Zwei Frauen in Berlin - Claudia Cremer - E-Book

Zwei Frauen in Berlin E-Book

Claudia Cremer

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Beschreibung

Berlin, 1929. Hanna kann es kaum erwarten, ihre erste Stelle anzutreten: Endlich nach ihren eigenen Vorstellungen unterrichten! Selbstständig und unabhängig leben! Fehlt nur noch eine passende Bleibe in der Großstadt. Eine Zeitungsanzeige führt sie zu Allie, die alles andere als die typische Mitbewohnerin ist. Allie arbeitet als Barkeeperin in einer Szenekneipe, feiert wilde Partys mit ihren Bohème Freunden und bekennt sich offen zu ihrer Homosexualität. Als sich Allie in Hanna verliebt, beginnen turbulente Zeiten. Eifersucht, Intrigen und der Aufstieg der Nazis bedrohen ihr Glück. Hanna und Allie müssen sich schließlich fragen, wieweit sie im Kampf um Freiheit und ihre Liebe gehen wollen.

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Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Claudia Cremer

Zwei Frauen in Berlin

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Danksagung

Impressum

Kapitel 1

Hanna ließ den Blick durch ihr Zimmer wandern. Das Bett war ungemacht, der Schreibtisch mit Zetteln übersät, auf dem Sessel lagen Rock und Bluse, daneben ein paar Bücher. Strümpfe und Stifte auf dem Boden. Und noch mehr Blätter. Noch mehr Bücher. Wie sie dieses Chaos hasste! Doch jetzt war keine Zeit zum Aufräumen. Sie musste sich konzentrieren. Hatte sie wirklich an alles gedacht? Das Wichtigste für heute eingepackt? Die Papiere? Das Unterrichtsmaterial? Sie stellte ihre Tasche aufs Bett und durchsuchte sie zum hundertsten Mal: Examenszeugnis? Eingesteckt. Empfehlungsschreiben? Eingesteckt. Lesebuch? Eingesteckt. Namensschilder für die Mädchen? Eingesteckt. Schlüssel? Ein-ge-ste-? Mist! Wo ist der Wohnungsschlüssel? In ihrer Manteltasche? Auf dem Schreibtisch? Sie hatte ihn gestern nach ihrer Radtour noch! Ganz bestimmt hatte sie ihn! Er musste irgendwo sein. Vielleicht unter dem Papierstapel auf dem Schreibtisch?

Hanna legte ein paar Schulbücher beiseite, wühlte in den Zetteln herum und entdeckte den Schlüssel schließlich in der obersten Schublade. Gott sei Dank! Sie packte ihn in ihre Tasche, hängte sie sich hastig über die Schulter und warf einen letzten Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Ihre Baskenmütze saß gerade, das kinnlange blonde Haar war gekämmt und der Mantelkragen sorgfältig gebürstet. Hanna lächelte sich an. Sie sah gut aus. Ihre Wangen schimmerten rosig, ihre hellbraunen Augen leuchteten ohne Schminke. Vielleicht wirkte sie etwas übernächtigt, aber sie war zu allem entschlossen und grenzenlos zuversichtlich, was ihre Zukunft anging. Denn auch wenn man ihr nur eine Vertretungsstelle zugeteilt hatte, so war es Unterricht und Geldverdienen und richtiges Leben, und das war mehr, als sie sich in den letzten Wochen hätte erträumen können. Endlich als Lehrerin vor einer Klasse stehen! Endlich wieder arbeiten können! Allein deshalb schon würde der 8. April 1929 in die Annalen ihrer persönlichen Geschichte eingehen.

Allerdings gab es noch eine wesentliche Hürde zu nehmen, die zwischen ihr und ihrem neuen Glück stand, und das war Frau Reinhard, ihre Pensionswirtin, die zu den Menschen gehörte, denen man am besten aus dem Weg ging, was leider selten möglich war. Hanna hörte sie schon seit dem Aufwachen im Nebenzimmer auf und ab gehen, was nichts anderes bedeutete, als dass eine der Mieterinnen wieder etwas so Unerhörtes angestellt hatte, dass es der guten Frau den Schlaf raubte. Schuldig war meistens Hanna, denn als die Neue machte sie grundsätzlich alles falsch: Sie ließ das Wasser zu lange laufen. Sie schlug die Schranktüren zu heftig zu und lüftete so ausgiebig, dass angeblich die ganze Wohnung auskühlte. Nein! Frau Reinhard blieb nichts verborgen und deshalb war es unsinnig von Hanna zu glauben, sie könne ihr entkommen, indem sie ihre Zimmertür leise schloss und auf Zehenspitzen durch den Flur schlich. Ihre Pensionswirtin wartete längst in einem schäbigen Morgenmantel und mit wirren Haaren auf sie, bereit für die erste Ansprache des Tages.

»Fräulein Blömeke, auf ein Wort!«, sagte sie mit strengem Blick.

Hanna blieb widerwillig stehen. »Es ist gerade sehr ungünstig, Frau Reinhard, ich muss zur Arbeit.«

»So viel Zeit wird wohl noch sein«, sagte die Alte, nicht ohne vorher prüfend auf ihre Armbanduhr geschaut zu haben. »Es geht um Ihr Fahrrad, Fräulein Blömeke.«

Oh nein! Nicht schon wieder das Fahrrad! Frauen fuhren eben Rad. Ganz Berlin war voll radelnder Frauen. Da konnte sich die Reinhard auf den Kopf stellen. Das würde sich nicht mehr ändern.

»Sie haben es erneut im Hof abgestellt«, schimpfte die Pensionswirtin.

»Ich kann es schlecht auf der Straße stehen lassen«, sagte Hanna.

»Im Hof stört es! Der Portier hat sich bei mir beschwert. Eine äußerst unangenehme Situation, wie Sie sich denken können.«

Hanna schaute sie ungerührt an. »Dann stelle ich es eben an die Mauer am Ende.«

Frau Reinhard hob den Zeigefinger. »Fahrräder gehören weder in den vorderen noch in den hinteren Bereich des Innenhofs. Sie glauben wohl, Ihnen stehen Sonderrechte zu.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Hanna, denn es war zwecklos zu verhandeln. Die Regeln der Hausordnung waren in Stein gemeißelt.

»Und da ist noch etwas, Fräulein Blömeke.« Die Alte zog den Mantel enger um ihre knochigen Hüften. »Mir ist aufgefallen, dass bei Ihnen das Licht bis in den Morgen brennt.«

Hanna seufzte. »Ich kann meinen Unterricht schlecht im Dunkeln vorbereiten.«

»Dann arbeiten Sie tagsüber wie jeder normale Mensch.«

»Ich habe sehr viel zu tun, Frau Reinhard.«

»Das mag sein! Trotzdem strahlt Ihre Deckenlampe durch das Oberfenster direkt in Fräulein Schnecks Zimmer.«

»Wenn ich eine Schreibtischlampe in meinem Zimmer hätte, würde ich sie benutzen«, sagte Hanna.

