Zwei Sekunden brennende Luft - Diaty Diallo - E-Book

Zwei Sekunden brennende Luft E-Book

Diaty Diallo

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Beschreibung

Eine Banlieue von Paris. Hochhäuser, eine Betonplatte. Astor, seine Freunde Chérif, Issa, Demba, Nil und die anderen verbringen hier den größten Teil ihrer Zeit. Sie kennen sich schon ewig, teilen alles miteinander, von kleinen Abenteuern über große Grillpartys bis hin zu den täglichen Schikanen der Polizei, die sie misstrauisch beäugt, kontrolliert, festnimmt und immer wieder massiv angreift. Ein Tag im Juli, die Luft steht vor Hitze. Am Abend hängen die einen noch auf der Betonplatte ab, während die anderen schon feiern. Ein klassischer Sommerabend, bevor plötzlich die Luft vernebelt wird, die Geräusche verschwimmen, Augen brennen und Tränen fließen. Ein wahres Chaos. Es kommt, wie es kommen musste: Festnahmen, Polizeigewahrsam. Und Samy, einer von ihnen, wird von der Polizei erschossen. Ein Tropfen, ein Ozean – zu viel.

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Seitenzahl: 161

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Zwei Sekunden brennende Luft

Diaty Diallo

Roman

Aus dem Französischen von Nouria Behloul und Lena Müller

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»Deux secondes d’air qui brûle«

© Éditions du Seuil, 2022

All rights reserved

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2023

Aus dem Französischen von Nouria Behloul und Lena Müller

© Assoziation A, August 2023

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Andreas Homann

Druck und Bindung: CPI, Leck

Foto von Diaty Diallo © Bénédicte Roscot

© Lisette Lombé, C’est le temps du vin blanc aus »Brûler, brûler, brûler«

© der deutschsprachigen Ausgabe bei Assoziation A, erscheint im Februar 2024, unter dem Titel »Brennen Brennen Brennen«, aus dem Französischen von Odile Kennel.

Assoziation A, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin

[email protected], [email protected]

assoziation-a.de

ISBN 978-3-86241-501-4

eISBN 978-3-86241-641-7

Für meine Großeltern, die hier leben,

für meine Verschwundenen drüben.

Für alle Gedemütigten,

Verletzten, Versehrten,Vergewaltigten,

Eingesperrten,

für die Ermordeten und alleWagemutigen,

davongetragen auf ihren Bikes,

kein Vergessen, kein Vergeben.

Inhalt

Drunter

Drüber

Drunter

Samy

Chérif

Garagen

Parkplatz

Null

Der Platz

Die Dächer

Merci

Songs

Traduction en différentes langues

de cette liste d’objets que

l’on peut perdre dans

le fond des océans,

listes des morts qui remontent

à la surface des

mémoires et qui demandent

justice.

Noircir, noircir.

Lisette Lombé, C’est le temps du vin blanc

Faut qu’on s’organise

qu’on crée nos propres trucs

Avant que tout explose

il faut qu’on s’arme

J’ai de la force pour les frères, les

étoiles mes seules guides,

Retour aux pyramides

après des siècles

X-Men, Retour aux pyramides

Übersetzung in unterschiedliche

Sprachen

dieser Liste der Dinge, die

man verlieren kann

am Grund des Ozeans,

Liste der Toten, die aufsteigen an

die Oberfläche der Erinnerung

und Gerechtigkeit verlangen.

Schwärzen, schwärzen.

Lisette Lombé, C’est le temps du vin blanc

Müssen uns organisieren

unsre eignen Sachen machen

Bevor alles explodiert

müssen wir uns bewaffnen

Ich bin stark für die Brüder, die Sterne

meine einzigen Wegweiser

Rückkehr zu den Pyramiden,

Jahrhunderte später

X-Men, Retour aux pyramides

Drunter

16. Juli, Abend, unter dem Platz.

Hinter einem endlosen Zaun dehnt sich eine Brache, eine zukünftige Siedlung, bewohnt von jungen Trieben, Büschen und Hecken, deren Tage gezählt sind. Diese Brache, das Abenteuerterrain unsrer Kindheit. Mit dem Fuß vergrößre ich das Loch im Zaun, dann schlängle ich meinen großen Körper durch, erwachsen seit wenigen Sommern. Schon einige Meter über dem Treffpunkt bebt der Boden. Die Zweige und Blätter verschiedener Arten, die im Dunkeln nicht zu unterscheiden sind, zittern im Rhythmus des unterirdischen Pulsschlags. Ich lass mich von meinen Ohren leiten und bahn mir einen Weg zwischen den Steinen, Dosen und buckeligen Sandhügeln. Ich seh den Eingang.

