Zwei Schwestern - Dorothy Baker - E-Book
SONDERANGEBOT

Zwei Schwestern E-Book

Dorothy Baker

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ein wirklicher Fund.« Ulrich Greiner in ›Die Zeit‹ Als Cassandra Edwards sich zur Hochzeit ihrer Zwillingsschwester Judith aufmacht, hat sie vor allem eines im Sinn: die Vermählung zu verhindern. Was will ihre hochmusikalische Schwester mit irgendeinem durchschnittlichen, jungen Arzt? Kompromisse und Mittelmaß sind ihr ein Gräuel, und sich selbst treu zu bleiben, ist in ihrer Familie oberstes Gebot. Wird Cassandra auf der Suche nach sich selbst in ihrer symbiotischen Beziehung zu Judith gefangen bleiben? Wird Judith sich aus der beklemmenden schwesterlichen Zweisamkeit befreien können? Beiden steht eine existenzielle Herausforderung bevor. Ein hochintelligenter, witziger und zeitloser Roman über Bindung, die Spielarten von Erotik und unsere Suche nach der großen, erfüllenden Liebe, jener Seelenverwandtschaft, die von unserer Einsamkeit eine Brücke zum anderen schlägt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 354

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dorothy Baker

Zwei Schwestern

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum

dtv

Mit einem Nachwort von Peter Cameron

Zur Erinnerung an David Park

Cassandra spricht

1

Ich sagte ihnen, dass ich bis zum einundzwanzigsten alles erledigt haben könnte und am zweiundzwanzigsten heimkommen würde. (Juni.) Aber alles lief besser, als ich erwartet hatte – am einundzwanzigsten hatte ich vormittags um zehn bereits sämtliche Klausuren korrigiert, benotet und wieder ins Institut zurückgebracht, und als ich heimkam, fühlte ich mich so rastlos, so ruhelos, dass ich doch noch mal zu überlegen begann. Von der Uni bis zur Ranch sind es nur fünf Stunden, wenn man zügig fährt – wenn man nicht alle fünfzig Meilen auf einen Orangensaft anhält, so wie Judith und ich es in unseren ersten beiden Collegejahren taten, oder auf einen Drink in einer Bar, so wie später, als wir gelernt hatten, wie man mit unter zwanzig für über einundzwanzig durchgeht. Wie gesagt, wenn man voranmacht, ein bisschen auf die Tube drückt, schafft man es in fünf Stunden von Berkeley zur Ranch, und dass wir es früher nie darauf anlegten, hatte den Grund, dass wir uns in kleinen Etappen auf das Leben zu Hause einstellen mussten, uns gewissermaßen wappnen mussten für das dreifache Willkommen, das uns erwartete – von unserem Vater, unserer Mutter und unserer Großmutter, die uns auf drei verschiedene Weisen heiß und innig liebten. Wir liebten sie auch, auf sechs verschiedene Weisen, aber meistens ließen wir uns auf der Heimfahrt Zeit.

Es war kein dreifaches mehr – das Willkommen. Unsere Mutter war drei Jahre zuvor gestorben (viel zu jung, wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie das auch so sah) und würde deshalb bei Judiths Hochzeit nicht dabei sein. Im Gegensatz zu mir. Wenn ich hinging, und natürlich musste ich hin, würde ich in offizieller Funktion unübersehbar dabei sein – als ihre einzige Brautjungfer. Sie hatte mich brieflich darum gebeten, und ich hatte nicht direkt darauf reagiert, da ich eher zurückhaltend bin, besonders was Hochzeiten angeht, aber ich hatte gesagt, dass ich am zweiundzwanzigsten zu Hause sein würde, und unbewusst dafür gesorgt, dass ich schon am einundzwanzigsten startklar war, im Juni der längste Tag des Jahres. Und genauso begann er sich auch anzufühlen, nachdem ich die Klausuren ins Institut gebracht hatte. Ich lief in der Wohnung herum, schaute zwei-, dreimal in den Kühlschrank, so kalt, so weiß, so leer, und noch öfter aus dem großen Westfenster, hinaus auf die Bucht mit den Gefängnisinseln und der unglaublichen Brücke, die sich darüberspannte. Unglaublich, aber nachdem ich sie so oft betrachtet hatte, glaubte ich inzwischen doch an sie, und den Winter über war sie mir immer mal wieder äußerst attraktiv erschienen. Manchmal geradezu unwiderstehlich, was für meine Analytikerin allerdings ebenfalls galt, die beiden hoben sich also mehr oder weniger gegenseitig auf.

Ich trat hinaus auf das Sonnendeck und ließ mir alles noch mal durch den Kopf gehen – wie heiß es zu Hause sein würde, eine glühende, heilende Hitze, und wie schön es sein würde, den Hund und die derzeitige Katze und meinen Vater und meine Großmutter zu sehen. Und meine Schwester. Judith.

Die Brücke sah auch jetzt wieder gut aus. Die Sonne schien darauf und verlieh ihr die Anziehungskraft eines leuchtenden Exit-Zeichens in einem überfüllten, stickigen Hörsaal, in dem man sich, wie ich so oft, eine nicht eben brillante Vorlesung anhören muss. Aber natürlich können nicht alle Vorlesungen brillant sein; man kann sie über sich ergehen lassen und das Nützliche für sich herausziehen, und wenn das Exit-Zeichen funkelt und lockt, kann man es ignorieren. Außerdem versichert mir meine Analytikerin, dass ich im Grunde meines Herzens niemand bin, der springt, es entspricht mir einfach nicht. Ich neige nur zu Gedankenspielen und zur Ruhelosigkeit, und ich glaube, während ich die Brücke taxierte, wusste ich die ganze Zeit, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit nach Hause fahren und gemäß Einladung an der Hochzeit meiner Schwester teilnehmen würde; ich würde ihr mit den Häkchen und Reißverschlüssen ihres wie auch immer gearteten Kleides helfen, den Brautstrauß halten, während sie den Ring angesteckt bekam, in die Nase oder an den Finger, wie es ihr beliebte, und wenn der Moment kam, zu widersprechen oder aber fürderhin zu schweigen, würde ich mich für Letzteres entscheiden. Ich würde ziemlich sicher hingehen und alles tun, was man von der einzigen Brautjungfer erwartet. Wahrscheinlich würde ich alle Erwartungen übertreffen.

Ich wusste nicht einmal, wer der Bräutigam war, nur dass es sich um einen Medizinstudenten handelte, den sie in New York kennengelernt hatte, und dass er Lynch hieß, oder vielleicht sogar Finch. Ja. Finch. John Thomas Finch, wie der Fink. Den hatte sie wohl im Birdland aufgegabelt?