Frau Reinhard schnappte nach Luft, als würde sie noch im selben Moment einen Herzinfarkt erleiden. »Soll das eine Beschwerde sein? Wollen Sie behaupten, ich komme meiner Pflicht als Vermieterin nicht nach?«

Die große Standuhr im Flur schlug zur halben Stunde.

»Ich muss jetzt gehen, Frau Reinhard. Ich habe einen Termin einzuhalten. Das verstehen Sie doch bestimmt.« Hanna zog energisch ihre Tasche über die Schulter und schob sich an ihrer empörten Vermieterin vorbei.

»Hören Sie! Das Gespräch ist noch nicht beendet! Ich komme für Ihre überhöhten Stromkosten nicht auf!«, rief die Reinhard ins Treppenhaus.

»Das müssen Sie auch nicht«, sagte Hanna und schwor sich bei allem, was ihr heilig war, sich eine neue Bleibe zu suchen, sobald sie nur eine Sekunde Zeit hätte.

Als Hanna kurz darauf ihr Fahrrad auf den Bürgersteig schob und sich in den Verkehr einfädelte, war Frau Reinhard nur noch ein flüchtiger Gedanke, denn auf dem Hohenzollerndamm herrschte schon am frühen Morgen reger Verkehr. Motorräder schlängelten sich an Bussen vorbei. Autos hupten und drängelten. Fußgänger überquerten halsbrecherisch die Fahrbahn. Es war hektisch und unübersichtlich und Hanna war vollauf damit beschäftigt, dem Chaos irgendwie auszuweichen. Als sie in die Berkaer Straße einbog, verlangsamte sie ihr Tempo. Die Wege wurden schmaler, der Lärm der Autos verhallte und das Zwitschern der Vögel war zu hören. Doch die meisten Häuser in Grunewald wirkten ruhig und verschlafen. Hanna fragte sich, ob in einer der Villen eine ihrer Schülerinnen mit den Eltern beim Frühstück saß. Oder lagen sie alle noch in ihren Betten, die Decke über den Kopf gezogen, und verdrängten die Tatsache, dass die Osterferien zu Ende waren und das Lernen wieder anfing? Es war wirklich sehr früh am Morgen. Die Uhr auf dem Turm der Schule zeigte kurz vor sieben.

Hanna lenkte ihr Rad an dem mächtigen Hauptgebäude mit den hohen Fenstern vorbei, schob es durch das schmiedeeiserne Tor in den Pausenhof und lehnte es gegen die Mauer der Turnhalle. Als sie kurz darauf vor der Tür des Sekretariats stand, schlug die Glocke zur vollen Stunde.

»Guten Morgen, Fräulein Blömeke.« Fräulein Simonis, die damit beschäftigt war, Akten in einen Schrank zu räumen, lächelte ihr zu und deutete auf eine schwere Eichentür. »Der Herr Oberstudiendirektor erwartet Sie.«

Hanna bedankte sich höflich, strich noch einmal ihren Mantel gerade und klopfte beherzt an.

»Treten Sie ein!«, rief Oberstudiendirektor Schirrmacher. Er saß an einem langen Schreibtisch, der wie ein Heiligtum mitten im Raum stand, und notierte etwas auf einem Zettel. »Nehmen Sie bitte Platz, Fräulein Blömeke!«

Hanna setzte sich auf einen der beiden Stühle, zog ihren Rock über die Knie und sah zu, wie Oberstudiendirektor Schirrmacher den Zettel in eine Aktenmappe steckte und sie auf den linken der zwei säuberlichen Stapel legte. Danach schob er die Stifte, die einer silbernen Schale lagen, so lange zurecht, bis sie in gleichem Abstand voneinander lagen, und holte ein sorgfältig beschriebenes Blatt aus der Schublade.

Hanna kämpfte damit, ihre Enttäuschung zu verbergen, denn aus irgendeinem Grund hatte sie sich unter Schirrmacher einen weisen, gütigen Mann mit grauen Haaren und Vollbart vorgestellt. Der Mann, der vor ihr saß, schien aber nur eins zu sein: pedantisch. Er trug ein enges Jackett mit schmalem Revers, ein weißes Hemd mit steifem Kragen und eine stramm sitzende schwarze Krawatte. Die dünnen Haare waren streng nach hinten gekämmt, die Brille ein silbernes Drahtgestell, das weit oben auf seiner Nase saß. Nur eine einzige Eitelkeit erlaubte er sich: einen Schnurrbart, der sich nach beiden Seiten um den Mund verteilte und ihn wie ein Walross aussehen ließ. Aber auch das machte ihn Hanna nicht sympathischer. Was Oberstudiendirektor Schirrmacher von ihr hielt, war ihm nicht anzusehen.

»Zuallererst möchte ich Sie an unserer Schule willkommen heißen«, sagte er förmlich. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie so kurzfristig einspringen konnten. Die Nachricht von Dr. Ebelins Erkrankung kam für uns alle überraschend.«

»Ich hoffe, es geht dem Kollegen besser«, sagte Hanna besorgt, denn auch wenn Dr. Ebelins Ausfall bedeutete, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stelle mit einem ordentlichen Einkommen hatte, wünschte sie dem Mann nichts Schlechtes.

»Wir wissen nicht, wie es um ihn steht. Allerdings ist bei der Schwere der Krankheit anzunehmen, dass er längere Zeit ausfallen wird. Das ist sehr bedauerlich, denn Dr. Ebelin ist ein geschätzter Kollege. Doch nun zu Ihnen, Fräulein Blömeke.« Schirrmacher strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurrbart. »Ich nehme an, Sie haben eine Unterkunft gefunden.«

Hanna setzte sich gerade. »Ich wohne in der Pension Amalie am Hohenzollerndamm. Fräulein Simonis hatte mir die Adresse gegeben.«

»Pension Amalie? Das ist bei Frau Reinhard, nicht wahr?«

Hanna nickte.

»Sehr gut! Das ist respektabel!« Sein Blick ruhte einen Augenblick auf Hannas knielangem Rock und ihren seidenbestrumpften Beinen, aber Herr Oberstudiendirektor Schirrmacher verkniff sich einen Kommentar und holte einen Zettel aus der obersten Schublade, den er kurz überflog. »Bevor ich Sie dem Kollegium vorstelle, möchte ich Ihnen die Grundsätze unserer Schule mitteilen.«

Hanna spürte Widerwillen in sich hochkommen. Wieder ging es nur um Regeln! Als ob das Leben nur mit Regeln in den Griff zu kriegen wäre! Menschen waren vernunftbegabte Wesen. Menschen konnten Entscheidungen treffen ohne Listen, die sie ständig an ihre Verantwortung erinnerten. Warum verstand das niemand?