Ein Rand aus Beton umrahmt eine vom Rost zerfressene Metalltür. Sie klappert im leichten Wind. Öffnet und schließt sich vor dem Einstieg in einen Schacht. Ich schau hinein und horche, bevor ich mich runterlasse. Ich weiß, da ist eine Treppe. Ich erahne Housebässe. Ich stell mir feuchte Nacken vor, von Dezibel übertönten Jubel, Tänzer, Tänzerinnen, die sich plötzlich und unerwartet auf einem Dancefloor gegenüberstehen und zwischen Zurückhaltung und der Lust nach Berührung schwanken. Ich denk an lebhafte, verworrene Gespräche und Leute, die sich lautstark ihre Liebe gestehen, was sie sonst nicht tun würden.

Ich betrete das Parkdeck. Der typische Geruch von Orten ohne Sonne schlägt mir entgegen, aktiviert den Hippocampus in meinem Schädel und meine Kindheitserinnerungen. Wie ich mich einmal mit meinen älteren Geschwistern im Keller versteckt hab, ihnen wie ein Schatten gefolgt bin und mir den Ringfinger in der Feuertür eingeklemmt hab, die ihn für immer zwei Millimeter kürzer gemacht hat. Wie ich mein Rad in denselben dunklen Gängen anschließen wollte, schweißgebadet vor Angst, verfolgt zu werden. Dieser feuchte Geruch nach Erde ist auch der Geruch nach Partys unter Tage, wo Flüssiges niemals mit Geld beglichen wird. Der Geruch des Undergrounds. Eine Mischung aus Alkohol und Softdrinks aus Wasserflaschen. Der Qualm von billigen Zigaretten aus Spanien. Geteilte Getränke, vereinter Rausch, Musik aus Chicago. Wo jeder in seinem eignen Takt bebt und den Einschlägen der treibenden Bässe die Stirn bietet.

Das ist der Geruch von dem, was man uns lässt. Ein paar Meter Gehsteig, einige Bänke, ein Dreieck Wiese, etwas Totholz, über dem wir Fleisch grillen. Auch der kleinste Kofferraum kann ein Soundsystem werden.

Wir kommen klar. Wir lassen uns die Laune nicht verderben.

Aber unsre Freude wird nicht von allen geteilt. Es gibt Leute, die in uns nur den lärmenden Nachwuchs unsrer Vorfahren sehen, die wenigstens noch die Fresse gehalten haben. Es stimmt, wir reden laut, aber es ist nicht so, als ob wir jede Nacht schreiend unter irgendwelchen Fenstern sitzen. Wir wollen bloß, dass was los ist. Feuer machen, bisschen labern, um die langen oder auch kurzen Tage rumzukriegen, manchmal tanzen.

Nicht viel insgesamt.

Ich renn die Treppe runter. Meine Sohlen schlagen auf den Beton. Ich versuche gar nicht erst, leise zu sein. Das Geräusch meiner Schritte hallt zwischen den Wänden. Während ich tiefer unter die Erde komm, mischt sich ihr Echo in die Beats von weiter unten und löst sich in ihnen auf.

Ich erreiche das unterste Deck und zünd mir im Gehen eine Kippe an. Die Parkflächen sind leer und nur schwach beleuchtet. Ich atme dünne Schlangen Rauch aus, die oben an den Neonröhren zerfransen. Ich schick Samy eine Nachricht: Wo bleibst du Bruder? Vor der letzten Tür, durch die ich muss – eine schwere Schwingtür –, warte ich ein paar Sekunden, für den Fall, dass eine Antwort kommt.

