee ist so verlockend. Dieses stille Haus zu verlassen, das mich erdrückt, mit der Trauer um Arnaud und meinem monotonen Alltag. Isabelle legt sanft ihre Hand auf meine.

»Sie würden mir sogar einen Gefallen damit tun. Ich drehe mich seit sechs Monaten im Kreis, zwinge mich jeden Tag, eine Stunde im Park der Abbaye aux Dames spazieren zu gehen. Wissen Sie, was mein letztes Abenteuer war? Ein Ausflug in den Botanischen Garten.«

Ich kichere, sie hat es geschafft. Den Botanischen Garten haben wir einmal gemeinsam besucht, und sie scheint nicht vergessen zu haben, wie begeistert ich damals von dieser exotischen Pflanzenwelt inmitten der Stadt gewesen war. Mein Gärtchen voller Kunigundenkraut, Indianernesseln, Azaleen und Hortensien ist zwar der Beweis für meinen grünen Daumen, aber mit diesem Paradies kann ich nicht mithalten. Falls ich jemals von hier fortgehe, nehme ich Ableger aus meinem Garten mit und natürlich Germaine, meine weiße Pfingstrose.

Isabelle scheint auf meine Antwort zu warten, während ich ihr Angebot noch immer nicht ernst nehmen kann.

»Das ist wirklich sehr nett von dir, einer verrückten Alten das Gefühl zu geben, dass sie gebraucht würde, aber …«

Ihr wohlwollendes Lächeln bekommt eine schelmische Facette.

»Nun ja, ›verrückt‹ würde ich Sie nicht nennen, eher originell, daran gibt es keinen Zweifel! Ich kenne niemanden, der Gegenständen in seinem Haus Namen gibt oder einem Zeugen Jehovas die Bibel erklärt …«

Ich zucke mit den Schultern. Die letzte Geschichte, auf die sie anspielt, hat kein gutes Ende genommen.

»Wusstest du, dass meine Mutter mich nach der Firmung gedrängt hat, ins Kloster zu gehen? Sie meinte, das würde der Familie Glück bringen, den ›lieben Gott gnädig stimmen‹, dass es der richtige Ort wäre für mein ›sanftes Naturell‹.«

Wir müssen lachen. Ich glaube, dass ich einem an der Oberfläche ruhigen Fluss ähnele, doch darunter tobt das Leben. Das wissen alle, die mir nah sind, auch wenn ich mit den Jahren gelassener geworden bin. Ganz allmählich mache ich mich mit dem Gedanken vertraut. Warum eigentlich nicht?

»Und für wie lange würden wir fahren?«

»Weil ich arbeitslos bin, kann ich nur kurz weg, und ich muss dem Amt Bescheid geben. Aber ich kann mich noch mal informieren. Soviel ich weiß, stehen mir sieben Tage Urlaub zu, ohne Gründe angeben zu müssen. Danach gibt es Auflagen. Arbeitsrecht ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber ich glaube, ich liege richtig …«

Wir sehen uns unschlüssig an. Die Idee, aus heiterem Himmel wiedergeboren, nimmt plötzlich Form an. So sehr, dass sie sich nicht mehr einfach vom Tisch wischen lässt. Ich sehe in den braunen Augen meiner Isabelle, an ihrem leicht verzogenen Mund, dass sie Angst hat.

Ich denke an meine eigene Depression, daran, wie schwer es war, Gesellschaft zu ertragen. Aber ich erinnere mich auch, dass ich mir gewünscht hätte, jemand hätte mir geholfen, dem grauen Trott zu entkommen.

Ich beschließe, ihr die Entscheidung abzunehmen. Für sie. Und für mich.

»Weißt du, was? Wir machen es. Zeigen wir uns gegenseitig unsere Heimat!«

ISABELLE

Ich stehe vor meinem geöffneten Koffer, der auf meinem Bett liegt, in dem ich mich so oft verloren fühle, und zögere. Was aus diesem schwarz-grauen Stoffberg soll ich nur einpacken? Für einen Roadtrip mit einer Achtzigjährigen? Die Achtzigjährige sollte das lieber nicht hören, aber wäre es nicht besser, etwas Farbenfrohes mitzunehmen, Kleider, die nach Urlaub aussehen? Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr genau, wie man Urlaub macht. Wann war ich überhaupt das letzte Mal in den Ferien?

Ich bin alleinstehend und habe keine Kinder, deshalb haben Schulferien keine Bedeutung für mich, außer dass die Preise und der Lärmpegel in den öffentlichen Verkehrsmitteln steigen. Ich muss mich auch nicht um die Interessen eines Partners kümmern, denn meinen habe ich vor fünf Jahren verlassen, und gerade wurde er neben seinem Vater und seiner Großtante Lucine im Familiengrab beigesetzt. Das erste Jahr nach der Trennung bin ich auf die Malediven geflogen. Arnaud wollte immer nur in Frankreich Urlaub machen, die Reise war ein Traum von mir. Weihnachten verbrachte ich in Quebec. Im nächsten Jahr reiste ich durch Kambodscha und Thailand. Meine Ersparnisse schmolzen dahin wie Butter in der Sonne, aber es war traumhaft! Ich fuhr auf dem Sankt-Lorenz-Strom, löffelte Tom-Yam-Gung-Suppe und brachte in einem kleinen Tempel bei Battambang eine Opfergabe für Camille dar, die mir in den Jahren mit Arnaud ans Herz gewachsen war.

