ZWEI SCHÜSSE UNTERM NEUMOND - GRIESSBÜHLS ERSTER FALL - Werner Steinberg - E-Book

ZWEI SCHÜSSE UNTERM NEUMOND - GRIESSBÜHLS ERSTER FALL E-Book

Werner Steinberg

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Wie Spürhunde verfolgen Hauptkommissar Griessbühl und sein Team jede Fährte, und immer wieder stehen sie vor unüberwindlich scheinenden Mauern... In einer Neumondnacht im Juli 1985 war auf der vornehmen Münchner Hochleite in einem blauen Opel die Leiche des 52jährigen Angestellten Erwin Schäufele gefunden worden - einen Schuss im Kopf und einen in der Brust. Im Laufe der Ermittlungen stoßen die Kriminalisten auf ein weiteres Verbrechen: In der Münchner Zentrale des renommierten Unternehmens Internationaler Wasserverbund war ein Computer manipuliert worden; es fehlen 964.000 DM. Wer ist der Täter? Unzähligen Verdachtsmomenten muss nachgegangen werden, Akten schwellen an, die Presse mischt sich in den Fall ein... Werner Steinberg (* 18. April 1913 in Neurode, Schlesien; † 25. April 1992 in Dessau) war ein deutscher Schriftsteller, der auch unter den Pseudonymen Udo Grebniets und Udo Grebnitz publizierte. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe von Steinbergs München-Krimi Zwei Schüsse unterm Neumond (erstmals im Jahre 1988 erschienen). Weitere Romane um Hauptkommissar Griessbühl folgen.

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Ähnliche


 

 

 

 

WERNER STEINBERG

 

 

Zwei Schüsse

unterm Neumond

Griessbühls erster Fall

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ZWEI SCHÜSSE UNTERM NEUMOND 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Wie Spürhunde verfolgen Hauptkommissar Griessbühl und sein Team jede Fährte, und immer wieder stehen sie vor unüberwindlich scheinenden Mauern...

In einer Neumondnacht im Juli 1985 war auf der vornehmen Münchner Hochleite in einem blauen Opel die Leiche des 52jährigen Angestellten Erwin Schäufele gefunden worden - einen Schuss im Kopf und einen in der Brust.

Im Laufe der Ermittlungen stoßen die Kriminalisten auf ein weiteres Verbrechen: In der Münchner Zentrale des renommierten Unternehmens Internationaler Wasserverbund war ein Computer manipuliert worden; es fehlen 964.000 DM.

Wer ist der Täter? Unzähligen Verdachtsmomenten muss nachgegangen werden, Akten schwellen an, die Presse mischt sich in den Fall ein...

 

Werner Steinberg (* 18. April 1913 in Neurode, Schlesien; † 25. April 1992 in Dessau) war ein deutscher Schriftsteller, der auch unter den Pseudonymen Udo Grebniets und Udo Grebnitz publizierte.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe von Steinbergs München-Krimi Zwei Schüsse unterm Neumond (erstmals im Jahre 1988 erschienen). Weitere Romane um Hauptkommissar Griessbühl folgen.

 ZWEI SCHÜSSE UNTERM NEUMOND

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Triumphierend dachte Andreas, diese Nacht wäre für seinen Plan wie geschaffen gewesen. Nach diesen scheußlichen, regennassen Julitagen war es plötzlich herrlich sonnenwarm geworden, und an diesem Samstag war außerdem Neumond, in der Isar-Aue konnte man kaum die Hand vor den Augen sehen. Als er Nadine zu einem Spaziergang über den Harlachinger Berg und dann die Hochleite hinunter hatte überreden können, hatte er gewusst, dass es in dieser Nacht passieren würde – und es war passiert!

Es war mit Nadine verdammt schwierig gewesen wie mit keinem Mädchen vorher. Die himmelten ihn an, die waren rasch einverstanden gewesen, manchmal hatte er sie gleich nach der ersten Begegnung auf seine Bude mitnehmen können, die waren nicht zimperlich gewesen und hatten sich nicht geziert. Er mit seinen vierundzwanzig Jahren hatte Erfahrung, und er wusste, dass er gut aussah – die kräftige Gestalt, das freimütige, offene Gesicht, die lachenden blauen Augen, ein ganzer Kerl, ein Draufgänger, ein Stuntman geradezu, ihm konnten sie nicht widerstehen.

Nadine indessen hatte ihm widerstanden. Als er sie aus der Diskothek hatte abschleppen wollen, hatte sie sich geweigert: Nein, auf seine Bude käme sie nicht mit, auf gar keinen Fall. Und zu ihr könne er auch nicht kommen, sie wohne bei ihren Eltern, sei ja noch Schülerin.

In der ersten Enttäuschung hatte er aufgeben wollen: Was bildete sie sich ein? Eine Schönheit war sie weiß Gott nicht, klein und rundlich und mit käsiger Haut. Die sollte doch froh sein, wenn er sie überhaupt beachtete.

Aber an einem anderen Abend hatte sie ihm gestanden, warum sie sich wehrte: Eine Liebelei wolle sie nicht, es müsse schon etwas Ernsthaftes sein, man müsse sich richtig verstehen, man müsse sich prüfen.

Sich prüfen! Am liebsten hätte er laut herausgelacht. Doch dann hatte es ihn gestochen: Eine Jungfrau! So etwas hatte er noch nie erlebt. Deshalb hatte er sie weiter umworben, hatte ihr geschmeichelt, ihr Zärtlichkeiten zugeflüstert und gespürt, wie es allmählich in ihr zu brennen begann. Es musste nur eine geeignete Gelegenheit kommen.

Und diese mondlose Nacht war diese Gelegenheit gewesen. Sie waren vom Harlachinger Berg, der nicht viel mehr als ein Hügel war, Hand in Hand hinuntergerannt, waren engumschlungen die Hochleite entlanggegangen, an den modernen Wohnanlagen vorbei, und später an den in tiefen Gärten versteckten Villen. Hier wohnen nur Millionäre!, hatte er gesagt. Sie waren oft stehengeblieben, um sich zu küssen, und Nadine hatte sich so an ihn gepresst, dass er seine Hand zwischen ihre Schenkel zu schieben gewagt hatte, und obwohl sie sich ihm entzogen hatte, hätte er da bereits gewusst, dass es ihm heute gelingen würde.

Auf dem unbebauten Teil der Hochleite, stadtauswärts, wo sie sich zu einem Weg zwischen Bäumen hindurch verdünnte, hatte er bereits überlegt, ob er sie unter den runden Holzpilz auf die Bank drängen sollte; das hatte er jedoch aufgegeben; es- war zu nahe am Weg gewesen, das hätte nur ihren Widerstand angestachelt.