Ich hasse es, allein auf Partys anzukommen. Ich hab immer Angst, dass ich die erste Person, die mir über den Weg läuft, zu gut kenne, um nicht zu grüßen, aber nicht gut genug, um mich zu freuen. In meiner Nähe ein paar Leute, die sich in der weniger stickigen Luft außerhalb der Halle abkühlen. Ich vermeide Blickkontakt, damit es nicht aussieht, als wär ich offen für Gespräche. Ich crushe die Dose, die ich auf dem Weg getrunken hab, atme durch und entscheide, mich dem Rest der Crowd anzuschließen.

Ich geh rein. Ich beobachte. Es braucht ein paar Minuten, bevor ich in dem Gedränge meinen Platz finde. Normalerweise ist es leer hier, und wir kommen her, um uns vor den Blicken von Unbekannten zu schützen, die sich von uns gestört fühlen, und vor den Anzeigen, mit denen wir zugespamt werden, aber heute Abend existieren verschiedene Universen, verschiedene Styles nebeneinander: Leute bewegen ihre Arme und Beine in alle Richtungen, tanzen halt, andere Leute hocken auf großen Sitzsäcken und über ihnen noch mehr Leute, die in Hängematten über den Köpfen der anderen schaukeln. Alle krähen in die Bässe, erregtes Kopfnicken, den Takt trommelnde Füße.

In den Taschen meiner Hose und meiner Jacke haben vier Dosen Bier Platz gefunden. Ich nehm eine, mach sie auf und trink einen Schluck. Die Kohlensäure kribbelt auf meiner Zunge. Nur wenige der Songs, die aus den Boxen dröhnen, sind bekannt, aber fast alle tanzen. Voll schön. Wie ein Dialog ohne Worte, Lippen, die sich stumm bewegen, Hände, die die Musik wiedergeben. Man hört weder das Lachen noch den Anlass dazu. Leute küssen sich sanft, außer Atem, Handfläche an Handfläche, Körper aneinandergeschmiegt. Lippen geöffnet in der Kuhle eines Schlüsselbeins. Arrhythmische Herzen, zu zweit, zu dritt. Die undisziplinierte Sprache der Zärtlichkeit.

Ich geh rüber, wo man chillt, Gruppen sich unter Drogeneinfluss unterhalten und hinter einem breiten, rechteckigen Betonpfeiler friedlich Dosen getrunken werden.

Zwischen den Leuten, die an der Wand lehnen, fällt mir eine süße Chaya auf. Ich geh näher ran, um die Lage zu checken. Sie und ihre Freundinnen reden über die feuchte Luft auf dem Dancefloor und wie da die Haare sinnlos frizzen. Das nächste Mal komm ich mit Kopftuch oder ich flechte, solche Sachen sagen sie und machen dazu die passenden Gesten mit den Händen. Die mir aufgefallen ist, heißt Aïssa. Ein Dreieck hellbrauner dicht gekrauster Haare rahmt ihr Gesicht. Ihre Freundinnen tragen Bob mit kurzem Pony, hohe Pferdeschwänze, blaue Braids. Aïssa bemerkt, dass ich sie anschaue und fragt, ob ich einen Haarschnitt brauch. Wenn du die Ohren so aufsperrst, willst du doch was, oder nicht, sagt sie. Sie ist sehr schön.

Extrem schön.

So schön, dass ich trippe: Um mich herum wird das Licht gedimmt, der Rhythmus der Musik wird langsamer und geht in eine Klavierballade über, eine hohe, verzweifelte Stimme schüttet ihr Herz aus. Call me friend but keep me closer and I’ll call you when the party is over.

Ich dreh mir eine Zigarette und mach einen auf gedankenverloren. Einen Haarschnitt? Ja, sag ich. Kannst du alles? So Topfschnitt, glaubst du steht mir? frag ich. Aïssa antwortet, sie würde bei meinen Haaren eher an der Seite was reinrasieren, wie als wir klein waren. Sie macht sich lustig, aber in nett. Bin dabei, antworte ich und trau mich nicht hinterherzuschieben, wenn du es machst, also biet ich ihr ein Bier an. Sie antwortet gern und fragt, ob ich hier Leute treffe. Ich sag, dass ich auf den kleinen Bruder von meinem besten Freund warte, der jeden Moment da sein müsste.