Ich ging wieder hinein, sperrte die Tür zum Sonnendeck ab und zog an der Zugkordel, um die Vorhänge vor dem Westfenster zu schließen. Für dieses Semester hatte ich genug von der Aussicht. Ich spazierte durch die Wohnung, landete vor meinem Schreibtisch und betrachtete das Blatt, das in die Schreibmaschine eingespannt war, genauer gesagt Seite siebenundfünfzig der Rohfassung meiner Examensarbeit, meine Gedanken zum französischen Roman – mein großer akademischer Vorstoß. Ich schaltete meine Schreibtischlampe ein, Zeugin zahlloser Korrekturen, las, was auf Seite siebenundfünfzig stand, und lachte laut auf. Nicht, weil es so amüsant gewesen wäre, sondern weil es so ein absurdes Unterfangen war – eine Examensarbeit zu schreiben, damit ich Lehrerin werden konnte statt Schriftstellerin, insbesondere wo es in meiner Arbeit um Schriftstellerinnen ging, und zwar um ganz aktuelle, größtenteils junge Frauen, kaum älter als ich, die ich erbarmungslos als Thema für meine Examensarbeit ausbeutete. Andersherum wäre es mir deutlich lieber gewesen – wenn ich die Schriftstellerin gewesen wäre und alle anderen ihre Arbeiten über mich geschrieben hätten, aber ich habe da ein spezielles Problem, meine Mutter war nämlich Schriftstellerin gewesen, sie hat zwei Romane, drei Theaterstücke und eine ganze Reihe Drehbücher geschrieben, alle ziemlich bekannt, und für ein Schriftstellerkind ist es nicht einfach, selbst Schriftstellerin zu werden. Ich verstehe nicht warum, aber es ist so. Es hat etwas damit zu tun, dass man nicht verglichen werden will. Man will weder sich messen müssen noch sich nicht messen können, und man will auch kein Kapital aus seiner Herkunft schlagen. Nicht dass ich etwas gegen meine Mutter gehabt hätte. Ich habe sie geliebt, denke ich, aber meine Mutter ist erst vor drei Jahren gestorben, vor knapp drei Jahren, und ich möchte lieber einen angemessenen Zeitraum verstreichen lassen, bevor ich es selbst versuche. Oder auch nicht versuche. Auf jeden Fall will ich erst diese idiotische Arbeit schreiben und wenigstens meinen Abschluss machen.

Ich zog das Blatt aus der Schreibmaschine, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb neben meinem Schreibtisch, schob die anderen sechsundfünfzig Seiten so zusammen, dass die Kanten sauber übereinanderlagen, schob sie in einen Ordner und diesen dann in die oberste Schublade, und dann setzte ich den Deckel auf die Schreibmaschine. Falls die Wohnung in Flammen aufging, während ich auf der Hochzeit war, würde die Welt nie erfahren, was ich so mühevoll über den Roman in der Form, in der er derzeit in Frankreich von kaum dem Mädchenalter entwachsenen Frauen und einigen ebenso jungen Männern praktiziert wurde, zu sagen versuchte. Aber die Wohnung würde nicht in Flammen aufgehen. Und wenn ich zurückkam, würde ich zweifellos das zerknüllte Blatt wieder aus dem Papierkorb ziehen, es glatt streichen, Wort für Wort abschreiben und weitermachen. In zwei Wochen, vielleicht auch schon in einer.

Mir wurde immer klarer, dass ich vorhatte zu fahren, keine weitere Nacht hier zu verbringen, jedenfalls nicht die bevorstehende. Es gab alle möglichen Indizien dafür: Ich zog mein Bett ab und steckte die Laken in den Wäschesack, und ich klappte den Vorderdeckel des Flügels zu, eines Flügels, der zur Hälfte mir gehörte, den ich aber kaum angetastet hatte – um im Bild zu bleiben –, seit Judith, der die andere Hälfte gehörte, nach New York gegangen war. Ich hätte schon vor neun Monaten den Deckel zuklappen und abschließen sollen. Irgendwo gab es einen Schlüssel dafür.

Aber ich hielt mich nicht damit auf, ihn zu suchen, und nachmittags um drei hatte ich schon die halbe Strecke hinter mir und saß in einer Bar, einer von denen, wo wir früher immer haltgemacht hatten. Sie war dunkel und klimatisiert, und ich hatte einen Zitronensirup mit Wodka in der Hand, aus Rücksicht auf meine Großmutter, die es hasst, wenn Leute eine Fahne haben – besonders Mädchen. Ich mag meine Großmutter sehr gern, das tun wir beide, und ich hatte eine Schachtel Schokokirschpralinen für sie besorgt, ehe ich losgefahren war. Sie lagen draußen im Kofferraum und schmolzen vor sich hin, während ich hier in der kalten Bar allmählich erstarrte und hoffte, dass ich die Schokopralinen nicht direkt auf die Schachtel mit dem Kleid gelegt hatte – einem Kleid, das ich ebenfalls vor meiner Abfahrt besorgt und mit dessen Kaufpreis ich eines ihrer Konten belastet hatte, wie sie es mir so oft eindringlich nahelegte. Es war ein weißes Kleid und für die Hochzeit vermutlich geeignet. Ja, gar keine Frage – es war sehr schlicht und elegant und teuer und wohl für jeglichen Anlass geeignet, und meine Großmutter mit ihren hohen Ansprüchen würde das sofort erkennen und mir dafür danken, dass ich ihr diese Ehre erwies. Sie hatte es gern, wenn Mädchen hübsch aussahen, das sagte sie ständig, und ob es nun damit zusammenhing oder nicht, ich hatte, schon zehn Jahre bevor sie modern wurden, eine Vorliebe für Sweatshirts entwickelt. Und für Turnschuhe. So wie ich meine Großmutter kannte, würde ihr dieses Kleid sehr gefallen. Es würde eine große Erleichterung für sie sein, abgesehen davon, dass es mal wieder zu einer Kontobewegung geführt hatte.

Ich schaute an die Wand hinter dem Tresen und sah in einem blauen Spiegel zwischen zwei Flaschenregalen mein Gesicht. Die Flaschen sahen durchaus vertraut aus, aber das Gesicht erkannte ich nicht auf Anhieb, ich glaube, hauptsächlich, weil ich es nicht wollte. Es ist ein Gesicht, das mir schon viel Ärger bereitet hat.

