Zwei Küsse zum Glück - Emma S. Rose - E-Book

Zwei Küsse zum Glück E-Book

Emma S. Rose

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Beschreibung

Wenn du jahrelang übersehen wirst – schaffst du es, über deinen Schatten zu springen? Schon in frühester Kindheit wurde Lisa vermittelt, dass alles, was sie tut, niemals genug ist. Da sie es nicht mehr ertragen hat, immer wieder verletzt zu werden, ist sie still geworden. Unsichtbar. Nach außen hin ruhig und besonnen, in Wirklichkeit aber aufgewühlt und einsam, versucht sie, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Dass sie sich dabei ausgerechnet in ihren gutaussehenden WG-Mitbewohner verliebt, macht ihren Kampf nicht gerade leichter. Ryan hat lange gebraucht, um sich von seiner letzten Trennung zu erholen. Als seine Ex plötzlich vor ihm steht, will er sie in die Schranken weisen. Kurzerhand küsst er seine Mitbewohnerin, nichtahnend, welche Konsequenzen dies nach sich zieht. Plötzlich stellt er fest, wie wenig er Lisa kennt. Monatelang haben sie nur nebeneinander her gelebt, doch jetzt weckt sie sein Interesse. Schafft Ryan es, Lisas Schutzpanzer zu durchdringen? Und kann Lisa endlich einmal darauf vertrauen, dass sie ihr Glück verdient hat?

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ZWEI KÜSSE ZUM GLÜCK

LISA & RYAN

EMMA S. ROSE

Zwei Küsse zum Glück - Lisa und Ryan

Emma S. Rose

 

1. Auflage

Oktober 2020

© Emma S. Rose

Rogue Books, Inh. Carolin Veiland, Franz - Mehring - Str. 70, 08058 Zwickau

[email protected]

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von Nadi Spasibenko

Alle Rechte sind der Autorin vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung der Autorin gestattet.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes in andere Sprachen, liegen alleine bei der Autorin. Zuwiderhandlungen sind strafbar und verpflichten zu entsprechendem Schadensersatz.

Sämtliche Figuren und Orte in der Geschichte sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit bestehenden Personen und Orten entspringen dem Zufall und sind nicht von der Autorin beabsichtigt.

Für diejenigen, die sich oft viel zu unsichtbar fühlen … oder zu sichtbar.

Beides kann auf Dauer zermürben.

Glück ist verschenkte Liebe, und Liebe ist Glück zum Verschenken.

GERD PETER BISCHOFF

INHALT

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Danksagung

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Über den Autor

PLAYLIST

Lose My Mind – Dean Lewis

Broken – Isak Danielson

Outnumbered – Dermot Kennedy

Millionen Liebeslieder – SDP

You Are The Reason – Calum Scott

Immer wenn wir uns sehn – LEA, Cyril

The Reason – Hoobastank

Halt dich an mir fest – Revolverheld, Marta Jandová

Made to Love You – Dan Owen

More Than Words – Extreme

Unvergleichlich – Batomae

As Long As You Love Me – Sleeping At Last

Always – Isak Danielson

Nachdenklich starre ich auf die filigranen Striche, die ich in den vergangenen Stunden zu Papier gebracht habe. Als ich heute Nachmittag gestresst von der Uni nach Hause gekommen bin, galt all meine Aufmerksamkeit einzig und alleine meinem Schreibtisch und der leeren Seite in meinem Zeichenblock, die gefüllt werden wollte. Die vergangenen zwei Stunden sind wie im Rausch an mir vorbeigezogen. Beinahe überrascht mich der Anblick der herannahenden Abenddämmerung vor meinem Fenster. Es kommt selten vor, aber immer wieder, dass ich alles um mich herum vergesse. Meist ist dies ein Zeichen dafür, wie dringend ich eine Auszeit gebraucht habe.

So wie heute.

Beim Anblick des Motivs fängt mein Herz an, nervös zu flattern. Mir war gar nicht bewusst, was aus mir heraus wollte, auch wenn es im Nachhinein betrachtet nur allzu logisch ist. Ein Anflug peinlicher Berührung klopft gegen meine Schädeldecke, aber ich schiebe das unangenehme Prickeln beiseite und konzentriere mich stattdessen auf das Offensichtliche. Realistisch? Ja, definitiv. Ich schraffiere ein wenig die Wangenknochen, um ihre Kontur zu verstärken, verdichte noch etwas die Wimpern am unteren Kranz – ja. Definitiv sehr nahe am Original. Nahe genug, um einen ganzen Haufen Fragen aufzuwerfen, sollte jemand das Motiv sehen, und auch, um das Prickeln in meiner Magengrube zu verstärken.

Seufzend lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück, puste ein paar Strähnen aus dem Gesicht und rücke meine Brille zurecht. Mariella hat mich letztens gefragt, warum ich keine Kontaktlinsen trage. Ihrer Meinung nach ist mein Gesicht viel zu hübsch, um es mit so einer klobigen Brille zu verdecken. Wenn sie nur wüsste, was sie mir damit angetan hat. Aber das weiß sie nicht, und ich habe es geschafft, mir nichts anmerken zu lassen. So wie meistens. Ein freundliches Lächeln, ein Nicken, ein paar gemurmelte Worte, und schon hat sich die Aufmerksamkeit wieder auf andere Themen gerichtet. Exakt meine Strategie, um mich durchs Leben zu mogeln, wenn es zu persönlich wird. Ich weiß, dass sie es nur nett gemeint hat. Mariella ist eine meiner Mitbewohnerinnen in der wohl lautesten und schönsten WG, die man sich vorstellen kann. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge, ähnlich wie Trix, die ebenfalls hier lebt. Die beiden setzen sich alle naselang in den Kopf, mich aufpolieren zu müssen, damit ich Kerle aufreiße oder mich besser fühle oder wie auch immer. Was sie dabei nicht einkalkulieren, ist, dass ich es gar nicht will.

Ich trage die Brille nicht aus Spaß. Ich bin nicht aus einer Laune heraus so zurückhaltend. Und nur, weil man mir Kontaktlinsen und enge Klamotten verpasst, werde ich nicht zur Sexbombe. Das war ich nie, bin ich nicht und werde ich niemals sein. Manche Menschen sind einfach dafür vorgesehen, mit perfekt glänzendem Haar, vollen Lippen und einem starken Selbstbewusstsein durchs Leben zu flanieren. Und dann gibt es die anderen Menschen: zurückhaltend, still. Kein Häuflein Elend, aber eher der Typ, der sich schick macht, sich dann aber böse bekleckert und alles ruiniert. Oder, der Klassiker: Über unsichtbare Bodenwellen stolpert. Der eine Brille trägt, lieber Bücher liest als feiern zu gehen und ein stilles Gespräch mit guten Freunden einer Verabredung im Pub vorzieht. Das bin ich. Nicht irgendein Püppchen, das man nach Belieben anziehen und herausputzen kann, um es auf die Singles der Welt loszulassen. Mag sein, dass meine Brille klobig wirkt, mit dem schwarzen Gestell und den großen Gläsern, aber Menschen wie Mariella vergessen manchmal, dass Brillen nicht nur ein Accessoire sind. Ich brauche sie, weil ich ohne fast blind bin, und mit Kontaktlinsen komme ich einfach nicht zurecht.

Ende der Geschichte.