Aïssas Freundinnen sind tanzen gegangen. Mit den Händen auf Kopfhöhe deuten sie weiter alle möglichen Frisuren an. Willst du nicht zu ihnen? frag ich. Nee, ich bleib bei dir, sagt Aïssa. Du bist ganz allein, am Ende wirst du noch gefressen, die Leute hier haben Appetit auf sensible Jungs. Ich sag, ich bin nicht sensibel. Sie antwortet, klar bist du sensibel, und fragt, wie ich heiße.

Astor heiß ich.

Astor, wiederholt Aïssa.

Die Jungs nennen mich manchmal Astro. Aber seltsamerweise nie Castor. »Na Astro, wie stehen die Sterne heute? Lass gut sein, ich hol mir bloß ein Rubbellos«, den Spruch krieg ich zu hören, wenn ich auf dem Weg zur Metro am Kiosk vorbeigeh. Manchmal mach ich einen Umweg, weil ich keinen Bock hab, mir die heiseren Stimmen der Alten anzuhören, die sich schon morgens volllaufen lassen.

So was in der Art erzähl ich Aïssa, vielleicht damit sie lacht. Ich frag sie, ob sie auch eine verrückte Geschichte zu ihrem Vornamen hat. Überhaupt nicht, antwortet sie. Ich glaub, ich sollte Aïcha heißen, aber meine Mutter meinte, no way, weil das Lied in Dauerschleife im Fernsehen lief. Ist doch nice das Lied, sag ich. Definitiv, aber du weißt, wie die Leute sind, sagt sie, die hätten das verknüpft, sobald sie meinen Namen hören. Hast du recht, sag ich und frag, wo sie wohnt. Ist meine Hood hier, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch, als würde sie fragen, wo sonst. Gleich hinterm Platz, in Richtung Park, wo es runtergeht. Same, sag ich, meine Eltern wohnen im Block neben der Post. Wir haben was gemeinsam, cool, aber dann weiß ich nicht weiter, in dem Spiel bin ich nicht gut. Ich versuch’s mit was hörst du so – aber was ist das bitte für eine schräge Frage. Sie lacht, fragt, ob ich das ernst meine mit meinem Verhör, und antwortet, keine Ahnung, alles Mögliche, das sei eine blöde Antwort, stimme aber. Lala &ce, Lady Gaga, Lunatic. Die mag sie. Man könnte sagen, ich mag Klassiker, sagt sie. »Was hörst du? Ich hör Klassiker. Klassik? Nee Alter, Klassiker.« Mein Hirn sprüht Funken, sobald ich ihre Stimme im Ohr hab, und ich würde gern herausfinden, wie Zukunft geht mit ihrer Hand in meiner.

Klassiker in XL, füg ich hinzu, und betrachte von der Seite ihre beigen Augen. Beige. Beige! Als wär das eine normale Augenfarbe.

Mein Kopf läuft heiß. Ich spür meinen Herzschlag, auf der Haut, in den Handflächen und in den Fingerkuppen. Ich muss wieder runterkommen. Genug um folgenden Satz zu sagen: Möchtest du mal was mit mir trinken gehen? Meine Lippen öffnen sich leicht, setzen zum M von möchtest an, zum D von du, meine Zunge drückt gegen den Gaumen, als nebenan, wo getanzt wird, ein Remix von Histoire de la vie Version Baltimore Club loslegt und im Jubel untergeht. Ich werd zum Dancefloor geschoben, für ein paar Sekunden presst Aïssa ihre Unterarme an meinen Rücken, mir wird heiß und schwindelig. In dem Moment merk ich, wie besoffen ich bin. Ich versuche, nicht wie der letzte Idiot zu tanzen, mit rotierendem Zeigefinger überm Kopf, sondern eher wie ein Typ, der das im Blut hat, tha smooth die Schultern kreisen. Aïssa tanzt dicht neben mir, direkt hinter ihren Friends, die Ladys von eben und jetzt auch ein paar Typen, eher gutaussehend, sodass sich mir die Frage stellt, wie ich im Halbdunkel rüberkomme.