»Unser Schulalltag soll reibungslos ablaufen«, erklärte Schirrmacher mit wichtiger Stimme. »Das erfordert Disziplin und praktische Umsicht. Halten Sie sich also bitte strikt an die Unterrichtszeiten, Fräulein Blömeke. Beginnen Sie Ihre Stunden pünktlich und beenden Sie sie ordnungsgemäß. Ihre Schülerinnen werden weder frühzeitig in die Pausen geschickt noch nach Hause entlassen.«

Das war nachvollziehbar.

»Von Dr. Ebelin übernehmen Sie die Quarta. Ihnen ist klar, dass zwölfjährige Mädchen noch eng geführt werden müssen. Achten Sie also darauf, dass sie sich im Gebäude und auf dem Hof vernünftig verhalten. Achten Sie in Ihrem Klassenraum auf Sauberkeit und Ordnung. Ermahnen Sie die Schülerinnen, mit dem Mobiliar pfleglich umzugehen. Wir wollen unnötige Kosten vermeiden. Hat man Ihnen den Klassenraum gezeigt?«

»Soweit ich sehen konnte, ist alles in Ordnung.«

»Sollten Sie Materialien für den Unterricht brauchen, sprechen Sie Fräulein Simonis an.«

»Danke! Das werde ich tun.«

Schirrmacher suchte auf dem Zettel nach dem nächsten Stichwort. »Hat man Ihnen die Lehrpläne ausgehändigt?«

»Fräulein Simonis hat sie mir für meine Fächer gegeben.«

»Gut! Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich strikt an die Vorgaben halten. Abweichungen genehmige ich nur im Ausnahmefall und auch nur, wenn sie ausreichend begründet sind. Sollten Sie sich allerdings über den Unterricht hinaus engagieren wollen, begrüßen wir das natürlich sehr. Wir veranstalten in unserer Aula regelmäßig Konzerte und Lesungen. Wir organisieren Theater- und Museumsbesuche in der Stadt. Zu Beginn ist es wohl am besten, wenn Sie sich den Unternehmungen eines erfahrenen Kollegen anschließen.«

Hanna strich über ihren Rock. »Das wird nicht nötig sein, Herr Oberstudiendirektor. Ich habe bereits Klassenausflüge organisiert.«

»Nun, ja, das ist schön. Ich möchte trotzdem im Detail darüber informiert werden, wenn Sie einen Unterrichtsgang planen.« Er wendete den Zettel als Zeichen, dass der Punkt damit für ihn erledigt war, und kam zu seinem nächsten Stichwort. »Unsere Schülerinnen kommen aus gutem Elternhaus. Die meisten sind lernwillig und folgsam. Am Anfang kann es für eine junge Lehrerin dennoch schwierig sein, Disziplin in einer Klasse herzustellen. Ich rate Ihnen deshalb, von vornherein streng und konsequent zu sein. Die Mädchen müssen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sollte es wider Erwartens Probleme geben, kommen Sie zu mir. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«

»Ich glaube nicht, dass es Schwierigkeiten geben wird«, sagte Hanna. »Ich habe viel Erfahrung im Umgang mit Schülern gesammelt.«

»Nun, das hoffe ich«, sagte Schirrmacher ohne wirkliches Interesse, legte das Blatt zurück in die Schublade und öffnete eine Mappe vom rechten Stapel. »Wie ich sehe, haben Sie exzellente Examina abgelegt. Da wäre allerdings noch eine Frage, Fräulein Blömeke. Zwischen Ende Ihres Studiums und dem Beginn der Lehramtsausbildung liegt ein volles Jahr. Warum haben Sie nicht gleich das Referendariat begonnen?«

Hanna senkte den Blick. »Das, ähm …«, sagte sie, »hatte persönliche Gründe.«

Schirrmacher hob eine Augenbraue.

»Mein Vater war erkrankt«, erklärte Hanna. »Er wollte das Schuljahr aber noch beenden. Es war eine Herzensangelegenheit, also half ich ihm bei seiner Arbeit, bis er im Frühjahr starb. Das war vor drei Jahren.«

Schirrmacher überflog Hannas Lebenslauf. »Ihr Vater war Volksschullehrer.«

Hanna nickte. »Alles Wichtige, was ich über Schule weiß, habe ich von ihm gelernt.«

»Die Sophienschule ist keine Volksschule!«

»Lernen ist universell, Herr Oberstudiendirektor.«

Schirrmacher schaute sie argwöhnisch an. Er mochte sie nicht, das konnte sie spüren, aber es kränkte sie nicht, denn sie mochte ihn auch nicht. In diesem Punkt waren sie sich einig.

»Ich habe hier ein Schreiben der Direktorin Ihrer Ausbildungsschule. Frau Dr. Ewald lobt ausdrücklich Ihr Interesse, unterrichtlich neue Wege zu gehen.«

Hanna strahlte ihn an. »Ich habe mich während des Studiums mit Reformpädagogik beschäftigt, vor allem mit Gaudig und Kerschensteiner. Wie Sie sehen, habe ich auch drei Wochen in der Schule von Fritz Karsen hospitiert und einen Monat im …«

Schirrmacher unterbrach sie. »Fräulein Blömeke! Natürlich sind wir modernen Lehrmethoden gegenüber aufgeschlossen. Doch ich muss Sie darauf hinweisen, dass wir in erster Linie den Lehrplänen genügen.«

»Aber das Eine schließt das Andere doch nicht aus«, sagte Hanna voller Überzeugung. »Die Methoden fördern ja gerade das Lernen und festigen das Gelernte.«

Schirrmacher schaute sie streng an. »Wir an der Sophienschule bereiten unsere Schülerinnen auf ihren Abschluss vor. Das ist auch der ausdrückliche Wunsch der Eltern. Keine pädagogischen Experimente, bitte! Halten Sie sich daran!«

»Natürlich!« Hanna nickte. Sie hatte schon zu viel gesagt. Es war besser zu schweigen.

»Gibt es von Ihrer Seite noch Fragen?«

»Nein, Herr Oberstudiendirektor«, sagte sie höflich.

»Dann wären nur noch die Formalia zu erledigen.« Schirrmacher legte Hanna verschiedene Dokumente zur Unterschrift vor, setzte den Schulstempel darauf und steckte alles zurück in die Personalakte. Dann schob er seine Stifte in der silbernen Schale zurecht, bis die für ihn perfekte Ordnung wieder hergestellt war, und stand zufrieden mit dem Ergebnis von seinem Stuhl auf. »Ich stelle Sie jetzt dem Kollegium vor. Danach bringe ich Sie in Ihre Klasse«, verkündete er.