Frustriert werfe ich den Bleistift beiseite und starre auf das Ergebnis der letzten Stunden. So viel zum Thema Stressabbau. Kaum höre ich auf zu zeichnen, stürzen die Gedanken wieder auf mich ein. Der Nachmittag war also ziemlich für die Katz – wenn man das neue Bild außen vor lässt. Das ist natürlich keine Verschwendung, aber abgesehen von mir wird es sowieso niemand zu sehen bekommen. Dass ich gelegentlich zeichne, habe ich bisher keinem Menschen anvertraut und ich plane auch nicht, etwas daran zu ändern.

Ein leises Klopfen an meiner Tür lässt mich heftig zusammenzucken. Eilig klappe ich den Block zu, schiebe ihn in die geheime Ablage unter meinem Schreibtisch und greife blind nach einem der Fachbücher, die sich rechts von mir fein säuberlich stapeln. Erst dann reagiere ich, wenn auch leicht atemlos. »Ja?«

Mir ist bereits klar, wer etwas von mir will, weil ich die Art des Klopfens erkannt habe. Also lächle ich, sobald sich Hannahs blonder Schopf durch den Türspalt schiebt. Fragend blickt sie mich an. »Hey, störe ich?«

Immer noch lächelnd lege ich das Buch zurück, stelle dabei fest, dass ich es falsch herum gehalten habe, und bete inständig, dass sie es nicht bemerkt hat. »Nein, Quatsch, komm rein.«

Schon schiebt meine Mitbewohnerin sich ins Zimmer und steuert geradewegs den Erker an, wo ich mit zwei faltbaren Gästematratzen und vielen Kissen eine gemütliche Leseecke geschaffen habe. Ich zögere einen Moment, ehe ich aufstehe und ihr folge. Hannah wohnt erst seit ein paar Monaten bei uns, aber sie ist mir schon jetzt die liebste Mitbewohnerin. Auch wenn ich weiß, dass die Gründe dafür schrecklich sind, ist sie mir mit ihrer ruhigeren Art ähnlicher als die anderen. Bei ihr habe ich nicht das Gefühl, etwas aus mir machen zu müssen. Es ist vollkommen okay, gemeinsam zu schweigen oder auszusteigen, wenn die anderen zu sehr abdrehen.

Mit einem Seufzen falle ich neben ihr in die Kuschelecke und starre hinauf zu den vielen kleinen Lämpchen der Lichterkette, die ich an der Decke befestigt habe.

»Bist du auch so k.o.?« Gähnend reibt Hannah sich durchs Gesicht, ehe sie mich aus ihren großen, blauen Augen ansieht.

Ich zucke mit den Schultern. »Ja, schon. Die ersten Wochen nach der vorlesungsfreien Zeit sind immer hart. Aber ich bin schnell wieder reingekommen. Vielleicht, weil ich sowieso viel mit den Hausarbeiten zu tun hatte.«

Nun seufzt sie übertrieben auf. »Ernsthaft, Lisa. Ich wünschte, ich hätte zumindest einen Bruchteil deiner Disziplin. Ich bin ja jetzt schon am Verzweifeln, und dabei werden die Ansprüche sicher noch höher.«

Wie üblich spüre ich einen unangenehmen Stich, wenn jemand auf meinen Fleiß anspielt, auch wenn Hannah das sicher nicht böse gemeint hat. Mein Lächeln fühlt sich bemüht an. »Das ist kein Hexenwerk, ehrlich. Ich mache mir einen Plan und halte mich daran, nicht mehr und nicht weniger.«

Darauf reagiert Hannah nur mit einem leisen Schnauben.

Eine Weile lang starren wir stumm an die Decke. Ich frage mich, was sie wohl wirklich von mir möchte. Zwar haben wir so etwas durchaus schon getan, aber ich ahne, dass sie nicht angeklopft hat, um einfach nur hier herumzusitzen und über den Workload zu stöhnen.

Natürlich irre ich mich nicht. »Hör mal, Lisa, die anderen wollen nachher wieder in diesen Club gehen. Chris ist auch total heiß darauf. Könntest du bitte …«

»Hannah!«, falle ich ihr stöhnend ins Wort. Sie weiß ganz genau, dass ich ungefähr hundert Dinge schöner finde, als schwitzend auf einer Tanzfläche zu stehen, Ellenbogenchecks zu kassieren und viel zu viel Geld für Getränke auszugeben.

Hannah richtet sich auf und mustert mich mit ihrem allerbesten »Bitte-tu-mir-den-Gefallen«-Blick, inklusive klimpernder Wimpern. Dieses Biest! »Ach komm schon. Es ist doch nur für ein paar Stunden! Aber du weißt, dass ich mich neben den anderen schnell verloren fühle, vor allem wenn sie anfangen, Cocktails zu schlürfen.«

»Was ich auch tun würde, um das Gewusel zu ertragen«, unterbreche ich sie trocken. Hannah lehnt Alkohol ab und verzichtet nahezu immer darauf. Die Gründe dafür sind nicht schön, aber ich bewundere ihre Willensstärke. Dennoch kann ich nachvollziehen, wie schwer es ihr fällt, es zu ertragen, wenn alle anderen immer betrunkener werden. Im Vergleich zu unseren Mitbewohnern trinke ich wenig, weshalb Hannah immer froh ist, wenn ich sie begleite. Ich verstehe sie, ehrlich, aber …

»Ryan kommt auch mit«, murmelt sie wie aus dem Nichts und sorgt dafür, dass jeglicher Tumult in mir zum Stillstand kommt.

»Dann seid ihr doch schon eine tolle Runde«, erwidere ich mit, wie ich hoffe, ungerührter Stimme. »Mariella und Trix bestimmt auch?«

»Jepp«, sagt Hannah – und zwar so seltsam, dass ich sie nun doch anschaue. Etwas blitzt in ihren Augen auf, doch ich versuche, mich davon nicht verunsichern zu lassen.

»Ist doch schön. Ganz ehrlich, Hannah, ich habe keine Lust …«

»Bitte!«, ruft sie aus. »Du weißt, dass ich dich selten so dränge. Bitte komm mit. Es ist eine Weile her, dass wir zusammen aus waren. Ich wette, du kannst ein wenig Abwechslung gebrauchen. Komm raus aus deinem Schneckenhaus, Lisa. Komm mit. Und wenn es nur für ein paar Stunden ist!«

Ach, verdammt. Wenn sie anfängt, mir so zu kommen, habe ich sowieso verloren. Beklommen knicke ich ein. »Na gut, aber wirklich nur für ein paar Stunden.« In dem vollen Bewusstsein, mich in etwas reinmanövriert zu haben, wozu ich derzeit gar keinen Nerv habe, kneife ich mir gereizt in die Nasenwurzel. »Aber um eines klarzustellen: Dafür habe ich etwas bei dir gut.«

Hannah springt auf die Füße. »Absolut, Lisa! Vielen, vielen Dank! Jetzt freue ich mich schon viel mehr auf den Abend!«

»Wenn ich das mal von mir behaupten könnte«, murmle ich leise, doch entweder hört Hannah mich nicht, oder sie ignoriert meine Worte. Auf jeden Fall hüpft sie zur Tür – im Ernst, sie verbringt zu viel Zeit mit Trix –, hält aber kurz vorher noch einmal inne.

»Wir wollen so gegen elf los, aber wahrscheinlich werden wir uns vorher noch ein bisschen in der Küche zusammensetzen. Ich schätze, ab neun oder so.«

Neun Uhr. Das sind, ich blicke auf die Uhr, noch etwa zwei Stunden. Gerade genug, um mir selbst in den Hintern zu treten, grübelnd vorm Kleiderschrank zu stehen, unter die Dusche zu springen und schließlich völlig unzufrieden in die Küche zu trotten. »Geht klar. Bis später!«

»Bis später, Lisa.« Da ist er wieder, dieser seltsame Blick.