Sie tanzt. Im Rhythmus versunken, völlig in ihrem Ding. Ich trau mich nicht, was zu sagen, ich hab Angst, die Harmonie zu stören, die von ihr ausgeht, ich hab Angst, ihren Flow zu unterbrechen, ich hab Angst, ihr ins Ohr schreien zu müssen und dass die Musik genau in dem Moment aufhört, ich hab Angst, ihr auf die Nerven zu gehen und eine Abfuhr zu bekommen. Ich hab Angst und fühl mich unbeholfen. Ich tanze und grinse wie ein dummes Kind. Der Song ist zu Ende, ich schau auf mein Handy, um etwas zu tun zu haben. Immer noch keine Nachricht von Samy, das nervt langsam.

Alles ok? fragt Aïssa, und ich antworte, dass Samy nervt, weil er nicht auftaucht. Ich schau sie an. Ihr Gesicht ist ein perfektes Zusammenspiel aus Einzelheiten. Langweilst du dich mit mir? fragt sie. Absolut nicht, antworte ich. Sorry, ich mach mir schnell Sorgen, vor allem, weil er mit dem Moto unterwegs ist. Aïssa sagt, dass er vielleicht den Eingang nicht findet, und dass sie mit nach draußen kommt ihn suchen und bisschen an die frische Luft.

Sie macht den ersten Schritt. Leichtfüßig wie eine Ballerina. Mein Herz rast, pumpt wie verrückt, und der Geruch von Adrenalin steigt mir in die Nase. Wenn wir draußen in der warmen Luft sind, muss ich was tun. Ich schlag ihr vor, dass wir zu mir gehen. Nee, zu Gigolo. Ich schlag ihr vor, dass wir im Park spazieren. Nee, zu Loverboy. Ich schlag ihr vor, morgen was trinken zu gehen, der Klassiker, und wenn wir angetrunken sind, nehm ich sie mit aufs Dach, das ganze Programm, die Stadt von oben anschauen und so, in der Hoffnung, dass sie mich küsst. Und dass sie überhaupt auf Jungs steht. Dass sie auf mich steht. Ich schlag’s ihr vor, sobald wir auf der Treppe sind. Nee, ich schlag’s vor, sobald Samy auf seinem Moto auftaucht, ich mach‘s kurz und fang an mit hey oder wenn du möchtest. Das mach ich. Ihr vorschlagen, dass wir uns zusammen betrinken.

Meine Beine zittern, ich kann meine Angst riechen. Ich wusste nicht, dass man sich in einer Stunde verlieben kann. Ich möchte meinen Kopf an ihren Hals legen, ihren Duft einatmen und die Angst verjagen, dass sie mich nicht will.

Die Konturen der Party verschwimmen, honiggelbes Licht umgibt die Tanzenden wie Insekten in Bernstein. Die Boxen spielen you got me lifted, feeling so gifted, suga how you get so fly? Dann 40 degrés, grand soleil, j’transpire à bloc, pfff c’était bien au début quand on s’connaissait pas encore…

Ich such das Beige in ihren Augen, Honig fließt von den Wänden, ich möchte ihn ablecken, meine Zunge und Finger hineintauchen. Der Angstgeruch ist verflogen, aber meine Nase juckt. Juckt und brennt. Meine Augen auch. Die Wände sind wieder grau. Ich kenne den Geruch und checke, dass der Raum rundherum zu ist: Wir sind in der Scheiße. Jemand schreit, dass oben ein BBQ aufgelöst wurde, dass die Cops angreifen, dass eine Tränengaspatrone in den Lüftungsschacht gefallen ist. Wir müssen raus.