Einen Augenblick später schaute ich aber doch noch einmal hin, ich konnte nicht anders, und diesmal ließ ich mich wissen, wer das war. Es war das Gesicht meiner Schwester Judith, die mich, na ja, vielleicht nicht anstarrte, eher nachdenklich betrachtete, so wie sie es früher immer getan hatte, wenn sie mich gleich um etwas bitten wollte – die Stoppuhr zu halten, während sie vierhundert Meter schwamm, die Salatsoße zu probieren und ihr zu sagen, was fehlte, ihr die Anekdote über den Schäfer und die Meerjungfrau zu erklären. Es war die Sorte Fragen, die eine jüngere Schwester der älteren Schwester stellt, und ich fand das auch völlig in Ordnung, bloß war ich gar nicht so viel älter als sie. Nur elf Minuten. So stand es in unseren Geburtsurkunden. Diejenige mit Namen Cassandra war sechzig Gramm schwerer und elf Minuten älter als die mit Namen Judith.

Durch einen entschlossenen Willensakt zwang ich das Gesicht zwischen den Regalen, nicht mehr das von Judith zu sein, sondern meines zu werden. Mein ureigenes Gesicht – das Gesicht eines netten Mädchens, das sich anschickte, Lehrerin zu werden, an seiner Abschlussarbeit schrieb, nett zu seiner Großmutter war und einen Tag früher nach Hause fuhr, statt einen Tag zu spät oder am angekündigten Tag, und etwas Anständiges zum Anziehen mitbrachte. Aber es kann mich ganz schön erschrecken, dieses Gesicht, wenn ich es zufällig irgendwo im Spiegel sehe, besonders in Momenten wie diesem, wenn ich allein bin und zugeben muss, dass es tatsächlich meines ist, weil niemand sonst da ist, den ich beschuldigen könnte.

Ich hob das Glas und sagte: »Auf dich, Narziss!«, und es war beileibe nicht das erste Mal, dass ich mit dem falschen Namen angesprochen wurde, auch wenn es bisher nie dieser gewesen war. Viele Leute lassen sich in unserem Fall auf die Nennung eines Namens gar nicht erst ein. »Welche von beiden bist du denn?«, fragen sie, und wenn ich sage, Cassandra, sagen sie, das hätten sie sich gedacht, was sie genauso gesagt hätten, wenn es Judith gewesen wäre, die gesagt hätte, sie sei Judith. Oder Judith, die gesagt hätte, sie sei Cassandra, oder Cassandra, die gesagt hätte, sie sei Judith. Sie sagen immer, das hätten sie sich gedacht. Wir waren das schon ziemlich früh in unserem Leben gründlich leid. Wir zogen uns nie gleich an. Ich war aus Prinzip schlampig, damit Judith hübsch sein konnte, aber dann vergaßen die Leute, welche die Hübsche war, und mussten wieder nachfragen. Und wir mussten es ihnen sagen. Äußerst ermüdend.

Ich trank meinen Zitronensirup mit Wodka aus und setzte mich ein paar Hocker weiter auf einen Platz, wo die Kasse den direkten Blick in den Spiegel versperrte, doch ein Mann, der dort an der Bar saß, interpretierte das als Wunsch nach Gesellschaft und lud mich, durchaus nett, zu einem Drink ein. Ich hatte tatsächlich noch etwas trinken wollen, oder zumindest hatte ich überlegt, ob es auf der restlichen Fahrt durch einen weiteren Drink kühler oder heißer werden würde, und wenn man erst mal anfängt, so zu überlegen, hat man sich mehr oder weniger schon für einen weiteren Drink entschieden. Aber die Einladung änderte das alles. Sie rief mir in Erinnerung, dass ich ein Ziel hatte und dorthin unterwegs sein sollte, statt in Bars mit Fremden zusammenzusitzen, also dankte ich ihm, zahlte und ging hinaus, ohne ihn auch nur einmal anzuschauen. Es ist nämlich so, dass ich Angst vor Männern habe, sowohl vor fremden als auch vor solchen, die ich kenne, obwohl ich weiß, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Aber es ist nun mal so, sie machen mich nervös, also stieg ich in mein Auto und ergriff die Flucht, jedenfalls kam es mir so vor, ich nahm mir nicht einmal die Zeit, mich anzuschnallen. Das könnte ich auch nach der nächsten Bar noch tun, dachte ich mir.

Ich fuhr den Wagen meiner Mutter, einen Riley, den sie von einem ihrer letzten Autorenhonorare erworben hatte. Er war jetzt vier Jahre alt, nein, fünf – als sie ihn kaufte, war er ein Jahr alt, ein Jahr lang fuhr sie ihn, und Judith und ich hatten ihn jetzt seit drei Jahren –, aber die Leute guckten immer noch erstaunt und interessiert, wenn er an ihnen vorbeifuhr – ein Klassiker, der inzwischen ziemlich viel Öl schluckte. Er gehörte wohl halb mir und halb Judith, auch wenn das keiner je wirklich ausgesprochen hatte. Unser Vater hatte nach der Beerdigung meiner Mutter gesagt, wir sollten damit nach Berkeley zurückfahren, und seither hatten wir den Wagen und betrachteten ihn als unseren. Wobei das etwas ganz anderes bedeutete als bei unserem Flügel. Unseren Flügel hatten wir selbst ausgesucht. Niemand hatte ihn uns geschenkt. Wir entdeckten ihn in einer Sonntagsausgabe des Chronicle, nicht ganz richtig geschrieben, aber einen Namen wie Bösendorfer kann man nicht jedem Schriftsetzer anvertrauen, er ist lang, und man sieht ihn nicht alle Tage. Wir aber hatten ihn gesehen, zwischen den Kleinanzeigen versteckt, wo er darauf wartete, dass ihn jemand identifizierte und Besitzansprüche anmeldete, wir gingen mit gedrückten Daumen zu der angegebenen Adresse, und es war wirklich einer. Es war unverkennbar ein Bösendorfer, für uns bestimmt, und wir wurden auf der Stelle zu seinen gemeinsamen Besitzerinnen. Ohne uns abzusprechen. Da gab es nichts abzusprechen.

Am nächsten Tag gingen wir nicht an die Uni. Es war der Tag, an dem wir unsere neue Errungenschaft in Besitz nahmen, an dem wir zusahen, wie er mit Flaschenzug und Winde von der Straße auf unser Sonnendeck gehievt wurde. Er war in dicke Schutzpolster gehüllt, sehr staubig, die Winde quietschte, Flüche erschollen, und von Würde konnte keine Rede sein. Ich schaute von der Straße aus zu, denn ich wollte dabei sein, falls er herunterfiel. Judith dagegen schaute vom Sonnendeck aus zu, und sie war dabei, als er dort abgelegt wurde, seitlich, ohne die Beine. Ein paar Sekunden später war auch ich da, ganz außer Atem, und wir sahen zu, wie zwei Männer namens Otis und Carl ihn auf einen kleinen Transportwagen luden und in unser Wohnzimmer rollten, dort die Beine anschraubten und ihn an die Wand schoben, die wir dafür freigeräumt hatten. Dann brachte Otis Schutzpolster und Rollwagen hinaus und hängte sie an den Flaschenzug, und Carl musterte die Wohnung und auch uns, während ich ihm einen Scheck ausstellte.