Endlich hatte er einen von Sträuchern geschützten Platz zur Isar hinunter entdeckt, ein richtiges Nest; da war sie nicht mehr widerspenstig gewesen. Er hatte eine Sensation erwartet gehabt, das Erlebnis wurde jedoch keine Sensation, Nadine war willig gewesen, aber ungeschickt und zaghaft, und nachdem alles vorbeigewesen war, war ihr rundliches Gesicht tränenüberströmt gewesen.

Auch jetzt fand er es lästig, wie sie schwer an seinem Arm hing, und er wusste nicht, was er auf ihr verlangendes Flüstern Schwöre mir, Andi, dass wir zusammenbleiben, dass du mir treu bleibst erwidern sollte. Er brummte Unverständliches zur Beruhigung und dachte, dass er sie in drei, vier Monaten würde los sein wollen; er hatte schon einen Kumpel parat, der ihn ablösen würde, er würde es nur geschickt anfangen müssen.

Plötzlich blieb er stehen und flüsterte erregt: »Das ist ein Verrückter!«

Nadine sah es ebenfalls: Dicht am Bürgersteig, noch schwach beleuchtet von einer Laterne, parkte ein hellblauer Wagen kurz vor einer Garageneinfahrt zwischen zwei klotzigen, hochmodernen Häusern, die Beifahrertür war aufgeklappt und pendelte auf den Fußweg.

»Komm rasch vorbei!«

Doch Andreas rührte sich nicht. »Der ist total besoffen«, flüsterte er, »der hängt auf dem Sitz und kann nicht mal aussteigen. Der ist so duhn, dass er die Einbahnstraße verkehrt herum gefahren ist.«

»Komm endlich! Ich muss nach Hause!«

»Sollst du auch, und zwar schnell!«, entschied Andreas; ihn übermannte Unternehmungslust. »Der ist blau wie ein Veilchen, den stopfe ich auf den Sitz zurück, setze mich ans Steuer und fahre dich heim.«

»Du bist verrückt, Andi!«

Da war er bereits am Wagen und packte den rechten Arm des Mannes, der weit aus dem Schlag hing, die Finger berührten den Bürgersteig.

Nadine sah, wie Andreas nach der Schulter griff, sah, wie der Kopf des Fremden haltlos baumelte, sah, wie Andi plötzlich zurückschreckte, sie anstarrte und hervorstieß: »Der ist ja blutig! Menschenskind, Nadine, der ist tot!«

 

Hauptkommissar Griessbühl räkelte sich behaglich; der Korbsessel auf der Terrasse hinter dem Häuschen knarrte anheimelnd. Auf dem runden Tischchen an Griessbühls Seite stand eine Tasse übersüßen Kaffees, wie er ihn liebte. Mit Genuss atmete er den Duft des Gartens ein, der noch feucht war von den Regengüssen vergangener Tage.

Griessbühl wartete auf seine Judith. Er würde sicher noch ein, zwei Stunden warten müssen; denn seit sie hier am Rande von Gröbenzell nahe München ihr Einfamilienhaus erbaut hatten, hatte sie sich, von ihm verspottet, mit den Grünen angefreundet und war Mitglied einer Bürgerinitiative zum Schutz der bedrohten Tier- und Pflanzenwelt geworden. Heute beschlossen sie dort wieder neue »Anschläge auf die Gemütlichkeit der Anwohner«, wie Griessbühl es anzüglich bezeichnete, wenn er und Judith sich freundschaftlich stritten. Griessbühl nahm noch einen Schluck seines süßen Kaffees und lächelte vor sich hin: Er liebte sie, und er würde sie immer lieben!

Und sie war zudem eine verdammt tüchtige und zielbewusste Frau, so bizarr sie sich manchmal auch gab. Eigentlich hatten sie dieses Haus, diesen Garten nur einem ihrer plötzlichen Einfälle zu verdanken. Sehr allmählich erst wurde ihm dieser Gedanke vertraut. Bei dem preisgünstigen Baugelände in Gröbenzell hatte er schließlich zugeschlagen – kleinstädtische Stille und nur vierzig Autominuten vom Polizeipräsidium in München entfernt, glücklicher konnte es kaum sein.

Und seine Befürchtung, Judith könnte zu einer grünen Witwe verkommen, war ebenfalls unberechtigt gewesen. Schon drei Wochen nach dem Einzug hatte sie einen Halbtags-Job in der Geschenkboutique in der Augsburger Straße gefunden, und da sie dadurch nicht ausgelastet gewesen war, hatte sie für sich ein neues Hobby entdeckt. Sie band Sträuße und Kränze aller Art aus Trockenblumen, sie hatte Geschmack, sie hatte Geschick, sie verkaufte die Gebinde in der Boutique und bald auch als Schaufensterdekorationen an andere Geschäfte.

Griessbühl schob sich gemächlich aus dem Sessel. Er richtete in der Küche das Abendbrot an und wählte einen Riesling, den Judith gern mochte.

Er war gerade fertig, als er hörte, wie sie die Haustür aufschloss. In derselben Sekunde schoss Charlie, der Beagle, aus der Kuhle unter einem Strauch im Garten hervor und schoss quer durch das Haus zu Judith hin, die den kleinen, dreifarbigen Hund mit Worten und Händen liebkoste.

Auch Charlie liebt sie, dachte Griessbühl und sagte: »Ich komme wohl immer erst in zweiter Linie.«

»Dafür darfst du in mein Bett. Das darf Charlie nicht!«

»Stimmt auch wieder. Judith, wir essen auf der Terrasse. Bringe Charlie in ihr Körbchen im Wohnzimmer, sonst haben wir keine Ruhe.«

Das traf zu. Charlie war zwar ein freundliches Tierchen, doch ihre Fresslust war ungeheuer – unvorstellbar, einen Bissen in den Mund zu schieben angesichts ihrer gierig flehenden Augen. Charlie war das einzige Andenken an den alten Kommissar Groll, der Griessbühls Vorbild gewesen war. Er war einsam gestorben. Nur der Hauptkommissar hatte seinen Sarg begleitet; im Präsidium hatte man sich im Datum geirrt, also war nicht einmal eine Abordnung der Kollegen erschienen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Nun, ihm würde es nicht so ergehen. Er hatte Judith.

»Lecker, lecker«, lobte sie sein Essen und ließ es sich schmecken.

Sie stießen mit den Gläsern an, und Judith schwärmte von dem Referenten, natürlich war er ein Grüner, das nächste Mal würde sie die Grünen wählen, Griessbühl zum Trotz. »Der weiß, wovon er redet, der macht sich Gedanken um die Zukunft!«

»Vielleicht würde er die Zukunft nicht erleben, würde erschossen, erstochen, erschlagen werden, wenn nicht wir für Ordnung sorgten«, erwiderte Griessbühl träge.