Hanna sprang von ihrem Platz auf und schüttelte innerlich ihr Unbehagen ab. Für einen Augenblick hatte Schirrmacher sie doch tatsächlich vergessen lassen, wofür sie an der Schule war. Für ihre neuen Schülerinnen. Für ihre Klasse, und dafür, dass jenseits dieses miefigen Büros eine wunderbare Aufgabe auf sie wartete.

Schirrmacher reichte ihr die Hand. »Halten Sie sich an die Grundsätze, Fräulein Blömeke! An die Grundsätze!«

Hanna lächelte ihn an. Ja, sie würde sich an die Grundsätze halten, aber auf ihre eigene Art und Weise.

Kapitel 2

Das Mabuse hieß Mabuse, weil sein Besitzer Anatolij Korschin im Jahr 1922 zum ersten Mal im Kino war. Ein Freund hatte ihm den Film Dr. Mabuse, der Spieler wärmstens empfohlen: »Den musste dir anschaun, Korschi, vom Mabuse kannste wat lernen.« Doch Korschin war skeptisch. Er liebte das Deutsche Theater und die Inszenierungen von Max Reinhardt. Keine Premiere hatte er ausgelassen, keinen tragischen Helden verpasst. Aber Filme? Was sollte das Ganze? Stumme Figuren auf Leinwand. Klaviergeklimpere im Saal. Das war keine anständige Kunst! Das war Schmierentheater!

Dieser Mabuse hat sich dann aber doch in Korschins Hirn hineingefressen. Die Zeitungen berichteten von nichts anderem, und überall in der Stadt hingen Filmplakate: in der Mitte ein Kerl im langen Mantel. Eleganter Smoking. Die Brust geschwellt. Die Großstadt zu seinen Füßen. Eine Figur größer als das Leben.

Korschin schaute sich den Streifen gleich fünf Mal an, besorgte sich Plakate, rahmte Fotos von den Schauspielern, dekorierte seine Bar um und nannte sie Mabuse. Fritz Lang, der Regisseur, war bei der Neueröffnung persönlich anwesend. So jedenfalls ging die Legende, die Korschin verbreitete. So hat Allie sie schon tausend Mal gehört, und tausend Mal würde sie sie noch mit anhören müssen.

Mit einer Flasche in der Hand stand sie hinter dem Tresen, schüttete etwas Wermut in einen kleinen Messbecher und warf ihrem Kollegen Beck einen vielsagenden Blick zu. Korschin gab seine Geschichte wieder zum Besten. Gegen einen Barhocker gelehnt, im gestreiften Anzug und mit gepunkteter Fliege, redete er auf einen Reporter ein, der durch den Spiegel hinter der Theke den Eingang beobachtete. Allie mochte den Kerl nicht. Sie kannte diese Sorte. Immer auf der Suche nach dem neuesten Klatsch, der sensationellen Story, und dieser Bursche wollte auch noch besonders verwegen sein. Schon beim Reinkommen hatte er Allie einen Geldschein zugeschoben, weil er glaubte, alle Barkeeper plauderten für eine läppische Banknote Geheimnisse aus. Dann hatte er es bei Beck versucht. Ausgerechnet Beck, der lieber zuschlug, als zu reden. Und jetzt wurde er von Korschin totgequatscht. Geschah ihm ganz recht, diesem Schnösel!

»Mabuse ist wie aus einem Drama von Shakespeare. Held und Schurke in einem. Am Ende wird er wahnsinnig, aber was heißt das schon, wahnsinnig? Man ist doch nicht gleich verrückt, nur weil man ehrgeizig ist.« Korschin strich sich über die verschwitzte Stirn. Es war heiß in der Bar. Allie schüttete ihm etwas kühlen Wodka in sein Glas. »Mich halten die Leute auch für verrückt«, sagte Korschin. »Und wissen Sie, warum?«

Allie grinste. Sie hätte eine seitenlange Liste von Korschins Albernheiten aufstellen können. Ganz oben stand seine uferlose Liebe zu seiner Mamotshka, dicht gefolgt von peinlichen Anfällen von Rührseligkeit, legendären Wutausbrüchen, spontanen Einfällen ... Ja, vor allem die Einfälle hatten es Allie angetan. Neulich erst hatte Korschin eine Maschine angeschafft, die den Kellerraum so vernebelte, dass die Gäste in Panik die Bar verließen. Ärger gab es auch, als er Moltke, dem Türsteher, eine Livree mit Goldknöpfen kaufte, die nach Moltkes Drohung zu kündigen im Fundus eines Theaters landete. In bester Erinnerung war auch das Engagement von Erwin mit der singenden Säge. Allie hatte sich krankgelacht, als die ersten Gläser flogen, Korschin auf die Bühne stürzte, sich wie ein Bär vor Erwin stellte und die Gäste auf Russisch beschimpfte. Sie liebte diese Verrücktheiten. Sie kamen ohne Ankündigung und verbreiteten immer Chaos.

Korschin klatschte unvermittelt los. Es ging weiter. Die Musiker kamen von ihrer Pause zurück und leiteten mit den ersten Jazzklängen das Stühlerücken ein. Mehrere Paare schritten auf den winzigen freien Platz zu, den er Tanzfläche nannte, und bewegten sich zur Musik. Der Rest blieb an den runden Tischen sitzen, nippte an seinen Gläsern und zündete sich die nächste Zigarette an. Je später der Abend, desto stickiger wurde es im Mabuse.

Allie krempelte die Ärmel ihres Hemdes bis über die Ellbogen, schob ihre Hosenträger über die Brust und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Ihre schwarzen Locken standen in alle Himmelsrichtungen ab, der Lippenstift war verwischt, der Kajal leicht verschmiert, aber in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde sah sie bestens aus. Die Blondine am Tisch neben dem Eingang ließ sie jedenfalls keine Sekunde aus den Augen. Doch Allie war nicht in Stimmung für einen Flirt. Sie spießte eine Cocktailkirsche auf ein Stäbchen, legte es auf das Glas mit dem Manhattan und stellte es vor die Frau mit dem Dekolleté bis zum Bauchnabel, als eine vertraute Stimme ihren Namen rief.

»Al, Liebling, hast du mal ʼne Zigarette? Ich brauche eine ganze Ladung davon!« Thom beugte sich über den Tresen und küsste Allie auf die Wange. Er sah aus, als wäre er gerade von einer wilden Party gekommen: dunkle Bartstoppeln am Kinn, den Hemdkragen offen, die Krawatte schief.

