Zwei Löwen im Goldfischglas - André Schneider - E-Book

Zwei Löwen im Goldfischglas E-Book

André Schneider

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Beschreibung

Paris im Frühling: Zwei Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten, verlieben sich auf den ersten Blick ineinander. Der eine aufregend schön, charmant, reich und faul, der andere gedankenvoll, ehrgeizig, arm und begabt. Eine aufregende Zeit beginnt. Doch was passiert, wenn Liebe und Schmerz zu nahe beieinander liegen? Wenn anfängliche Zuneigung und Bindungslust nach und nach toxisch werden? In dieser mitreißenden Erzählung nimmt André Schneider die Leser mit auf eine wort- und bildgewaltige halbautobiografische Reise quer durch Europa, lässt sie hautnah teilhaben an den Höhen, Tiefen und intimsten Momenten einer außergewöhnlichen Beziehung und gewährt tiefe Einblicke in eine Künstlerseele. Über viele Jahre sollten der sich sammelnde und der sich verschwendende Mann sich im Wechsel annähern und abstoßen. Philosophen wollten sie werden - und sie sind es auch geworden. Auf ihre eigene, schmerzhafte Weise. Ein poetischer Roman über sexuelle Selbstfindung und einen langen Abschied.

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I would hold you close And I would keep you safe I would show you home I would never stray But you’d rather run But you’d rather fly So you took your love And we said goodbye

Minute Taker, »Wild Things«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn Nachglühen

Eins

Dass es ausgerechnet Paris war, wo wir uns zum ersten Mal begegneten, dafür kann niemand was, doch ich ertappe mich so manches Mal bei dem Gedanken, gerade diesen Umstand gerne negieren zu wollen. Das Klischee, das abgehalfterte romantische Bild, das damit einhergeht, ist mir zu viel, zu aufdringlich, zu verklärt, zu abgeschmackt und ach, einfach zu schön. Postkartenmotive, Standbilder, Filmszenen. Jean Seberg, die in Ballerinas und Streifenshirt auf den Champs-Élysées Zeitungen verkauft; Miles Davis’ Jazzklänge, zu denen Jeanne Moreau bei Regen über die nächtlichen Boulevards flaniert; der akrobatische Fred Astaire, der liebestrunken durch die Parks der Stadt tanzt; ein Akkordeonspieler, der die Küsse der Paare am Seineufer mit einem Dreivierteltakt begleitet: nicht ein, sondern der Inbegriff von Charme, Esprit und Ästhetik, dieses Paris, dem so viel Sehnsucht und Projektion aufgebürdet wird.

An jenem Abend waren wir beide Gäste von Philippe im sechsten Arrondissement, dem Arrondissement du Luxembourg, in welchem einst Picasso und Sartre wohnten, wenn auch nicht zusammen. Philippe war Schauspieler, ein Kollege, den ich bei einem Vorsprechen kennengelernt hatte. (Die Rolle hatten wir beide nicht gekriegt.) Seiner Bitte, mich bei ihm zu melden, wenn ich in Paris sein sollte, war ich gerne nachgekommen, da ich praktisch niemanden in der Stadt kannte. Blühende Frühlingssonne war einem kräftigen Regen gewichen, und entsprechend sah ich nach dem langen Fußmarsch auch aus, als ich, durchnässt bis auf die Knochen, im Au Père Tranquille, einem Café unweit meiner Unterkunft, auf ihn wartete. Obwohl ich mit dem Rücken zur Tür platziert worden war, bemerkte ich sein Eintreffen sofort anhand der aufschauenden und sich drehenden Köpfe. Philippe hat eine Jesus-Aura: Er betritt einen Raum und alles weicht einen Schritt zurück. Die Frauen schmelzen, lecken sich die Lippen, befingern ihre Haare und die Augen der Männer verengen sich neidvoll. Er ist ein Mann, der angestarrt wird. Als er zu meinem Tisch kam, befühlte er meinen immer noch feuchten Nacken. Ich stand auf und wir begrüßten uns. Es gibt Tage, an denen ich seine Schönheit kaum ertragen kann. Mir wurde ein wenig schlecht, denn zum ersten Mal spürte ich dieses säuerliche Gefühl von Neid in mir. Ich wusste, ich würde niemals so aussehen wie er, und ich wusste auch, ich würde nie seinen Stil haben, diese Sicherheit, dieses Gespür für das, was einem steht und den Charakter unterstreicht. Sein schlichter grauer Pulli, der lange schwarze Mantel, die dunkle Stoffhose wirkten, als wären sie extra für ihn angefertigt worden. Das kurze, schon angegraute Haar ebenfalls nass, die bernsteinfarbenen Augen glänzend wie nach einer lustvoll durchliebten Nacht, thronte er mir gelöst und aufrecht gegenüber. Mein Gesicht im Spiegel hinter ihm sah aus wie ein Gesteinsbrocken, als er mich fragte, ob ich an meinem Geburtstag nicht zu ihm kommen wolle, er würde ein paar Freunde einladen und Essen bestellen. Ich bejahte und stand kaum vierundzwanzig Stunden später vor seiner Haustür im Quartier Saint-Germain-des-Prés.