»Ach du! Im Grunde bist du nur ein besserer Hundefänger!«

»Mag sein. Aber ich fange nur Hunde, die beißen.«

Die Zeit verging. Charlie schlummerte neben Judiths Sessel. Die leuchtenden Blüten des Gartens erloschen. Judith hatte Wildblumensamen mit Kräutern ausgesät, ein Biotop war entstanden, hüfthoch standen dazwischen die schwankenden Gräser. Jetzt füllte sich der Garten mit Dunkel – Neumondnacht. Sie schwiegen und plänkelten nicht mehr. Griessbühl spürte, dass Judith bereit war, ihn diese Nacht zu lieben.

»Gehen wir schlafen«, sagte er.

»Schlafen?«, fragte sie.

In diesem Augenblick läutete das Telefon.

Als Griessbühl aus dem Zimmer zurückkam, sagte er grimmig und enttäuscht: »Dein Hundefänger wird auf der Hochleite verlangt. Wieder mal ein Mörder, der das Liebesieben der Menschen zerstört!«

Als Griessbühl in die Hochleite einbog, erkannte er sofort den Tatort. Scheinwerfer beleuchteten grell die Stelle des Geschehens, drei Polizeifahrzeuge parkten in der Nähe, die Spurensicherer waren am Werk, der Fotograf hatte offensichtlich bereits seine Arbeit getan; er stand mit dem Apparat untätig an der Seite, die Täfelchen mit den Zahlen waren noch aufgestellt – vermutlich wartete er ab, ob der Hauptkommissar noch weitere Aufnahmen wünschte; die Leiche lag auf dem Bürgersteig, das Laken daneben, der Arzt untersuchte den Toten.

Griessbühl fuhr vorsichtig an dem hellblauen Opel vorbei, dabei bemerkte er eine Schramme an der Fahrertür und dachte: Ein alter Kasten. Er bremste und stieg aus, da eilte bereits Kommissar Brachwedel diensteifrig zu ihm hin.

Bevor er jedoch melden konnte, fragte ihn Griessbühl vorwurfsvoll: »Mussten Sie mich dazu aus dem Bett holen? Das stinkt doch nach Routine.«

»Gewiss«, gab Brachwedel bereitwillig zu, fuhr aber fort: »Es könnten sich trotzdem Komplikationen einstellen, und Sie haben ausdrücklich angeordnet...«

Griessbühl seufzte stumm. Früher hatte es ihn gestört, wenn Brachwedel nur zu schnell bereit gewesen war, ihm beizupflichten; seit einiger Zeit hatte sich der Kommissar jedoch angewöhnt, mit seiner nölenden Stimme halbe Vorwürfe anzuhängen; er vermutete, dass negative Beurteilungen des Hauptkommissars bisher seine Beförderung verhindert hätten, eine Unterstellung, die aller Grundlagen entbehrte, denn Griessbühl war ein wohlwollender und großzügiger Vorgesetzter.

Jetzt seufzte der Hauptkommissar laut. Er ärgerte sich über die sinnlose Diskussion, die er mit seinem unnötigen Vorwurf selbst provoziert hatte. Er fragte: »Haben Sie die Identität des Toten feststellen können?«

»Jawohl«, antwortete Brachwedel, »ein gewisser Erwin Schaufele, zweiundfünfzig, wohnhaft Höglwörther Straße.« Eifrig fügte er hinzu: »Er ist kaufmännischer Angestellter, und das war es, was mich stutzig gemacht hat. Wer kann schon Gründe gehabt haben, einen kleinen Angestellten so barbarisch zu erschießen?«

»Schon gut. Er ist also erschossen worden?«

»Ja. Auf dem Beifahrersitz des Wagens. Zwei Schüsse, einer in den Kopf, der andere in die Brust.«

»Tatzeugen?«

»Bisher nicht. Gemeldet wurde der Mord um 23 Uhr 56 telefonisch im Präsidium. Der Tote wurde von einem gewissen Andreas Holzegel und seiner Freundin entdeckt.«

»Die beiden möchte ich sprechen.«

Doch bevor er dazu kam, hatte der Arzt seine Untersuchung beendet und deckte das Laken wieder über die Leiche.

Mit wenigen Schritten war der Hauptkommissar neben ihm. »Guten Abend, Doktor Mennecke. Und jetzt kommt die Frage, die Ihnen immer zuerst gestellt wird.«

Der Arzt lächelte müde. »Tatzeit? Ich schätze, vor zwei bis drei Stunden. Aber wie üblich...«

»Mit Vorbehalt. Selbstverständlich. Wir haben jetzt ein Uhr, also müsste die Tat gestern zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig begangen worden sein. Ist das richtig?«

»Ja, etwa. Nach der Obduktion kann ich das genauer bestimmen.«

»Und zur Todesursache?«

»Der Schuss in den Kopf war sofort tödlich. Ob er als erster abgefeuert wurde oder erst nach dem Schuss in die Brust, das wird ebenfalls erst die Obduktion ergeben.«

»Selbstmord ausgeschlossen?«

»Völlig. Nach den Schmauchspuren zu urteilen, sind die Schüsse aus der Nähe abgegeben worden.«

»Danke, Doktor. Sie sind erlöst.«

Der Arzt wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal um: »Übrigens wurde das Blut auffällig verschmiert übers ganze Genick bis auf den Rücken.«

»Ach ja!«

Griessbühl ging zu Brachwedel, der ihn bereits ungeduldig erwartete und Andreas und Nadine herbeiwinkte.

»Sie beide«, begann der Hauptkommissar, »haben den Toten entdeckt. Nun erzählen Sie mal, wie es dazu gekommen ist.«

Mit dem Heldentum des jungen Mannes war es vorbei. Er berichtete stockend, er unterschlug, was sich zwischen ihm und Nadine in dem Nest an der Isar zugetragen hatte, unterschlug auch seinen dreisten Plan, die Freundin mit dem Wagen nach Hause fahren zu wollen.

Griessbühl musterte die beiden. Ihm fiel es nicht schwer, zu erkennen, warum sie die Stille der Hochleite aufgesucht hatten. Die Kleine tat ihm leid – als Andreas erzählte, wie die Leiche auf die Seite gesackt sei, weinte sie wieder.

»Sie dachten also«, vergewisserte sich Griessbühl, »der Mann sei betrunken?«

»Ja«, bestätigte Andreas, »auch weil der Wagen falsch in der Einbahnstraße stand. So fährt doch nur ein Besoffener.«

»Haben Sie den Toten berührt?«

»An der Schulter. Da hatte ich gleich die Hand voll Blut und bin erschrocken.« Er hielt sie vor sich hin und starrte darauf, als hätte er sie nicht längst abgewischt.