»Seid wohl Zwillinge?«, fragte er, als ich ihm den Scheck reichte, und ich sagte, nein, Cousinen – Cousinen ersten Grades, um genau zu sein, und dann ging er und Otis ebenfalls, und Judith und ich waren plötzlich allein mit dem Flügel, so schwarz und geschneckt und unser. Wir verspürten richtige Scheu, fühlten die Last der Verantwortung und wussten beide nicht viel zu sagen. Ich tigerte durch die Wohnung, in mein Zimmer, wieder ins Wohnzimmer, hinaus aufs Sonnendeck, und auch Judith war ziemlich reserviert. Sie spielte ein paar Arpeggios im Stehen, aber nichts Ernsthaftes. Irgendwann nachmittags gingen wir zur Uni, zu den Übungsräumen und Noten-Schließfächern, Judith nahm einen ganzen Stapel von ihren Noten mit nach Hause, und dann begann sie die Präludien und Fugen zu spielen, und alles war gut. Den restlichen Tag tat ich gar nichts mehr; ich hörte ihr nur zu und wusste, wie gut sie war und was für einen Flügel wir da hatten, und später am Abend, als sie aufhörte zu spielen und aufs Sonnendeck herauskam, wo ich auf die Lichter hinuntergeschaut und ihr zugehört hatte, sagte sie: »So sollten wir leben, findest du nicht?« Es war, als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet, sie das sagen zu hören, und ich antwortete: Ja, oh ja, wie konnten wir es uns bloß jemals anders vorstellen? Lass uns aufrichtig sein, uns nicht mit Außenstehenden einlassen, einfach nur wir selbst sein, jetzt wo wir diesen Flügel haben.

Wir lehnten am Geländer, schauten hinunter auf die Lichter und hinauf zu den Sternen, die Lichter dicht gedrängt und heller, die Sterne kühler und weiter auseinander, und ich erinnerte mich daran, wie hell die Sterne in den Sommernächten auf der Ranch sind, wo keine künstliche Beleuchtung sie überstrahlt. Wir hatten sogar unsere eigenen Sterne. Unser Vater hatte uns gezeigt, wie wir sie zu den verschiedenen Jahreszeiten finden konnten – da Castor, dort Pollux, allerdings kannten wir sie unter unseren eigenen Namen. Ich hielt auch jetzt nach ihnen Ausschau, konnte sie aber nicht finden. Wahrscheinlich waren sie irgendwo hinter dem Grizzly Peak, also suchte ich nicht länger nach ihnen, sondern schaute stattdessen Judith an und bekam plötzlich das Gefühl, mein guter Stern habe mich verlassen. Und sie merkte es.

»Wir könnten doch auch woanders leben, oder?«, hörte ich sie sagen. »In Paris zum Beispiel.«

»In Paris würden wir uns genauso ähnlich sehen wie hier.«

»Aber es würde nichts ausmachen, die Leute würden es ignorieren. Deswegen gehen ja all die Farbigen nach Paris.«

»Um ignoriert zu werden?«, fragte ich. »Ich weiß nicht, ob ich ignoriert werden will. Und ich will auch nicht, dass du ignoriert wirst.«

»So wäre es doch auch nicht. Du könntest deinen Widerstand aufgeben und anfangen zu schreiben – und –«

»Was denn schreiben?« Mein alter Komplex war verlässlich zur Stelle.

»Das, was du weggeworfen hast«, sagte sie, ganz schlicht und beiläufig, als fände sie, dass ich das nicht hätte tun sollen, und im nächsten Moment war kein Komplex mehr da.

»Und du?«, wollte ich wissen. »Würdest du auch arbeiten?« Ich bekam keine prompte Antwort, sondern eine, deren Formulierung ihr nicht leichtgefallen sein konnte. Sie wisse, was sie wolle, sagte sie, zumindest glaube sie das, und es sei nichts besonders Schwieriges oder Spezielles, wie etwa Konzerte zu geben und Eintritt dafür zu verlangen. Es habe eher etwas damit zu tun, sich als Teil einer Tradition in der Musik zu begreifen, ihr treu zu bleiben und in jeglicher Funktion, die einem entspreche, an ihr zu arbeiten – zu spielen, was geschrieben werde und bereits geschrieben worden sei, auch selbst zu komponieren, wenn man es wolle und könne, vor allem aber zu versuchen, sie lebendig zu halten, die Spreu vom Weizen zu trennen und getrennt zu halten. Zu wissen, was Spreu und was Weizen sei, und das alles wichtig zu nehmen sei eigentlich eine Lebensaufgabe.

Während ich ihr zuhörte, wünschte ich, unser Vater würde das alles hören – es entsprach so genau dem, was er uns seit unserer frühesten Kindheit sagte, und zwar nicht nur über Musik, sondern über alles. Der reine Glaube des Skeptikers. Vielleicht glaubt man nicht an Konzerte, aber man glaubt an die Musik, es ist einem wichtig, was mit ihr geschieht, und man ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, sei er noch so unmaßgeblich. Was er vermutlich war.

»Was ist denn das jetzt?«, fragte ich. »Eine Erweckungspredigt?«, und sie sagte sehr leise, das hoffe sie, es sei an der Zeit, uns zu entscheiden – entweder zu sein, was wir sein sollten, oder etwas anderes zu werden.

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich, aber ich wusste es sehr wohl. Wir hatten mit allen möglichen Fremden fraternisiert, um es mal so zu nennen. Besonders ich, was immer es mir gebracht haben mochte. Ich hatte das als meine Rimbaud-Phase betrachtet – eine Zeit der Entfaltung –, aber es war mehr als das gewesen. Wir hatten uns beide darauf konzentriert, getrennte Wege zu gehen, unterschiedliche Meinungen zu vertreten, eigene Freunde, eigene Vorlieben und Abneigungen zu haben. Wir hatten uns alle Mühe gegeben, uns auseinanderzudividieren, doch es hatte uns nichts als Erschöpfung und Ekel gebracht. Keine andere Lebensweise würde funktionieren, keine andere fühlte sich richtig an, und es hatte nicht mehr gebraucht, um uns eines Besseren zu belehren, als einen falsch geschriebenen Flügel in einer Kleinanzeige. Wir erkennen Schreibfehler, wenn es darauf ankommt, und jetzt war die Lage geklärt, wir hatten die Entscheidung getroffen, wir besaßen einen Flügel. Wir hatten Verantwortung auf uns genommen, und es war ja nicht einfach irgendein Instrument, sondern ein unvergleichliches, makelloses, einzigartiges. Das Merkwürdige war, dass Judith die Klavierspielerin ist, nicht ich, aber ich hatte die Anzeige entdeckt, und es war für uns beide keine Frage, dass wir den Flügel gemeinsam kaufen und zu unserem machen würden.