Das Dinner hatte gerade angefangen, als mir klar wurde, ich würde später auf meinem Heimweg den ganzen Abend noch einmal in umgekehrter Reihenfolge in Gedanken durchspielen – die kurze Fahrt mit der Linie 11 der Métro ab Rambuteau, das Gedränge beim Umsteigen in die Linie 4, meine Desorientiertheit an der Rue de l’Abbaye, den Song von Léo Ferré auf meinem MP3-Player in Dauerschleife, das goldene Licht der Straßenlaternen, das vom regennassen Asphalt reflektiert wurde, das quirlige Treiben der Touristen, die Überlegung, jetzt neunundzwanzig Jahre alt zu sein, die Dreißig direkt um die Ecke, das weiche Parfum der Blondine, die mit mir auf das Surren des Türöffners wartete und dann im Lift stumm lächelnd neben mir stand, Philippes großzügig geschnittenes Apartment, vibrierend vom dezenten Murmeln seiner Gäste (von ihm eingeladen, um mein Wiegenfest zu feiern), die Wangenküsse links und rechts, die Sonaten für Klarinette und Klavier von Brahms als Hintergrundmusik, die Hitze, welche die dutzendfach schimmernden Kerzen auslösten, den unaufdringlichen Sandelholz-Duft, der mich von Raum zu Raum begleitete, während ich mich umsah und ein angesichts der mir unbekannten lächelnden Gesichter flaues Gefühl des Fremdseins befehdete, das kehlige Lachen einer mondänen Rothaarigen mit schwarz lackierten Fingernägeln, die gerahmten Schwarzweißfotografien von Philippe an fast allen Wänden, das Badezimmer, dessen weiße Kacheln mich an Hitchcocks »Psycho« denken ließen, den langen, engen Flur, der sich im Oval durch die Wohnung schlängelte, im Salon begann und wundersamerweise wieder dort endete, wo ich mich in einen vermeintlich stillen Winkel am Fenster verzogen hatte, direkt neben einem antiken Bücherregal, als du mir plötzlich deine Hand auf die Schulter legtest und sagtest: »Me llamo P. Soy un Acuario.« Aha, ein Wassermann namens P. und augenscheinlich Spanier. Keine alltägliche Art, ein Gespräch anzustimmen. Ich reichte dir meine Hand und sagte: »Enchanté. Encantado.« Und dann: nichts mehr. Dieses laute Schweigen des ersten Blickkontakts. Ich hätte mich vorstellen können, sagen können, dies wäre meine Geburtstagsfeier, schlaubergern können, Wassermann und Fische würden sich, wenn man der astrologischen Fachliteratur Glauben schenkt, nicht besonders gut verstehen – im Gegenteil: Sie neigen häufig zum gegenseitigen Missverstehen. Doch ich sagte nichts und du sagtest nichts. Gingst nur einen halben Schritt zur Seite und öffnetest die großen Kastenfenster, sodass die Märzluft uns erfrischen, den ersten Begegnungsnebel wegwischen konnte. Als dieser sich gelichtet, verflüchtigt hatte, war da kein Donnerschlag, kein Absturz in eine Liebesschlucht, kein, wie es der Engländer so bildhaft formuliert, »falling in love«. Darauf wäre ich gefasst gewesen. Stattdessen fluteten wir einander mit Blicken, die Antworten auf ungestellte Fragen gaben. Ich hatte nicht gemerkt, wie deine Hand immer noch in der meinen ruhte. Erst als deine Fingerkuppen meine Handflächen liebkosten, als würden sie ein Buch in Braille lesen, ließ ich los. Das war zu viel, zu unheimlich, zu offensichtlich für die anderen Gäste, deren Tuscheln anschwoll und abebbte wie das Meer, auf dem man sich treiben lässt, um die Wolken zu beobachten. Wenn die Sonnenstrahlen und die Wasseroberfläche Schatten auf der Haut hinterlassen wie zarte Tattoos. Wenn man sein Herz und seine Erinnerungen am Strand gelassen hat, um das Jetzt in den Wogen zu erspüren.

Als du schließlich sprachst, achtete ich nicht auf den Inhalt. Zu sehr war ich übermannt, überfraut, übermenscht von der Form, der Melodie, dem spanischen Akzent im Französischen. Ich musste an meinen Deutschlehrer aus der Oberstufe denken. »Stil über Substanz«, pflegte der zu schimpfen. Ich gab mir die größte Mühe, aber ich konnte seinen Groll diesbezüglich nie verstehen. Wenn die Oberfläche so liebreizend, so hypnotisch schön ist, dass sie einen fortträgt, verzaubert, mit einem Glitzerschleier bedeckt, wieso sollte man sie ihrer Magie berauben, indem man sie aufkratzt, um zu schauen, was sich unter ihr befindet? Manchmal fasziniert die Verpackung mehr als das darin befindliche Geschenk. Einmal hatte ich zum Geburtstag eine hölzerne Schatztruhe geschenkt bekommen, die als kleine Aufbewahrungsbox für meine Playmobil-Figuren gedacht war. Das Spielzeug darin interessierte mich nicht angesichts der filigranen Ornamente auf dem Kästchen, ihrer geheimnisvollen Textur und dem Schloss. Ich wollte, dass es leer bliebe, bis sich etwas wirklich Besonderes fände. Einen echten Schatz, einen, den man nicht suchen, nur finden kann, sollte diese Truhe eines Tages beherbergen. Bis dahin sollte sie einfach nur sein, schön sein, mein sein. Meine sechsjährigen Fingerchen strichen über ihre Verzierungen, vorsichtig näherte sich meine Nase dem polierten Holzstück, um daran zu schnuppern.