Die Luft ist voller Rauch. Erstickt die Stimmen, erstickt die Hilferufe. Ich drück mir meine zusammengeknäulte Jacke aufs Gesicht. Ein Schutz, der nix bringt. Aïssa krallt ihre Nägel in meinen Arm, und ich spür den Schmerz nicht. Ich kann die Augen nicht offen halten, ich weiß nicht, wohin ich laufe. Ich lauf einfach. Ich denk nicht mehr daran, Aïssa nicht zu verlieren. Ich denk nur noch, dass ich vielleicht sterbe. Das Tränengas überflutet den Raum und löst eine Massenpanik aus. Eng aneinandergepresste Körperteile geraten auf der Flucht durcheinander. Mein ganzer Körper bäumt sich auf, meine Lunge sucht nach Sauerstoff. Ich kann nicht mehr atmen. Ich krall mich an den Handgelenken von Unbekannten fest. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich kotze glühende Luft, die mir die Speiseröhre verätzt. Meine Gesichtshaut brennt, als wäre sie mit Chili eingerieben worden. Die Lunge voll mit dem Gift kippt jemand um und fällt auf mich. Eine übernatürliche Stille breitet sich aus, verstärkt von dem Schniefen, den Spasmen, dem Spucken und Husten. Die ganze Zeit eine Stimme in meinem Inneren, vielleicht meine eigne: Alles geht zu Ende, nichts ist ewig, alles löst sich auf, ich sterbe nicht.

Endlich können sich Sauerstoffmoleküle einen Weg zu uns bahnen und verdünnen die vergiftete Luft. Vermehren sich ausreichend, dass wir einatmen können. Ein Mal. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal, bis wir stoßweise atmen, dann hecheln. Meine Augen sind voller Tränen, ich seh nichts oder bloß schemenhafte Schatten. Ich widerstehe, berühre mein Gesicht nicht, kneif die Augen zusammen, um die Tränenflüssigkeit laufen zu lassen, und öffne sie wieder. Um mich herum halten sich Leute den Bauch, röcheln, atmen rasselnd ein und aus. Auf dem Boden ein Dutzend zusammengesunkener Gestalten mit zitternden Händen.

Dann bilden sich Gruppen, um aufzubrechen. Aïssa ist verschwunden. Alle, die die Kraft finden, gehen zu den Ausgängen. Anscheinend kommt man bei der Pyramide raus. Das riecht nach Ärger, nach Stunden auf der Wache, und wenn man so aussieht wie ich, wird es auch genau so laufen, deshalb hock ich mich auf die Treppe und warte, dass sich die Lage oben beruhigt.

Drüber

16. Juli, Abend, auf dem Platz.

Ein paar Stunden früher, am gleichen Abend.

Ein Sommerabend wie alle Sommerabende.

Passanten, Gruppen, Mütter über den ganzen Platz verteilt. Man sitzt auf den Stufen im Labyrinth vom Brunnen oder auf den Bänken. Man plaudert belangloses Zeug. Die schwüle Hitze dämpft die Gespräche und nimmt Tempo aus den Debatten. Hin und wieder rafft sich eine Mama auf und schimpft träge über den Blödsinn, den sie von Weitem beobachtet. Kleine Menschlein in winzigen Latzhosen quieksen wie Vögelchen. Man pflegt Traditionen: die mitgebrachten Klappstühle, die Mädchen, die sich gegenseitig die Haare flechten, die Kühlboxen, in denen Bissap und Beignets in Glasflaschen lagern. So stell ich mir die Szenerie vor.

Bevor giftige Dämpfe dem Blut und den Hirnen den Sauerstoff entzogen, war es ein ruhiger Abend. Fast langweilig.

Die kleinen Brüder lassen die Maschinen aufheulen, die sie sich von den Älteren geliehen haben. Ihre Körper noch halbstark und in den Augen das bevorstehende Beben der Welt, Lärm und Gefahr inklusive. Wenn ich sie vor meinem Fenster vorbeifahren sehe, hat ein Teil von mir Sehnsucht nach dem Gefühl, vom Motorengeräusch und dem Wind im Gesicht verschluckt zu werden, sich aufzurichten mit der Maschine, um lautlos wieder auf den Boden zu kommen. Seit die Menschheit motorisiert ist, frisiert die Jugend ihre Mopeds, damit die lauter kreischen als die Maschinerie, die sie zwingt, älter zu werden. So sieht’s aus.

Die kleinen Brüder lachen viel und geben gern Konter – oder sind beschränkt und arrogant, das liegt im Auge des Betrachters –, und sie sind immer im Rudel unterwegs. Aber eigentlich schleppt jeder etwas Düsteres, Unergründliches mit sich rum. Eine Sache, die er verjagen will, im Rudel, immer schneller als der Wind. Zusammen einsam. Du hast Probleme zu Hause? Dreh eine Runde.