So klar waren die Verhältnisse in jener ersten Nacht des Besitzes. Ich fühlte mich berauscht, aber nicht durch natürliche Ursachen. Sondern durch die Präludien und Fugen und die Erwähnung von Paris, wo die Leute einen mit offenen Armen aufnehmen, es akzeptieren, dass man einfach man selbst ist, was immer das bedeuten mag, und es zugleich ignorieren. Eine wunderbare Stadt, um seinen Flügel darin aufzustellen.

»Paris ist in Ordnung«, sagte ich. »Allerdings erinnere ich mich, dass uns alle unglaublich niedlich fanden, als wir dort waren.«

»Da waren wir zehn«, sagte Judith. »Jetzt sind wir nicht mehr niedlich.«

Ich dachte darüber nach, ohne sie anzuschauen, um das zu überprüfen. Ich fühlte mich nicht niedlich. Mir war noch nie im Leben so ernst zumute gewesen; ich hatte noch nie die Aufregung erlebt, die mit einer welterschütternden Entscheidung einhergeht, und während ich sie nun erlebte, klingelte das Telefon, und ich sagte Judith, sie solle es klingeln lassen, das sei bestimmt Liz Janko. Es war schon seit zwei Monaten immer Liz Janko.

»Janko Manko«, sagte Judy höchst scharfsinnig, ich nickte zustimmend, und wir hörten zu, wie das Telefon zwanzig Mal klingelte und dann verstummte.

»Hast du sie eigentlich je wirklich gemocht?«, fragte mich Judy, sobald es still war. Es klang, als hätte sie mich das schon seit Monaten fragen wollen.

»Nein«, sagte ich. »Nicht sonderlich.«

»Warum dann?«

»Ich bin halt höflich. Ich wollte dir nicht im Weg sein.«

»So höflich kannst du gar nicht sein«, sagte sie. »Außerdem habe ich keinen Weg.«

Ich brauchte einen Moment, ehe ich sprechen konnte. Ich ging zur Tür des Sonnendecks und schloss sie, für den Fall, dass das Telefon noch mal klingelte, und als ich zurückkam, sagte ich: »Es ist nicht nur sie. Ich kann keine von denen leiden«, und dann redete ich weiter, denn es gab keinen Grund, es nicht zu tun, jetzt, wo wir eine Zukunft hatten und Pläne für diese Zukunft, ich erzählte ihr, so ehrlich ich konnte, wie ich beschaffen war. Ich fühle mich Männern gegenüber wie ein Vogel in den Krallen einer Katze, verschreckt, in einem Albtraum von Gefangenschaft, in dem ich nichts anderes will als freikommen und mich unter die Dusche stellen.

»Vögel duschen nicht«, sagte Judy, und ich musste ihr erst Beispiele nennen, Vogelbäder und Rasensprenger, Bewässerungsanlagen und Springbrunnen im Park, ehe ich zu dem übergehen konnte, was ich ihr eigentlich sagen wollte und was nicht ganz so einfach war wie die Katzen-Vogel-Beziehung, ob mit oder ohne Dusche, Frauen nämlich machen mir keine Angst, sie verschrecken mich nicht im Geringsten. Bis zu einem gewissen Grad faszinieren sie mich sogar, was ich auch sagte.

»Bis zu welchem Grad?«, fragte Judy, sie wollte das wirklich wissen, also forschte ich in mir und sagte, es habe wohl etwas mit dem alten Rat zu tun, nicht mit Fremden zu sprechen und immer daran zu denken, dass Frauen eigentlich schlimmer seien als Männer. Tja – den Rat bezüglich der Frauen könne ich ignorieren und hätte es schon oft getan. Ich könne problemlos mit ihnen sprechen, aber sobald sie dann keine Fremden mehr seien, wünschte ich mir jedes Mal, sie wären es wieder.

»Sie drängen sich auf«, sagte ich. »Ich fühle mich verfolgt.«

»Wie das?«, fragte Judy, und als ich es ihr genauer erklärte, klingelte das Telefon erneut, keine zehn Minuten nachdem wir es hatten ausklingeln lassen.

»Sie übernehmen die Führung«, sagte ich zwischen den Klingelzeichen. »Sie werden zudringlich.«

»Soll ich rangehen?«

»Nein«, sagte ich. »Aber lass es uns abmelden. Gleich morgen früh. Und anders sein. Einfach nur wir. Niemand anderes mehr, nie mehr.«

Nach fünf- oder sechsmaligem Klingeln wurde es still, und Judy drehte sich zu mir um und sagte: »Danke, vielen Dank.« Und später, viel später in dieser Nacht wachte ich auf, quicklebendig, und ging ins Wohnzimmer, um mich zu vergewissern, und da stand er, vor der weißen Wand, ein Lichtstrahl fiel darauf, vom Mond oder von einer Straßenlampe, und in diesem kleinen Glorienschein konnte ich auf dem Notenheft, das auf dem schmalen Bord stand, »J.S. Bach« lesen und über der Klaviatur den Namenszug des Herstellers in Frakturschrift. Absolut richtig geschrieben. Bösendorfer.

Ich setzte mich eine Weile auf den Klavierhocker, dann kehrte ich wieder in mein Zimmer zurück und legte mich ins Bett. Ich war immer noch in dieser Erweckungsstimmung, aber nun sehr schläfrig, und sagte zu mir selbst: Dies über alles. »Dies über alles: sei dir selber treu. Und daraus folgt.« Aber was daraus folgte, wusste ich nicht mehr genau, und ich wollte nicht darüber nachdenken. Wollte es einfach stehen lassen und darüber schlafen.

Das war vor zwei Jahren gewesen. Vor New York, vor alledem, und am nächsten Tag erzählte mir Judith damals, bei ihr sei es genauso gewesen: Sie sei nachts aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen, um nachzuschauen, ob er wirklich dastand, sich davon zu überzeugen, dass sie das alles nicht nur geträumt hatte.