Während du sprachst, fielen Kaskaden von Haaren von deinem Scheitel und wehten leise hin und her, wie der Wind seichtes Wasser über Sand bewegt. Die Brise vom Fenster her war kühl und knusprig, dein Anblick aber war wie die Sommerferien, die ich mir als Jugendlicher erträumt hatte: Swimmingpool, Sonne auf heißen Steinen, Lavendel, Knoblauch, Glühwürmchen am Abend. Der Lavendel verdampfte zu Öl, die Trauben zerplatzten zu Wein, und plötzlich wollte ich wissen, wie es zwischen deinen Beinen riecht, wie du schmeckst, wenn dich der Hochsommer und ein langer Spaziergang erhitzt und verschwitzt in weiße Bettlaken geworfen haben; gespreizte Beine vor meinem Gesicht, du die Schatztruhe und ich der Sechsjährige, der an ihr riecht. Wie wäre das, diese Mischung aus Moschus und Meer und Sonne? Dürfte ich dich kosten, den Schweiß, der das Aroma von Salz und Zitrusfrüchten verströmt, von deinem Geschlecht lecken?

Ich dachte all dies in den wenigen Sekunden, in denen du sprachst. In denen ich deiner Stimme lauschte, ohne dir zuzuhören. In denen ich dich ansah, teils hoffend, teils fürchtend, du könntest meine Gedanken lesen. Du brachst den Bann, indem du ganz beiläufig eine Frage stelltest. »Hast du schon Philippes Badezimmer gesehen?«

»Noch nie im Mondlicht«, erwiderte ich, um nicht mit ja oder nein antworten zu müssen, und war selbstzufrieden über meine Schlagfertigkeit in fremder Sprache.

Ohne mir deine Nummer zu geben und ohne nach meiner gefragt zu haben, sagtest du unvermittelt »Te veo pronto« (»Ich sehe dich bald«) und gingst. Verblüfft sah ich dir nach. An der Tür zum Korridor drehtest du dich um. Dein feistes Jägerlächeln ob meiner Verwirrtheit beruhigte mich nicht, im Gegenteil: Es schürte die Unsicherheit, befeuerte die Wallung. Du wirktest zufrieden.

Oft habe ich – heute geniere ich mich nicht, dir das zu sagen – mir sehnlichst gewünscht, unsere Geschichte möge vorbeigehen, damit ich sie erzählen kann mit all der Getragenheit, die man Vergangenem angedeihen lässt; damit ich sie aufschreiben kann in einem schwurbeligen Gedankenkreisel zwischen dem Damals und dem Heute. Dieser verkommene Wunsch entsprang, auch hier möchte ich ehrlich sein, einer weit im Inneren verwurzelten Eingebung, dass wir nicht »echt« waren, nicht miteinander und schon gar nicht füreinander. Heute denke ich, wir beide wussten das, parkten dieses Wissen jedoch in den Unterwelten des Unterbewusstseins und labten uns an dem süßen, verbotenen Spiel wider unsere Natur. Wir spielten es siebeneinhalb oder acht Jahre, unterbrochen von Beziehungsversuchen mit anderen, und als es vorüber war, waren unsere Seelen keinesfalls erkaltet oder wassergetränkt. Deine Abwesenheit machte meine Atemluft nicht schwerer, und du schienst im Freiflug stärker, stolzer zu sein als im Wir. So jedenfalls wirkte es auf mich. Genau kann ich es nicht sagen, denn, so muss ich all der gemeinsamen Zeit zum Trotz zugeben, ich kannte, kenne dich nicht. Deshalb blieb meine Verliebtheit in dich ein Keimling ohne Chance auf prächtiges Erblühen, und darum hielt ich meine Zuneigung an der Leine. Und doch war da etwas Unbenanntes, ein Band, denn zeitweise warst du mir so vieles, vielleicht »mon autre moi«, mein anderes Ich. Von dieser Warte aus betrachtet kannte ich dich sehr wohl, ja, vielleicht sogar zu gut? Du warst gewitzt, füttertest meine Gewogenheit mit kleinen Häppchen an, um sie dann hungern zu lassen. Ich wollte dich lieben, weil ich mich von dir nie wirklich geliebt fühlte.