Ich erschaudere. Ahnt sie etwas? Hat sie irgendetwas bemerkt? Wahrscheinlich nicht. Vermutlich sehe ich nur Gespenster.

Trotzdem spüre ich einen Druck in der Magengrube, der mir Angst macht.

* * *

Die übliche Runde sitzt am Küchentisch. Mit üblich meine ich: Trix und Mariella, Hannah und ihr Freund Chris, außerdem Ryan. Er ist einer meiner männlichen Mitbewohner, und seit geraumer Zeit fällt es mir schwer, Zeit mit ihm zu verbringen. Leider ist er immer am Start, wenn Chris auch dabei ist, was bedeutet, dass er eigentlich immer mitkommt, sobald Hannah etwas unternehmen will, denn auch Hannah und Chris sind kaum zu trennen. Mein fünfter und letzter Mitbewohner, Mike, ist erwartungsgemäß übers Wochenende zu seiner Freundin verschwunden, was bedeutet, dass unsere illustre Runde nun aus sechs Personen besteht.

Also mindestens eine zu viel.

»Hey, Leute«, murmle ich, als ich die Küche betrete, die Haare noch immer etwas feucht von der überstürzten Dusche, die ich erst nehmen konnte, als die anderen das Bad nicht mehr in Beschlag genommen haben. Wie mir scheint, ist die Stimmung bereits bombig. Ich unterdrücke das Bedürfnis, direkt wieder auf dem Absatz kehrtzumachen, als ich entdecke, dass nur neben Ryan ein Stuhl frei ist, denn dafür ist es zu spät. Meine Ankunft wurde bemerkt und mit genügend Enthusiasmus gewürdigt, sodass ich mich zumindest kurz geschmeichelt fühle.

»Yeah! Lisa! Wie schön, dass du mitkommst!«

Ich lächle Mariella an, die mich beinahe manisch angrinst, und schaffe es fast bis zum freien Stuhl, ehe sie weiterredet.

»Aber – du ziehst dich noch um, oder?«

Augenblicklich verkrampft sich mein Innerstes. »Hatte ich nicht vor. Was hast du denn an meinen Sachen auszusetzen?«

»Na ja«, sagt sie gedehnt. Ihr Blick schweift einmal über meinen Körper. Immerhin trage ich eine meiner hübschesten Blusen mit ganz kurzen Ärmeln, V-Ausschnitt und dezentem Blumenmuster. Dazu habe ich mich für schlichte, dunkle Jeans entschieden. Ich persönlich finde es vollkommen ausreichend – wir gehen tanzen, nicht auf den Laufsteg! Mariella trägt ein Kleid, so wie immer, und ich ahne, was nun kommt. »Ich finde Kleider wesentlich praktischer – und auch hübscher. Was ist denn mit dem Fummel, den wir letztens im Schlussverkauf erstanden haben? Lass uns doch nochmal nachschauen …«

»Entspann dich, Mariella«, interveniert ausgerechnet Ryan in diesem Moment. Ich erstarre. »Wenn Lisa so mitkommen will, kann sie das auch. Sei nicht so eine oberflächliche Bitch, klar?«

»Ich geb dir gleich ›Bitch‹«, faucht Mariella – lacht aber im selben Moment los. »Sorry, Lisa, ich meine es doch nur gut. Natürlich kannst du auch einfach bleiben, wie du bist. Hauptsache, du bist dabei.«

Ihre Worte rauschen einfach so an mir vorbei, während ich immer noch zu verarbeiten versuche, dass Ryan mir zur Hilfe geeilt ist. Ich weiß, dass es absolut gar nichts zu bedeuten hat, er hätte das für jeden getan; insbesondere, wenn Mariella mal wieder aufdreht. Umso mehr hasse ich es, wie viel ich dem neuerdings beimesse. Seufzend erwache ich aus meiner Erstarrung und falle auf den freien Stuhl, ohne einen meiner Mitbewohner auch nur anzusehen.

»Hey.« Ryan stößt mich mit der Schulter an. »Gib nichts auf ihr Gerede. Du weißt, dass sie es nicht so meint.«

»Ja, klar«, antworte ich eintönig, ehe ich mir ein Glas Sekt einschenke und relativ schnell austrinke. Mariella meint es nie böse, aber sie springt ständig auf den Zug meiner Mutter auf, die mich auch immer nur mit angeblich guten Absichten verändern wollte, bis ich absolut davon überzeugt war, nicht auszureichen. Selffulfilling prophecy und so weiter. Obwohl ich nie mit jemandem darüber gesprochen habe, ist das haargenau meine Schwachstelle, und daher kann ich gar nicht damit umgehen, wenn jemand in diese Kerbe schlägt. Insbesondere, da es sich in letzter Zeit zu häufen scheint.

Oder ich werde einfach zu empfindlich, auch möglich.

Gott sei Dank schlägt der Alkohol schnell ein. Zwar spüre ich auch die untrügliche, prickelnde Hitze in meinen Wangen, die einsetzt, wann immer ich etwas trinke, aber meine Anspannung lässt ein wenig nach. Ich schaffe es, mich von den Gesprächen der anderen davontreiben zu lassen, ohne mich großartig einzubringen. Einzig Ryans Nähe spüre ich mehr als deutlich. Jede seiner Bewegungen registriere ich aus dem Augenwinkel, wenn er herzhaft loslacht, stockt mir der Atem, und mit jeder verstreichenden Sekunde wird mir bewusster, wie sehr ich wirklich in der Klemme stecke.

Erleichterung flutet mich, als wir uns eine Weile später endlich auf den Weg machen. Mariella und Trix haken sich gut gelaunt bei mir ein, während wir die etwa zwanzig Minuten Fußmarsch in die Innenstadt antreten. Es ist eine relativ milde Nacht für April, weshalb wir unsere Jacken zuhause gelassen haben. Während ich zu Beginn noch fröstele, wird mir irgendwann sehr warm, weil die Mädchen ein schnelles Tempo drauf haben und ich eher zur Fraktion »gemütlich kommt auch ans Ziel« gehöre. Chris, Hannah und Ryan folgen uns mit etwas Abstand. Immerhin schaffe ich es so wieder, frei durchzuatmen.

»Sorry wegen eben«, fängt Mariella nochmal zerknirscht an. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Du weißt, wie sehr ich es liebe, andere zu stylen.«

»Schon gut«, erwidere ich – und meine es dieses Mal ernst. Immerhin kenne ich sie jetzt schon anderthalb Jahre. Ich bin nicht ihr einziges Opfer.

Der Weg in die Stadt ist leicht abschüssig. Als wir uns dem Zentrum nähern, blitzen zunehmend Lichter auf und wir begegnen mehr und mehr Menschen, die ebenso wie wir Lust auf einen geselligen Abend haben. Die laue Aprilluft scheint viele auf den Plan zu bringen, und ich kann es sogar nachvollziehen. Nach dem düsteren, nasskalten Winter spüre auch ich das Bedürfnis, die frühlingshaften Temperaturen auszukosten. Allerdings würde ich persönlich keinen Club bevorzugen, sondern viel lieber in einen Biergarten gehen, mich dort in eine Decke kuscheln und stundenlang quatschen. Oder in den Wald fahren, auf meine Lieblingslichtung, und mich dort ins kühle Gras legen … aber nein. Ich bin jetzt hier unterwegs, und das ist auch okay. Nicht ideal, aber okay. Immerhin verbringe ich Zeit mit meinen Freunden.