Allie reichte ihm ihre Packung Manoli und ein Feuerzeug. »Mensch, wie siehst du aus? Hat dich jemand gerupft?«

»Ach, Al! Es ist dieser verdammte Roman! Ich werde ihn in Stücke reißen, aus dem Fenster schmeißen und mich gleich hinterher. Es hat keinen Sinn mehr.«

»Das sagst du immer.«

»Dieses Mal meine ich es ernst.«

»Das sagst du auch immer.« Allie holte eine Flasche vom obersten Regal und schüttete Thom einen doppelten Whisky ein.

Mit traurigem Blick schaute er auf die goldbraune Flüssigkeit.» Ich komme nicht weiter, Al. Es ist vorbei. Aus. Ende. Finito.«

»So ein Blödsinn! Du bist genial, Thom. Du schreibst wie sonst niemand. Die Zeitungen reißen dir die Texte aus den Händen.«

»Nicht mir, Al! Dem Sohn des berühmten Regisseurs Friedeck. Der Name zieht. Das ist alles.«

»Deine Artikel ziehen, du Dussel! Ullstein wartet auf deinen Roman.«

Thom schüttelte den Kopf. »Ach, Al, du liebst mich. Du bist verblendet. Ich habe keine Zukunft.«

Allie stöhnte, gab Beck ein Zeichen, verließ ihren Platz hinter dem Tresen und bahnte sich einen Weg an den Tischen der Gäste vorbei. Behutsam legte sie einen Arm um Thoms Schulter. »Es sind doch nur noch zwei kleine Kapitel, Schätzchen.«

»Aber zwei, die nicht funktionieren! Ich arbeite seit Wochen daran, ohne eine vernünftige Idee zu haben, was schlicht und einfach bedeutet, dass das ganze Konzept Mist ist.«

»Wie kann es Mist sein, wenn es zweihundert Seiten lang funktioniert hat?« Allie strich ihm sanft durch die Haare. »Du brauchst eine Pause, Thom.«

»In einem Monat muss ich abliefern. Glaub mir, Al, es ist hoffnungslos.«

Na ja, so hoffnungslos, wie er es schilderte, konnte es nicht sein, denn sonst wäre der Roman schon längst im Papierkorb gelandet.

»Weißt du was, Schätzchen? Nach Feierabend gehen wir zu dir und du liest mir das letzte Kapitel vor, das du geschrieben hast.«

Thom seufzte theatralisch. »Bis dahin schaffe ich es nicht mehr zu leben, Al.«

»Oh doch, Kleiner! Das schaffst du!« Allie zog den Knoten seiner Krawatte fest.

Thom lächelte zaghaft. »Wolltest du heute Abend nicht mit Claire auf die Party von Vollmoeller?«

»Das hat sich erledigt.«

»Erledigt? Warum?«

Allie zuckte mit den Achseln. »Wir haben uns getrennt.«

»Was? Claire und du? Endgültig?«, rief Thom erstaunt.

»Ja! Endgültig!« Allie fischte eine Manoli aus dem Päckchen.

Zwei Jahre Streit. Zwei Jahre sinnlose Eifersucht. Bloß nicht zu sehr darüber nachdenken. Bloß jetzt nicht anfangen zu heulen.

»Und deine Mitbewohnerin?«, fragte Thom.

»Was hat die damit zu tun?«

»Ich dachte, du hast Interesse.«

Allie blies den Rauch in kleinen Ringen aus. »Fräulein Gernot ist letzte Woche ausgezogen. Sie hat sich ihren Einkaufsleiter geangelt und segelt mit ihm in den Hafen der Ehe. Ich muss mir eine Neue suchen.«

Thom strich ihr eine Locke aus der Stirn. »Wir haben wohl beide kein Glück in der Liebe, Kleines.«

»Wir haben doch uns«, sagte sie lächelnd.

Die Musiker spielten einen Tusch. Korschin kündigte die letzte Runde an. Es war Zeit, wieder hinterm Tresen zu verschwinden.

»Weißt du was?« Thom nahm ihre Hände und betrachtete sie so aufmerksam, als hätte er ihre Schönheit noch nie zuvor gesehen. »Ich habe eine wundervolle Idee. Überhaupt die beste seit Langem.« Er küsste Allies Hände, dann schaute er ihr tief in die Augen. »Alison Leonore Thiele, willst du meine Frau werden?«

»Was?!«

Thom wiederholte. »Willst du mich heiraten, Al?«

Sie lachte laut. »Heiraten? Klar! Sonst noch was?«

»Ich meine es ernst!«

Allie glaubte ihm kein Wort. »Du bist verrückt, Thom!«

»Komm schon, sag Ja!« Er schaute sie an, als hinge sein Leben von ihrer Antwort ab.

Allie grinste ihn an. »Okay, aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Du schreibst deinen verdammten Roman zu Ende.«

Thom verzog das Gesicht. »Dann wird das nie was mit unserer Hochzeit.«

»Liegt alles in deiner Hand, Schätzchen.« Allie warf ihm eine Kusshand zu und verschwand hinterm Tresen.

Als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet, wandte Korschin sich von dem jungen Reporter ab und reichte Thom die Hand. »Herr Friedeck! Welche Ehre! Was macht die Kunst? Wie geht es dem Herrn Vater?«

Thom stöhnte leise. »Die Kunst ist miserabel, und wie es meinem Vater geht, das müssen Sie ihn selbst fragen.«

»Oh, das ist sehr bedauerlich«, sagte Korschin. »Das mit der Kunst, meine ich. Mal sind die Zeiten gut, mal sind sie eben schlecht. So ist das im Leben. Ich spreche aus Erfahrung.«

Thom nahm einen Schluck Whisky. Er war köstlich. Korschins beste Sorte.

»Man hört, Ihr Vater arbeitet an einem neuen Film.«

»Mein Vater arbeitet immer an einem Film.«

»Wird er wieder in Berlin spielen?«

Thom zuckte die Achseln.

»Es ist also ein Geheimnis?«

»Natürlich.«

»Und dass Ihr Vater ein Angebot von Hollywood hat?«

»Ist wohl keins.«

Korschin lachte. »Wird er es annehmen?«

»Lieber Korschin, die Wege meines Vaters sind unergründlich.«

»Wie die Wege aller großen Männer«, sagte Korschin seufzend und schaute eine Weile vor sich hin, als würde er nachsinnen, ob der Satz auch auf ihn zutreffe.

Thom legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich kenne meinen Vater, Korschin. Er wird nicht kommen.«

»Nicht einmal auf eine Stippvisite?«

»Nicht einmal das! Mein Vater kennt nur seine Arbeit.« Thom trank sein Glas leer. Seine Wangen waren gerötet. Seine Augen glänzten.