»Haben Sie versucht zu helfen? Dachten Sie vielleicht, er sei nur verletzt? Haben Sie dabei das Blut verschmiert?«

»Nein, nein. Er rührte sich ja nicht mehr, und ich merkte auch, dass er nicht atmete.«

»Na schön. Und da riefen Sie die Polizei an?«

»Das war Nadine. Die hatte Angst, die wollte nicht alleine beim Wagen bleiben.«

Griessbühl wandte sich an das Mädchen, das in der Erinnerung schon wieder schluchzte. »Von wo aus, haben Sie telefoniert?«

Sie wies auf eine der Villen. Jetzt waren, sah Griessbühl, dort alle Fenster dunkel, das waren keine neugierigen Anwohner.

»Wurde Ihnen gleich geöffnet?«

»Das dauerte ewig. Und dann war die Frau auch noch wütend, ich sollte sie nicht stören mitten in der Nacht...«

Griessbühl fragte den jungen Mann: »Noch eins. Wann etwa sind Sie auf der Hochleite eingetroffen? Ich meine, bevor Sie weiter an die Isar gingen?«

Andreas krauste angestrengt die Stirn. »Vielleicht so um zehn? Genau weiß ich das nicht.«

»Stand da der Opel schon hier?«

»Keine Ahnung, ich hab’ nicht darauf geachtet.« Er fragte das Mädchen: »Du, Nadine?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und Sie gingen gleich an die Isar weiter? Dann müssten Sie sich dort, warten Sie mal, ungefähr zwei Stunden aufgehalten haben. Stimmt das?«

Andreas hob erst die Schultern, dann nickte er.

»Und als Sie dort waren – haben Sie da einen Schuss gehört? Oder sonst etwas Verdächtiges, ein Autogeräusch vielleicht?«

»Nein, nichts. Das wäre mir aufgefallen. Es war totenstill!« Er erschrak sichtlich vor seinem eigenen Ausdruck.

»Und Sie, Nadine?«

»Bestimmt nicht.«

Mehr würde er jetzt von den beiden jungen Leuten nicht erfahren, wusste Griessbühl. Er sagte: »Ich habe keine Fragen mehr. Im Präsidium möchte ich Sie allerdings noch einmal sprechen. Sie werden benachrichtigt.«

Andreas hatte es eilig, hier wegzukommen; ungeduldig fasste er Nadines Arm. Aber sie blieb stehen und sah Griessbühl flehend an: »Könnten Sie mir vielleicht einen Zettel mitgeben...?«

»Einen Zettel nicht«, der Hauptkommissar lächelte verständnisvoll, »aber unser Polizeimeister Minnich wird Sie heimfahren und wenn nötig erklären, dass wir Sie hier so lange aufgehalten haben. Ist es so recht?«

Ihr Gesicht war tränenverschmiert, aber sie strahlte vor Dankbarkeit und blickte noch über die Schulter zurück, als sie mit Andreas in Begleitung Brachwedels verschwand.

Griessbühl musterte noch einmal den Tatort. Kommissar Schmorl war da am Werk, sprach mit diesem und jenem, gab der Spurensicherung Anweisung, machte Notizen, musterte mögliche Beweisstücke – trug also, wie er es stets zu tun pflegte, Mosaiksteinchen zusammen, die er in stundenlanger mühevoller Kleinarbeit im Präsidium geduldig zu einem lückenlosen Bild zusammenzufügen versuchen würde. Er verließ sich ausschließlich auf Fakten – Vermutungen, plötzliche Einfälle waren nicht seine Sache. Seine Akribie wurde von Griessbühl geschätzt, sie ersparte ihm eigene Mühe, auf das Material Schmorls konnte er sich verlassen.

Trotzdem empfand er eine ihm selbst unerklärliche Abneigung gegenüber dem jungen Kommissar, sie war instinktiv, er konnte sie sich nicht erklären. War es das Äußere dieses langaufgeschossenen, geradezu dünnen Menschen mit dem blassen, schmalen Gesicht, den farblosen Brauen, dem kaum sich abzeichnenden Oberlippenbärtchen, war es die gleichsam achselzuckende Gleichmütigkeit, die er stets zur Schau trug – oder war es der völlige Mangel an spontanen Eingebungen, wie sie den alten Groll ausgezeichnet hatten? Geistesblitze waren nicht Schmorls Sache – passten seine Mosaiksteinchen nicht zueinander, ergaben sich weiße Flecken, war er völlig hilflos, regte sich aber auch darüber nicht auf.

Schmorl blickte auf, als Griessbühl zu ihm trat. Er sagte: »Ob der Mord hier erfolgte oder ob die Leiche nur an diese Stelle transportiert wurde, das ist unklar. Morgen sollte man, sobald es hell ist, die ganze Umgebung gründlich absuchen lassen, vielleicht auch einen Hundeführer einsetzen, möglicherweise entdecken wir dann Spuren. Außerdem müssen die Anwohner eindringlich befragt werden...«

Griessbühl ließ ihn nicht ausreden. »Jetzt?«, fragte er.

»Natürlich. Solange der Eindruck noch frisch ist.«

»Das lassen wir lieber«, entschied der Kommissar. »Wissen Sie, dass es fast zwei Uhr ist? Die Leute wollen ungestört schlafen. Wenn Sie die jetzt aufstören, sind die nur wütend, und Sie kriegen keinerlei sachdienliche Hinweise. Nein, das vertagen wir auf morgen Vormittag. Dann lassen Sie zwei ruhige verlässliche Leute die Befragung durchführen. Viel verspreche ich mir davon sowieso nicht. Möglicherweise hat jemand die Schüsse gehört, dann könnten wir einen genaueren Zeitpunkt festlegen. Mehr wird dabei kaum herauskommen. Sind übrigens die Kugeln gefunden worden?«

»Eine steckte im Fahrersitz, die andere wird wohl bei der Autopsie entdeckt werden, schätze ich.«

»Gut. Und die Hülsen?«

»Nein«, erwiderte Schmorl, »aber ich lasse weiter suchen.«

»Tun Sie das«, sagte Griessbühl, der nicht die Absicht hatte, sich Schmorls Erläuterungen länger anzuhören, denn in diesem Augenblick erschien der Leichenwagen, der Blechsarg wurde herausgezogen, das Laken von dem Toten gehoben... ein Anblick, an den Griessbühl gewöhnt war und der ihn trotzdem immer wieder irritierte.

»Ich werde die Angehörigen aufsuchen«, entschloss er sich, »ich nehme Brachwedel mit. Wie hieß doch der Mann?«

»Schäufele, Erwin.«

 

Griessbühl überließ Brachwedel das Steuer, er wollte sich innerlich einstellen auf das, was ihm bevorstand. Zweiundfünfzig war Schäufele gewesen, vermutlich verheiratet, möglicherweise waren noch Kinder im Haus. Wenn es nur gelang, sie zunächst fernzuhalten, zu erreichen, dass die Frau den Schock einigermaßen überstand! Ein Schock würde es auf jeden Fall sein, gleichgültig, ob die beiden mehr oder weniger gut miteinander gelebt hatten. Griessbühl kannte sich da aus.