Waldstädt ist nicht gerade riesig, die Chance, einige der Nachtschwärmer im Club wiederzutreffen, also durchaus gegeben. Trix und Mariella fangen an, ihre Köpfe zu recken, ob sie bekannte Gesichter entdecken. Auch das kann in einer Stadt wie dieser geschehen, erst recht, wenn eine von uns in einem der beliebtesten Cafés arbeitet. Ich lausche dem Tratsch der beiden, ohne wirklich zuzuhören, und als wir den Club endlich erreichen, stöhne ich beim Anblick der Schlange vorm Eingang auf.

Langsam wird mir doch wieder frisch und der Sekt macht sich bemerkbar.

»Wo sind denn die VIP-Tickets, wenn man sie mal braucht?«, murre ich, was mir herzhaftes Gelächter einbringt.

»Die habe ich leider zuhause liegen lassen, sorry, Mädels«, erwidert Ryan gut gelaunt. Die anderen haben aufgeschlossen und gesellen sich zu uns. Natürlich macht mein Herz einen kleinen Hüpfer. Es schert sich ja auch schließlich nicht im Geringsten darum, wie sehr es mich damit in die Bredouille bringt. Während Ryan und Chris sich daraufhin eine wortstarke Diskussion liefern, starre ich nach vorne.

Langsam geht es vorwärts. Die Türsteher, absolute Klischeeburschen mit blankpoliertem Schädel und breiten Schultern, lassen immer nur einen kleinen Schwung in den Laden, ehe sie wieder Position beziehen. Ich höre, wie weiter vorne ein paar Mädels laut loskichern, und als ich automatisch nach ihnen sehe, scheinen sie Ryan und Chris fixiert zu haben.

Kein Wunder.

Während Chris eher der Typ Surferboy ist, mit wuschelig blondem Haar und intensivgrünen Augen, kommt Ryan südländisch daher. Sein Haar ist dunkelbraun, beinahe schwarz, und er trägt es an den Seiten immer relativ kurz, auf dem Kopf aber etwas länger geschnitten. Seine Augen sind so dunkelbraun wie teure Zartbitter-Schokolade, umhüllt von dichten, schwarzen Wimpern, und ein kleines Tattoo lugt aus seinem Kragen hervor. Er hat es sich erst vor ein paar Monaten stechen lassen, und bisher weiß ich nicht, was es zu bedeuten hat. Ob überhaupt. Aber davon gehe ich aus.

So oder so – sie sind Hingucker. Ganz klar. Aber Chris ist mehr als glücklich an Hannah vergeben, und auch Ryan hat meines Wissens nach kein Interesse mehr an Mädchen, seit seine Ex ihn vor einem halben Jahr abserviert hat. Auch wenn er deshalb mittlerweile nicht mehr so schlecht drauf ist, vermute ich doch, dass es ihn nach wie vor quält.

Die Schlange rückt vor, die tuschelnden Mädchen verschwinden im Club. Sollen sie doch Pläne schmieden, wie sie an Ryan oder Chris herankommen. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie sich an ihnen die Zähne ausbeißen. Also, an Ryan. Chris ist sowieso total vom Markt.

Als wir kurz darauf endlich den Club betreten dürfen, erzittere ich in der willkommenen Hitze. Im Eingangsbereich befinden sich Toiletten, ich bedeute den Mädels, dass ich einen Abstecher machen werde. Keiner begleitet mich, was mir nur recht ist. Wir verabreden uns an der Bar, wo sie eine Runde bestellen wollen, und mit dem untrüglichen Wissen, dass sie mir das Richtige aussuchen werden, lasse ich meine Freunde zurück.

Hier, umringt von all den jungen Feierwütigen, wird mir bewusst, wieso Mariella mich umziehen wollte. Ich sehe sehr viele nackte Schenkel und hautenge Kleidung. Absolut nicht meine Welt, aber ein deutlicher Hinweis darauf, dass ich mich von ihnen abhebe. Immerhin wird das nicht mehr auffallen, sobald sich der Laden füllt. Eben noch war mir kalt, nun rollt eine erste Schweißperle über meinen Rücken. Ich erleichtere mich, und als ich vor den Spiegel trete, stelle ich fest, dass meine Augen eine Spur zu rund, meine Lippen zu schmal sind. Grimmig tupfe ich etwas von meinem Lipgloss auf, fasse die Haare kurzerhand zu einem Dutt zusammen und will gerade die Toilette verlassen, als es passiert: Die Tür wird aufgestoßen, und niemand anderes als Stina betritt den kleinen Raum. Ihre Augen weiten sich, als sie mich sieht, und mit etwas Verzögerung schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Als sie noch mit Ryan zusammen war, hat sie viel Zeit in der WG verbracht, und auch wenn ich mir eingebildet habe, dass sie sich für etwas Besseres hält, war sie immer nett zu uns. Nun wirkt sie beinahe ein bisschen zu froh, mich zu sehen.

»Lisa! Wie schön! Wir haben ja schon lange nicht mehr gesprochen!«

»Äh, hi.« Ich bin verwirrt über ihren Überschwang und wechsle unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.

»Schon seltsam, sich in einer so kleinen Stadt nicht eher über den Weg gelaufen zu sein. Aber du warst ja sowieso nie so oft unterwegs, das wird es wohl sein.« Sie lacht auf, etwas gekünstelt vielleicht.

Da, das meine ich. Unterschwellige Botschaften. Die hat sie immer schon gerne versendet. Mehr als ein mühsames Lächeln bringe ich nicht zustande.

»Na ja, wie auch immer. Sind die anderen auch da? Trix? Mariella? Ryan?«

Etwas an der Art, wie sie ganz beiläufig den letzten Namen fallen lässt, macht mich stutzig. Ihre Augen funkeln, und plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis, mich schützend vor meinen Mitbewohner zu stellen. Nur allzu gut kann ich mich daran erinnern, wie verdammt tief er gestürzt ist, als sie ihn von einem Tag auf den anderen abserviert hat, nachdem sie zuvor praktisch nur aufeinandergehockt haben. Bis heute weiß er nicht, wieso, aber ich habe Gerüchte gehört, und die drehen sich um einen Kerl, den sie in ihrem Job kennengelernt hat. Im Gegensatz zu uns anderen ist sie nämlich keine Studentin.

Wie auch immer. Ich habe wenig Lust, mich mit ihr zu beschäftigen, also räuspere ich mich, um ihr eine verspätete Antwort zu geben. »Jupp, und genau da will ich jetzt auch wieder hin. Also dann – viel Spaß noch.«

Nicht gerade die höflichste Antwort, aber das ist mir egal. Ich stürze aus dem Klo, ehe sie sich dazu entschließen kann, mir zu folgen, und eile mit einem seltsamen Brennen in der Magengrube durchs Foyer und in den Hauptraum, wo ich die anderen bereits von weitem erkenne. Völlig unentschlossen, ob ich ihnen von der Begegnung erzählen soll oder nicht, schließe ich mich dem Kreis an.

»Da bist du ja.« Hannah lächelt mich sanft an, dann reicht sie mir ein Glas.