Korschin schaute ihn ernst an. »Eines Tages, Herr Friedeck, wird auch Ihr Herr Vater die Zeit finden, ins Mabuse zu kommen. Irgendwann tauchen sie alle bei mir auf. Bestellen Sie ihm meine ergebensten Grüße.« Dann verbeugte er sich höflich und ging geradewegs zu seinem Platz in der Nische neben dem Tresen, von dem aus er die Bar und den Eingang überblicken konnte.

Allie beobachtete mit Unbehagen, wie der Reporter aufrückte und Thom seine Zigaretten anbot.

»Ich heiße Ernst. Ernst Schauff. Ich schreibe für den Berliner Lokal-Anzeiger.«

»Mutig«, sagte Thom und nahm eine Zigarette.

»Langweilig«, erwiderte der Reporter. Er ließ das Päckchen in seiner Manteltasche verschwinden, ohne sich selbst eine anzustecken.

Thom musterte ihn von der Seite. »Wieso ist Ihre Arbeit langweilig?«

»Dafür gibt es viele Gründe, die ich Ihnen aber nicht aufzählen werde, weil es dann wirklich langweilig werden würde. Wieso mutig?«, fragte er zurück.

Thom strich sich durch die Haare. »Es war mutig, mir zu sagen, dass Sie für eine Zeitung arbeiten. Vielleicht hasse ich ja Journalisten. Ich hätte Ihnen einen Kinnhaken verpassen oder Korschin bitten können, Sie rausschmeißen zu lassen.«

»Haben Sie aber nicht.« Der Reporter lachte. »Was mich zu meiner nächsten Frage bringt: Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Allie sah aus den Augenwinkeln, wie der Kerl seinen Barhocker heranschob, seinen schäbigen Mantel auszog und seinen Hut auf den Tresen legte. Die Verwandlung war verblüffend und beunruhigend zugleich, denn jetzt, da er nicht mehr neben Korschin saß, sondern neben Thom, fiel Allie erst auf, wie gut er aussah. Er war schlank und athletisch wie ein Boxer im Leichtgewicht, hatte blonde lockige Haare, ein gerades Kinn, keine Bartstoppeln, keine Falten. Ein richtiger Grünschnabel war das. Zwanzig vielleicht. Jedenfalls viel jünger als Thom.

»Ich mache Feierabend«, sagte er.

»Reporter haben nie Feierabend«, meinte Thom.

»Ich verspreche Ihnen, ich bin ab dieser Sekunde rein privat hier.«

»Darf ich Ihnen dann rein privat ein Getränk ausgeben?«, fragte Thom.

»Whisky«, sagte der Schönling. Er hatte wirklich gut aufgepasst.

»Al, gibst du uns noch zwei von dem hier?«

Allie stellte neue Gläser vor sie hin und schüttete Korschins Besten ein, der für diesen Kerl eigentlich viel zu schade war.

»Du denkst an unsere Verabredung«, sagte sie.

»Darling, ich denke an nichts anderes.« Thom stieß mit dem jungen Reporter an. »Auf den Feierabend!«

»Auf den Feierabend!«

Die beiden lachten, als hätten sie gerade auf eine uralte Freundschaft getrunken.

Allie verzog keine Miene, spülte Gläser, sortierte Flaschen, wischte den Tresen.

Das Mabuse leerte sich. Die Musiker spielten eine letzte Melodie. Korschin warf zwei betrunkene Kerle vor die Tür. Dann setzte er sich zurück in seine Nische und zündete sich eine Zigarre an. Das Zeichen für alle, dass der Abend zu Ende war.

Thom legte einen Schein neben die Gläser. »Al, ich warte draußen auf dich. Bringst du für gleich was mit?«

Der Reporter verfolgte jede Bewegung, als müsse er herausfinden, ob zwischen der Barkeeperin und dem Schriftsteller was lief. Von wegen Feierabend! Dieser Schuft! Wenn er so dringend eine Story brauchte, dann sollte er eine kriegen.

»Weißt du, Schätzchen?«, raunte Allie Thom zu. »Heute Nacht bin ich nur für dich da.« Dann zog sie ihn an der Krawatte zu sich und gab ihm einen so leidenschaftlichen Kuss auf den Mund, dass Beck beim Hochstellen der Stühle innehielt und sie verwundert anschaute.

»Was wäre ich nur ohne dich, Liebling«, seufzte Thom hingebungsvoll.

Allie ließ seine Krawatte los, stellte die beiden Whiskygläser auf das Tablett zu den vielen anderen, die darauf warteten, von ihr gespült zu werden, und verschwand in der Küche.

Eine Viertelstunde später verließ sie mit einem kleinen Päckchen in der Manteltasche das Mabuse durch den Hinterausgang. Es würde eine lange Nacht werden. Und ein noch längerer Morgen.

Kapitel 3

Hanna fuhr den Kurfürstendamm entlang und fluchte vor sich hin. Der Verkehr zerrte an ihren Nerven, das Hupen der Autos verfolgte sie. Verdammt! Konnten die Leute nicht mal Rücksicht nehmen! Sie hatte es eilig. Sie war auch angespannt. Schließlich radelte sie schon seit zwei Stunden durch die halbe Stadt und hatte immer noch kein Zimmer gefunden. Was war nur los an diesem Samstag? Hatten sich alle gegen Hanna verschworen? Bestand Berlin nur noch aus wütenden Autofahrern und verbitterten Pensionswirtinnen?

Drei von letzterer Sorte hatte Hanna heute schon erleben dürfen. Die Erste, diese Verkniffene, war beim Anblick ihres knielangen Rocks sofort in eine Rede über die Verworfenheit der Welt und insbesondere der jungen Frauen verfallen. Die andere, eine Gebückte, wäre vielleicht noch in Ordnung gewesen, aber den Mottenpulvergeruch, der in allen Möbeln und in den Gardinen hing, hätte Hanna keinen einzigen Tag ausgehalten. Und dann diese Pingelige. Schimpfte über Hannas verstaubte Schuhe, aber die Schimmelflecken an den Wänden sah sie nicht und verlangte auch noch einen unverschämten Preis für das Zimmer. Keine von ihnen hätte Hanna ertragen. In keiner Pension hätte sie sich wohlgefühlt.

Doch bei der Reinhard konnte sie auch nicht bleiben. Fünf Wochen Pension Amalie hatten gereicht, um die Fronten dermaßen zu verhärten, dass beim Mittagessen eisiges Schweigen herrschte und Hanna die Schritte der Alten in den Wahnsinn trieben. So ging es nicht weiter. Hanna brauchte eine neue Unterkunft. Sie durfte jetzt nicht aufgeben.

Mit der nächsten Lücke im Verkehr lenkte sie ihr Rad an den Straßenrand, holte die Zeitung aus ihrer Manteltasche und schaute sie noch einmal durch. Da war noch eine Anzeige gewesen. Diese schmale, kurze, die nichts aussagte und die Hanna deshalb nicht angestrichen hatte. Ja, da war sie: Vermiete Zimmer. Per sofort. Fasanenstraße 68. Kein Name. Keine Telefonnummer.