Nach der ersten Bar ging ich in keine weitere mehr. Ich hielt nicht einmal an einem Orangensaftstand. Vor einer roten Ampel im nächsten Ort schnallte ich mich an, und dann fuhr ich zügig weiter, denn ich wollte jetzt ganz bewusst nach Hause und es hinter mich bringen, wenigstens den ersten Teil – Judith sehen, Wie-hieß-er-noch-gleich kennenlernen, Gran das Kleid zeigen und die Pralinen schenken und mit meinem Vater – oder für ihn oder wegen ihm – tun, was eben anstand, je nachdem, in welcher Laune ich ihn antraf, was ich vorher natürlich nicht wissen konnte, er war ein launischer Mann. Aber ganz gleich in welcher Laune, ich wollte ihn möglichst bald sehen, ihn zur Seite nehmen und mir alles von ihm erklären lassen, in erster Linie, was er von dieser Hochzeit hielt und was ich seiner Meinung nach davon halten sollte und wie wahrscheinlich es war, dass Judith das wirklich durchzog. Er würde mich auf den neusten Stand bringen, mich auf die richtige Schiene setzen, wenn er nicht gerade in seine Arbeit vertieft war. Er hatte Judith schon gesehen, er hatte mit ihr und dem Jungen, oder Mann, geredet, er würde wissen, wie die Lage war. Unser Vater ist Philosoph, genau genommen Philosophieprofessor im Ruhestand, was ihn allerdings älter klingen lässt, als er ist, er hat sich in einem ungewöhnlichen Alter zur Ruhe gesetzt, ungewöhnlich früh, und seit kurz nach unserer Geburt lebt er auf der Ranch und macht sich Notizen zu einem Buch über die pyrrhonische Skepsis, vorwiegend allerdings denkt und trinkt er. Er hat aufgehört zu unterrichten, weil es ihn ärgerte, ständig irgendwelche Termine einhalten zu müssen – sich nach der Uhr zu rasieren, eine Krawatte umzubinden und immer wieder zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort erscheinen zu müssen. In Athen war das anders gewesen. Im goldenen Zeitalter konnte ein Lehrer im Bad liegen bleiben, so lange es ihm beliebte, und wenn er aus der Wanne stieg, stand ein Jüngling mit einem Handtuch da und trocknete ihn ab, und bis er schließlich trocken und gewandet war, wussten alle Bescheid, und die Jünglinge hatten sich versammelt, um Fragen zu stellen und befragt zu werden und zu der Überzeugung zu kommen, dass ein Leben, das nicht hinterfragt wird, nicht lebenswert ist. Genauso wurden auch wir erzogen; unser Vater war Sokrates, und wir waren die Jünglinge, die zu seinen Füßen saßen. Und Jane, unsere Mutter, ebenso, wenn sie zu Hause war, was wahrscheinlich öfter der Fall war, als wir damals meinten. Wir hatten es gern, wenn sie mit uns zu Papas Füßen saß, denn die Fragen waren dann deutlich kniffliger. Und die Antworten auch. Sie war ein unverbesserlicher Jüngling, der beste, den wir hatten.

Ich fuhr mit offenem Verdeck und wusste, dass ich auf Nase und Stirn gerade einen Sonnenbrand bekam. Am nächsten Tag war in der Lokalpresse zu lesen, es sei der heißeste 21. Juni seit 1912 gewesen, und wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich wahrscheinlich einen unserer üblichen Zwischenstopps eingelegt, noch etwas getrunken und das Verdeck hochgeklappt, ehe ich weitergefahren wäre. Aber ich tat es nicht. Es spielte keine Rolle, wie ich aussah, die einzige Brautjungfer muss sich gegen niemanden behaupten; sie muss nicht gleichmäßig gebräunt sein; wenn ihre Stirn sich schuppt und ihre Nase sich schält, tant mieux, umso besser für die Braut. Es ist sowieso ihr großer Auftritt. Wobei es, wenn ich das richtig verstand, gar keinen großen Auftritt geben würde, keine Hochzeitsgäste, nur Gran und Papa und Judith und ich, und natürlich der berühmte Medizinstudent aus Medicine Hat oder was weiß ich woher. Wen hätten wir aber auch eingeladen, wenn wir Gäste gewollt hätten? Da kamen nur alte Freunde von Jane aus Hollywood oder New York in Frage oder ehemalige Kollegen von Papa aus Cambridge. In Putnam und Umgebung hatten wir keine Freunde. Gran schon, aber wir nicht. Wir waren zwar auf der Grundschule und der Highschool von Putnam gewesen, dem nächstgelegenen Ort, und sogar vier Jahre in der Schwimm-Mannschaft von Putnam, aber irgendwie waren wir immer für uns geblieben. Alle im Ort redeten mit uns, und wir redeten mit allen, aber wir blieben nie länger. Wir gingen nicht in die Sonntagsschule und nur selten ins Kino oder zu irgendwelchen Pyjamapartys, und wir servierten nie Erfrischungsgetränke und hatten nie Übernachtungsgäste auf der Ranch. Wir lebten insulär, könnte man wohl sagen. Wir gingen nach der Schule immer direkt nach Hause, weil uns gefiel, was wir zu Papas Füßen hatten. Wir brauchten keine anderen Leute.

Trotzdem kamen die Leute in Scharen zu Janes Beerdigung, aber das lag daran, dass sie zu einer Art Berühmtheit geworden war, selbst in Putnam, wo Schriftsteller nichts zählen, zudem hatte in unserer Trauer über ihren Tod keiner daran gedacht (obwohl Papa und Gran schon seit einem halben Jahr gewusst hatten, dass Jane sterben würde), dem Zeremonienmeister mitzuteilen, dass die Beerdigung natürlich im kleinsten Kreis stattfinden sollte, so wie alles bei uns. Wir kamen zu spät zur Kapelle, das weiß ich noch, und man ließ uns durch einen Seiteneingang ein und führte uns in einen kleinen Raum, der durch einen dünnen Vorhang abgetrennt war, während in einem anderen Raum jemand auf einer Hammondorgel ziemlich falsch »Schafe können sicher weiden« spielte. Ich identifizierte mich mit der Orgel, wie sie da so dumpf vor sich hin leierte. Meine eigene Dumpfheit erlaubte mir immerhin noch, zu erkennen, dass Gran kurz vor dem Zusammenbruch stand, und ich erkannte am Geruch, dass mein Vater auf seine übliche Weise Trost gesucht hatte, außerdem war mir bewusst, dass wir auf einer konventionellen Beerdigung waren, die nichts mit den einzigen anderen Beerdigungen zu tun hatte, auf denen wir bisher gewesen waren – für die Katze, die diversen Frösche und die Maus, die im Eimer ertrunken war. Aber mit denen hätte die jetzige Beerdigung ohnehin niemals mithalten können, denn Jane hatte sie selbst mitgestaltet, wohingegen uns die jetzige Beerdigung aufgedrängt worden war, als wir gerade nicht aufgepasst hatten – mitsamt der Orgel, den Reden, den Leuten, dem ganzen Trara. In erster Linie war die Beerdigung groß; als wir hinter dem Vorhang hervorkommen und ans Tageslicht treten mussten, ging es draußen zu wie am Armistice Day, die Leute drängten sich auf dem Bürgersteig und sogar auf der Straße. In Anbetracht dieser Besucherscharen gaben wir ein unverzeihlich klägliches Bild ab – Judith und ich ohne Hut, ohne Handschuhe, ohne Sonnenbrille, mein Vater ohne seine Chlorophylltabletten und unsere Großmutter ausnahmsweise nicht imstande, sich über diesen Tribut an den großen Namen ihrer Tochter zu freuen.