Mein Vermieter war durch und durch Cineast, die Wände seiner Wohnung waren förmlich tapeziert mit Filmplakaten, Aushangfotos und Autogrammkarten. An den Wänden des Gästezimmers prangten Bilder von Fabio Testi aus den frühen Siebzigern in edlen Holzrahmen. Die Fotografen hatten seine Markenzeichen schmeichlerisch herausgestellt. Die meist weißen und stets weit aufgeknöpften Hemden, die südländischdunklen Augen und das einladende Sonnyboy-Lächeln lockten den Betrachter, verführten zum Innehalten und Verweilen, man betrachtete gern die Feinheiten. Testi hatte glattes, kastanienbraunes, perfekt liegendes Haar. Manche Fotos zeigten ihn mit Zigarettenstummel oder einem Zahnstocher im Mundwinkel. Aus seinen Posen sprach etwas Erhabenes, ein sauberer Stolz, der nicht überheblich oder gar arrogant wirkte, sondern selbstverständlich. »Schaut mich nur an, wenn es euch gefällt«, schien sein Blick zu wispern, »ich weiß, ich bin schön.« Nicht abgehoben wie die Hollywood-Kollegen früherer Jahrgänge, sondern bodenständig und antastbar; der sympathische schöne Nachbar, der beim Gartenfest lässig den Arm um einen legt, während er von seinen Frauengeschichten erzählt.

Während ich ausgestreckt auf dem Schlafsofa lag, schlaflos ob unserer Begegnung, sah ich mir die Fotos genau an, verglich die Kamerawinkel, die Gesichtsausdrücke, die Kleidung. Eines war in Farbe. Auf dem stand er splitterfasernackt neben einem majestätischen Schimmel, den Po zur Kamera und das Haupt nachdenklich zum Tier gewandt. Mit einer Hand hielt er die Zügel, mit der anderen berührte er sachte die Mähne. Wie war das noch gleich mit den weißen Pferden in der Traumdeutung? Die standen doch für Unschuld, Reinheit, Glück – und für eine geistige Weiterentwicklung. Oder? Über diesem Gedanken war ich letztlich doch eingeschlafen. Kein Erinnern an dein sanftes Machtspiel unseres ersten Blickwechsels, kein Ärger über die vertane Chance, dir meine Kontaktdaten zu geben, und nicht die Spur einer Verstimmung angesichts meiner offen zur Schau getragenen Nervosität.

Als ich am späten Vormittag aufwachte – es war ein milder Sonntag –, blinkte das winzige grüne Lämpchen auf meinem Handy. Zwei SMSe. Die erste stammte von Philippe, der sich dafür entschuldigte, dir meine Nummer gegeben zu haben. Die Nachricht endete mit einem Smiley. Die zweite SMS, eingegangen um halb fünf in der Frühe, stammte ganz offensichtlich von dir. »Estoy triste y cachondo.« (Zu Deutsch: »Bin traurig und geil.« Diese Gefühlsmixtur war, wie ich in den kommenden Jahren erleben konnte, ganz alltäglich für dich und nicht, wie ich zunächst annahm, personengebunden.) Es las sich schrullenhaft-niedlich und verlangte nach einer ausgefallenen Antwort. Diese verleitete dich zu einem Blitzanruf und etwa vierzig Minuten später frühstückten wir gemeinsam in einem Café neben Saint-Eustache. Das heißt, großen Hunger hatten wir beide nicht. Du verkatert, ich verzaubert, wir beide hormonversklavt. Ich merkte das an der beständig verrutschenden Syntax; der Sprechapparat quasselte, als führte er ein Eigenleben, und scherte sich weder um Form noch um Inhalt. In deinem Blick lag eine provozierende Süffisanz. Frühstück und Gespräch waren Vorwände, das war mir klar. Offenbar hatte unser abendlicher Blickkontakt nicht nur mir das Blut ins Membrum virile gejagt. Das Amüsement und die Geilheit in deinen Augen sprangen mich an wie verspielt fauchende Babykätzchen und ich fragte mich: »Wozu das ganze Theater? Die Sache ist doch klar.« Wir hätten aufstehen und gehen können, es wäre einfach gewesen, ich wohnte quasi um die Ecke. Skizzenhaft sah ich es vor mir: du auf mir, ich in dir und die holzgerahmten Bilder Fabio Testis um uns herum. Aber es war mir zu leicht, hatte mich doch die Erfahrung gelehrt, dass des Jägers Interesse beim Anblick des Erlegten erlischt, und ich war mir bei uns noch nicht einmal sicher, wer eigentlich der Jäger und wer der Gejagte war. Nein, ich wollte es hinauszögern und das flirrende, honigfarbene Dazwischen auskosten, solange es ging. Einander umtanzen, den Appetit steigern, die Spannung bis zur Unerträglichkeit aufdrehen. Nicht nur eine Nummer sein, ein Kerl von vielen. Ich wollte dich mir aufheben wie das letzte rote Gummibärchen in Mutters Süßigkeitenschale, wie den letzten Schluck Bordeaux vorm Zubettgehen, wie die letzte Zeile eines Gedichts, die man liest, bevor man das Buch im Handgepäck verschwinden lässt, weil der Zug gleich einfährt und man sich zum Aus- und Umsteigen bereit macht. In den 1950ern gab es ein Theaterstück, in welchem die sterbenskranke Heldin eine Perlenkette um den Hals ihres halbnackten Geliebten legte, ihn sanft-bestimmt zu sich zog und hauchte: »Dies wird der letzte große Augenblick meines Lebens sein.« Es mag idiotisch klingen, aber ich war bestrebt ein ähnlich triumphales Verzehren zu kreieren, eine kontrollierte Eruption. Aber Spielchen spielen, das wollte ich nicht. Und während meine Gedanken auf diesem dünnen Faden balancierten, sah ich, wie unsere Hände sich ineinander vergruben, sich kuschelig einigelten. Ich musterte dieses Bild, als wäre ich ein Außenstehender, nicht aktiv daran beteiligt, und war gerührt von der puerilen Reinheit, die es offenbarte. Keine Spur von Verruchtheit. Während das Gewusel um uns herum zum Stillstand kam und die Hintergrundgeräusche verstummten, merkte ich, auch du blicktest auf unsere Hände. Wir beide schauten auf und waren bass erstaunt, denn die Augen unseres Gegenübers hatten sich mit Wasser gefüllt. Die Länge eines Atemzugs überschreitend, war dies wohl der Moment, in dem wir wussten. In dem wir dasselbe fühlten. Ich sah, wie dein Mund sich bewegte, doch du wusstest ebenso wenig wie ich, was jetzt noch zu sagen wäre. Eine Träne löste sich und rann zögerlich über deine Wange bis zu deinem Mund. Meine Lippen fingen sie ab, und so schmeckte unser erster Kuss etwas salzig, etwas unschuldig und etwas sehnsüchtig. Er war sachte, so liebevoll, als hätten wir beide die Befürchtung gehabt, den anderen mit unseren Lippen zu verletzen. Von solchen Küssen hatte ich bereits gehört oder gelesen oder sie vielleicht sogar in einem Film gesehen – erlebt hatte ich sie noch nie.