War sie nicht gerade an der Fasanenstraße vorbeigekommen?

Hanna steckte die Zeitung in die Manteltasche, schob ihr Rad auf den Bürgersteig und lief im Gedränge der Passanten den Kurfürstendamm zurück: Bleibtreustraße. Knesebeck. Uhland. Und die nächste war die Fasanenstraße. Sie war von hohen Bäumen gesäumt. Vierstöckige Bürgerhäuser strahlten in hellem Weiß. Das Haus mit dem Erker war die 68.

Hanna lehnte ihr Rad gegen einen Baum, ging durch den Toreingang und blieb vor der gläsernen Haustür stehen. Auf dem Klingelschild fanden sich zehn verschiedene Namen. Sie überlegte, ob sie sich von oben nach unten und von links nach rechts durcharbeiten sollte, und wollte gerade den ersten Knopf drücken, als eine Wohnungstür im Erdgeschoss aufging. Eine ältere Frau in einem ausgeblichenen Kittel und viel zu großen Schuhen kam durch den Flur geschlurft und starrte Hanna durch die Glasscheibe neugierig an, bevor sie die Tür öffnete.

»Watt wolln Se?«, fragte die Frau mit heiserer Stimme.

Hanna zog ihre Tasche über die Schulter. »Ich komme wegen des Zimmers.«

»Watt ʼn für ’n Zimmer?«

»Das in der Zeitung inseriert ist.«

»Weeß ick nüscht von.« Die Alte machte Anstalten, die Tür zu schließen.

»Warten Sie!«, rief Hanna und hielt ihr die Zeitung entgegen.

Die Alte kniff die Augen zusammen. »Fasanenstraße 68. Ja, dit is hier«, sagte sie und tippte wie zur Bestätigung mit dem Finger auf die Anzeige. »Da wird wohl oben wieda eene wech sein.«

»Sie wissen, wer das Zimmer vermietet?«, fragte Hanna hoffnungsvoll.

Die Alte steckte ihre Hände in die Kitteltaschen. »Die Thiele, wer sonst. Ich sach ja immer, man muss sich och mal anpassen können. Aber die sieht dit ja nich ein.«

Irgendwo im Haus schlug eine Tür zu. Ein kleiner Junge mit einem Fußball unter dem Arm kam die Treppe heruntergerannt. Als er die Alte sah, verlangsamte sich sein Tempo. »Guten Tag, Frau Gumpert!«

Die Alte drohte mit dem Finger. »Willi, ick sachʼs dir glei: Mach nich wieda so ’n Dreck. Neulich war der janze Einjang voller Modder. Wie sieht ʼn dit aus, wenn Leute zu Besuch komm.«

Der Junge senkte den Kopf und versuchte, sich an der Portiersfrau vorbeizustehlen.

Hanna zwinkerte ihm zu.

»Kannste ma unschuldich kieken. Ick weeß, det du dit bist.«

»Ich pass ja auf, Frau Gumpert«, murmelte Willi.

Die Alte gab ihm einen Stups auf die Schulter. »Dit will ick och meinn. Und jetz vaschwinde und schieß ʼn paar Tore.«

Der Junge lief mit hochrotem Kopf durch das Eingangstor.

»So ’n Bengel. Vaddern is Arzt und Mudder ne feine Dame. Würd man ooch nich denken, wa?«, sagte sie kopfschüttelnd, dann wandte sie sich Hanna wieder zu. »Also, wo warnwa? Die Thiele. Ich sach Ihnʼ ma im Vatrauen: Mit der kommste aus oder nich. Dazwischen jibtet nüscht. Dit is eene von die eijenartije Sorte.«

»Wissen Sie zufällig, ob Frau Thiele zu Hause ist?«, fragte Hanna.

Die Alte schaute sie bedeutungsvoll an. »Fräulein Thiele hab ick heut noch nich aus ’m Haus jehn sehn.«

»Dann würde ich gerne mein Glück versuchen«, sagte Hanna.

»Glück? Na, ich weeß ja nich, aber jeh’n Se man. Die wohnt im vierten Stock. Linke Tür.«

»Danke!«

Hanna hastete an der Portiersfrau vorbei, bevor noch mehr von dem Klatsch auf sie einprasseln konnte, doch schon nach wenigen Schritten verlangsamte sie ihr Tempo wieder und schaute sich staunend um. Das Gebäude war überwältigend! Das Treppenhaus war hell und luftig, Decke und Wände mit zarten Blumenornamenten verziert, das Geländer kunstvoll gestaltet. Jugendstil, dachte Hanna, während sie behutsam über das edle Holz strich und die feine Maserung bewunderte. Wenn das Zimmer nur halb so schön war und diese Thiele nur halb so schlimm, würde sie einziehen. Daran hatte sie keinen Zweifel.

Im vierten Stock angekommen, drückte Hanna energisch auf die Klingel.

Nichts rührte sich.

Sie schellte noch einmal. Klopfte. Rief. »Hallo? Ist jemand zu Hause?«

Dann endlich Schritte. Eine Frau im gestreiften Schlafanzug und mit kurzen dunklen Locken öffnete und schaute Hanna verschlafen an. »Wie spät ist es?«, fragte sie.

Hanna schaute auf ihre Armbanduhr. »Fast fünf.«

»Schon?« Der Blick war vorwurfsvoll, als sei Hanna daran schuld, dass die Zeit so schnell verging.

»Mein Name ist Hanna Blömeke. Ich würde mir gerne das Zimmer ansehen, falls es noch zu haben ist.«

Die Frau fuhr sich durch die Locken. »Das Zimmer? Ja, das ist noch frei.«

»Könnte ich es mir anschauen?«

»Klar, aber ich brauche erst einen Kaffee.« Sie ließ die Tür offen stehen, griff an der Garderobe in die Tasche eines Herrenmantels, fischte ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug heraus und lief barfuß den Flur entlang.

Hanna sah, wie sie in einem Zimmer verschwand, und blieb verwirrt zurück. Sollte das die Vermieterin gewesen sein? Das Fräulein Thiele, von dem die Alte unten gesprochen hatte? Die Frau war jünger als Hanna, vierundzwanzig, fünfundzwanzig vielleicht, und wirkte, wie sollte sie es sagen, irgendwie unsolide. Wer öffnete schon am Nachmittag im Pyjama die Tür? Wer ließ einen Besucher einfach stehen? Nicht gerade die höfliche Art. Sollte Hanna gehen? Noch mal durch die ganze Stadt irren? Noch mehr Nerven und Zeit verlieren?