Ich nehme es dankbar entgegen, trinke einen großen Schluck – und registriere erst dann die seltsamen Blicke der anderen und dass all ihre Gläser noch voll sind. Offenbar haben sie auf mich gewartet, und dann bin ich auch noch so unhöflich!

Verdammt. In Zeitlupe setze ich das Glas wieder ab; dieses Mal brennen meine Wangen nicht vom Alkohol.

Wäre ich doch einfach nur zuhause geblieben.

Die Mucke ist gut, wenn auch sehr laut. Schon den ganzen Tag kribbelt es in meinen Beinen. Seit die anderen zugestimmt haben, mitzukommen, freue ich mich darauf, mich auf der Tanzfläche zu verausgaben. Wahrscheinlich gehöre ich zu den seltenen Exemplaren meines Geschlechts, die Spaß daran haben. Es ist keine Verpflichtung, kein Versuch, dabei andere Mädchen zu begrabschen oder anzubaggern. Es macht mir einfach nur Spaß.

Dafür mache ich es allerdings viel zu selten.

Ungeduldig warte ich darauf, dass die anderen ihre Drinks leeren. Die kribbelnde Energie hat mittlerweile auch den Rest meines Körpers befallen, und ich schwöre, dass ich noch implodieren werde, wenn ich sie nicht bald loswerde. Seit Lisa von der Toilette gekommen ist und ihr Glas so überstürzt angesetzt hat, ist ein wenig Stillstand in die Runde gekommen. Ich wechsle unruhig von einem Fuß auf den anderen, und als ich sehe, dass endlich jemand nachzieht und austrinkt, fackle ich nicht lange.

»So, wir zwei gehen schonmal. Ihr kommt nach?« Ohne wirklich auf eine Antwort zu warten, schnappe ich mir Lisas Hand und ziehe sie mit mir mit Richtung Tanzfläche. Sie schafft es gerade eben, ihr leeres Glas abzustellen, ehe sie mir stolpernd folgt. Noch ist die weite Fläche mäßig gefüllt, aber das ist mir egal. Ich brauche das jetzt. Brauche den dumpfen Bass, der machtvoll durch den Körper wandert, die flackernden Lichter und den flotten Rhythmus, der mir vorgibt, wie ich mich zu bewegen habe.

»Äh«, macht Lisa, wehrt sich jedoch nicht, während ich sie mit mir ziehe. Nicht, dass ich damit gerechnet hätte. Ihr Gesichtsausdruck amüsiert mich, weshalb ich laut loslache, sobald ich mitten auf der Tanzfläche stehen bleibe.

Zwinkernd lasse ich sie los. »Komm schon, deshalb sind wir doch hier, oder nicht?«

Sie antwortet nicht, macht aber diese für sie so typische Bewegung, die ihr bereits ins Blut übergegangen zu sein scheint: Erst pustet sie sich ein paar Strähnen aus der Stirn, dann schiebt sie ihre Brille wieder nach oben. Nur dass dieses Mal keine Strähnen da sind, weil sie ihre Haare zu einem Dutt gebunden hat. Ein seltener Anblick, normalerweise fällt ihr Haar wie ein dichter Vorhang nach unten. Sie versteckt sich gerne dahinter. Seltsamerweise fällt mir ausgerechnet in diesem Moment ihr Hals ins Auge. Er ist anmutig und schmal, die Haut hell und bestimmt sehr weich. Es juckt mich in den Fingern, nachzuprüfen, ob meine Vermutung stimmt, doch im letzten Moment kann ich mich zurückhalten.

Was zur Hölle?

Mit Verspätung beginne ich, mich zu bewegen. Lisa wirkt etwas verloren, zappelt mit den Armen und macht ein paar ungelenke Schritte, von denen ich weiß, dass sie sie besser kann. Die seltsame Anwandlung von vorhin wieder vergessend, greife ich nach ihrer Hand, drehe sie einmal wirbelnd im Kreis, was ihr einen Schreckenslaut entlockt, der jedoch in einem herzlichen Lachen mündet.

Na also!

»Komm schon, mach dich locker!«, fordere ich sie laut auf, um die Musik zu übertönen.

Sie verzieht ihr Gesicht zu einem niedlichen Schmollen. »Das sagt sich wirklich leicht, wenn man Bock hat, hier herumzuzappeln. Ich dagegen …«

Was auch immer sie sagen will, es wird verschluckt. Entweder von der Musik, oder sie verzichtet einfach darauf, es auszusprechen. Mir ist klar, worauf sie hinauswill. Sie könnte auch einen Stempel auf der Stirn tragen, auf dem steht, dass sie keine Lust hat, aber was soll’s. Manchmal muss man Menschen eben zu ihrem Glück zwingen, und Lisa hat definitiv viel zu selten Spaß.

Zumindest habe ich den Eindruck.

Ohne sie freizugeben, beginne ich, mich zur Musik zu bewegen. Ein konzentrierter, beinahe verkniffener Ausdruck huscht über ihr Gesicht, während sie versucht, sich anzupassen. Lachend schnappe ich mir auch ihre andere Hand.

»Komm schon! Das soll Spaß machen und keine Herausforderung sein! Entspann dich einfach!«

Ihr Blick schießt in die Höhe, und für den Bruchteil einer Sekunde ist es, als würde mein Innerstes erstarren. Etwas funkelt in den Tiefen ihrer Augen, die scharfen Züge um ihren Mund scheinen sich zu vertiefen, ehe sie schließlich weicher werden. Dann lächelt sie mich beinahe frech an.

»Oh, ich bin die Entspannung in Person, Ryan. Mach dir um mich keine Sorgen.«

Mit diesen Worten reißt sie sich ruckartig von mir los – und macht eine Bewegung, die ganz andere Regionen meines Körpers aufmerksam werden lässt.

Was zur Hölle?

Gott sei Dank gesellen sich genau in diesem Moment die anderen zu uns. Plötzlich sind wir zu sechst, die anderen schieben sich zwischen uns, aber Lisa steht mir immer noch gegenüber, wenn auch mit Abstand. Sie tut es wieder, hebt ihre Hände in die Höhe und macht eine Kreisbewegung mit den Hüften, von der ich gar nicht geahnt habe, dass sie sie drauf hat.

Erneut fällt mein Blick auf ihren schlanken Hals, den sie nun reckt, mit geschlossenen Augen und so ganz anders als eben. Entspannter. Sinnlicher.

Das muss ich erst einmal verdauen.

Zum Glück ist Chris der Meinung, mich ablenken zu müssen. Er tanzt mich mit einem übertriebenen Hüftstoß an, nur um dann laut loszulachen. Ich stoße zurück, wodurch er gegen Hannah stolpert, die uns erst böse anfunkelt, dann aber ebenfalls grinsen muss. Einzig der Umstand, dass die Tanzfläche noch nicht allzu voll ist, rettet uns vor Beschwerden. Dieses kurze Intermezzo bringt mich ausreichend auf andere Gedanken, ich schaffe es endlich, mich ganz auf die Musik einzulassen.

Und ich tanze.

Keine Ahnung, wie viel Zeit verfliegt. Einige Tracks ziehen an mir vorbei, leiten meine Schritte und lüften den Druck der Woche so weit, dass ich wieder frei atmen kann.

Zwischendurch verschwinden Chris und Hannah, auch die anderen Mädels gehen von der Tanzfläche, aber irgendwann kommen sie alle wieder zurück. Als Chris fragt, ob ich Durst habe, schüttle ich nur mit dem Kopf. Trinken kann ich nachher. Jetzt muss ich Energie loswerden.