Zwei

Du hast, und das rechne ich dir hoch an, selten Versprechungen gemacht, und die, die du machtest, ausnahmslos gehalten. Das ist ein Wesenszug, den es kaum noch zu geben scheint. Als wir in Paris Abschied nahmen, versprachst du mir, wir würden uns in Spanien wiedersehen. Du wolltest es mir zeigen, »dein« Spanien, welches die Tourismusbranche bislang kaum erschlossen oder zumindest vernachlässigt hatte.

Die Zeit bis zum Wiedersehen überbrückten wir mit ausufernden Telefonaten, vor allem aber mit Kurznachrichten. »Tengo ganas de olerte«, schriebst du nachts um zwei. (»Ich will dich riechen.«) Ein Wunsch, der mich romantisch erfasste. Du batest mich, ich solle dir ein getragenes T-Shirt per Post schicken. Dein Dankeschön kam via E-Mail: ein Foto, auf welchem du dir das Shirt unter die Nase hältst, den Blick lasziv ins Objektiv gerichtet und in der rechten Hand ein Poppers-Fläschchen.

Unser Wiedersehen – fast vier Monate nach Paris – führte uns nach Oviedo. Du wolltest mir Asturien zeigen. Ich flog nach Bilbao und nahm die Schmalspurbahn nach Ribadesella an der Costa del Dino, die ihren Namen zahlreichen eindrucksvollen Knochenfunden zu verdanken hat. Der alte Fischerhafen lockte mich zu einem kleinen Streifzug. Das Meer lag vor der Stadt wie ein schlafender Riese. Ein gleichmäßiges Ein- und Ausatmen und freche Glitzerspiele der Nachmittagssonne auf den leisen Wellen. Am frühen Abend stieg ich in den Bus landeinwärts Richtung Oviedo, wo du mich mit einer violetten Rose am Busbahnhof empfingst. Deine Geste durchströmte mich wie ein warmer Windzug, floss über meinen Rücken wie cremig-weicher Duschschaum nach einer langen Autofahrt, kroch in mein Herz wie ein Igelchen, das überwintern wollte. Eine Floristin hatte mir nämlich mal erzählt, violette Rosen würden für Liebe auf den ersten Blick stehen. Wer diese Rosen verschenke, meinte sie, wolle dem Empfänger vermitteln: »Ich kann nur noch an dich denken. Ich glaub, ich bin dir verfallen.« Ich bin mir nicht sicher, ob du von dieser Bedeutung wusstest oder nicht, aber mit dieser Rose fegtest du die Skepsis aus meinem Herzen. Du trugst nichts außer fransigen Jeans und Sandalen, hattest einen rötlichen Bartschatten und hellwache Strahleaugen. Du sahst entwaffnend schön aus, weshalb ich dich bat, mich zu beißen, weil ich es nicht fassen konnte. Du gehorchtest, deine Schneidezähne nahmen meine Unterlippe mit gebührendem Druck in die Zange und ritzten sie, bis ich zusammenzuckte und einen leisen Aufschrei unterdrückte. Im Reflex drückte ich dich noch fester an mich und zerquetschte so die violette Rose zwischen unseren Oberkörpern. Während deine Zungenspitze sich wie ein Dieb durch meine Lippen schob und wir gemeinsam einen kleinen Blutstropfen von meiner verletzten Unterlippe schmeckten, spürten wir die Dornen in unserer Brust. Ein Blütenblatt, das sich abgelöst hatte, pflückte ich dir wenig später aus deinem Brustfell.