Sie spähte in das Vorzimmer. Links stand ein grünes Sofa mit orientalischen Kissen, daneben ein schmaler Tisch mit einem Telefon. Rechts an der Garderobe hingen neben einem Herrenmantel ein Jackett, ein roter Schal und ein Filzhut. Ein Hauch von Aftershave lag in der Luft. Etwas Moschus und Tabak.

»Kommen Sie schon!«, rief die Frau.

Hanna trat ein und schloss die Wohnungstür.

In der Küche fiel ihr dann als Erstes auf, dass es einen Balkon zum Innenhof gab. Die Tür stand offen und ließ frische Luft in den Raum, der so groß war, dass neben einem breiten Schrank, einer Anrichte, Herd und Spüle noch genug Platz für einen Holztisch und sechs Stühle war.

»Wollen Sie auch eine Tasse?« Fräulein Thiele füllte Kaffeepulver in eine Kanne. »Den Mokka hat mir ein Freund aus Istanbul mitgebracht. Schmeckt köstlich und weckt die Lebensgeister. Garantiert!«

»Nein, danke. Ich trinke selten Kaffee.«

Der Kessel auf dem Herd begann zu pfeifen. Fräulein Thiele drehte das Gas ab, goss Wasser in die Kanne und rührte den Kaffee um, bis er schäumte. »Eigentlich bereitet man Mokka anders zu«, meinte Allie, als sie Hannas kritischen Blick sah.

»Ich habe keine Ahnung. Ich trinke nur Tee«, sagte Hanna, als müsse sie eine Erklärung abgeben.

Fräulein Thiele holte eine Dose aus dem Küchenschrank, gab zwei Löffel Tee in eine Kanne, schüttete den Rest des heißen Wassers hinein und stellte sie mit einer Tasse und einem Sieb vor Hanna auf den Tisch. »Tea is so very British.«

»Tee kommt ursprünglich aus China«, sagte Hanna.

»Aus China? Na sieh mal einer an. Und woher kommt der Kaffee?«

»Wollen Sie das wirklich wissen?«

»Würde ich sonst fragen?«

Hanna setzte sich und zog ihren Mantel über die Knie. »Die Ursprünge des Kaffees liegen wahrscheinlich in Afrika, in Äthiopien«, erklärte sie. »Angebaut wurde er dann vornehmlich in Arabien. Die Stadt Mokka war lange Zeit das Handelszentrum.«

»Deshalb also der Name?«

»Ja, deshalb der Name.«

Fräulein Thiele setzte sich rittlings auf einen der Stühle. »Woher wissen Sie das alles? Sind Sie etwa Lehrerin?«

»Um das zu wissen, muss man keine Lehrerin sein.«

»Studentin?«

»Nein.«

»Tochter aus gutem Hause?«

»Nein.« Hanna goss sich etwas Tee in die Tasse. Er war blass und wässerig, nicht lange genug gezogen.

»Wenn Sie mir schon nicht Ihren Beruf verraten wollen, dann sagen Sie mir, Fräulein …«

»Blömeke.«

»Ich heiße übrigens Allie.«

»Hanna«, sagte Hanna.

»Dann sagen Sie mir, Hanna, welchen Alkohol mögen Sie am liebsten?«

»Alkohol? Ich glaube, das geht Sie wirklich nichts an.«

Allie stützte ihre Arme auf die Stuhllehne. »Ich würde es trotzdem gerne wissen. Ich möchte nämlich etwas über den Menschen erfahren, mit dem ich meine Wohnung teilen soll.«

»Und dazu müssen Sie wissen, welchen Alkohol ich trinke?« Hanna schüttelte den Kopf. »Das sagt doch wohl gar nichts über mich aus.«

Allie zog an ihrer Zigarette. »Was sagt Ihrer Meinung nach denn etwas über einen Menschen aus? Kleidung? Schmuck? Geld? Häuser?«

»Menschen nach Äußerlichkeiten zu bewerten, finde ich grundsätzlich unfair. Ich versuche jedenfalls, es nicht zu tun.«

»Und mein Aufzug am Nachmittag?«, fragte Allie.

»Ihr Schlafanzug?«

»Irritiert er sie?«

»Nein.«

»Na, das nenne ich mal ehrenwert!«

Hanna spürte Ärger in sich hochsteigen. Die Frau war einfach unmöglich. Arrogant und unverschämt und ganz bestimmt nicht jemand, mit dem man zusammenwohnen wollte.

Allie schaute Hanna interessiert an. »Sie sind nicht aus Berlin?«

»Nein«, sagte Hanna, denn Potsdam war nicht Berlin, das musste sie Allie nicht erklären.

»Dann werden Sie noch einiges lernen müssen, mein Schätzchen. Ich erteile Ihnen gleich mal Lektion eins: Menschen wollen nicht gesehen werden, wie sie sind. Sie wollen gesehen werden, wie sie sich zeigen.«

Hanna verzog keine Miene.

»Nehmen wir mal den Ku’damm. Der Ku’damm ist keine Straße, sondern ein Laufsteg, auf dem Frauen in Pelzmänteln herumstolzieren, als seien sie Filmstars. Und was tun die Herren der Schöpfung? Lassen die Damen in ihrem Glauben unbeirrt, mimen den galanten Bewunderer und haben doch nur eins im Sinn: die vermeintlichen Sternchen aus ihren Pelzmäntelchen herauszuschälen und in ihr Bett zu manövrieren. Es ist ein Spiel, Hanna. Ein uraltes Spiel, das mich immer wieder aufs Neue amüsiert.«

»Na ja. Mir ist ein ehrlicher Umgang lieber«, sagte Hanna unbeeindruckt.

Allie lachte. »Sie besitzen wohl keinen Pelzmantel.«

»Frauen brauchen keine Pelzmäntel. Frauen brauchen Bildung.«

»Ach, wirklich?«

»Ja, wirklich«, sagte sie. »Alles andere sind Äußerlichkeiten.«

Allie drückte grinsend ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Entweder sind Sie eine Frauenrechtlerin oder doch eine Lehrerin. Ich kann mich noch nicht entscheiden.«

Hanna hatte genug. Sie verlor hier nur unnötig Zeit. »Ich bin Lehrerin«, sagte sie. »Kann ich mir jetzt endlich das Zimmer anschauen?«

»Hoppla, meine Liebe! Kein Grund, gleich eingeschnappt zu sein! Ich hab nichts gegen eure Gattung. Ganz im Gegenteil. Ich liebte meine Klassenlehrerin. Sie verzieh mir all meine Unarten.« Allie ging zur Spüle, wo sie ihre Tasse kurz unter fließendes Wasser hielt. »Dann zeige ich Ihnen mal die Wohnung.«

»Nur das Zimmer, bitte«, sagte Hanna.