Aber das war eine Beerdigung gewesen, und jetzt stand eine Hochzeit an. Ich sang ein paar Töne von »Schafe können sicher weiden« und gestattete mir die Überlegung, wie ich vorgehen würde, wenn es meine Hochzeit wäre. So jedenfalls nicht, das war klar. Ich würde entweder richtig Hochzeit feiern oder gar nicht. Entweder würde ich durch einen Mittelgang schreiten, vor einem Altar stehen bleiben, dort mein Eheversprechen noch salbungsvoller abgeben, als es mir dargebracht wurde, und alle Leute sehen lassen, wie ich den Schleier anhob. Und nachdem man uns zu Mann und Frau erklärt hätte, würde ich durch den Gang hinausschweben wie auf Wolken, zum Schlusschoral von Mendelssohn, mit einem Lächeln auf den Lippen, das allen Gästen genau das anzeigen würde, was sie gern darin lesen wollten. Sollten sie daran glauben, sollten sie Reis werfen und auf ihre Hupen drücken. Oder. Oder ich würde ganz schlicht vor den Friedensrichter treten, mit Zufallszeugen, ohne jeden Exhibitionismus, ohne dieses Ritual über die Hauptpersonen hinaus irgendjemandem aufzudrängen. Entweder so oder so. Aber ich würde niemals beides zugleich versuchen, ich würde niemals, ich schwöre es, niemals mit einem Fremden nach Hause kommen und vor unseren Hausgöttern die brutale Doppelzeremonie der Zerstörung Athens und des Aufbaus von etwas Neuem in Szene setzen, das dem Alten nicht einmal im besten Fall entsprechen könnte. Oder auch nur ansatzweise daran heranreichen. Oder im selben Atemzug erwähnt werden. Von hehren Höhen kann man nur absteigen. Man frage, wen man wolle. Vorzugsweise mich.

Die Sonne stand jetzt tief. Sie lag zu meiner Rechten auf dem Horizont, etwas formlos, wie immer, wenn sie auf den Boden trifft. Ich war nicht mehr weit von der Stelle entfernt, wo ich den Highway verlassen und die Landstraße zur Ranch nehmen konnte. Man kommt zu einer Reklametafel, auf der steht »In Tipton: Burdick’s«. Diese Reklametafel gibt es, seit ich denken kann, und es steht nichts anderes darauf. Dann kommt eine Molkerei, und kurz nach der Molkerei biegt man über die nach Norden führende Gegenfahrbahn links ab, auf eine Straße in Richtung der Berge. Unsere Ranch liegt in den vorgelagerten Hügeln.

Ich hatte die Sonne jetzt im Rücken, nicht mehr auf Nase und Stirn. Es waren noch fünfzig Meilen bis nach Hause, und ich verlangsamte die Geschwindigkeit; nun ganz allein, ließ ich den Riley gemächlich zwischen Alfalfafeldern dahingleiten, tief blaugrün wie Seen, von denen sumpfig riechende Brisen herüberstrichen und mich zur Räson brachten. Wenn sich jetzt eine Gelegenheit auftäte, irgendwo etwas zu trinken, würde ich nicht mehr weitergondeln, sondern die Gelegenheit nutzen. Ich würde ein Plätzchen finden, um mir die Haare zu kämmen, etwas Lippenstift aufzulegen und mich um meine Stirn und Nase zu kümmern, und dann in den Schankraum gehen und meinen Durst stillen. Ich würde tun, was erwartet wurde, mit einem fremden Menschen sprechen und ihm oder gar ihr anvertrauen, dass ich auf dem Weg zu einer Hochzeit war. Doch ich kannte diese Straße so gut wie den Ort, zu dem sie führte, und es gab auf dieser Strecke keine Gaststuben, keine Wirtshäuser, keine Lokale. Die Alfalfafelder würden nach ein paar Meilen in Baumwollfelder übergehen und diese wiederum in Weinberge mit Drahtspalieren, an denen sich belaubte Weinreben zierlich emporrankten, jung und den Drähten offenbar bereitwillig folgend. Ich kannte diese Straße. Die einzigen Gebäude, die es dort gibt, sind Pumpenhäuser, es sei denn, man betrachtet die Notfall-Telefonzelle an der Kreuzung bei der Hochspannungsleitung auch als Gebäude. Die Telefonzelle, von der aus wir zu Hause angerufen hatten, als Judith in unserem zweiten Jahr am College auf dem Rückweg dorthin ihre Impfbescheinigungen vergessen hatte. Wir riefen an, und dann warteten wir am Straßenrand, warfen mit Steinen nach verschiedenen Zielen, bis Jane mit der Bescheinigung und einer ganzen Reihe anderer Sachen, die wir vergessen hatten, angedüst kam. Und zwar mit genau diesem Auto hier; sie trug Shorts, das weiß ich noch, und ein blaues Polohemd von Papa, das ihr aus der Hose hing, fast bis auf die Beine.

Andere Zeiten, andere Notfälle – plötzlich begann ich mir Gedanken darüber zu machen, dass ich einen Tag früher nach Hause kam, ohne es jemandem gesagt zu haben. Ohne zu fragen. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, schließlich fuhr ich nach Hause, und irgendwo hinzugehören bedeutet ja nicht zuletzt, dass man ohne Erlaubnis kommen kann, eben weil man dort hingehört. Aber tat ich das überhaupt? Gehörte ich dorthin, in dieser Zeit, wo Pläne geschmiedet und Grundsatzfragen geklärt wurden, Fragen von großem Gewicht, wie etwa: Sterlingsilber oder Edelstahl? Weiße Handtücher oder einfarbige oder gestreifte? Verhütung oder Kinder? – solche Dinge. Sie würden einiges zu besprechen haben. Würden sich Klarheit verschaffen wollen. Sie kannten sich ja noch nicht sehr lange.