Der Wagen glitt mit leisem Rumpelgeräusch über die hölzerne Thalkirchner Isar-Brücke, glitt leise in die Straße entlang dem Tierpark hinein, die hohen Bäume standen als schwarze Mauer unter dem tiefdunklen Himmel. Nur selten begegneten sie einem Wagen, die Stadt schlief, auch die Plinganser Straße, tagsüber vollgepfropft mit stinkendem Verkehr, war verödet, die Lichter der Verkehrsampeln regelten das Nichts.

Er würde die Botschaft nicht hinauszögern, nicht umständlich vorbereiten, dachte Griessbühl. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass die Ängste sich sonst steigerten bis zum Unerträglichen.

Wie stets fürchtete sich Griessbühl vor dieser Aufgabe. Er hatte hysterische Ausbrüche erlebt, hatte Erstarren kennengelernt. Wenn es ihm heute nur gelänge, die richtigen Worte, die richtigen Gesten zu finden!

Als sie in die Höglwörther Straße einbogen, sah Griessbühl nur in einem einzigen Haus zwei erhellte Fenster; da wusste er: Dort musste es sein. Er atmete tief auf.

Entschlossen stieg er, von Brachwedel begleitet, die wenigen Stufen zur Haustür hinauf – bringen wir es hinter uns! Er läutete und hörte gleich darauf eilige Schritte und den hellen, erlösten Ruf einer Frau: »Endlich, Erwin!«, und während die Tür aufgeschlossen wurde: »Wieso hat es denn so ewig gedauert?! Ich habe schon Angst gehabt!«

Jetzt stand die Tür offen. Die Frau stutzte, musterte sekundenlang die beiden Besucher, stieß dann verstört hervor, als überkomme sie eine Ahnung von Unheil: »Mein Gott, was wollen Sie denn?«

»Kriminalpolizei«, erwiderte Griessbühl kurz, »dürfen wir eintreten?«

Sie gab den Eingang frei, ging voraus in das Wohnzimmer, blieb stehen, fand keine Worte, blickte die beiden Fremden in banger Befürchtung an.

»Frau Schäufele?«, fragte der Hauptkommissar.

Sie nickte.

Griessbühl graute vor dem Satz, aber er war entschlossen, ihn auszusprechen: »Wir kommen, um Sie zu benachrichtigen, dass Ihr Mann gestorben ist.«

Es überraschte Griessbühl, dass sie nichts äußerte, dass sie keine Frage stellte. Sie schrie nicht auf, sie ließ sich auf einen Stuhl am Tisch sinken, stützte die Arme auf die Platte, barg das Gesicht in den Händen und weinte lautlos. Diese stumme Pein traf Griessbühl umso tiefer, er war ratlos, was er tun, was er sagen sollte.

Nach geraumer Zeit nahm sie die Hände von dem Gesicht, blickte sich suchend um, schüttelte den Kopf, als verstehe sie nichts, nahm ihr Taschentuch und wischte die Tränen ab. Immer noch blieb sie stumm.

Griessbühl hielt den Zeitpunkt für gekommen, keine Umschweife mehr zu machen. In sachlichem Ton sagte er: »Wir haben seinen Wagen auf der Hochleite gefunden. Ihr Mann ist erschossen worden.«

Jetzt fürchtete er einen Zusammenbruch. Er irrte.

Sie starrte ihn an, sie schwieg, er sah, dass es in ihr arbeitete. Plötzlich stieß sie hervor: »Das war der Roth. Der hasste ihn. Der hat ihn ja auch entlassen. Und zudem ist Erwin heute hin, der Roth sollte die Entlassung zurücknehmen. Wer weiß, was mein Mann da ausgepackt hat. Er war ja außer sich, alles war ihm zerstört worden, alle unsere Hoffnungen, und er wusste, er würde keine neue Stellung bekommen.«

»Wer ist denn der Roth?«, fragte Griessbühl behutsam.

»Das ist der Subdirektor im IWY, in der Münchner Zentrale. Dem hat mein Mann unterstanden, er war ja so tüchtig, so zuverlässig.« Endlich löste sich ihre Versteinerung, sie schluchzte.

Griessbühl wartete einige Sekunden, dann trat er zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter: »Wenn es wirklich der Roth war, Frau Schäufele, dann greifen wir ihn uns noch heute Nacht.« Er ahnte, dass ein solches Versprechen der beste Trost wäre.

Tatsächlich verstummte das Schluchzen. Sie sah auf.

»Das verspreche ich Ihnen«, bekräftigte Griessbühl. »Nur müssen Sie mir noch einiges erklären. Ihr Mann wollte Roth also umstimmen und ist deshalb zu ihm hingefahren. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Und wo wohnt Roth?«

»Hochleite.«

Griessbühl streifte mit flüchtigem Blick Brachwedel, der ihm zunickte. »Und um welche Zeit ist das gewesen?«

»Sehr spät. Ich sagte noch: Fahre lieber morgen. Da ist der bestimmt zu Hause, ist ja dann Sonntag. Und es war schon nach neun, genau weiß ich es nicht. Ich sagte: Jetzt fühlt der sich nur gestört, da erreichst du gar nichts. Aber er ließ sich nicht abbringen. Und mein Mann war so aufgeregt, so außer sich, ich wollte verhindern, dass er in diesem Zustand den Roth zur Rechenschaft zieht, ich meinte, da könnte nichts Gutes dabei herauskommen, und ich dachte, morgen hätte er sich wieder beruhigt.«

»Und warum war denn Ihr Mann gerade jetzt so außer sich?

Er hat doch sicher nicht erst gestern erfahren, dass er entlassen wird.«

»Das hat monatelang in ihm gekocht. Es wurde immer schlimmer. Mit mir hat er kaum noch gesprochen. Ach, ich hatte Angst um ihn. Und wenn ich versucht habe, ihm zuzureden, ihm klarzumachen, dass wir über die Runden kommen würden und dass wir doch hier in dem Reihenhaus hübsch wohnen mit dem schönen Südpark direkt vor der Haustür, da hat er mich so angesehen, dass ich Angst bekommen habe. Ich dachte, der kommt noch um den Verstand, wenn es so weitergeht.«

Griessbühl glaubte nicht, dass er jetzt mehr erfahren würde. Er sagte: »Frau Schäufele, mein Kollege Brachwedel wird Sie gegen acht abholen, damit Sie Ihren Mann identifizieren.« Er vermied das schockierende Wort »Leichenschauhaus«. »Es ist Vorschrift, leider nicht zu umgehen.«

Er sah auf die Uhr. »Darf ich Ihr Telefon benutzen? Ich möchte Roth anrufen, wer weiß, ob uns sonst die Tür geöffnet würde.« Er bemerkte, dass Brachwedel warnend die Augenbrauen hochzog, und wehrte ab: »Mir klar, dass er dadurch gewarnt ist. Das lässt sich nicht ändern.«

Im Telefonbuch gab es viele Roths, es dauerte lange, bis er die richtige Nummer gefunden hatte. Er wählte und musste warten. Endlich meldete sich Roth, seine Stimme klang verschlafen und ärgerlich.