Dieses Asturien war einfach – WOW! Ich war in meinen neunundzwanzig Jahren weiß Gott viel gereist und hatte einige schöne Orte gesehen, aber was sich mir hier bot, verschlug mir den Atem. Der Fotoapparat, den ich bei mir hatte, kam nie zum Einsatz, weil ich wusste, es würde unmöglich sein, diese Pracht adäquat einzufangen. Kein Foto kann das Leben einfangen, höchstens den Bruchteil einer Sekunde festhalten. Es heißt, durch das Bild hätten wir sehen gelernt, doch mittlerweile denke ich, wir haben das Sehen durch die Bilder verlernt. Wie auch das Leben, das instagram- und facebookgerecht aufbereitet, verfremdet, geglättet wird. Eine lebensfeindliche Manie, die da geboren wurde. »Jeder kann mit einer Digitalkamera Bilder machen«, sagtest du, »aber kaum einer kann noch fotografieren.« Wie Recht du hattest!

Asturien, das waren die tief ins Land gezogenen Flussmündungen, die so lebendig wirkten, als hätten sie einen eigenen Puls. Das waren die felsigen Steilküsten, an denen das Meer leckte wie ein liebeshungriges Freudenmädchen. Das waren die Strände, deren Sand so weich und fein war, als wäre er Puderzucker. Das waren wilde Bergtäler, die selbst den griesgrämigsten Wandermuffel umstimmen konnten. Das war die Küstenlinie, die von Wäldern, Wiesen und saftig-grünen Tälern geprägt war. España Verde, das grüne Spanien, das war Asturien. Wir saßen in deinem Mercedes und fuhren nach Avilés. Deine Eltern hätten dort ein Haus, sagtest du – und hattest schamlos untertrieben. Ein Chalet war es mit fünfhundert Quadratmetern Wohnfläche und einem riesigen Garten in der Calle Galiana. Die Besichtigung der neun Schlafund drei Badezimmer ließ mich sinnfrei nach Worten ringen. Die Augen und den Kiefer vor Staunen weit geöffnet, folgte ich dir durch den Salon. Auf der Terrasse drehtest du dich um. Ein stolzer Hausherr – oder besser: Sohn der Hausherrin – mit Händen in den Hosentaschen und einem selbstgefällig-triumphalen Lächeln. Wie fast immer trugst du dein Basecap falsch herum. Deine weißen Zähne blitzten frech, als du lakonisch erwähntest: »In Galicien haben wir noch eins. Und auf den Balearen und auf Teneriffa auch.« Das war, wie ich viel später erfahren sollte, nur die Spitze des Geldbergs.

Spätabends, als die Müdigkeit uns mit ihrem Handrücken streifte, führtest du mich zu einem der Schlafzimmer. Vor der Tür hielten wir inne. Wieder dieses laute Schweigen. Dein Blick ließ erkennen: Es war dir ernst. Du legtest deinen Arm um mich und deine Stirn auf meine Schulter. Dein Nacken roch nach zuhause, so vertraut und gut. Unsere Erektionen, die wir zu Beginn unserer Umarmung spürten, beruhigten sich, legten sich zur Ruhe, schliefen ein. Dann lösten wir unsere Umschlingung. Du küsstest meine Stirn und wünschtest mir eine gute Nacht. Wir schliefen in getrennten Zimmern und das war absolut okay.