Ich hörte mich John Thomas Finch und seine Auserwählte mit einem Wort abtun, das ich meiner Erinnerung nach noch nie gebraucht hatte oder auch nur hatte gebrauchen wollen, und ich war schockiert, es keine fünfzig Meilen von zu Hause entfernt mit solcher Bitterkeit und ohne Vorwarnung über meine Lippen kommen zu hören. Was für eine Art, von jemandem zu sprechen, den ich gar nicht kenne – und von jemandem, den ich umso besser kenne.

Ich weiß nicht, wann ich aufhörte, nur so dahinzugondeln. Wahrscheinlich ungefähr im gleichen Moment, als mir auch das Wort herausrutschte, jedenfalls fuhr ich jetzt wieder, wirbelte Staub am Rand der Weinberge auf, röhrte zwischen ihnen hindurch, vorbei an der Hochspannungsleitung und etwas Grünem, Glänzendem. Ich war schon ein ganzes Stück weiter, als mir dämmerte, was das Grünglänzende gewesen war – die alte Notfall-Telefonzelle, die man benutzen konnte, wenn man in Schwierigkeiten steckte. Ich hielt mit quietschenden Reifen an, drehte mich um und schaute zurück, und es stimmte. Unsere Telefonzelle, dort bei der Hochspannungsleitung. Ich legte einen Arm auf die Rückenlehne und fuhr das ganze Stück im Rückwärtsgang zurück, dann hielt ich auf dem gepflügten Boden neben der Telefonzelle an und stellte den Motor ab. Die Dämmerung hatte sich herabgesenkt – jedenfalls fast, Abendstille nach einem wilden Tag –, und ich ließ die Umgebung auf mich wirken – es war ja nun doch meine Heimat. Die Hitze war ein bisschen erträglicher geworden, und ich saß einen Moment lang reglos da, während der Staub sich legte. Ich streifte die Handschuhe ab, löste den Sicherheitsgurt, suchte ein paar Münzen für das Telefon zusammen und hörte dabei die ganze Zeit ein Geräusch, das ich zu kennen meinte und dann erkannte – das Ächzen einer Pumpe, nicht weit von mir, ja ganz in der Nähe.

Sie war schnell entdeckt, auf der anderen Straßenseite, ein holzverschaltes Pumpenhaus mit einem herausragenden Rohr, aus dem ein klarer, dicker Wasserstrahl in ein hohes Betonbecken schoss, und ich stieg aus dem Auto, ging hinüber und schaute hoch – Wasser, unverzichtbar für uns Farmer und ebenso für uns Landstreicher. Eine sonnengebleichte Leiter lehnte an dem Betonbecken, und ich kletterte vier, fünf Sprossen hoch, sehr vorsichtig bei der einen, die um den Nagel herum gesplittert war, bis ich weit genug oben war, um den Finger in das herausströmende Wasser zu halten, dann die ganze Hand. Es kam mit Wucht, mit solcher Kraft, dass meine Hand abgedrängt wurde, also zog ich sie zurück, umfasste die Holme, kletterte weiter hinauf und beugte mich weit vor. Es zerriss mir schier den Mund bei dem Druck, aber ich hielt dagegen und trank. Wieder und wieder hielt ich dagegen und trank, und dann streckte ich unwillkürlich den ganzen Kopf in den Strahl und ließ das Wasser an meinen Haarwurzeln reißen und mein eines Ohr ausspülen. Lange machte ich das allerdings nicht, und beim Heruntersteigen dachte ich nicht mehr an die angebrochene Sprosse. Es war sehr staubig, wo ich landete, und ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich heulte ein bisschen. In solchen Momenten muss jemand wie ich hochgehoben und abgebürstet und sanft ermahnt werden, nicht so ungestüm zu sein, nicht so kühn, lieber auf das nächste Gasthaus zu warten oder bis zu Hause durchzuhalten, wo es Trinkkelche gibt und Gläser mit Monogramm und wo Landstreicherei etwas ist, was man nur aus der Zeitung kennt. Ich schaute von da, wo ich saß, zur Leiter hoch und sah, dass sie in noch schlechterer Verfassung war als ich, die eine Sprosse hing unter dem Nagel wie eine gebrochene Rippe; ich raffte mich hoch, klopfte mich selbst einigermaßen sanft ab, überquerte die Straße und trat in die Telefonzelle, und ich wusste sogar noch, was ich machen musste: den Hörer auf der Gabel lassen, eine Kurbel am Batteriekasten ziemlich heftig drehen, dann den Hörer ans Ohr halten und auf eine Stimme warten, die einen fragt, welche Nummer man anrufen will, und daraufhin sagt, was es kosten wird. Ich machte alles richtig, und es funktionierte.

»Ja?«, hörte ich meine Großmutter sagen. Das sagt sie immer, statt Hallo, und ich habe nie so recht verstanden, was sie damit meint, deshalb frage ich jedes Mal nach. Jane hat auch immer nachgefragt. Ich habe das von ihr.

»Was ja?«, fragte ich. Daran hätte sie mich eigentlich erkennen müssen, aber nein, sie wiederholte die Frage, wenn es denn eine war, also ging ich den direkten Weg.

»Granny, hier ist Cassie«, sagte ich.

»Wen?«, fragte sie.

»Nicht wen«, sagte ich. »Wer. Wer ist dran, und dran ist Cassandra Edwards. Aus Berkeley, Kalifornien.«

»Augenblick«, erwiderte sie, und dann hörte ich sie beiseite sprechen: »Jim, es ist Berkeley. Ich fürchte, Cassie ist etwas zugestoßen.«

»Nein, nein«, rief ich, »red nicht mit Papa, sondern mit mir!« Aber ich sagte es ins Leere, und kurz darauf hörte ich sie von Neuem, wieder im Hintergrund. »Jetzt hol dir ein Handtuch«, sagte sie, »und komm ans Telefon.«

Dann Stille, nichts. Ich rief ein paarmal Hallo und klatschte ein paar Stechmücken an die Wand der Telefonzelle, allerdings nur zwei oder drei von fünfzehn oder zwanzig, und die nächste Stimme, die ich hörte, war die meiner Schwester Judith, ein bisschen atemlos, aber höchst wiedererkennbar. Mir wurden die Knie ganz weich vom Wiedererkennen. Dann holte ich tief Luft und festigte mich.