Und das tut so verdammt gut.

Nach einer Weile reiße ich die Augen auf und stelle fest, dass wieder einmal die meisten abgehauen sind – abgesehen von Lisa. Die steht schräg rechts von mir und tanzt versunken zur Musik, die Augen zusammengekniffen und mit diesem leicht angestrengten Gesichtsausdruck, der null dazu passt, dass sie gerade eigentlich Spaß haben sollte. Immer, immer, immer sieht es so aus, als müsste sie sich Mühe geben, alles perfekt auszuüben, das ist mir schon vorher aufgefallen. Eine niedliche Eigenschaft, die bestimmt anstrengend werden kann – für sie. Lächelnd greife ich nach ihrer Hand, was sie erschrocken zusammenzucken lässt.

Beinahe hektisch blickt sie erst auf unsere Verbindung hinab, dann in meine Augen.

Ich grinse sie an. »Jetzt brauche ich doch mal eine Pause. Kommst du mit?«

Erst sieht es so aus, als wollte sie verneinen, dann nickt sie mir jedoch knapp zu. In dem vollen Bewusstsein, dass ich sie ebenso von der Tanzfläche ziehe, wie ich sie vor einer Weile hinbefördert habe, schmunzle ich vor mich hin. Hat sie sich gerade etwa wirklich ein kleines bisschen gehen lassen? Es scheint so. Und das wäre wirklich mal eine Neuigkeit, denn Lisa gehört zu den angespanntesten Mädchen, die ich kenne.

Erfüllt von dem Gefühl, einen kleinen Sieg eingefahren zu haben, ziehe ich sie direkt zur Bar. Keine Ahnung, wo sich die anderen befinden, aber ich habe jetzt Durst, und ich werde uns einen Drink spendieren.

»Worauf hast du Lust?« Sie beginnt, hektisch nach ihrem Portemonnaie zu kramen, doch ich drücke ihre Hand, die ich irgendwie nicht losgelassen habe. Grinsend schüttle ich den Kopf. »Das geht auf mich. Also, was willst du?«

»Äh …« Sie wirkt total verloren, als müsste sie zum allerersten Mal überlegen, was von all den Getränken sie überhaupt mag. Ihr Blick huscht zur Tafel, im selben Moment, als der Barkeeper vor mir stehen bleibt. Kurzerhand bestelle ich – Bacardi Sprite für uns beide. Obwohl ich weiß, dass sie sowas schon oft genug getrunken hat, mustert sie mich dennoch mit gerunzelter Stirn, als ich ihr den Drink reiche.

Ich lache auf. »Cheers!«

Unsere Gläser knallen aufeinander. Ich nehme einen großen Schluck, reibe mit dem Handrücken über meinen Mund und lehne mich dann gegen einen der freien Barhocker. Jetzt erst bemerke ich, wie ich mich da draußen verausgabt habe. Mein Herz rast und der Schweiß läuft mir nur so den Rücken hinab. Wow. Ich fühle mich – entspannt. Tiefenentspannt, um genau zu sein. Exakt das habe ich die ganze Woche über gebraucht. Im Gegensatz zu mir scheint Lisa sich jedoch wieder zu verkrampfen; diese kleinen Fältchen an ihren Mundwinkeln kommen zurück, und selbst die dicke Brille kann nicht verbergen, dass sie sich verstohlen aus dem Augenwinkel umblickt.

»Also«, beginne ich, im selben Moment, als sie »Wo sind wohl die anderen?« ruft.

Ich schnaube auf. »Was denn? Reicht dir meine Gesellschaft etwa nicht aus?«

»Was, nein! Also, doch!« Erschrocken starrt sie mich an.

Ich muss lachen. »Schon gut, Lisa. Das war nur ein Spaß. Die anderen kommen bestimmt auch bald. Oder wir finden sie wieder. Wie auch immer. Ich brauche einfach einen Moment, okay?« Grinsend hebe ich meine rechte Augenbraue. »Du kannst sie natürlich suchen gehen, wenn ich alleine dir absolut nicht geheuer bin …«

Sie schlägt mir so unerwartet gegen den Arm, dass ich etwas von meinem Drink verschütte.

Auf sie.

Ich schätze, das nennt man ausgleichende Gerechtigkeit.

Während sie keucht, weil etwas von der Flüssigkeit direkt in ihren Ausschnitt läuft, schnaube ich los. »Was ist, soll ich das Zeug jetzt etwa von deinem Körper lecken, oder wie?«

Hatte ich zuvor bereits den Eindruck, dass sie geschockt aussieht, finde ich jetzt keine Worte mehr für ihren Ausdruck. Ich biege mich vor lachen, während sie selbst beinahe unnatürlich bleich wird, ehe kleine, rote Flecken auf ihren Wangen erscheinen. Ich verbringe zu viel Zeit mit den anderen Mädels, während Lisa sich zu oft verkriecht. So viel wird mir in diesem Moment bewusst. Die hätten mir für den Spruch maximal eine runtergehauen oder mitgelacht. Im Vergleich zu Trix und Mariella sollte ich Lisa allerdings mit Samthandschuhen anpacken.

Nur … ist das so gar nicht meine Art.

»Lass mal lieber«, bringt Lisa erstickt hervor, ehe sie eilig ihren Drink an den Mund führt und einen großen Schluck nimmt.

Wieder lenke ich meine Aufmerksamkeit auf ihren Hals, seltsam berührt von diesem Anblick. Noch nie zuvor hat mich so etwas interessiert. Weder bei meiner Ex, noch bei irgendeiner anderen Frau. Aber etwas an Lisa berührt mich. Es erinnert mich an ihre Weiblichkeit. Nicht, dass daran je Zweifel bestanden hätte. Aber im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die ich so kenne, scheint Lisa keinen Wert darauf zu legen, es zu betonen.

Seltsam, dass es mir ausgerechnet heute auffällt.

»Also«, beginne ich im Plauderton, um mich auf andere Gedanken zu bringen. »War deine Woche auch so mies?«

»Du bist nicht der erste, der sich darüber beschwert«, erwidert sie mit diesem für sie so typischen Tonfall. Leicht deplatziert, als würde sie mehr mit sich selbst reden. Plötzlich ärgert mich das. Ich will, dass sie mit mir redet. Bewusst. Ich will, dass sie mir in die Augen sieht und ein Gespräch mit mir führt. Das machen wir leider verdammt selten.

Schnaubend beuge ich mich ein Stück vor, und als sie mir nun in die Augen blickt, weiten sich ihre Pupillen. Ich grinse sie an. »So? Wer hat sich denn noch beschwert?«

»Hannah …«, murmelt sie – so leise, dass ich den Namen mehr von ihren Lippen ablese, als ihn wirklich zu hören. Schon wieder beginnt sie, sich abzuwenden, doch dieses Mal schießt meine Hand vor, und ich umfasse ihr Kinn, um sie daran zu hindern.

Sie blickt mich an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Mit kreisrunden Augen, geöffneten Lippen und so überrascht, dass es beinahe schon komisch wirkt.

Eilig lasse ich sie wieder los, aber sie verharrt genau so. Zum Glück.

Irritiert von mir und meinen Anwandlungen lecke ich mir über die Lippen. »Und deine Woche? Wie war die?«

Noch immer sind ihre Augen riesig. Wie hypnotisiert starrt sie mich an. Die Röte in ihren Wangen vertieft sich. Ich zähle die Sekunden, es dauert mindestens fünf, ehe wieder Bewegung in sie kommt: Sie pustet sich die Stirn frei, schiebt ihre Brille nach oben und löst damit all die Spannung, die sich plötzlich aufgebaut hat. Schließlich räuspert sie sich rau.