Es war am Playa San Juan de Nieva, nordöstlich von Avilés gelegen, als ich dich zum ersten Mal nackt sah. Der Strand war breit und menschenleer und du hast einfach Hemd und Hose fallen und liegen lassen. Dein hoheitsvoller Anblick machte mich befangen, ungewohnt schüchtern geradezu. Voll bekleidet trottete ich neben dir wie ein müder Gaul. Als du dich in den Sand legtest, setzte ich mich neben dich. Ich hatte mal gelesen, unser Auge sucht beim Anblick schöner Menschen nach den Makeln, nach etwaigen hässlichen Details, und bei weniger schönen Menschen unwillkürlich nach dem Schönen. Das tun wir alle – ausnahmslos –, ohne es zu wissen. Als ich dich nackt am Strand liegen sah, die Hände hinter deinem Kopf verschränkt und den Blick nachdenklich zum blauen Himmel gerichtet, kam mir diese Textpassage wieder in den Sinn und ich forschte förmlich nach den Schwachstellen deiner Schönheit, musterte dich geradezu argwöhnisch, aber das Negativste, was ich feststellen konnte, war, dass du zu schön warst. Eine Kollegin, der ich später dein Foto zeigte, meinte, du sähest aus wie »ein schwules Abziehbildchen aus einem Katalog«. Das klang böswillig, also rügte ich sie, aber ich kam nicht ganz umhin ihr im Geheimen zuzustimmen. Deine Züge waren männlichmarkant, damals schon, und du hattest diese hohen Hollywoodstar-Wangenknochen, die dich äußerst fotogen machten. Eine starke Kinnlinie, ein straffes Kinn, eine großflächige Stirn. Dazu die eisblauen Augen, leicht mandelförmig und mit Wimpern, die zu lang waren, um irgendeinen anderen Zweck zu erfüllen als den der puren, reinen Schönheit. Dein Mund verlieh dir einen androgynen Touch: volle Lippen mit klaren Konturen. Deine Ohrmuscheln sahen aus wie gemalt, waren groß und lagen gut an. Die Nachmittagssonne ließ dein dichtes Haar rötlich schimmern, auf deinem Dreitagebart tanzten kleine rote Funken. Dein Körper: trainiert, o ja, aber nicht zu sehr. Eine Brustbehaarung wie Sean Connery als James Bond. Eine aus weich-rötlichem Flaum gepflasterte Straße führte zu deinem Schritt. Auch hier stimmten alle Proportionen. Dein Schwanz war wohlgeformt und ebenso groß wie deine Hände. Die samtig-glatte Eichel lag auf deinem Schamhaar wie auf einem Kissen, geradezu forsch spähte sie unter der Vorhaut hervor. Deine Beine, behaart wie auch die Brust, waren kräftig, die Rundungen der Waden fand ich besonders erregend. Geschmeidige Schultern, Schwimmerrücken und ein fester, runder Arsch – pardon! –, in dessen Backen ich beißen wollte wie in einen prächtigen Apfel. Versonnen legte sich mein Auge auf dich, während in mir die Selbstzweifel wucherten. »Hey, tough / What’s it like to be so big and strong and so buff? / Everything I’m not, but could I still be a hunk to you? / Enough for you, a stud to you?«, sang Troye Sivan viele Jahre später und formulierte in diesen Zeilen genau das, was ich empfand. Was an mir würdest du nehmen, wie es ist? Was würdest du verändern wollen? Würde ich je genug sein? Dürfte ich Hengst für dich sein? Und während sich die Zweifel in meinem Gehirn im Pingpong übten, sah ich, wie dein Schwanz sich leise aufbäumte. Deine Augen waren geschlossen, dein Atem war gleichmäßig und ich hatte geglaubt, du wärst eingeschlafen. Die Wellen rauschten an den breiten Sandstrand heran. Fast hätte ich dein leises »¡Fóllame!« überhört. Hattest du mich gebeten dich zu ficken? Du wiederholtest es, die Lider noch immer verriegelt: »¡Fóllame!« Diesmal war es klar und deutlich, und ich gebe zu, mir gefiel der angedeutete Befehlston, angenehm austariert zwischen Sehnsucht und Forderung. Du wunderschönes Geschöpf, wie konnte ich dir da nicht gehorchen? Wir waren zwar offensichtlich geil, aber keineswegs aufgeregt, registrierte ich verwundert. Ich spuckte auf meinen Harten und wiegte mich kurz darauf in dir, lang und tief und stolz.

Die Atlantikküste Galiciens war ungleich schroffer, ungeschliffener und gefährlicher als die Küste Asturiens. Nicht selten brachte sie unvorsichtigen Schwimmern mit ihren mannshohen Wellen und ihren gurgelnden Unterströmungen den Tod. Ein Körper, von den unbarmherzigen Brechern gegen die felsige Küste geschleudert, schien sich immer wieder schwach aufzubäumen, gewiegt im gleichförmigen Hin und Her der Flut. Dann, als das Meer sich zurückzog, spannte sich die Ruhe über ihn wie ein weißes Laken. Da lag er nun, mit Algen und Fischlaich beschmiert, in der seidenen Morgenröte eines Hitze versprechenden Julitages. Sieben Jahre war das her und trotzdem wurde der Ort, von den Einheimischen »Todesstrand« getauft, nach wie vor gemieden. Ein verwaistes Paradies an schroffer Küste, selbst die Luft, der »Atem des Meeres«, duftete verwegen; ein verhalten-sündiger Hauch wie eine frisch verpuffte Wolke aus Parfum und Salz. Du sagtest, der Geruch erinnere dich an deine Mutter. Sie habe ihre Flakons wie einen Siegerpokal in die Luft gehalten, zwei-, dreimal gesprayt und sei dann durch den Raum gegangen, immer hin und her, um die feinen Aerosole mit ihrem Körper aufzufangen. Wenn du von deiner Mutter sprachst, legtest du eine Seite von dir offen, die sonst im Verborgenen ruhte. Mir gefiel das, denn du wirktest in diesen Momenten realer, greifbarer, wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Du erzähltest oft von deiner Mutter und deine Schilderungen enthüllten eine Mischung aus innigster Zuneigung und tiefer Abwehr. So spazierten wir den leeren Strand entlang, barfüßig schweigend oder in ein Gespräch vertieft, das sich fortwährend zu wiederholen schien. »Ich denke, wir hätten eine verdammt schöne Zukunft vor uns, wenn du es zulassen würdest«, murmeltest du.

»Wenn ich es nur zulassen könnte«, erwiderte ich.

»Wieso seid ihr deutschen Männer eigentlich immer so verkopft?«

»Ist das so, sind wir das?«

»Ja, schrecklich! Alles müsst ihr bis zum Abwinken analysieren, das macht es unnötig kompliziert«, sagtest du mit einem Lächeln in der Stimme, welches so leichtfüßig tanzte, dass wir einander angrinsen mussten.