Brachwedel reimte sich aus Griessbühls kurzen Sätzen den Gang des Gesprächs zusammen. »Hier Kriminalhauptkommissar Griessbühl, Mordkommission. Entschuldigen Sie bitte den späten Anruf...«

»Ich weiß, wie sehr ich störe, aber...«

»Es handelt sich um einen gewissen Schäufele.«

Nun trat eine längere Pause ein, offenbar gab Roth eine Erklärung ab.

»Ja, das ist mir bekannt. Es geht nicht um die Entlassung, sondern darum, dass Schäufele ermordet wurde.«

»Ja, ermordet, Sie haben richtig verstanden.«

»Was Sie damit zu tun haben? Nun, er hat Sie abends aufgesucht, möglicherweise sind Sie der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.«

»Gut, wir werden nicht läuten, damit Ihre Frau nicht gestört wird. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Bereitwilligkeit.«

Griessbühl legte auf. Er warf einen besorgten Blick auf Frau Schäufele, aber sie schien so gefasst, dass er darauf verzichtete, einen Arzt herbeizurufen.

Er wandte sich an Brachwedel: »Fahren wir!«

Wieder glitten sie durch die menschenleere Stadt. Den Kommissar drängte es, Griessbühl Fragen zu stellen, aber er unterließ es – der Hauptkommissar saß mit verschlossenem Gesicht da, er schien zu grübeln. Erst als sie am Tierpark angelangt waren, blickte er Brachwedel an: »Wir werden sehr behutsam Vorgehen! Wir dürfen den Mann nicht verprellen. Außer der Vermutung der Frau Schäufele haben wir nichts in der Hand, und wir müssen in Rechnung stellen, dass die Frau durcheinander ist, dass sie den Roth aus Empörung über die Entlassung beschuldigt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand einen Mord begeht, nur weil ihn ein entlassener Angestellter beschimpft. Das ist wahrhaftig kein überzeugendes Motiv. Na, wir werden sehen.«

 

Am Tatort waren die Scheinwerfer erloschen, die Polizeifahrzeuge weggefahren, nur der schwarze Dienstwagen Brachwedels stand noch am Straßenrand, und der blaue Opel-Askona wurde gerade zur Spurensicherung abtransportiert.

Brachwedel hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die beiden Kriminalisten stiegen aus. Die Villen schliefen, nur im Parterre einer einzigen, kaum hundert Meter entfernt, schimmerte eine erleuchtete Fensterfront durch das Astgewirr dichtstehender Koniferen.

Während sie auf sie zugingen, murmelte Brachwedel: »Passen würde es schon. Schäufele verfehlt in seiner Aufregung die Einfahrt in die Hochleite von der Lindenstraße her, Fährt parallel weiter, vielleicht bis zur Füllstraße, bemerkt seinen Irrtum, biegt dort ein und parkt verkehrt in der Hochleite, läuft zu

Roths Villa, schlägt Krach, wird bedroht, flüchtet zum Wagen zurück, zwängt sich in der Hast auf den Beifahrersitz, doch bevor er die Tür zuschlagen kann, ist Roth schon bei ihm, zwei Schüsse, aus der Traum.«

»Aus der Traum«, wiederholte Griessbühl sarkastisch, »der Fall ist gelöst.«

Brachwedel schwieg gekränkt.

Als sie an dem Eisentor anlangten, brummte bereits der Summer, die Außenlaternen leuchteten auf – sie wurden erwartet.

Roth empfing sie in der geöffneten Tür. Ohne den Gruß zu erwidern, trat er beiseite und gab den Weg frei. Der großzügige Vorraum mit der Kleiderablage war so strahlend erhellt, dass Brachwedel blinzeln musste. Roth dirigierte die beiden Kriminalisten, immer noch schweigend, in das Empfangszimmer.

Es mutete Griessbühl wie die modern ausstaffierte Halle eines Palazzos an, es war offensichtlich, dass die Bewohner ihre Gäste beeindrucken wollten. Die Front zum Garten hin bestand aus großen Fenstern mit kleinen quadratischen Scheiben. An der Decke brannten zwei Kronleuchter, die den riesigen, langgestreckten Raum gleichmäßig ausleuchteten und die Gemälde an den weißen Wänden voll zur Geltung kommen ließen – durchweg Bilder in kraftvollen Farben mit gewalttätigen Strichen; Griessbühl, der wenig von Kunst verstand, fiel nur der Name van Gogh ein. An dem großen ovalen Esstisch standen weißlackierte Stühle mit sacht gebrochenen Lehnen, der Kamin war von tiefen, weißen Ledersesseln umgeben, und solche Sessel waren überall im Raum verteilt, oft an kleinen Glastischen. Selbstredend fehlte die Bar nicht, wenn sie auch dezent an der Stirnwand installiert war. Trotz des Prunks, das war zu spüren, sollte alles nicht protzig, sondern kultiviert wirken, und drei Holzstatuen, bunt bemalt, unterstrichen das – Griessbühl nahm an, dass sie aus Afrika stammten, aber auch Südamerika hielt er für möglich.

Roth bot seinen Gästen keinen Platz an. Er machte nicht den Eindruck, als sei er zu frühester Stunde aus dem Schlaf gestört worden. Sein Allerweltsgesicht zeigte kalte, abwartende Höflichkeit, die grauen Augen hinter der randlosen Brille blickten kühl, das blonde Haar war nach hinten gekämmt, die Frisur saß tadellos. Er trug einen orangefarbenen Morgenmantel mit seidig glänzenden Revers, ein fast anstößig wirkender Farbfleck zwischen den klobigen, weißen Ledersesseln. Griessbühl fand, er sähe aus wie eine verlockend bekleidete Schaufensterpuppe, nur die dünnen und übermäßig behaarten Beine, die unter dem Morgenmantel hervorsahen, wirkten befremdend.

Griessbühl konnte sich schlechterdings nicht vorstellen, dass dieser Mann sich von einem aufbegehrenden Angestellten zu einem Mord hatte hinreißen lassen.