»Ganz okay. Ehrlich gesagt finde ich es tausend Mal entspannter als in den letzten Wochen der vorlesungsfreien Zeit.«

Diese Antwort ist so typisch für Lisa, dass ich lächeln muss. Erneut tritt ein wachsamer Ausdruck in ihre Augen, doch ehe sie irritiert sein kann, rede ich weiter.

»Stimmt schon. Viel strukturierter und so. Aber ich habe einen verdammt beschissenen Kurs abbekommen. Kennst du Professor Wicker?«

Augenblicklich sieht sie betroffen aus. »Inklusive der wenig schmeichelnden Spitznamen, ja. Mist. Ist der Kurs wichtig?«

Ich nicke grimmig. »Jepp. Ehrlich gesagt habe ich noch keinen Plan, wie ich die Prüfung schaffen soll. Sein Ruf ist wirklich mies.«

»Wieso hast du den Kurs dann überhaupt belegt?«

Die Frage kommt so ernsthaft daher, dass ich mir beinahe blöd vorkomme, aber nur beinahe. »Oh, Sherlock, das ist eine gute Frage«, reagiere ich stattdessen mit Ironie. »Ehrlich gesagt habe ich das nicht getan. Aber Professor Liebermann ist kurzfristig ausgefallen, also hat der Wicker übernommen. Keine Chance, da rauszukommen.«

»Verdammt. Das ist echt blöd.«

»Echt blöd trifft es ziemlich gut.«

In einverständlichem Schweigen nippen wir an unseren Drinks. Erstaunt stelle ich fest, dass mein Glas bereits leer ist. Da ich jedoch noch nicht bereit bin, diesen kurzen Moment der Zweisamkeit mit ihr aufzugeben, rühre ich mich keinen Millimeter. Stattdessen lasse ich meinen Blick möglichst unauffällig über Lisa gleiten. Man kann immer noch nicht behaupten, dass sie aussieht, als würde sie sich total wohl fühlen.

»Wenn du die Wahl hättest, wo wärst du jetzt?«, frage ich sie ganz unvermittelt.

Sie zuckt zusammen, wirkt maximal ertappt, aber dieses Mal weicht sie meinem Blick nicht aus. »Nicht hier?«

»Ist das eine Frage oder eine Antwort?«

Sie runzelt die Stirn. »Beides? Keine Ahnung. Du weißt genauso gut wie die anderen, dass ich sowas nicht so gerne mache.« Ihre Worte begleitet sie mit einer fahrig-wedelnden Bewegung ihrer Hand. Mir entgeht nicht, dass ihre Geste alles einschließt. Auch mich. Seltsamerweise trifft das mein Ego härter als gedacht.

»Daher will ich doch von dir wissen, wo du lieber wärst«, erkläre ich mit ruhiger Stimme.

Sie lässt sich Zeit mit einer Antwort. »Tja, gute Frage. Auf dem Weg hierher habe ich mir vorgestellt, wie schön es wäre, im Biergarten zu sitzen.«

»Brauhaus?«

»Ich dachte eigentlich eher an den Trunkenbold«, erwidert sie mit einem schüchternen Lächeln.

Das lässt mich auflachen. »Das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut.«

Feine Linien durchziehen ihre Stirn, während sie meine Antwort sacken lässt. »Tja, ich schätze, auch ich habe meine Geheimnisse.«

»Also das würde ich wirklich gerne …« Weiter komme ich nicht, weil sich plötzlich jemand auf mich stürzt, seinen Arm um mich schlingt und mit so lauter Stimme »Halloooo« ruft, dass mir jegliche Worte im Hals stecken bleiben.

Ich weiß augenblicklich, wer das ist, dazu brauche ich keinen Blick in Lisas Gesicht werfen oder mich umwenden.

Stina.

Ich rieche sie, ihren blumigen Duft, auch wenn er jetzt von etwas Schwerem überlagert ist. Ihre Stimme klingt verwaschen, aber für meinen Geschmack viel zu vertraut. Jede einzelne Faser meines Körpers durchläuft einen Wandel: Eben noch maximal entspannt, konzentriert auf das Gespräch mit Lisa und die seltene Gelegenheit, mit ihr zu plaudern, macht etwas in mir dicht. Wie im Zeitraffer ziehen die vergangenen Monate an mir vorbei; insbesondere der Erste, nachdem sie mich einfach so abserviert hat. Wie einen müden Nachhall spüre ich all die Wut und Enttäuschung in mir aufflammen, doch im selben Moment verpuffen die Gefühle auch schon wieder. Ich bin über sie hinweg, zumindest was die romantischen Anwandlungen betrifft. Eigentlich macht sie mich nur noch sauer.

»Oh, Stina. Hallo«, erwidere ich, selbst für meine Verhältnisse ziemlich kühl, und löse mich aus ihrer Berührung.

Etwas in mir schaltet auf Autopilot. Ohne weiter darüber nachzudenken, stelle ich mein leeres Glas knallend auf die Theke, gleite neben Lisa und schlinge meinen Arm um ihre Taille.

Ich spüre, wie sie sich augenblicklich versteift, aber nach nicht einmal einer Sekunde legt sie ihren Arm um mich, erwidert die Berührung und spielt damit instinktiv mit.

Stinas Augen weiten sich. »Oh. Das ist …«

Ein niederer Teil von mir genießt die Überraschung, die in ihren Augen aufblitzt. Mehr noch, da scheint Enttäuschung zu sein, was mich wiederum auf die Palme bringt. Sie hat mich abserviert, also hat sie nun keinerlei Ansprüche auf mich. Diesen Blick kann sie sich also sparen.

»Lisa, ja. Du kennst sie«, erwidere ich knapp in meiner besten »Verwandeln-wir-uns-in-einen-Arsch«-Manier. Nicht, dass ich darin so viel Übung hätte.

»Hi«, piepst Lisa, und etwas an der Art, wie sie sich an mir festklammert, gleichzeitig aber pures Unbehagen ausstrahlt, lässt etwas Tiefgründiges in mir auflodern.

»Das ist ja interessant«, spuckt Stina beinahe verächtlich aus und spielt damit ihre wahre Karte aus. Die, die ich stets versucht habe zu verdrängen. Ihre fein gezupften Augenbrauen ziehen sich zusammen. Fort ist die Enttäuschung, macht Platz für etwas, das verdammt nahe an Verachtung kommt. Ich weiß genau, was sie denkt. Haargenau. Sie zieht Vergleiche, und in ihrem hübschen Köpfchen kommt Lisa dabei ganz sicher nicht gut weg. Da ist sie wieder, die Wut. Dieses Mal jedoch aus anderen Gründen.

»Lange her«, bringe ich zischend hervor. Und dann: »Möchtest du etwas Bestimmtes?«

Nun sieht sie mich beinahe schockiert an. Klar, so habe ich nie mit ihr gesprochen. Wo sind eigentlich die anderen, verdammt? Es ist, als würde sich eine Glocke über uns stülpen und jeglichen Laut verschlucken. All die Musik, die anderen Leute, sie verschwimmen, während Stina uns ansieht, als könnte sie es nicht fassen.