»Hattest du schon viele deutsche Männer?«

»Ein paar«, sagtest du beiläufig, als wolltest du Frage und Antwort diskret zur Seite wischen. »Der erste war ein Au-pair aus Frankfurt, als ich fünfzehn war.«

Du tratst auf eine Muschel. Fluchend setztest du dich in den Sand und nahmst deinen Fuß in beide Hände. Ich reichte dir meine Wasserflasche. Während du dich notdürftig verarztetest, fragtest du unvermittelt: »Was sagt denn dein Gefühl?«

»Dem traue ich schon lange nicht mehr«, schnippte ich altklug zurück.

»Du bist doof«, sagtest du lachend. Du beugtest dich vor und küsstest mich auf den Mund, bis ich die Augen schloss und hinter meinen Lidern nichts als violette Rosen blühen sah. »Du weißt doch, dass es mir ernst ist mit dir?«, fragtest du in die Stille der Umarmung hinein, bevor wir gemächlich den Rückweg zum Hotel antraten. Du stütztest dich auf meine Schulter, das Knie angehoben, damit kein Sand deine Wunde am Fuß beschmutzte. Deine Frage ließ ich unbeantwortet, weil ich tatsächlich nicht genau wusste, ob du es ernst meintest mit uns. Ein stumpfes Bauchgefühl redete mir ein – vielleicht unbegründet –, du wärest wie ein verschlagener Schmetterling: von Blüte zu Blüte fliegend, in der Luft zu Hause, wendig und nicht fangbar. Ich glaubte, ich dürfe dich nur bewundern, aber nicht anfassen.

Wir versuchten uns regelmäßig zu sehen. Die Entfernung machte diese Begegnungen kostspielig. Wir wurden zu wahren Organisationstalenten, waren bald Experten darin, die schnellsten und preiswertesten Flugverbindungen zu finden. Sahen wir uns, vergaßen wir die Welt um uns herum. Blick in Blick ruhten wir schweigend nebeneinander, Hände und Beine ineinander verschlungen, und obwohl wir lächelten und miteinander lachten, wohnte diesen Augenblicken meist eine ins Melancholische kippende Ernsthaftigkeit inne, der wir nachspürten. Wir konstatierten, dass wir den Kulturschock unterschätzt hatten, weil unsere Kommunikation der vorhandenen Sprachbarriere trotzte und gut funktionierte. Mit fantasievollen Wortspielchen in der jeweils fremden Sprache brachten wir uns gegenseitig zum Schmunzeln. Mein Spanisch war besser als dein Englisch, dein Französisch dafür besser als meins (was du allerdings herunterspieltest, indem du mir periodisch Vokabelfragen stelltest), dein Deutsch praktisch nicht existent und unser beider Italienisch in etwa auf Gleichstand; im Normalfall mischten wir fünf Sprachen in einem Cocktailshaker und probierten dann, wie uns das Resultat schmeckte.

»Nimm lieber keinen Deutschen«, hörte ich mich frühzeitig warnen. »Wir kommen aus einem besiegten und geschlagenen Land, das auch drei Generationen danach noch traumatisiert ist. Wir deutschen Männer versuchen immer noch, den verlorenen Krieg im Schlafzimmer nachträglich zu gewinnen.«

In unseren Plaudereien holten wir uns immer wieder Paris zurück, den Abend, an dem wir uns zum ersten Mal gegenübergestanden hatten, mein Geburtstag, Wendepunkt des Jahres, Ende und Beginn. Es war kein Donnerschlag, sondern vielmehr ein samtig-ruhig angeflauschtes Erkennen. Im ersten Dreivierteljahr unseres Sichkennens waren diese Unterhaltungen gleichsam das Vorspiel. »Me hubiera encantado follarte la primera noche.« (»Am liebsten hätte ich dich schon in der ersten Nacht gefickt.«) Und dann lagen wir beisammen und betrachteten unsere Silhouetten im Widerschein des Lichts. Es schien mir, als sei dein Schatten an der Wand in seiner Vollkommenheit unerreichbar. Warst du eingeschlafen, strich ich mit dem Schatten meiner Hand über deine reglose Silhouette an der Wand. Er berührte deine Haut nicht und doch versank meine Hand in deinem Schatten und wir wurden eins. Manchmal überkam mich der Wunsch, deinen schlafenden Schatten zu nehmen, zu schütteln, ihn in die Luft zu werfen und beidhändig zu fangen. »Schätzchen«, flüstertest du in der Zwischenwelt des Halbschlafs. Der spanische Akzent entstellte das Wort in niedlichster Weise, das Lispeln machte aus ihm ein »Zäzzjen«. Dann hobst du leicht das Bein, um mich mit deiner Wade sanft an dich heranzuziehen und zu umschlingen.

Beim Frühstück lasen wir uns gegenseitig aus »Darkness Visible« vor; William Styron beschrieb darin seinen Absturz in die Depression. Anschließend reflektierten wir bei einer Kanne Tee das Gelesene und unvermittelt fragtest du: »Bist du mein Freund?«

»Selbstverständlich bin ich dein Freund.« Ich feixte.

»Nein, ich meine mein Freund, mi amante, mi compañero.«