Der Hauptkommissar fand es an der Zeit, das Schweigen zu beenden. »Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie so überfallen. Aber es schien uns zur Klärung des Falles notwendig.«

Roths Ausdruck veränderte sich nicht, er hielt es wohl für überflüssig, Höflichkeit zu heucheln.

»Wir haben nur wenige Fragen«, sagte Griessbühl und kam sich nun wirklich wie ein Eindringling vor. »Frau Schäufele berichtete uns, ihr Mann habe Sie heute aufsuchen wollen. War er bei Ihnen?«

»Ja.« Knapper konnte die Frage nicht beantwortet werden.

»Um welche Zeit?«

»Gegen zweiundzwanzig Uhr.«

»Vorher oder danach?«

»Ich sehe nicht ständig auf meine Uhr. Wir hatten Gäste, das Ehepaar Conrad. Es gab zwischen ihnen Differenzen, sie verließen uns deshalb schon zeitig. Etwa eine halbe Stunde später erschien Schäufele.«

»Und was wollte er?«

»Ich sollte die Entlassung rückgängig machen. Aber das war beschlossene Sache,«

»Wie lange hielt er sich hier auf?«

»Wenige Minuten. Es gab nichts zu reden. Dann wurde er ausfällig, und ich wies ihm die Tür.«

»Würden Sie mir das ausführlicher schildern?«

Roth hob die Schultern, ein Zeichen, dass er das Gespräch  leid war. Trotzdem fügte er sich, und Griessbühl fand das auffällig, nicht selten war er auf Widerstand gestoßen.

»Meine Frau war schlafen gegangen, die Haushälterin hatten wir aufs Zimmer geschickt, ich trank noch ein Glas Wein. Es läutete anhaltend, und ich öffnete schnell, ich wollte verhindern, dass meine Frau gestört würde. Schäufele drängte mich beiseite, rannte in diesen Raum und schrie mich an. Auf dergleichen reagiere ich mit größter Ruhe, ich lasse mich von Panik nicht anstecken. Ich versuchte, ihm nochmals zu erklären, was ich ihm schon in unserem Unternehmen deutlich gemacht hatte; aber er hörte nicht zu, brüllte Verbrecher und Schweinehund und ähnliches. Und dann setzte er sich einfach in den Sessel dort an der Tür, stumm, als wollte er Wurzeln schlagen. Ich hatte es satt, fasste ihn energisch am Arm und bugsierte ihn zurück ins Freie. Ich habe es nicht nötig, mich in meinem eigenen Hause beschimpfen zu lassen.«

Auch dieser Satz verriet keinerlei Emotionen, sondern bedeutete lediglich eine sachliche Feststellung.

»Ließ er sich denn einfach so hinausbugsieren, wie Sie es nennen! Widersetzte er sich nicht? Er war doch vorher offenbar aggressiv.«

»Nein. Er machte schlapp. Er war wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht.«

»Und gingen Sie ihm nach?«

»Hören Sie! Dazu hatte ich keinerlei Veranlassung. Der Mann war ein kleiner Angestellter, der aus der Fasson geraten war. Für mich war die Sache erledigt, als ich die Tür hinter ihm schloss.«

»Bedauerten Sie nicht, ihn entlassen zu haben? Tat er Ihnen nicht leid?«

»Ich habe wahrhaftig keine Lust, Ihnen, noch dazu zu diesem Zeitpunkt, einen Vortrag über moderne Wirtschaft und Rationalisierung zu halten. Das sind Zwänge, denen wir uns nicht entziehen können und wollen. Wir bejahen sie, sie treiben uns zu immer höherer Leistung an, und das kommt schließlich allen zugute. Und dass dabei einzelne Mitarbeiter in schwierige Situationen geraten, ist zwar bedauerlich, aber im Interesse der Sache nicht zu ändern.«

Griessbühl nickte. »Ich verstehe.« Dieser Roth gehörte zu jener Gruppe von Managern, die über Leichen gingen.

Leichen? Er sagte: »Wir haben Schäufele knapp hundert Meter von hier erschossen in seinem Wagen aufgefunden. Sie müssten die Schüsse gehört haben.«

»Aber durchaus nicht. Ich ging gleich schlafen, und unsere Schlafzimmer liegen an der Rückfront, zum Garten hin.«

»Sie haben auch keine Vermutung, wer der Mörder sein könnte?«

Zum ersten Male wurde Roth ungeduldig. »Soll ich meines Bruders Hüter sein? Ganz abgesehen davon, dass dieser Mensch nicht mein Bruder war. Er war mir völlig gleichgültig, seine Privatangelegenheiten interessierten mich nicht. Verzeihen Sie, aber diese Fragen sind überflüssig und kosten mich nur meinen Schlaf.«

»Ich fürchte«, sagte Griessbühl, »dass wir Sie noch einmal belästigen müssen. Wir müssen ja ein Protokoll aufnehmen.« Dass er weitere Fragen zu stellen beabsichtigte, verschwieg er.

Als sich das Eisentor hinter den beiden Kriminalisten geschlossen hatte, sagte Brachwedel leise: »Ein eiskalter Hund. Gut, dass wir mit ihm nicht viel zu tun haben werden.«

»Nehmen Sie ihm seine Darstellung ab?«, fragte Griessbühl.

»Das muss ich wohl.«

Griessbühl nickte.

Langsam pendelten sie nebeneinander zum Tatort zurück. Der blaue Opel war jetzt verschwunden.

Der Hauptkommissar spürte seine Müdigkeit. »Ich komme erst gegen elf ins Präsidium. Schmorl wird dann bereits das Wesentliche aufgearbeitet haben. Ich fürchte, das wird einer der Fälle, die uns wochenlang beschäftigen werden. Vorerst ist alles rätselhaft. Nein«, bestätigte er seine Ansicht noch einmal sich selbst, »Roth können wir wohl als Verdächtigen streichen.«

Ehe er in seinen Volvo stieg, sah er Brachwedel nach, der im schwarzen BMW so eilig um die Ecke verschwand, als wolle er keine Handvoll Schlaf verschwenden, ehe er Frau Schäufele ins Leichenschauhaus begleiten musste.

 

München begann zu erwachen, der Himmel erhellte sich rasch, die Straßen belebten sich, Lieferwagen kamen Griessbühl entgegen, vereinzelt die ersten Pkw, ein Lastwagen transportierte drei Gäule, mit gottergebenen Gesichtern blickten sie durch das Gitter ins Freie. Flüchtig dachte der Hauptkommissar, sie würden möglicherweise zu einem Pferdefleischer gefahren, doch davon ahnten sie nichts.