»Nein, eigentlich wollte ich nur mal wieder ein bisschen plaudern. Aber offensichtlich besteht da kein Bedarf.«

»Die Lust, mit dir zu plaudern, ist vergangen, als du einfach so Schluss gemacht hast«, erwidere ich und bin stolz darauf, wie locker das klingt. Lisas Finger krümmen sich an meiner Taille, offenbar hat sie das ebenso erkannt.

Ich atme tief durch. »Wie auch immer. Hab noch einen schönen Abend. Wir wollten gerade sowieso die anderen suchen.«

»Komm schon, Ryan.« Stina klingt maximal vor den Kopf gestoßen. »Das ist nicht dein Ernst?«

Zum zweiten Mal brennen bei mir irgendwelche Sicherungen durch. Ich weiß nicht, ob es Lisas instinktiver Beistand ist oder in erster Linie Stinas absoluter Unglaube. Das Bedürfnis, ihr etwas zu beweisen, nimmt jeden Raum in mir ein, und ohne noch etwas zu erwidern, ohne wirklich zu wissen, was ich tue, beuge ich mich zu Lisa hinab, um sie zu küssen.

Sie atmet scharf ein. Stina murmelt irgendetwas Ungläubiges.

Und die ganze verdammte Welt steht still, während ich die Lippen meiner eigentlich so verschlossenen Mitbewohnerin koste. Zunächst kühl und unbewegt, verwandeln sie sich, werden weich und anschmiegsam. Ich spüre, wie erneut ihre Finger an meiner Taille zucken, doch dann ist da nichts mehr. Nur die Musik, Lisas Lippen und das Kribbeln, das einmal quer durch meinen Körper schießt, vom Scheitel bis zur Sohle.

Instinktiv weiß ich, dass ich in der Klemme stecke.

Den gesamten Samstag verlasse ich mein Zimmer lediglich, um ins Bad zu huschen oder mir einen schnellen Snack zu organisieren, und das auch nur, wenn ich sicher bin, niemanden zu hören, der sich womöglich im Flur oder in der Küche herumtreibt. Alles in allem bedeutet es, dass ich ein paar Mal eine ziemlich schmerzhaft volle Blase habe, und an mein Magenknurren gewöhne ich mich auch. Aber das ist okay. Lieber quäle ich meinen Körper, als das Risiko einzugehen, ihm unter die Augen zu treten. Dazu bin ich nämlich definitiv noch nicht bereit.

Egal wie viele Stunden verstreichen, ich kann einfach nicht aufhören, an diesen einen Moment zu denken. Wann immer ich die Augen schließe, sehe ich Ryan vor mir. Sobald ich mich nicht mit irgendeinem Thema ablenke, spüre ich seine Lippen auf meinen, seinen Arm an meiner Taille.

Und ja, ich spüre auch seine Zunge, die sich in meinen Mund geschoben hat, etwa eine Sekunde, ehe ich den Kuss unterbrechen konnte und davongerannt bin. Zu diesem Zeitpunkt wäre ich am liebsten direkt nach Hause geflohen, aber auf dem Weg Richtung Ausgang bin ich ausgerechnet Hannah in die Arme gelaufen, und letztlich war das wohl besser so. Ein wortloses Verschwinden hätte nur Fragen provoziert. Fragen, zu denen ich nicht bereit gewesen wäre.

Im Nachhinein betrachtet sind die nachfolgenden Stunden irgendwie in einem Rausch ineinander übergegangen. Ich habe viel zu bereitwillig mit Trix Tequila getrunken, habe mich von Ryan und der Tanzfläche ferngehalten und dafür gesorgt, dass immer mindestens eine Person zwischen uns steht. Seine Blicke? Die habe ich definitiv brennend auf mir gespürt. Aber eigentlich ist das ja auch egal. Ich habe ihm geholfen, Stina eins auszuwischen. Mehr nicht. Mein Verstand weiß es. Die Logik singt es mir in einem quälend-penetranten Mantra ins Ohr.

Doch da sind Regionen, die ihren Dienst quittieren. Die schreien mich an … und seufzen und frohlocken und sorgen dafür, dass ich die Decke über den Kopf ziehen und gleichzeitig fluchen, weinen und lachen will.

Dafür brauche ich aber die Sicherheit meines Zimmers. Wenn ich meinen Verstand verliere und mich nicht einmal ansatzweise auf meine Fassung verlassen kann, möchte ich das ganz alleine regeln. Ohne Zeugen. Ohne Fragen. Und ganz bestimmt ohne Ryan.

Alles in allem gelingt mir mein Ninja-Verhalten gut. Ich verbringe den Samstag, ohne auch nur einem meiner Mitbewohner unter die Augen zu treten, und auch am Sonntag halte ich mich weitestgehend aus den Angelegenheiten der anderen heraus. Zum Glück ist es gar nicht so unüblich, dass ich mich verkrieche, weshalb niemand Verdacht zu schöpfen scheint.

Nehme ich zumindest an.

Als ich am späten Mittag aus meinem Zimmer und rüber ins Bad schleichen will, mit Wechselklamotten im Arm und noch in meinem roten Pyjama mit den kleinen Sternchen, weil ich tatsächlich bis vorhin im Bett gelegen habe, mache ich einen Satz in die Höhe, da niemand anderes als Ryan gegenüber meiner Zimmertür an der Wand lehnt und mich mit hochgezogener Augenbraue mustert.

»Du lebst also doch noch.«

Ich verschlucke mich beinahe an meiner Zunge, will wortlos an ihm vorbeihuschen, doch er fährt seinen Arm aus und hindert mich daran, zu flüchten. Hilflos blicke ich ihn aus großen Augen an. Meine Knie werden weich, diese Verräter.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Ein Grinsen umspielt seine Lippen, aber ich erkenne, dass es nicht sein typisches ist. Er wirkt ein wenig angespannt, und das wiederum bestätigt mich in meiner Annahme, dass dieses Ablenkungsmanöver im Club definitiv ein riesiger Fehler war. Der ganze Besuch war ein einziger Fehler. »Nein«, bringe ich rau hervor. »Aber ich muss dringend pinkeln. Wenn du mich also bitte durchlassen würdest …«

Ryan stößt einen ungläubigen Laut aus, der letztlich in Gelächter übergeht. Sein Arm sinkt herab, doch als ich mich gerade erleichtert an ihm vorbeischieben will, umfasst er pfeilschnell meinen Ellenbogen. »Du gehst ins Bad, ich koche uns Kaffee. Und dann werden wir reden.«

Scheiße. Scheiße zum Quadrat. Ich nicke knapp, reiße mich los und flüchte förmlich ins Badezimmer, wo ich mich keuchend und mit brennenden Wangen einschließe.

Jede Zelle meines Körpers zieht sich vor Unbehagen zusammen. Ich lasse mir unnötig viel Zeit dabei, mich frisch zu machen, erwäge sogar, ein Schaumbad zu nehmen, springe dann aber doch nur kurz unter die Dusche. Selbst das war eigentlich nicht geplant – aber ich brauche eine Abkühlung. Dringend. Sonst stehe ich vor Scham in Flammen, ehe ich Ryan überhaupt unter die Augen getreten bin.

Die Sache ist die: Mein Verstand weiß hundertprozentig, was am Freitag geschehen ist. Stina ist Ryans rotes Tuch, und als sie so unvermittelt aufgetaucht ist, wollte er sie in ihre Schranken weisen. Was er mit mir getan hat, hätte er auch mit Trix oder Mariella getan. Vielleicht sogar mit Hannah … Ich schüttle den Kopf.

---ENDE DER LESEPROBE---