Im dritten Jahr nahm ich das Alleinreisen nicht mehr als Befreiung wahr, sondern spürte, dass mir etwas fehlte. Wer wartete auf mich? Wer sorgte sich, ob ich gesund zurückkehren würde? Niemand. Ich versuchte, Freundinnen für gemeinsame Reisen zu begeistern, aber lernte schnell: Meine besten Freundinnen waren verheiratet und hatten Kinder. Und die Geschiedenen hatten auch keine Zeit. Sie wollten lieber von mir wissen, wie sie ihren geizigen Ex-Männern das Leben zur Hölle machen konnten, als mit mir durch Kenia zu trekken. Wir teilten nicht dieselben Träume.

Ich stürzte mich in die Arbeit und wartete darauf, dass meine Freundinnen irgendwann doch Zeit hätten, spontan mit mir loszufahren. Wenn es sein müsste, auch nach Fréjus, warum nicht? In zwei Jahren ergab sich keine einzige Gelegenheit, und ich war zu Hause geblieben. Vielleicht auch eine Erklärung für meinen Burn-out, wer weiß?

Ich schaue wieder in den Kleiderschrank. Ich habe einfach nichts, was zu so einer Spritztour passt. Obwohl die Maisonne schüchtern durch die Vorhänge blinzelt, wirkt mein cremefarbenes Schlafzimmer heute Morgen trist. Immerhin kann ich von hier oben die Abbaye Sainte-Anne sehen. Das war nicht zuletzt der Grund, weshalb ich aus der Rue de Saint-Ouen hierhergezogen bin. Ich wollte Weite und Klarheit in mein Leben einladen.

Nach einer Expedition in die hintersten Ecken meines Schranks stoße ich auf einen knallroten Übergangspullover, ein Kleid in der gleichen Farbe und zwei luftig fallende Tuniken. Ich lege alles auf meine engen Jeans, in die ich heute locker reinpasse. Jahrelang habe ich versucht, die fünf Kilos loszuwerden, die sich jenseits der vierzig auf meine Hüften gelegt hatten. Inzwischen habe ich das Ziel erreicht. Danke, Burn-out! Aus dem Bett zu kommen war schon eine Herausforderung. Kauen war mir schlicht zu anstrengend.

So, das muss reichen. Wenn ich noch was brauche, kaufe ich es unterwegs Ich habe bei der Arbeitsagentur ohnehin nur ein paar Tage Urlaub eingereicht, warum stresse ich mich eigentlich so?

Vielleicht weil ich mit einer Dame unterwegs sein werde, die ich bezaubernd finde, die aber nicht mehr die Jüngste ist. Ich weiß nichts über ihren gesundheitlichen Zustand. Und was mich selbst angeht? Dass ich mich an diesem Abend beschwingt und leicht gefühlt habe, will nichts heißen …

Aber jetzt ist es zu spät, die Reise ist geplant, und ich habe keine Wahl. Ich möchte Camille nicht enttäuschen. Immerhin ist sie nach Arnauds Tod und dem meiner Eltern meine einzige »Familie«. Und bestimmt tut ihr ein bisschen Ablenkung in ihrer Trauer gut. In ihrem Alter kommt man über eine Depression nur schwer hinweg, und ich würde es mir mein Leben lang nicht verzeihen, nichts dagegen unternommen zu haben. Das bin ich Arnaud schuldig.

Als ich in meinen Audi steige, sind alle Zweifel überwunden. Ich habe sie in genau dem Moment hinter mir gelassen, in dem ich meinen Koffer im Kofferraum verstaut habe. Ich liebe das Losfahren! Dieses Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr.

Mein Reiseprogramm liegt auf dem Beifahrersitz, ich bin bereit. Bevor ich Camille abhole, muss ich es verstecken, die Route soll eine Überraschung sein. Sie soll sich vorkommen, als ginge die Reise ans andere Ende der Welt, ich möchte ihr die Normandie zeigen, wie sie sie noch nie gesehen hat.

Die Region ist meine Herzensheimat. Ich bin in Bayeux aufgewachsen und zum Studieren nach Caen gekommen. Ich liebe alles hier: das nahe Meer, die Menschen, die historische Altstadt. Der Charme Caens liegt in seinen Gegensätzen: Gässchen, die wie aus der Zeit gefallen wirken; die Rue Froide mit ihren alten Häusern; altehrwürdige Gebäude wie das Maison des Quatrans und das Hôtel d’Escoville. Und dazwischen erstrecken sich moderne Straßenzüge. Caen wurde stark bombardiert, und die Narben des Kriegs sind bis heute sichtbar. Für viele ist der Zweite Weltkrieg, die Landung der Alliierten und der Schatten, der sich in dieser dunklen Zeit auf Europa legte, Vergangenheit. Die Überbleibsel in der Region sind Touristenattraktionen. In Caen wird die Geschichte für mich greifbar. Eine Geschichte, die meine Familie geprägt hat und die noch bis ins 21.Jahrhundert nachwirkt, mit seinen Kriegen und seinem Extremismus.

Aber die Normandie hat so viel mehr zu bieten: die Grotten von Jobourg mit ihrer Schmugglervergangenheit, Clécy in der Normannischen Schweiz und die Ausflugslokale an den Ufern der Orne, die Inseln Jersey und Chausey … Ich kann mich kaum bremsen, sprühe vor Ideen, wo wir hinfahren könnten.