Aber Gewühl herrschte immer noch nicht, Griessbühl musste an sich halten, um nicht loszupreschen, ihn drängte es heim nach Gröbenzell. Solange er im Stadtkern war, hielt er sich streng an die Geschwindigkeitsvorschriften, nachdem er jedoch Pasing hinter sich gebracht und die lange Lochhausener Straße erreicht hatte, die unmittelbar nach Gröbenzell führte, gab er Gas. Er fühlte sich daheim, als er von ferne den schönen Zwiebelturm der Kirche erblickte.

Vor seinem Haus parkte er und stieg aus. Jedes Mal, wenn er durch den schmalen Vorgarten ging, musste er lächeln: Seine Judith war doch ein kleines raffiniertes Luder! Der Kiesweg führte vom Eingangspförtchen bis zur Haustür durch die glattrasierte Fläche eines englischen Rasens, die nur durch vier spitze Koniferen punktiert war. Griessbühls Aufgabe war es, ihn so kurz zu halten, dass er wie grüner Samt wirkte. Das verursachte wenig Arbeit. Doch Judith, die solche beschnittene Natur hasste, erreichte damit, dass die Nachbarn sich nicht über das Aussamen wuchernder Blumen und Gräser in ihre eigenen gezirkelten Vorgärten erregten und sie ihr wildwüchsiges Paradies hinter dem Haus umso ungestörter pflegen konnte.

Charlie, in ihrem Körbchen im Flur, hob nur kurz den Schädel und steckte die dicke Nase wieder unter die Decke. Sie hat es gut, dachte Griessbühl neidisch. Er zog sich aus, duschte ausgiebig. Das erfrischte ihn.

Judith blinzelte nicht einmal, als er das Schlafzimmer betrat. Sie lag auf der linken Seite und hatte, wie stets, den Kopf in die Armbeuge geschmiegt, das Wuschelhaar fiel wirr übers Handgelenk. Während Griessbühl leise neben sie unter die Bettdecke schlüpfte, bedauerte er sich selbst – den Hundefänger, den es in die Nacht hinaustrieb, statt einen heiteren Abend, eine leidenschaftliche Nacht daheim zu verbringen.

Und es hatte sich nicht gelohnt, er hatte den Hund nicht gefangen, er hatte nicht einmal eine Fährte gefunden, denn den Verdacht, dass Roth als Täter in Frage kam, wie Frau Schäufele gemutmaßt hatte, den konnte er streichen. Wer aber dann? Unzählige Spuren würden sie verfolgen müssen, Protokolle würden angefertigt werden, Akten würden anschwellen, der Staatsanwalt würde seine Ungeduld kaum verbergen, die Presse würde sich des Falles annehmen – unangenehme Tage und Wochen standen ihm bevor.

Abschalten, dachte er, ausruhen! Und zeitig aufstehen und mit Judith frühstücken, sich trotz allem des Morgens freuen. Im Einschlafen erinnerte er sich noch an Brachwedel und Schmorl, die frühzeitig im Präsidium sein mussten und ihn verfluchen würden: Der Alte, der darf noch pennen! Aber er würde nicht pennen, würde den Fall durchdenken und um elf Uhr pünktlich mit einem groben Handlungsplan in München auftauchen.

  Zweites Kapitel

 

 

Im gleichen Augenblick, als Griessbühl erwachte, begriff er, dass er verschlafen hatte. Er sprang auf, hastete in das Bad, rasierte und wusch sich und fuhr eilig in die Kleidung in der vagen Hoffnung, Judith erwarte ihn am Frühstückstisch.

Aber die Brotkrümel an ihrem Platz verrieten ihm, dass er sich getäuscht hatte, und da entdeckte er sie auch schon, wie sie sich mitten im hohen Gras wohlig in der Sonne bräunte, nackt natürlich, damit es keine weißen Stellen gäbe; vor neugierigen Nachbarsblicken wusste sie sich durch das dichte Gesträuch ringsum geschützt.

Sie musste ihn gehört haben. Trotzdem wendete sie nicht einmal den Kopf oder hob die Hand zum Gruß – er nahm es als schlechtes Zeichen.

Der Appetit verging ihm. Mürrisch bestrich er ein Brötchen mit Butter, klopfte die Schale vom Ei – auch das noch: Kalt! Nichts widerstrebte ihm so sehr wie kalte, weiche Eier. Doch vor einer lauten Bemerkung hütete er sich, Judith konnte verdammt spitz sein.

Er holte Charlie nach dem Frühstück aus dem Flur – das musste so sein. Bebend vor Gier saß sie gleich darauf auf den Hinterkeulen vor dem Tisch, erntete wie üblich ein halbes Brötchen und verschlang es. Ohne ihn zu beachten, sprang sie zu Judith hinüber, schmiegte sich an ihre Seite und wurde mit lässiger Hand geliebkost. Griessbühl missfiel das.

Trotzig schlug er seinen Schreibblock auf und begann, über den Mord an der Hochleite nachzudenken. Er musste ja ein Konzept für das weitere Vorgehen entwerfen, Schmorl und Brachwedel erwarteten einen unzweideutigen Marschbefehl.

Vorm Einschlafen hatte er sich das einfach vorgestellt. Je mehr er jetzt jedoch nachgrübelte, umso undeutlicher wurde das Ziel für den Marsch. Was wussten sie denn schon? Ein Mann namens Schäufele war in seinem Wagen ermordet aufgefunden worden. Der Zeitpunkt war ungefähr festgehalten und würde sich ziemlich genau fixieren lassen. Auch den Typ der Tatwaffe würde man feststellen können. Doch ein Motiv, ein Verdächtiger? Die Beschuldigung der Frau Schaufele war offensichtlich unbegründet gewesen, Roths Aussage war glaubhaft.

Alles, was sie heute, am Sonntag, noch tun konnten, war, die Fakten, die Schmorl und Brachwedel inzwischen ermittelt hatten, zusammenzutragen, um ein möglichst genaues Bild der Tatumstände zu gewinnen. Das würde bis Mittag erledigt sein. Und dann würde er selbst noch einmal Frau Schäufele behutsam befragen – welchen Charakter, welche Leidenschaften, welche Eigenheiten hatte ihr Mann gehabt, wer waren seine Bekannten? Möglicherweise ließe sich daraus ein Motiv herausfiltern, das zu dem Täter führen konnte.

Er schlug seinen Block zu. Es war Zeit, in das Präsidium zu fahren. Er zögerte.

Dann ging er doch zu Judith hinüber, tippte mit dem Finger auf ihre Nasenspitze und versprach: »Am frühen Nachmittag bin ich wieder bei dir!«

Sie öffnete nicht einmal die Augen, sondern murmelte nur: »Lüg doch nicht so. Ich kenne dich.«

»Großes Ehrenwort!«

»Okay. Aber wenn du nicht pünktlich kommst, suche ich mir einen Gespielen. Viel Spaß bei der Arbeit. Ich brate hier weiter.«